Geschichte von Sr

Schwester Alesia Beer OSB erzählt aus ihrem Leben
In diesem Jahr 2015 werde ich - so Gott will - mein 90. Lebensjahr im Haus St. Benedikt in
Tutzing vollenden. Meine Mitschwestern, die auch alle ehemalige Missionarinnen sind, haben
mich gebeten, etwas aus meinem reichen Missionsleben zu erzählen, nach dem Motto: „Wenn
einer eine Reise tut …“ Ja, gereist bin ich viel und weit!
Als Emma Beer kam ich am 11.12.1925 in Jedesheim, Kreis Illertissen, im Unterallgäu, auf die
Welt. Mit meinen Eltern und vier Geschwistern, einem Bruder und drei Schwestern, verbrachte
ich eine glückliche Jugendzeit, nur zwei Schwestern leben heute noch. Während und nach dem
Krieg machte ich in der städtischen Kinderklinik in Augsburg eine Ausbildung als
Kinderkrankenschwester.
Mit 27 Jahren entschied ich mich für das
Ordensleben und trat am 13.04.1953 bei den
Missions-Benediktinerinnen in Tutzing ein.
Meine tieffrommen Eltern waren sehr
zufrieden mit meiner Entscheidung und mein
Vater strahlte geradezu vor Glück.
Am 14.08.1954 wurde ich eingekleidet und
erhielt den Ordensnamen "Schwester Alesia.
Mit meiner Familie am Tag der Einkleidung
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Am 15.08.1955 durfte ich meine erste Profess in Bernried ablegen. Meine Eltern und
Geschwister waren dabei.
Bilder vom Tag der ersten Profess in Bernried
Bei der ewigen Profess am 15.08.1958, die im Mutterhaus in Tutzing stattfand, war
mein Vater inzwischen schon verstorben und nur Mutter, Bruder und Schwestern
konnten mit mir feiern.
Und so fing meine erste Missionsreise an …
Es war an einem Märztag des Jahres 1959.
Ich hatte Nachtwache auf der internen Station in unserem Krankenhaus in Tutzing. Eben war
ich im Begriff, zum abendlichen Chorgebet zu gehen, als es an meine Türe klopfte. Eine
Mitschwester rief mich, ich sollte sobald wie möglich zur Generalpriorin kommen Diese war die
erste Instanz in unserer Kongregation. Ich ging also mit klopfendem Herzen. Die Tür stand
offen, sie wartete bereits auf mich. Sie rückte sofort mit ihrem Anliegen heraus und sagte:
„Schwester Alesia, ich brauche eine Hebamme für das neue Krankenhaus in Taegu in Korea.
Möchten Sie da einsteigen?“ Ohne lange zu überlegen bejahte ich ihre Frage. Es ist nämlich
eine große Auszeichnung für eine Missionsbenediktinerin, in die Mission ausgesandt zu
werden! Dann fuhr sie fort: „Gehen sie morgen früh sofort nach München in die Frauenklinik
mit Hebammenschule und stellen sich dort vor. Der Kurs hat bereits begonnen. Sr. Gerharda
besucht diesen Kurs ebenfalls und sie wird Ihnen alles zeigen. Für eine Ablösung Ihrer
Nachtwache ist bereits gesorgt.“
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Ich fuhr also am nächsten Tag nach München. Mit Dr. Martin, dem Leiter der Hebammenschule,
wurde vereinbart, dass ich gleich am folgenden Tag am Unterricht teilnehmen sollte. Das
Einleben und Lernen fiel mir nicht schwer. Im Unterricht wurde zu dieser Zeit Anatomie gelehrt,
und das war mir ja nicht neu. Meine erste praktische Arbeit war, mitzuhelfen bei der Betreuung
der Wöchnerinnen. Später im Kreißsaal und im Säuglings-zimmer gab es viel Neues zu lernen.
Besonders schwierig war es in der Ambulanz, wo täglich viele Frauen zur Untersuchung kamen.
Das war für mich eine hochinteressante Zeit und im Nu stand ich vor dem Staatsexamen als
Hebamme.
Am 28.6.1960 legte ich die schriftliche und die praktische Prüfung mit "sehr gut" ab. Gleich am
nächsten Tag bekamen Sr. Gerharda und ich die Diplome ausgehändigt, und so fuhren wir
wieder zurück nach Tutzing.
Nach einigen wohlverdienten Ferientagen wurde ich gebeten, das Röntgen zu erlernen. Das war
für mich ein völlig neues Gebiet. Ich hatte eine sehr gute und geduldige Lehrerin, so dass ich
schon bald selbständig Röntgenaufnahmen machen konnte. Im Vergleich zu heute war das
damals noch alles sehr primitiv. In meiner freien Zeit, die ich zur Verfügung hatte, begann ich
Englisch zu lernen. Für die koreanische Sprache hatte ich leider keine entsprechenden Bücher.
Zu meiner großen Freude bekam ich einen dreitägigen Heimaturlaub. Hanna und Linus waren
extra aus der Schweiz gekommen. Am letzten Tag versammelte sich die ganze Familie zu einem
festlichen Mahl. Linus schenkte mir eine Schweizer Uhr, die mich jahrelang begleitete.
Und dann kam das große Ereignis: die Aussendungsfeier. Zusammen mit 14 anderen
Neumissionarinnen bekam ich feierlich das Missionskreuz überreicht.
Es war ein überwältigender Augenblick!
Zu dieser Feier waren auch die Eltern und Geschwister eingeladen. Eine besondere Freude war
für mich die Anwesenheit von Mutter. Damals - es war noch die Zeit vor dem Konzil - musste
man sich dann gleich von den Angehörigen verabschieden. Das bedeutete einen Abschied für
immer. Ich glaube, ohne den Beistand Gottes hätte ich das nicht verkraftet.
Der Oktober rückte immer näher, die großen Überseekoffer wurden gepackt. Am 28. Oktober
1960, dem Fest der hl. Apostel Simon und Judas, versammelte sich die ganze Schwesternschaft,
um uns, Sr. Edeltrud Weist (eine Ärztin) und ich, mit vielen guten Wünschen zu verabschieden.
So fuhren wir mit dem Zug nach München und von dort mit dem D-Zug nach Hamburg. Am
nächsten Tag morgens gegen 7 Uhr erreichten wir den Hauptbahnhof von Hamburg.
Übernächtig und hungrig nahmen wir ein Taxi und fuhren zum Raphaelsheim, das ist ein Haus
für Auswanderer, die dort Quartier nehmen konnten, bis ihr Schiff abfuhr.
Nach einem guten Frühstück und ein paar Stunden Schlaf trieb uns die Neugier zum Hamburger
Hafen, um unser Schiff, die "Panama Maru", ausfindig zu machen. Der riesige japanische
Frachter lag am Kai und wurde mit Gütern beladen. Mit einem Hafenaufseher bestiegen wir das
Schiff. Auf dem Oberdeck waren 6-8 Kabinen für Touristen und andere Fahrgäste. Zurück im
Raphaelsheim schliefen wir die letzte Nacht auf dem Festland, packten dann am nächsten
Morgen unsere Sachen und fuhren zum Hafen. Zwischendurch hatten wir noch Gelegenheit,
eine hl. Messe mitzufeiern. Dann ging es endgültig zum Hafen; denn in der Nacht zum 31.
Oktober 1960 sollte die große Reise beginnen.
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Die „Panama Maru“
Zunächst wurden wir dem Kapitän vorgestellt, unsere Papiere wurden überprüft, und wir
wurden mit unserem Stuart bekanntgemacht. Jeder von uns wurde eine Kabine zugewiesen mit
Dusche und WC und mit allem sonstigen Komfort inklusive Schwimmwesten. Doch nach kurzer
Überlegung beschlossen wir, gemeinsam nur eine Kabine zu benutzen und in der anderen das
Gepäck zu verstauen. Wir waren die einzigen Fahrgäste und die einzigen Europäer auf dem
Schiff und auch die einzigen Frauen!!!
Die ganze Besatzung bestand aus Japanern. Der Kapitän und die Offiziere sprachen gebrochen
Englisch und somit konnte Sr. Edeltrud sich mit ihnen über das Notwendigste unterhalten. Auch
unser Stuart konnte etwas Englisch und so waren wir immer unterrichtet, was auf dem Schiff
geschah. Wir waren beide sehr gespannt und konnten und wollten auch nicht schlafen; denn in
der Nacht um 1 Uhr sollte das Schiff ablegen, und das wollten wir natürlich nicht verpassen.
Meine Seereise nach Korea
Christkönigsfest , 31. Oktober 1960
Es war nachts so gegen 1 Uhr. Wir waren etwas eingenickt. Plötzlich fingen die schweren
Schiffsmaschinen an zu stampfen und zu dröhnen, so dass das ganze Schiff erzitterte. Und dann
kam der Moment, wo das große "Boot" vom Ufer abstieß. Alles war hell erleuchtet, auch die
übrigen Schiffe, die im Hafen lagen. Die Schiffsglocke läutete ein paarmal und nun glitt die
"Panama Maru", geleitet von einem Lotsenschiff, dem Meer entgegen. Zum letzten Mal
schauten wir auf unser Heimatland zurück.
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Nach einigen Stunden Schlaf nahmen wir mit dem Kapitän und den Offizieren im Offizierskasino
das erste Frühstück ein. Zum Glück lagen für uns Messer, Gabel und Löffel bereit, denn mit
japanischen Stäbchen konnten wir ja nichts anfangen. Es gab natürlich ein japanisches
Frühstück: Grapefruit, kleine Kuchen, ähnlich wie Pfannkuchen, Spiegeleier, Schinken und
Kaffee. Tagsüber begannen wir beide eine Art klösterliches Leben zu führen mit Stundengebet,
Rosenkranz und Betrachtung. Zwischendurch standen wir an der Rehling und beobachteten,
was sich so alles tat auf dem Schiff und ringsum. Und was war ringsum? Wasser - Wasser –
Wasser - !
Von dieser Seereise gäbe es natürlich sehr viel zu erzählen. Ich will hier nur von den wichtigsten
Ereignissen berichten. Als wir durch den Englischen Kanal fuhren, herrschte so dichter Nebel,
dass es beinahe zu einem Zusammenstoß mit einem fremden Schiff gekommen wäre. Im
letzten Moment drehte es jedoch ab. Mit Schrecken hatte ich diese Szene vom Oberdeck aus
beobachtet und war heilfroh, als sich die Situation entspannte. Wir fuhren dann an der
französischen Küste entlang. Land konnte man keines sehen, obwohl es sehr klar war und die
Sonne ganz golden am Horizont aufging. In einiger Entfernung begegneten uns verschiedene
Schiffe. Es war ein herrliches Bild, wie sie auf dem glitzernden Wasser dahinfuhren. Man konnte
stundenlang schauen, ohne müde zu werden.
Die Mahlzeiten nahmen wir mit den Offizieren ein. Mit uns am Tisch saßen der Kapitän und der
erste Offizier. Am nächsten Tisch saßen noch drei weitere Offiziere. Die übrige Mannschaft,
ungefähr 57 Matrosen, speisten ein Stockwerk tiefer. Zwei Stuarts, bekleidet mit blendend
weißen Hemden aus japanischer Seide und schwarzen Krawatten, bedienten uns. Es wurde eine
internationale Küche angeboten. Da gab es zunächst verschiedene französische Leckerbissen,
dann Brathähnchen, Erbswurstsuppe, italienische Spaghetti, japanische Reisgerichte,
holländische Kekse, englischen Toast und vieles mehr. Ein "schwäbischer Magen" geriet da
manchmal in Bedrängnis. Einmal probierte ich den japanischen Reis. Zwei Stunden später
brannte mir noch der Mund von der scharfen Soße. Abends gingen wir meistens früh zu Bett.
Dann kamen wir zum Golf von Biskaya und man sagte uns, dass es Sturm geben würde. Das ist
in dieser Gegend an der Tagesordnung. Wir waren so sehr seekrank und konnten nur noch im
Bett liegen und fasten. Das schwere Schiff wurde gewaltig hin und her geworfen, die Wellen
waren meterhoch. Einmal wagte ich einen Blick durchs Fenster. Da sah ich ein Riesenloch. Man
hätte ein Haus hineinstellen können. Wir benötigten einen ganzen Tag und eine ganze Nacht,
um den Golf zu durchqueren. Gegen Abend wurde die See ruhiger, die Wellen glätteten sich,
die Sonne zeigte sich am Horizont, und wir wagten uns mit zitternden Knien ins Freie. Dank
unserer kleinen "Hausapotheke" haben wir uns schnell wieder erholt. Plötzlich ertönte die
Schiffssirene. Im Heck des Schiffes stieg Rauch auf. Alle Matrosen versammelten sich auf Deck,
nasse Tücher um Mund und Nase, und untersuchten den Brandherd. Eine Ladung mit Medizin,
in Kautschuk verpackt, hatte sich durch den starken Sturm heiß gerieben und Feuer entfacht.
Mit langen Stangen wurden die rauchenden und brennenden Container aufgehoben und ins
Meer geworfen. Schon nach kurzer Zeit war die Gefahr vorüber. Gott sei Dank! Denn Lissabon,
der nächste Hafen, war noch viele Kilometer entfernt, falls das Schiff Hilfe gebraucht hätte.
Nach einer Woche Schiffsreise kamen wir nach Casablanca, eine herrliche Stadt am Meer. Am
3.November 1960 gegen Abend 20.00 Uhr sahen wir von der Schiffsbrücke aus die ersten
Lichter des Hafens. Nach einer Stunde etwa lag die Stadt vor uns, eingehüllt in ein riesiges
Lichtermeer. Ein grandioser Anblick! Leider mussten wir mit der Einfahrt warten, bis es Platz
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gab für unseren Wasserriesen. Am dritten Tag schließlich war es so weit, ein Lotsenschiff
geleitete uns an den Kai. Es war höchst beeindruckend: die vielen Schiffe, kleine und große, die
Hafengebäude, die Wolkenkratzer der Stadt! Unter all den Türmen konnten wir einen
Kirchturm finden, von dem es gerade zwölf Uhr läutete. Bei einem kurzen Besuch in der Stadt
konnten wir zu unserer großen Freude eine hl. Messe mitfeiern.
Schon gegen Abend ging die Reise wieder weiter durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer.
Hier - das Land war ganz nahe - begleiteten uns viele Möwen, fliegende Fische und Delphine,
die sich die Abfälle vom Schiffskoch schmecken ließen. Wir fuhren ziemlich nahe an der
algerischen Küste entlang, bevor wir schließlich in Alexandrien ankamen. Dort herrschte reges
Treiben im Hafen. Dann ging es weiter nach Port Said, dem Eingang zum Suezkanal. Ungefähr
jeweils zehn Schiffe hintereinander dürfen den Kanal in einer Richtung befahren, während die
entgegenkommenden Schiffe in einem Seitenkanal warten müssen.
Diese Strecke unserer Reise war höchst interessant. Rechts konnten wir die weiß gekleideten
Bauern beobachten, wie sie die Ernte einbrachten. Links vom Kanal dehnte sich eine endlose
Wüste aus. So weit das Auge reichte waren nur Sand und einige dürre niedrige Sträucher. Als
wir am nächsten Morgen aufwachten, fanden wir uns bereits im Roten Meer, wo reger
Schiffsverkehr herrschte. Und es wurde warm und immer wärmer! Einmal begegneten wir
einem deutschen Frachter mit deutschen Reisenden an Bord, und wir winkten und winkten.
Schließlich ließen wir das Rote Meer hinter uns und kamen in den Indischen Ozean. Wohin das
Auge blickte, nur Wasser und nochmals Wasser, es war direkt unheimlich. Bei Dunkelheit ging
ich manchmal ans Oberdeck und spähte in alle Richtungen, ob nicht irgendwo ein Licht zu
sehen wäre.
Am ersten Adventssonntag - wir waren schon vier Wochen auf Fahrt - erreichten wir Singapur.
Weil unser großer Frachter nicht im Innern des Hafens ankern konnte, wurden wir in einem
Boot an Land gebracht. Als erstes suchten wir eine katholische Kirche. Die Messe war gerade
beendet, aber der Pfarrer reichte uns noch die hl. Kommunion, und dann fuhr er uns mit dem
Auto durch die Stadt und zeigte uns viel Schönes und Interessantes, u. a. einen Adventskranz
aus Asparaguszweigen, für uns Deutsche höchst ungewöhnlich.
Gegen Abend fuhr unser Schiff dann weiter durch das Chinesische Meer den Philippinen
entgegen. Es war geplant, dass wir mit der "Panama Maru" bis Manila fahren, dort bei unseren
Schwestern Weihnachten verbringen und dann erst nach Korea weiterfahren sollten. Und so
kam es auch.
Am vorletzten Tag wurde uns auf dem Schiff ein opulentes
Abschiedsessen serviert und am nächsten Tag erreichten wir den
Hafen von Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Nachdem alles
gepackt und die Formalitäten erledigt waren, mussten wir noch
warten, da das Schiff nicht in den Hafen einfahren konnte.
Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit ein Boot mit weißen
Gestalten auf. Es waren unsere Schwestern, die uns abholen
wollten. Das war eine herzliche Begrüßung! Wir verabschiedeten
uns von der uns lieb gewonnenen " Panama Maru ", die uns so
sicher durch das große Wasser geleitet hatte. Dann fuhren wir mit
den Schwestern zum Kloster.
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Die
Philippinen
sind
ein
Inselstaat,
bestehend
aus
7000
Inseln.
Auf der größten Insel, "Luzon", liegt die Hauptstadt Manila. Viele der Inseln sind wegen ihrer
geringen Größe nicht bewohnt. Das Klima am Meer ist heiß und schwül und nur eine zeitweilige
Brise sorgt für etwas Abkühlung.
Am anderen Morgen wurden wir von den etwa 70 Schwestern herzlich begrüßt. Und das
klösterliche Leben begann wieder. Was aber für mich im Vordergrund stand, war das
ungewohnte Klima. In kurzer Zeit war man nass geschwitzt und sehnte sich nach einer kühlen
Dusche. Das zweite waren die vielen Schnaken, die besonders am Abend aktiv wurden. In der
Kapelle zündete man überall zwischen den Bänken Räucherstäbchen an, um die Biester zu
vertreiben. In der Nacht lag ich unter einem seitlich sorgfältig eingesteckten Moskitonetz. Doch
selbst da kamen sie noch durch.
Der Heilige Abend war für mich sehr schlimm: die Hitze, der ungewöhnliche Schmuck, die
fremden Lieder, die anderen Sitten und Gebräuche. Dies alles trug dazu bei, dass mich heftiges
Heimweh packte und mich nicht so schnell wieder losließ. Vor lauter Heimweh verschlief ich
sogar die Mitternachtsmesse! Die dort lebenden deutschen Schwestern halfen mir schließlich,
diesen Zustand zu überwinden.
Nach Neujahr wurde uns mitgeteilt, dass am 5. Januar unsere Reise weitergehen sollte. So
nahmen wir Abschied und begaben uns an Bord. Es war wieder ein japanischer Frachter, mit
dem Namen "Montevideo Maru". Doch auf diesem Schiff schien ein anderer Geist zu herrschen.
Die Matrosen wirkten fremd und hatten undurchsichtige Gesichter. Bei Tisch wurde kaum
gesprochen und auch der Kapitän war äußerst zurückhaltend. Am Tag vor unserer Abreise hatte
ein Taifun die Gegend gestreift. Das Meer war aufgewühlt und wir verbrachten die meiste Zeit
seekrank in unserer Kabine.
Inzwischen hatten wir die Tropen verlassen und es wurde
merklich kälter, wir hatten den Hafen von Hongkong erreicht,
Wohnboot an Wohnboot reihte sich am Hafen entlang. Aus
nächster Nähe konnten wir die Menschen beobachten, wie sie
kochten, wuschen, aßen und Pfeife rauchten. Wir zogen es vor,
auf dem Schiff zu bleiben, denn oft kamen fragliche Gestalten
an Bord, wenn die Schiffstreppe heruntergelassen wurde, um die Post zu bringen. Nach kurzem
Aufenthalt verließen wir den schützenden Hafen von Hongkong, vorbei ging’s an der Insel
Taiwan in Richtung Korea.
Nach fünf Tagen, am 11. Januar 1961 erreichten wir den Hafen von
Pusan, der südlichsten Stadt von Südkorea. Es herrschte eine
grimmige Kälte. Der schneidende Wind trieb die Eisschollen bis an
unser Kabinenfenster. Ein erschreckend primitives Boot brachte uns
an Land. Zwei deutsche Schwestern holten uns ab und brachten uns
zu einem Kloster, wo auch schweizerische Schwestern lebten. Eine
warme Stube und eine heiße Suppe brachten unsere Lebensgeister
wieder nach oben. Bis Taegu, unserem Bestimmungsort, mussten wir
noch eine dreistündige Bahnfahrt überstehen. Als wir dort im Kloster
ankamen, war die ganze Gemeinschaft vor der Haustüre versammelt,
um uns nach koreanischer Sitte zu begrüßen. Unsere große Reise
war nun zu Ende. Ohne große Schwierigkeiten - abgesehen von der
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schrecklichen Seekrankheit - hatten wir die Fahrt gut überstanden und allen Grund, ein
Danklied in den Himmel zu schicken!
Meine Missionstätigkeit in Korea
Taegu (heute Daegu) ist die drittgrößte Stadt von Südkorea mit damals etwa 400 000
Einwohnern. Unser Kloster, ein sehr altes Haus, liegt am Rande der Stadt auf einem Hügel. Das
neue Krankenhaus war bereits fertig gebaut; es fehlte nur noch die Einrichtung. Sogar die
Heizung war schon installiert. So konnte man sich in den warmen Räumen aufwärmen. In dem
Gebäude, das wir bewohnten, waren nur die Kapelle und das Refektorium geheizt. Zwei winzig
kleine Öfen sollten diese beiden großen Räume heizen, was kaum möglich war. Es war überall
kalt und ich litt sehr darunter.
Die ersten Tage meines Aufenthaltes hier waren ausgefüllt mit Auspacken, mit dem
Kennenlernen des neuen Umfeldes und vor allem mit dem Erlernen der koreanischen Sprache.
Letzteres schien für mich ein äußerst schwieriges Unterfangen. Mir wurde gesagt, dass es
mindestens acht Monate dauern würde, bis man die Sprache ein bisschen sprechen könnte. Das
waren höchst trübe Aussichten. Allein das Erlernen der koreanischen Buchstaben erwies sich als
sehr mühsam. Um mir die Sache etwas zu erleichtern, durfte ich mit einer Schwester einige
Krankenbesuche machen. Als wir einmal nach einer längeren Fahrt das kleine Anwesen
erreichten, kam uns der Hausherr entgegen und begrüßte uns nach koreanischer Sitte mit einer
tiefen Verbeugung. Auch die Kinder hatten sich bereits vor dem Haus versammelt. An der
Türschwelle muss jeder die Schuhe ausziehen nach koreanischer Sitte. Das taten wir dann auch
und traten durch die niedrige Türe direkt ins Wohnzimmer.
Der Raum war nicht größer als etwa
neun Quadratmeter, es gab weder
Tisch, noch Stuhl, noch Schrank. Nur
an der Wand hingen kleine Kästchen
zur Aufbewahrung von verschiedenen
Dingen. Die kranke Frau saß in einer
Ecke, umgeben von ihren drei
Kindern, und streckte uns beide
Hände zur Begrüßung entgegen.
Danach hockten wir alle im Kreis auf
dem Boden und meine Begleiterin, Sr.
Friedhelma, stellte mich vor. Die Frau
war herzkrank und hatte den ganzen
Leib voll Wasser. Ihr Mann sagte uns beim Abschied: "Wenn ihr meine Frau gesund macht,
dann schenke ich euch meine Reisfelder." Ist das nicht erschütternd?!
Als wir den Kindern dann ein paar Äpfel schenkten, ließen es sich die guten Leute nicht
nehmen, uns dafür ein paar Eier zu geben. Auf dem Rückweg über Berg und Tal bei
strahlendem Sonnenschein besuchten wir noch einige kranke Großmütterlein.
Ich war erstaunt, wie warm es doch in den kleinen Häuschen war. Sie sind aus Holz gebaut, die
Fenster sind mit Papier beklebt, ebenso die Wände. Geheizt wird das Wohnzimmer von einer
Feuerstelle aus, die außen an einer Hausecke angebracht ist. Der Rauch und die Wärme werden
unter den Fußboden geleitet, so dass man am Boden gut sitzen kann.
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Gleich am ersten Sonntag nach unserer Ankunft nahmen mich die Schwestern mit in die
Pfarrkirche zum Gottesdienst. Hier sieht alles anders aus als in Deutschland. Es gibt hier keine
Bänke. Die Leute sitzen alle auf dem Boden, streng getrennt nach Geschlecht. Die Männer
waren in ihrer weißen koreanischen Tracht erschienen, die Frauen in bunt schillernden Kleidern
mit einem weißen Schleier auf dem Kopf. Ihre Babys hatten sie auf den Rücken gebunden. Alles
in allem - eine ganz neue Welt für mich!
In den nächsten Wochen durfte ich öfters Sr. Friedhelma
auf ihren Besuchen in die Umgebung begleiten, um
möglichst viel von den Sitten und Gebräuchen der Koreaner
kennenzulernen: zum Katechismusunterricht für Frauen, zu
den Gottesdiensten in die Pfarrkirche, ins Waisenhaus, zum
Markt in der Stadt, zu kurzen Ausflügen in die Reisfelder
oder zum Lazarett, wo die Soldaten, die katholisch werden
wollten, Taufunterricht erhielten. Obwohl ich keine
katechetische Ausbildung hatte, wurde mir ein koreanisches
Grossmütterchen anvertraut, der ich das Vaterunser
beibringen sollte. Da sass ich manchmal wie auf Kohlen, um
die richtigen „Zischlaute“ hervorzubringen, die ein
bestimmtes Wort bedeuten.
Bei all diesen Besuchen mussten wir unsere Straßenschuhe
vor der Haustüre stehen lassen. Man durfte die Häuser nur
mit Socken oder Strümpfen betreten, das erfordert der
Anstand. Ein koreanisches Haus enthält keine Möbel; man sitzt auf dem Fußboden. Auf der
Straße trägt der Koreaner nur Gummischlappen,
die vor der Türe leicht abgestreift werden können.
Als Strümpfe trägt er selbstgemachte, mit Watte
gefütterte Socken. Um die Wäsche waschen zu
können, muss das Wasser vom Brunnen geholt
werden. Das ist Frauenarbeit. Sogar im Kloster gibt
es keine Waschmaschine. Wenn manchmal der
Strom abgeschaltet ist, müssen auch die
Schwestern zum Brunnen gehen.
Am Brunnen
„Vaterunser“, „Ave Maria“ und „Ehre sei
dem Vater“ auf Koreanisch
Die zweite Aufgabe für mich und Sr. Edeltrud, meine Reisegefährtin, war die Beaufsichtigung
und Planung des neuen Krankenhauses. Unsere Vorgängerin war heilfroh, dass sie diese
Aufgabe abgeben konnte.
Das Klima in Korea ist sehr unausgeglichen. Einem sehr kalten Winter folgt ein kurzer Frühling,
und im Sommer wird es unerträglich heiß. Nur im Herbst sind die Temperaturen angenehm,
ähnlich wie in Deutschland. Durch die ungewohnte Kälte im Winter, die große Hitze im
Sommer, die großen Sprachschwierigkeiten und all das Neue und eine lang anhaltende
Erkältung war meine Gesundheit auf einen gewissen Tiefstand geraten. Ich wurde also zur
Erholung nach Wongtschu geschickt. Das ist ein kleines Bauerndorf inmitten von Reis– und
Hirsefeldern.
In diesem kleinen Kloster waren nur vier Schwestern, von denen die eine den Kindergarten
betreute, die andere als Sakristanin in der Pfarrkirche tätig war. Die beiden anderen gaben
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Religionsunterricht, besuchten die Kranken im Dorf und versorgten den Haushalt. In dieser
kleinen Gemeinschaft hatte ich keine Möglichkeit mehr, „deutsch“ zu sprechen, da die
Schwestern Koreanerinnen waren. Anfangs konnte ich nur schlecht schlafen, und so horchte ich
angestrengt nach einem bekannten Laut, und wenn ein Hund bellte oder ein Hahn krähte, so
war das wie ein Gruß aus der deutschen Heimat.
In diesem Kloster, einem typisch koreanischen Haus, machte ich eine
neue, mir völlig fremde und unangenehme Erfahrung. Wenn ich nachts
aufwachte, juckte und krabbelte es im Bett, und als ich dann mein Bett
durchsuchte, stellte ich fest, dass ich Flöhe hatte. Es gibt in Korea keine
Federbetten. Kopfkissen, Oberbetten und Matratzen sind mit Watte
gefüllt. Sogar meine winterliche Kleidung, eine lange Hose unter dem
Habit, ist mit Watte gefüttert. In diesem Wattebett lag oder schlief ich
drei Wochen lang und kämpfte mit den Flöhen. Tagsüber spazierte ich
oft durch die Felder. Es war gerade Reisernte. Hinter dem Haus war ein
kleiner Hügel. Von dort konnte ich die Bauern beobachten, wie sie auf
äußerst primitive Weise ihre Ernte einbrachten.
Koreaner mit landestypischer
Kopfbedeckung
Nach drei Wochen ging ich wieder nach Taegu zurück. Nun musste ich
zuerst die Flöhe wieder losbringen, die sich überall in der Kleidung eingenistet hatten. Eine in
diesem Punkt besonders erfahrene deutsche Schwester gab mir folgenden Rat: Man stellt
abends in die Mitte des Zimmers eine mit Wasser gefüllte Schüssel und in das Wasser eine
brennende Kerze. Dann löscht man das Licht und zieht sich ganz langsam aus. Die Flöhe hüpfen
dann ins Wasser oder in die brennende Kerze. So bekommt man sie sicher los. Ich hielt mich
genau an die Anweisung, brachte aber vorsichtshalber meine sämtlichen Kleidungsstücke in die
Waschküche. Somit war ich von dem lästigen Ungeziefer wieder befreit.
Nach diesen Ferien erwartete mich eine Menge Arbeit. Inzwischen waren von Deutschland viele
Kisten mit Medizin und anderen Gegenständen eingetroffen und mussten ausgepackt, sortiert
und kontrolliert werden. Da das Krankenhaus schon Zentralheizung hatte, konnte ich den
ganzen langen Winter in Ruhe arbeiten. Manchmal bekam ich Hilfe durch junge Schwestern
vom Noviziat, denn meine koreanischen Sprachkenntnisse machten nur langsam Fortschritte.
Inzwischen war auch eine Amerikanerin in unsere Gemeinschaft gekommen, die die
Krankenhausverwaltung übernehmen sollte.
Eines Morgens stellten wir fest, dass im Neubau sämtliche Türklinken verschwunden waren.
Eine alte erfahrene Koreanerin kam gleich auf den Gedanken, dass sie wahrscheinlich auf dem
Schwarzmarkt wieder zu finden seien. Der Hausmeister wurde also dorthin geschickt und fand
prompt alle Türklinken wieder auf dem Schwarzmarkt. Um teures Geld mussten sie
zurückgekauft werden. Nun aber waren wir vorsichtiger. Jeden Abend wurde das ganze Haus
durchsucht, ob sich nicht jemand irgendwo versteckt hielt. Als ich eines Abends meinen
Rundgang durch das Haus machte, bemerkte ich, dass sämtliche Badewannen in Benutzung
waren. Ich getraute mich nicht, die „Badegäste“ anzurufen und hielt mich in sicherer
Entfernung. Nach einiger Zeit waren die Badezimmer leer und die Eindringlinge verschwunden.
Wahrscheinlich hatten die Arbeiter die Gelegenheit benutzt, ein warmes Bad zu nehmen. Von
da an machten wir unsere Rundgänge immer zu zweit.
Um das Krankenhaus richtig einräumen zu können, fehlten uns vor allem passende Schränke.
Kaufen konnten wir keine, denn das Geld war knapp. Wir waren völlig von der deutschen
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„Misereor“–Aktion abhängig, mit deren Hilfe das Krankenhaus gebaut werden konnte. Ein
Schreiner erklärte sich schließlich dazu bereit, die Schränke anzufertigen, wenn er für jeden
einen genauen Plan hätte. Diese Aufgabe wurde mir übertragen. Natürlich hatte ich keine
Ahnung von solchen Dingen. Doch nach wiederholten Versuchen gelangen mir ziemlich
maßstabgetreue Pläne.
Mitten im Sommer bei größter Hitze wurde das Krankenhaus eingeweiht. Ein Team von jungen
Schwestern hatte schwere Arbeit geleistet, und ich gehörte dazu. Schon einen Tag nach der
Eröffnung wurde der Krankenhausbetrieb begonnen. Sr. Enatha und ich waren für die
Pflegearbeit eingeteilt worden. Wir setzten voraus, dass in den ersten Tagen wohl keine
Patienten eintreffen würden und wollten uns einige Tage zum Ausruhen gönnen. Das war ein
großer Irrtum, denn schon am ersten Vormittag mussten fünf Kranke aufgenommen werden.
Wir hatten also genug zu tun. Und jeden Tag kamen Neuzugänge, darunter auch Kinder, die in
einer eigenen Abteilung mir anbefohlen waren. Auch ein kleines Mädchen mit lustigen
Zöpfchen war darunter. In Ermangelung von Haarschleifen band ich die Haare einfach mit einer
Mullbinde zusammen. Eine koreanische Schwester kam händeringend herbei und bat mich, die
Schleifen doch andersfarbig zu ersetzen, da „Weiß“ die Farbe des Todes sei! Schon nach kurzer
Zeit war das untere Stockwerk des Krankenhauses mit Patienten belegt, darunter viele mit
Tuberkulose.
Ein neuer Erdenbürger
Die Eröffnung der Entbindungsabteilung musste für ein
halbes Jahr verschoben werden, da wir noch kein
geschultes Pflegepersonal hatten. Der als Kreißsaal
vorgesehene Raum wurde umfunktioniert in den Speisesaal
(= Refektorium) für die Schwestern, da der alte dunkel und
schlecht zu heizen war. Nach einem halben Jahr wurde das
Schwesternkloster fertig und wir konnten umziehen. Die
Geburtsabteilung wurde eingerichtet, das alte Haus
renoviert und später als Ambulanz genutzt. Mir war schon
sehr bange, denn ich hatte nun die volle Verantwortung für
die Geburtsabteilung. In der Hebammenschule in München
hatte ich zwar allein gearbeitet, aber immer unter der
Aufsicht der Oberhebamme. Zwei Jahre waren seitdem
vergangen und zudem fehlte uns hier auch ein Facharzt.
Nun stand ich ganz alleine da. An meine erste Geburt
erinnere ich mich noch sehr lebhaft. Die Mutter erwartete
ihr zweites Kind. Das war mein Glück. Es ging alles nach
Wunsch. Ein kleines Büblein kam zur Welt. Die Geburt eines Jungen ist das größte Glück einer
koreanischen Familie. Mädchen sind nicht gefragt. Bald bekam ich eine Helferin, ein
koreanisches Mädchen, die ich in allem erst einweisen musste, und das alles in Koreanisch. Wie
ich das geschafft habe? Ich weiß es nicht mehr. Das Kinderzimmer füllte sich immer mehr mit
Neugeborenen, darunter auch Frühgeburten.
Neben dieser Arbeit mit Mutter und Kind hatte ich noch ein Zimmer mit kranken Kindern zu
versorgen. Es muss mein Schutzengel gewesen sein, der die ganze Organisation übernommen
hat, sonst hätte wohl manches schiefgehen müssen. Ganze Nächte saß ich oft am Bett der
Mütter, und meistens erst gegen Morgen erfolgte dann die Geburt. Wir hatten wohl später
einen Gynäkologen, aber der wohnte in der Stadt. Bis der kam, war oft schon alles vorüber.
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Eines Tages kam eine Frau zur Entbindung, die Zwillinge bekommen sollte. Zwillingsgeburten
sind immer Problemgeburten. Also rief ich den Arzt. Doch der war gerade mitten in einer
Operation. Zum Glück verlief alles ganz normal. Nur die Eltern der Zwillinge waren enttäuscht,
weil es zwei Mädchen waren. Der Vater wollte nur eines der Mädchen mit nach Hause nehmen.
Also was nun ? Eine erfahrene koreanische Schwester überzeugte schließlich den Vater und so
war das Problem gelöst. Was dann weiter geschah, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Nicht
selten, nach einer durchwachten Nacht, konnte es passieren, dass ich nach einer Stunde Schlaf
schon wieder zu einer Entbindung gerufen wurde.
Zu alledem kam noch ein anderes Problem: Solange noch kein Facharzt da war, konnte ich
meine Berichte, die für jede Geburt vorgeschrieben sind, in deutscher Sprache verfassen. Das
ging jetzt nicht mehr, da der Arzt kein Deutsch verstand. Ich hingegen konnte nicht mit
koreanischen Buchstaben schreiben und meine Englischkenntnisse waren ebenfalls miserabel.
Um aus diesem Dilemma herauszukommen, ging ich zur Oberin und legte ihr nahe, dass ich
unbedingt die englische Sprache erlernen müsste. Inzwischen war mir eine Krankenschwester
zugeteilt worden, von der ich glaubte, dass sie meine Arbeit übernehmen konnte.
Nach einiger Zeit traf von Rom die Nachricht ein, dass ich auf die Philippinen gehen sollte, um
dort Englisch zu lernen. Das traf mich schon etwas hart, denn in den drei Jahren in Korea hatte
ich doch schon etwas Fuß gefasst. Aber es musste wohl so sein.
Meine Arbeit auf den Philippinen
Am 11. Februar 1964 bestieg ich das Flugzeug nach Manila, der Hauptstadt der
Philippinen. Als ich abends dort ankam, wehte ein feuchtwarmer Wind um meine
Nase, das hieß, ich bin im Süden, in einem anderen Land. Einige Schwestern holten
mich ab. Das Haus kannte ich schon, denn ich hatte ja vor meinem Aufenthalt in Korea dort
schon vier Wochen verbracht. Unsere Schwestern haben in Manila eine sehr
große Schule, vom Kindergarten angefangen bis zum Kolleg mit ungefähr
6000 Schülern. Die damalige Generaloberin wollte neben dieser Schule auch
noch ein Krankenhaus für die armen Leute gründen. Auf der Insel Leyte, in der
Stadt Tacloban, war das Krankenhaus bereits im Bau. Dort sollte ich für die
Dauer von drei Jahren mithelfen und nebenbei Englisch lernen.
Meine erste Aufgabe war zunächst das Sprachstudium. Mit einer älteren Schwester – sie war
eine pensionierte Lehrerin – saß ich nun täglich zusammen und büffelte Englisch. Manchmal
besuchte ich auch die Unterrichtsstunden einer Schulklasse. Allerdings war die klimatische
Umstellung vom kalten Korea zum feuchtheißen Manila nicht ganz einfach. Dazu war das Essen
wieder völlig anders, ebenso die Gebräuche und die Mentalität der Menschen. Da war es für
mich sehr tröstlich, dass Sr. Fruktuosa - eine Köchin, die auch für Tacloban vorgesehen war –
mich manchmal in die Küche holte, wo wir Plätzchen und ähnliche Dinge zubereiteten. Das war
jedes Mal eine willkommene Abwechslung.
Nach einem halben Jahr Aufenthalt in Manila flogen wir am 16. Juli 1964 nach Tacloban. In
einem Jeep wurden wir abgeholt und in unser zukünftiges Heim gebracht. Ein kleiner Teil des
Krankenhauses sollte unser Zuhause werden. Aber welch böse Überraschung! Kein Wasser,
keine Einrichtung, kein Bettzeug! Die ersten Tage mussten wir uns also einigermaßen
einrichten. Dazu herrschte eine fast unerträgliche Hitze, die mir enorm zusetzte.
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Tacloban liegt am Meer, das war immerhin ein Vorteil; denn so hatten wir immer wieder mal
Gelegenheit, uns im Wasser abzukühlen. Mit einer Brotzeit ausgestattet und reichlich zu trinken
verbrachten wir einen Tag am Meer. Eine kleine Hütte und einige Palmwäldchen boten uns
Schutz vor der Hitze. Unsere Oberin war eine erfahrene Schwester. Sie wusste genau, wie weit
Nichtschwimmer gehen durften. Wir hielten uns an Holzstückchen fest und ließen uns von den
Wellen treiben. Das war jedes Mal eine willkommene Abwechslung und man lebte wieder auf.
An manchen Tagen ist die Hitze mörderisch: man schwitzt schon beim Aufstehen, man schwitzt
in der Kapelle, man schwitzt von morgens bis abends. Erst nachts so gegen zwei Uhr wird es
etwas kühler.
Mein Arbeitsgebiet in Tacloban war wieder die Geburtsabteilung. Nun kam eine ganz neue
Sache auf mich zu. Hier konnte ich nicht einfach nach deutschem Muster arbeiten. In den
philippinischen Krankenhäusern hält man sich an den amerikanischen Stil. Das ist ein großer
Unterschied. Eine Amerikanerin, die auch zu unserer fünfköpfigen Gemeinschaft gehörte, war
mir eine gute Lehrmeisterin. Ich war ja inzwischen schon 40 Jahre alt und da sollte das Lernen
eigentlich abgeschlossen sein. So blieb mir also nichts anderes übrig, als die Entbindungsstation
in einem Stil einzurichten, den ich nicht gewöhnt war. So kam langsam der Tag der Eröffnung
des Krankenhauses heran.
Es war ein schwieriger Anfang. Wir mussten im Kinderzimmer den 8-Stundendienst einführen
und ich hatte stundenweise eine Hebamme zur Aushilfe. Ich musste den anderen dreimal auf
die Finger schauen, wie sie die Arbeit verrichteten, denn ich war ja für alles verantwortlich. Auf
den Philippinen ist es Brauch, dass Mütter mit Neugeborenen aus reichen Familien noch über
mehrere Monate im Krankenhaus bleiben. Für diese Babys hatten wir ein schönes helles
Zimmer mit modernen Babybettchen eingerichtet. Ein kleines Büblein war ein ganzes Jahr bei
uns und konnte schon laufen, als es abgeholt wurde. Wir hatten viel Freude mit diesen Kindern.
Gab es mal einen schwierigen Fall bei einer Geburt, musste ich manche Nachtstunde opfern,
um nach dem Rechten zu sehen. Und so kam zwangsläufig immer wieder eine Zeit, die ich zur
Erholung benötigte, was natürlich den Vorgesetzten weniger gefiel.
Um meine Gesundheit wieder ins Lot zu bringen, flog ich nach
Legaspi, einer anderen Insel. Dort hatten unsere Schwestern eine
große Schule mit 4000 Schülern. Die Ortschaft liegt in nächster
Nähe von dem großen Vulkan „Mayon“. Es ist eine herrliche und
sehr fruchtbare Gegend mit Reis-, Mais- und Gemüsefeldern und
den üblichen Palmwäldern. Legaspi liegt direkt am Meer.
Eines Nachts – meine Ferien fielen auf die Karwoche und Ostern –
wurde eine Flutwelle angekündigt. Die Leute wurden aufgefordert, sich
in Sicherheit zu begeben. Es war gerade die Nacht vom Karsamstag auf
den Ostersonntag. Die Leute zogen in endlosen Karawanen mit ihrem
Hab und Gut in die Berge. Sie lebten in sog. Nippahäuschen, die der
Sturm oder das Wasser ohne weiteres ins Meer riss. Wir Schwestern
überlegten lange, was wir tun sollten. Wir hatten ein Haus aus Stein
und wohnten weitab von der Küste. Wir blieben, zogen uns aber ins
Obergeschoß zurück und hielten Anbetung. Die Flut war
glücklicherweise nicht gekommen und die Leute strömten am nächsten
Tag wieder in ihre Häuser zurück. Bei solchen Sturmfluten wurden
schon vielmals ganze Siedlungen im Meer begraben.
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Hochsitz in den Palmen
Wenn im Radio ein Taifun angekündigt wird, werden die Leute unruhig und haben Angst, und
das mit Recht. Ein Nippahaus, so werden die philippinischen Häuser genannt, steht auf 6–8
Pfählen. Der Fußboden sowie die Seitenwände sind mit aneinander gereihten Bambusstäben
gefertigt. Das Ganze ist mit einer dicken Schicht von dürren Palmblättern bedeckt. In der
üblichen Hitze ist das ideal. Die Familie lebt im Schatten und hat doch etwas natürliche Kühlung
durch die Ritzen der Bambusstäbe. Arme Leute, die sich ein fest gebautes Haus nicht leisten
können, werden dann obdachlos. Die Hütte bricht zusammen, oder der Sturm trägt sie fort. Der
Wind bringt natürlich starken Regen mit sich, so dass im Nu alles völlig durchnässt ist. Dazu
sinkt die Temperatur weit nach unten, so etwa wie im Herbst in Europa. Gerade die Kälte setzt
den Menschen am meisten zu. Die Elektrizität fällt aus und es gibt kein trockenes Holz für ein
Feuer.
Staat und Kirche versuchen wohl zu helfen, aber was ist das für so viele. Zum Glück fegt der
Taifun nicht immer über das gleiche Gebiet und in unterschiedlicher Stärke. In unserem
Krankenhaus ist die Situation anders. Wir haben ein fest gebautes Haus aus Stein und ein solide
verankertes Dach, so dass wir von daher nichts zu befürchten hatten. Allerdings hatten wir
tagelang keinen Strom, somit kein Licht, keine Heizung, keine funktionierenden Kühlschränke
für die Blutkonserven, also alles in allem eine Katastrophe. In der Waschküche musste alles von
Hand gewaschen werden und ringsum stand das Wasser kniehoch. Ich habe in der Zeit meines
Hierseins nur einmal einen Taifun erlebt. Damals raste der Sturm einen ganzen Tag und eine
ganze Nacht lang über unsere Insel und hinterließ seine Spuren. In unserem Garten lagen
mehrere Wellblechdächer von Nachbarhäusern. Ich glaube, sie gehörten zu den Schulsälen der
SVJ - Patres.
Besonders erwähnenswert erscheint mir folgendes: Der
Verkehr zwischen den vielen Inseln erfolgt durch kleine
Inlandsschiffe. Da passierte es nicht selten, dass Frauen
während der Fahrt ihr Kind bekamen. Die
Schiffsmannschaft scheint darauf vorbereitet zu sein, denn
Mutter und Baby waren meistens wohlauf. Nur der Nabel
des Säuglings musste noch versorgt werden, das übertraf
scheinbar die Kenntnisse der Mannschaft. Legte das Schiff
dann in Tacloban an, so wurde unser Krankenhaus
benachrichtigt, und wir fuhren zum Hafen und holten die
Wöchnerin
ab. Allerdings hatte ich jedes Mal eine riesige
Glückliche Hebamme
Angst bei dem Gedanken, das Schiff besteigen zu müssen.
Man legte nämlich ein schmales Brett zwischen Deck und Festland, ohne jegliche Sicherung. Die
Leute waren das gewöhnt und kamen auf dem schwankenden Brett sicher an Land.
Glücklicherweise brachte immer jemand das Neugeborene herüber. Nachdem dann Mutter und
Kind versorgt waren, gingen sie meistens gleich nach Hause. Das ist bei den Einheimischen so
üblich.
Meine Tätigkeit in Tacloban neigte sich dem Ende zu. Nachdem ich die
schriftliche Erlaubnis erhalten hatte, wieder nach Korea
zurückzukehren, packte ich meine Sachen und flog nach Manila. Von
dort aus durfte ich erst nach Baguio, um mich gründlich zu erholen.
Baguio ist ein kleines Städtchen hoch in den Bergen mit subtropischem,
ja fast europäischem Klima. In einem klapprigen Bus ging es
stundenlang durch Reisfelder und Palmenwälder, immer höher und
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höher, bis wir schließlich in Baguio ankamen. Unsere
Schwestern, meist schon ältere, pensionierte
Lehrerinnen unterhielten dort ein Ferienhaus und
bewirtschafteten nebenbei eine kleine Farm mit
Hühnern, Enten, Hasen und Schweinen. Hinter dem
Haus dehnt sich über mehrere Kilometer weit ein
Pinienwald aus, wo man herrlich spazieren gehen kann.
Die meisten Schwestern waren Deutsche, und ich
konnte mal wieder in meiner Muttersprache reden.
Auch das Essen nach vorwiegend deutschem Muster
war eine willkommene Abwechslung. Die ruhigen,
kühlen Nächte genoss ich in jeder Hinsicht. Ich wurde von niemandem gerufen, hatte keinerlei
Verantwortung und konnte so richtig ausruhen und ausspannen.
Als ich die Hälfte meiner Ferien hinter mir hatte, erreichte mich ein Brief aus Rom. Die
Generalpriorin schrieb mir folgendes: „Ich brauche dringend eine Hebamme für ein
neuerbautes Krankenhaus in Brasilien. Bitte, gehen Sie nicht nach Korea, sondern kommen Sie
nach Rom, da werden wir alles besprechen.“
Ich war zunächst sprachlos. Meine innere Ruhe und meine Gelassenheit waren dahin. Nun
stand ich da und wusste nicht, was ich tun sollte. „Wie kann Rom das von mir verlangen?“,
dachte ich immer wieder. Kann ich das Neue überhaupt schaffen? Schließlich war meine
Gesundheit in den letzten Jahren nicht allzu stabil gewesen. Tagelang überlegte ich, was ich tun
sollte. Auch als Ordensfrau fällt einem eine solche Entscheidung nicht in den Schoß. Nach
langem Hin und Her entschloss ich mich, trotz allem, was ich an Erfahrung schon hinter mir
hatte, diesen Schritt, der von den höchsten Oberen gewünscht war, zu gehen, auch wenn es
schwer werden würde. Eine Ordensfrau und erst recht eine Missionsbenediktinerin hat für ihr
Leben die Nachfolge Christi gewählt und möchte diesen Weg auch gehen. Aber wir sind auch
Menschen, schwach und gebrechlich und mit Angst und Unsicherheit behaftet, wenn
unerwartet Neues gefordert wird.
Wieder auf Reisen
Nach Beendigung meiner Ferien in Baguio fuhr ich mit demselben klapprigen Bus nach Manila
zurück, um meine Reise nach Rom vorzubereiten. Mit einer niederländischen Fluggesellschaft
flog ich am 2.3.1967 über Bangkok und über Karatschi in Richtung Rom. Als wir uns ungefähr
über dem Heiligen Land befanden, wurde per Lautsprecher durchgegeben, dass das Flugzeug in
Rom nicht landen würde, weil nur ein einziger Passagier dort aussteigen würde - und das war
ich. So entschloss sich der Pilot, nonstop nach Frankfurt zu fliegen. Von dort aus brachte mich
eine Lufthansamaschine nach München. Da stand ich nun – kein Mensch war da, um mich
abzuholen, denn in Tutzing konnte man ja nicht wissen, was während des Fluges geändert
worden war. Also fuhr ich mit dem Bus zum Bahnhof und mit dem Zug nach Tutzing. Die waren
natürlich sehr erstaunt, dass ich so plötzlich auftauchte. Nach einigen Erklärungen wurde die
Sache mit Rom ins Reine gebracht, und ich blieb eine Zeitlang in Tutzing. Da ich von der
Generaloberin angewiesen worden war, vorerst niemandem von meiner Sendung nach
Brasilien zu erzählen, erschien mein Aufenthalt etwas mysteriös, und so musste ich auf alle
Fragen ausweichend antworten, was schwierig war.
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Gemäß den Beschlüssen des Konzils wurden die Klöster auf Wunsch des Hl. Vaters angewiesen,
ihre Ordenstracht zu vereinfachen. So wurden wir alle neu eingekleidet.
Unsere Kongregation hatte damals ihren Hauptsitz in
Grottaferrata, einem schönen, kleinen Städtchen in der Nähe von
Rom. Da dieses Haus aber kein eigenes Einkommen hatte, war es
finanziell und versorgungsmäßig völlig von Tutzing abhängig.
Deshalb fuhr in Abständen ein Kleinbus nach Rom, um die Vorräte
aufzufüllen. Die Generalpriorin bat mich, mit diesem Kleinbus
nach Rom zu kommen. Ich hatte ja auch eine ganze Tasche voll
mit Briefen und wichtigen Papieren mitgebracht, die ich gerne
abgegeben hätte. So fuhren wir eines Tages zu dritt mit einem bis
oben vollbepackten Auto los. Es war
Vorfrühling. In den Bergen lag noch
jede Menge Schnee. In Richtung Bozen
– Verona hatte der Frühling aber bereits Einkehr gehalten und auf
der „Via del Sol“ weiter im Süden war bereits Sommer. Es war eine
unvergesslich schöne Fahrt. Und da ich mittlerweile eine richtige
Reisetante geworden war, genoss ich die Fahrt in vollen Zügen. Nach
zwei Wochen ging es denselben Weg wieder zurück. Bezüglich
meiner Brasilienreise war alles besprochen worden, und die
Vorbereitungen (Visum, u. ä.) wurden sogleich in Angriff genommen.
Vor meiner Abreise war ein „Einkehrtag“ angesagt - heute würde man das einen „Wüstentag“
nennen. Ich hatte also einen ganzen Tag Zeit, über meine Zukunft, meine Arbeit, und damit
über mein neues Leben nachzudenken. Ich war nun vollkommen überzeugt, dass dieser Weg
von Gott geplant und in seinem Willen lag.
Meine Arbeit in Brasilien
So flog ich am 21. April 1967 via München – Frankfurt – Lissabon nach Recife
(Brasilien). In Lissabon hatte ich mehrere Stunden Aufenthalt. Eine unserer
Schwestern, die dort studierte, kam und half mir, die Zeit zu überbrücken. Wir
flogen die ganze Nacht über dem großen Wasser und kamen gegen 5 Uhr
morgens in Recife an. Einige Schwestern, in der portugiesischen Sprache schon bewandert,
holten mich ab und erledigten die Sache mit der Zollabfertigung.
Nun war ich also zum dritten Mal in eine ganz neue Welt versetzt!
Wohin ich auch schaute, alles war fremd und vor allem, ich konnte
kein Wort verstehen. Zum Glück sind in jeder Gemeinschaft einige
deutsche Schwestern, die über die ersten Hürden hinweghelfen
können.
Wir fuhren nun nach Olinda, einer auf einem Berg gelegenen Stadt.
In Portugiesisch heißt dieser Berg „Alta de Misericordia“. Olinda
heißt auf Deutsch „O wie schön“. Man hat von dort eine herrliche
Aussicht auf die Stadt Recife, auf deren Hafen und vor allem auf
das weite große Meer. Das Klima ist heiß und schwül. Unser Kloster
mit der Schule steht auf dem höchsten Gipfel der Umgebung.
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Dort weht fast ständig ein leichtes Lüftchen vom Meer her,
so dass die Hitze erträglicher wird. Das Haus ist schon sehr
alt und ebenso wie die Kirche nach einheimischem Stil
gebaut. Die Schule war neueren Datums, sie reichte vom
Kindergarten bis zum Kolleg. Für mich begann nun eine
schwierige Zeit des Neuanfangs. Allein schon das Sicheinfügen in eine 60-köpfige Gemeinschaft, das
Kennenlernen der vielen Mitschwestern war nicht leicht.
Und dazu die neue Sprache!
Nach zwei Monaten Aufenthalt in Olinda packte ich wieder mal die Koffer und fuhr mit einer
brasilianischen Schwester zu meinem eigentlichen Bestimmungsort Barbalha im Staat Ceara.
Einen ganzen Tag und eine halbe Nacht waren wir im Bus unterwegs auf holprigen, staubigen
Straßen durch größtenteils unbewohntes Land mit ausgetrocknetem Boden und dürren
Sträuchern. Nachts gegen 22.00 Uhr kamen wir endlich an. Mein neues Kleid – es war schon die
neue Ordenstracht – war über und über mit rotem Staub bedeckt. Brasilien ist ja bekanntlich
das „Land der roten Erde“.
Viel Arbeit kam jetzt wieder auf mich zu und vor allem das Erlernen der Sprache. Ich lernte dort
weniger im Unterricht als durch Hören und Sprechen. Meine portugiesische Lehrerin war
zugleich die Direktorin des Kollegs, wo ich zunächst wohnte, bis unser Schwesternheim fürs
Krankenhaus fertig war. In Barbalha sollten nämlich zwei Gemeinschaften von
Missionsbenediktinerinnen entstehen.
Eine Episode aus dieser Zeit, in der ich jeden Tag zum Krankenhaus ging, ist mir noch in
lebhafter Erinnerung. Eines Tages begegnete ich dabei einer Mutter, die ein nacktes Kind auf
dem Arm trug. Sie flehte mich an, ihr ein Stück von meinem weissen Skapulier (Teil der
Ordenstracht) zu geben, um ihr Kind darin einzuwickeln. Heute noch tut es mir leid, dass ich ihr
damals nicht helfen konnte!
Wir hatten damals eine sehr verständnisvolle Oberin, die mir sehr viel bei der Bewältigung der
Anfangsschwierigkeiten geholfen hat. Für das neue Krankenhaus war der Pfarrer des Ortes
zuständig. Obwohl er keine Ahnung vom Bau eines Krankenhauses hatte, führte er die Aufsicht
und verwaltete die Gelder von Misereor, von denen das Krankenhaus gebaut wurde. Zudem
benötigte man dringend ein Wohnhaus für die Schwestern, das als Klausur dienen sollte. Mit
großer Mühe konnten wir einen Architekten ausfindig machen, denn das Haus sollte noch vor
der Eröffnung des Krankenhauses bezugsfertig sein. Der Architekt verlangte nun von uns
Schwestern einen Bauplan, da er selber nicht in der Lage war, einen zu zeichnen. Diese Arbeit
wurde mir zugeschoben. Ich probierte und probierte, bis ich schließlich mit Hilfe der Oberin
einen maßstabgetreuen Bauplan für ein Haus mit einer Kapelle, mit Esszimmer,
Schwesternzimmer, Küche und Bad auf dem Papier hatte. Der Bürgermeister genehmigte sofort
den Plan, und da ein Bauplatz schon vorhanden war, konnten die Arbeiten gleich beginnen. Es
wurde ein kleines hübsches Häuschen in Hufeisenform, umgeben von einem kleinen Garten für
Blumen und Sträuchern. Da ich kein Geld zur Verfügung hatte, ging ich ins Dorf und bat die
Leute um Ableger, die ohne viel Aufwand eingewachsen sind. Sogar Rosenstöcke wachsen
problemlos ein, indem man Stielteile einfach in die Erde steckt und fleißig gießt. Es gedeiht hier
alles sehr gut. Palmen reichen nach ein paar Jahren bis ans Dach. Nachdem der Bau beendet
war, putzte ich alles blitzblank für den Einzug.
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Da es in der Gegend von Barbalha nur einmal im Jahr (Oktober–November) eine Regenzeit gibt,
war ich fleißig mit Gießen beschäftigt. Sonst war ich jede freie Minute am Nähen für die
Entbindungsstation. Zudem sammelte ich Fläschchen und Gläschen für verschiedene Tropfen
und Tinkturen. Der Rohbau des Krankenhauses stand bereits, aber innen war noch eine Menge
Arbeit zu tun. Meine zukünftige Oberin, die einmal zu Besuch kam, war hocherfreut und gab
mir weitere Anweisungen.
Während ich in unserem neuen Hause fast wie eine „Königin“ residierte, kamen tagsüber
manchmal schon Arme an die Haustüre und bettelten um Essen und Kleidung. Diese Zeit ist für
mich sehr angenehm gewesen. Ich war mein eigener
Herr und konnte schalten und walten, wie ich wollte.
Nachts schlief ich bei den Schwestern im Kolleg. Bald
kam noch eine zweite Schwester, die beauftragt war,
den Operationssaal vorzubereiten. Es dauerte noch
geraume Zeit, bis unsere Gemeinschaft komplett war
und das Krankenhaus bezugsbereit. An den Tag der
Einweihung kann ich mich leider nicht mehr erinnern.
Es erhielt den Namen:
„Hospital e Maternidade Sao Vicente de Paulo“.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, an die vielen Vorbereitungen, an das Planen und
Überlegen, an den Aufbau des Krankenhauses und des Schwesternheimes, an den Verlauf des
ganzen Unternehmens, dann muss ich gestehen, dass ich eine Menge geleistet habe. Was
konnte ich alles Gutes tun, den Armen helfen, und vieles mehr, kurz, es war die ideale Tätigkeit
für eine Missionarin. Es soll sich aber niemand denken, ich hätte damals in Hochgefühlen
geschwelgt. Meine geringen Sprachkenntnisse waren häufig hinderlich im Umgang mit Ärzten
und Schwestern, mit Armen und Wohlhabenden. Am schwierigsten war es am Anfang,
Geburtsberichte in portugiesischer Sprache zu verfassen; denn die ganze Verantwortung für
Mutter und Kind lag allein auf mir. War beispielsweise ein Neugeborenes krank, so stand ich
völlig alleine da. Die Ärzte sagten mir geradeheraus, sie könnten das Kind nicht behandeln. Tag
und Nacht hatte ich oft große Sorgen mit kranken Kindern.
Als Hilfe hatte ich eine schon etwas ältere Hebamme, die aber nicht lesen und schreiben
konnte. Sie war früher Dorfhebamme in irgendeinem Dorf auf dem Land gewesen, wo man mit
höchst primitiven Mitteln die Geburtsvorgänge versorgt. Es wird dort mit sogenanntem
natürlichem Werkzeug gearbeitet, z. B. wird die Nabelschnur mit Gras abgebunden. Diese
Hebamme hatte natürlich keine Ahnung von Sterilität, wie ich es gelernt hatte. So musste ich
der alten Frau erst beibringen, wie man mit sterilen Instrumenten umgeht. Sie machte meistens
Nachtdienst, wo sie niemand kontrollieren konnte. Morgens berichtete sie dann mündlich von
den Ereignissen der Nacht, und ich musste ihr alles glauben und die Geburtsberichte verfassen.
Einmal hatte ich ein kleines Büblein, das konnte schon seit drei Tagen kein Wasser lassen. Ich
versuchte alles Mögliche, um zum Erfolg zu kommen. Kein Arzt wagte sich an einen Eingriff. In
meiner großen Not nahm ich eine Medaille vom heiligmäßigen Papst Johannes XXIII und band
es an das Ärmchen. Dazu machte ich warme Umschläge auf die Blase des Kindes. Und siehe da!
– Das Unglaubliche geschah. Wenn ich heute zurückdenke, bin ich immer noch der festen
Überzeugung, dass der heilige Papst geholfen hat.
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Näheres aus Barbalha
Der Ort Barbalha ist etwa so groß wie Jedesheim. Es leben dort ungefähr 30 wohlhabende
Familien, die ein schönes Haus und dazu einige Felder besitzen. Die anderen sind sehr arm und
haben meistens eine Stube voll Kinder. Da für den Besuch der Schule ein Schulgeld entrichtet
werden musste, die Armen aber oft kein Geld hatten, brachten sie Naturalien in Form von
Eiern, Hühnern, Maiskolben oder anderem Gemüse als Bezahlung. Barbalha ist eigentlich eine
Oase inmitten eines riesigen Gebietes, das nur in der Regenzeit grün wird. Es gibt dort mehrere
Quellen, die das Dorf und die dazugehörigen Weiler mit Wasser versorgen. Die reichen Leute
besitzen dort Zuckerrohrplantagen und Mais- und Gemüsefelder. Die Arbeit auf den Feldern
wird mit sehr einfachen Mitteln erledigt. Mit dem Bau des Krankenhauses fanden viele Leute
Arbeit und konnten so ihre Situation etwas verbessern. Besonders die armen Familien leben
unter primitivsten Verhältnissen. Es gibt nur einmal am Tag etwas zu essen, deshalb sind viele
Kinder unterernährt, von den vielen Wurmkrankheiten ganz zu schweigen. Es gibt in fast keiner
Hütte eine Toilette. Jeder geht einfach hinters Haus! Eine unserer Schwestern vom Kolleg
versuchte einmal, Werkzeug, Bretter und sonstiges zu kaufen, um den Leuten eine Möglichkeit
zu geben, sich eine Toilette bauen zu können. Leider stellte sich später heraus, dass das ganze
Gerät weiter verkauft worden war, und das Geld war für alkoholische Getränke ausgegeben
worden. Im Krankenhaus gab es viel Elend. Schwerkranke Menschen brachte man im Jeep oder
auf dem Rücken eines Angehörigen zu uns mit allen möglichen Krankheiten. Es gab selten ein
leeres Bett. Viele konnten geheilt werden, allein schon deshalb, weil sie bei uns dreimal am Tag
warmes Essen erhielten.
Nun war ich schon fast vier Jahre in Barbalha. Es war eine schöne, aber vor allem eine
aufreibende und verantwortungsvolle Arbeit, die ich täglich zu leisten hatte. Mein
Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Zudem war ich ins Klimakterium
eingetreten, meine Herzrhythmusstörungen traten immer häufiger auf, so dass ich tagelang
nicht arbeiten konnte. Obwohl ich jedes Jahr einmal nach Olinda zur Erholung fahren durfte,
- wir hatten dort ein kleines Ferienhäuschen am Meer –, musste ich meine Arbeit einstellen.
Eines Tages wurde mir nahegelegt, ein Jahr nach Deutschland zu gehen, um neue Kräfte zu
sammeln. Und so kam es auch. In Olinda war eine Schwester, die ebenfalls in einem schlechten
Gesundheitszustand war. So flogen wir zusammen von Recife via Lissabon – Frankfurt –
München nach Hause.
Welch ein Unterschied! – In Brasilien 30 Grad Hitze, in Deutschland winterliche Temperaturen,
es war ja Dezember. Da standen wir beide nun im Ulmer Hauptbahnhof, im dünnen
Sommerkleid und zitterten in der ungewohnten Kälte. Die Leute ringsum waren alle in dicke
Jacken gehüllt. Es war ein kalter Abend voll Nebel. Meine Mitschwester musste noch weiter bis
Ravensburg fahren, während ich nach kurzem Anruf zu Hause von Mutter und meinem
Schwager Willi mit dem Auto abgeholt wurde. Als erstes kaufte mir Mutter warme Kleidung,
denn die plötzliche Klimaumstellung setzte mir arg zu. Zudem wog ich gerade noch 50 Kilo und
meine Widerstandskraft war auf dem Nullpunkt. Mutter war in großer Sorge, ich könnte gar
Krebs haben. So blieb ich ein paar Wochen zu Hause, es war gerade über Weihnachten. Dann
fuhr ich nach Tutzing und begab mich in ärztliche Behandlung.
So ging langsam das Jahr vorüber. Ich war damals in großen Zweifeln, wie es weitergehen sollte.
Einerseits hatte ich mich recht gut erholt, andererseits aber blieb mir die Gewissheit, dass die
Arbeit in der Mission zu schwer für mich war. Meine Ärztin (eine Mitschwester) aber war der
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Meinung, es ginge mir so gut, dass ich wieder nach Brasilien zurück könnte, und dieser Meinung
schlossen sich auch meine Vorgesetzten an.
So flog ich eines Tages wieder nach Brasilien. Während meiner Abwesenheit von Barbalha hatte
man drei Entwicklungshelferinnen aus Österreich angestellt, von denen die eine meinen Platz
auf der Entbindungsstation übernommen hatte. Ich wurde dort also nicht mehr gebraucht. So
blieb ich in Olinda und wurde in der Verwaltung des Klosters eingesetzt. Das Verwaltungsbüro
lag in der Nähe des Schulgebäudes direkt neben dem Pausenhof, wo die Kinder lärmten und
schrieen. Da kann man sich vorstellen, mit welchem Aufwand an Nervenkraft man rechnen
musste. Mit Kopfschmerzen hatte ich schon jahrelang zu tun; aber es gab im Moment keine
andere Lösung. Da hörte ich eines Tages von einer Schwester, dass im Süden Brasiliens, im Staat
Santa Caterina, unsere Schwestern ein kleines Krankenhaus betreiben. Nach langem Überlegen
besprach ich mich mit der damaligen Priorin und sie glaubte auch, dass die Arbeit im
Krankenhaus meinen Fähigkeiten mehr entsprechen würde als eine Tätigkeit in der Verwaltung.
Und damit war die Sache entschieden.
In den Süden …
So bestieg ich eines Tages einen riesigen Bus, von den
Brasilianern als „Straßenschiff“ bezeichnet. Bis nach Sao Paulo verbrachte ich drei Tage und drei
Nächte in diesem Bus. Er hielt nur ab und zu, damit die Passagiere sich frisch machen und etwas
essen konnten. Es war eine enorme Strapaze. In Sao Paulo erwarteten mich die Mitschwestern,
die mich bis nach Sorocaba, unserm Prioratshaus, begleiten sollten. Wieder eine Busfahrt! Dort
konnte ich einige Tage bleiben; denn ich war noch lange nicht am Ziel. Das Klima hier im Süden
von Brasilien war merklich kühler und angenehmer.
Das Priorat Sorocaba
Nach acht Tagen Aufenthalt bestieg ich wieder den
Bus, der mich immer weiter nach Süden brachte,
einen ganzen Tag und eine ganze Nacht. Es war eine
meiner schrecklichsten Nächte, die ich je erlebte.
Ich fühlte mich unwohl, an Schlaf war nicht zu
denken, die vielen Menschen im Bus, unvorstellbar!
Spät am Nachmittag kam ich in Concordia an. Das
war die Endstation für den Bus, aber nicht für mich.
Und es war niemand da, um mich abzuholen.
Dank der Ratschläge, die ich erhalten hatte, begab ich mich mit Sack und Pack ins nahe
Krankenhaus, wo befreundete Schwestern von uns wohnten. Ich durfte mich dort etwas
ausruhen, bekam ausreichend zu essen und konnte sogar eine Stunde schlafen. Dann brachte
mich eine Schwester im Auto nach Peritiba, meinem endgültigen Reiseziel. Die Schwestern dort
hatten mich erst einen Tag später erwartet, deshalb war auch niemand gekommen, um mich
abzuholen. Nun war ich gespannt, was mich erwarten würde. Todmüde fiel ich an jenem Abend
ins Bett. Vier Schwestern teilten sich einen Schlafraum, nur mit Bretterwänden getrennt, für
mich völlig ungewohnt, aber ich konnte endlich schlafen!
Da Brasilien auf der Südhalbkugel liegt und Peritiba im südlichen Teil des Landes gelegen ist,
kommt das Klima dem in Deutschland fast gleich, nur wenn hier Sommer ist, herrscht dort
Winter und umgekehrt. Es kann sogar schneien. Die Gegend ist hügelig, deshalb liegen die
Bauernhöfe, die zu Peritiba gehören, weit auseinander.
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Die Bevölkerung besteht zum großen Teil aus ehemaligen deutschen Einwanderern und
manche alten Leute sprechen heute noch ein holpriges Deutsch. Die Jüngeren und die Kinder
sind richtige Brasilianer. Die Gegend um Peritiba ist sehr fruchtbar und wird „brasilianische
Schweiz“ genannt. Es wachsen dort Früchte, die so ähnlich sind wie unsere Erdbeeren. Alles ist
so richtig ländlich wie zu meiner Kinderzeit in Jedesheim. Geht man durch die Felder, so findet
man immer wieder „Achate“, Halbedelsteine. Weniger angenehm und sogar gefährlich sind die
Schlangen. Darüber möchte ich später noch genauer berichten.
Unser Haus ist ein ehemaliges Priesterseminar, in Hufeisenform gebaut, und steht auf einer
Anhöhe. Das Krankenhaus jedoch liegt im Tal direkt an der Landstraße. In einem Teil des Hauses
wohnten zwei Priester, die die Bewohner der Umgebung seelsorglich betreuten. Im mittleren
Teil steht eine große Kirche, die einst die Seminaristen benutzten, für uns fünf Schwestern aber
natürlich viel zu groß war. Im linken Flügel war das Wohnheim für uns Klosterfrauen. Dass
Priester im gleichen Haus wie wir Schwestern lebten, war für uns recht unangenehm.
Dann zeigte mir die Oberin das Krankenhaus. Es ist unbeschreiblich, was ich da zu sehen bekam.
Das Haus war aus Holz gebaut. Die doppelten Bretterwände außen ließen dazwischen so viel
Platz, dass Mäuse und Ratten bequem darin hausen konnten. Im hinteren Teil des Gebäudes
hatte sich zwischen den Brettern ein Schwarm wilder Bienen eingenistet, so dass man Tag und
Nacht das Brummen und Summen hören konnte. Die Kranken dort störte das garnicht. Die
Wasserrohre bestanden aus Hartgummi und wurden immer wieder von Ratten angenagt. Die
sanitären Verhältnisse waren katastrophal. Ein einziges WC diente Männlein und Weiblein,
natürlich notgedrungen auch dem Pflegepersonal. Die Bilder hingen zerrissen von den Wänden
und die Bäume, die in der Nähe des Hauses standen, bohrten ihre Wurzeln in die Gummirohre,
die das Abwasser ableiteten. Deshalb gab es immer wieder Überschwemmungen und
Verstopfung. Innen war alles voller Staub und meine erste Arbeit war, zu putzen und Ordnung
zu schaffen.
Und nun zu den Schlangen: Bei der Feldarbeit fanden die Leute häufig Schlangen. In einem
entsprechenden Behälter brachten sie die Tiere dann dem Pfarrer, der sie in Kisten sammelte.
Ob das seine Aufgabe war oder sein Hobby, war unklar. Er hatte hinter dem Haus extra eine
Hütte, wo er die Schlangen, nach Arten sortiert, in fest verschlossenen Kisten aufbewahrte. Von
Zeit zu Zeit ließ er die Tiere ans Tageslicht, um sie dann wieder einzusammeln. Dazu
verwendete er eine lange Stange mit einer verstellbaren Lederschlaufe. Mit dieser packte er die
Schlangen am Kopf und beförderte sie wieder in die Kisten. Einmal habe ich ihm zugesehen. Es
waren sehr giftige Schlangen, dunkelrot mit schwarzen Streifen um den Bauch. In der Kiste
lagen 15 -20 Schlangen friedlich schlafend. Als sie aber die frische Luft spürten, wurden sie
schnell lebendig und der Pfarrer hatte alle Hände voll zu tun, damit keine entfliehen konnte.
Nach etwa einer halben Stunde wurden sie wieder in die Kiste befördert. Es bedarf schon einer
großen Geschicklichkeit, um diese Biester zu bändigen. Waren einige Kisten voll, so brachte sie
der Pfarrer zu einer Schlangenfarm, wo sie in freier Natur leben konnten. Es wurde mir erzählt,
sie hätten einmal eine ziemlich dicke Schlange in der Kiste gehabt. Nachts sprengte sie den
Kasten und drang in das Haus ein. Man fand sie morgens im Hausgang. Obwohl mir das erspart
geblieben war, machte ich immer einen großen Bogen um die Schlangenhütte. Im Krankenhaus
gab es auch immer wieder Patienten, die von Schlangen gebissen worden waren. Je nachdem,
wie stark das Gift in den Körper gedrungen war, nahmen sie die Farbe der Schlange an. Im
Krankenhaus bekamen sie Schlangenserum.
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In der Gegend von Peritiba lebt man heute noch wie in Deutschland auf dem Land zu Beginn
des 20. Jahrhunderts, alles recht primitiv. Es gibt z.B. keinen Bäcker. Jedes Haus hat seinen
eigenen Backofen und die Leute verstehen durchaus, gutes Brot zu backen. Auch das
Krankenhaus hatte einen eigenen Ofen.
Unser Krankenhaus hatte Platz für 20 Betten. Zeitweise kam ein Arzt, um Operationen
vorzunehmen, ansonsten aber mussten wir Schwestern die Kranken behandeln. Die Oberin,
eine Schweizerin, war psychisch und körperlich eine robuste Person, die viel Courage hatte. Ich
dagegen hatte als Kinderkrankenschwester ein ganz anderes Fundament gelegt bekommen, das
auch gut zu mir passte. Ich war in allen meinen Unternehmungen äußerst vorsichtig. Als ich
mich einigermaßen eingelebt hatte, wurde ich auch für die Nachtwache eingeteilt. Jede zweite
Nacht war ich auf den Beinen und dazu musste ich noch einen halben Tag Arbeit bewältigen.
Für die Nachtwache war auf dem Speicher ein Bett aufgestellt worden, ausgestattet mit einem
knappen Moskitonetz, wo ich ruhen konnte, wenn gerade nichts zu tun war. An Schlaf war nicht
zu denken. Von jedem, der hustete, schnarchte oder die Toilette benutzte, drang das Geräusch
an meine Ohren. Und wenn es wirklich einmal still war, hörte ich die Mäuse und Ratten an den
Holzwänden kratzen. Es kam auch vor, dass Betrunkene an die Türe klopften und bei uns
schlafen wollten. Der Arzt hatte streng verboten, sie einzulassen, wenn er nicht anwesend war.
War die Nachtwache vorbei und ich legte mich schlafen, dann trampelte eine Schwester nach
der anderen in den Schlafsaal und meine wohlverdiente Ruhe war dahin.
Eines Nachts kam eine Mutter zur Entbindung. Das Kindlein kam ohne Komplikation zur Welt
und alles verlief nach Wunsch. In Ermanglung einer Kinderbadewanne benutzte ich das
Waschbecken. Als am anderen Morgen die Köchin zum Kaffeekochen kam, oh weh – was war
geschehen? Die Ratten hatten das Gummirohr durchgebissen und das ganze Abwasser von der
Geburt war in die Küche gelaufen. Bis ich zu Hilfe eilen konnte, war das meiste schon
aufgeräumt. Wir hatten auch eine kleine Apotheke im Haus, durch die jedoch nur tröpfelnd
etwas Geld hereinkam. Die meisten Patienten konnten den Krankenhausaufenthalt nicht
bezahlen und brachten dafür Gemüse, Eier oder ein Huhn als Entgelt. Deshalb hatten wir auch
nur wenig Krankenhauspersonal und das bedeutete oft Dienst und nur kurze Ruhepausen. Die
häufige Nachtwache und der unzureichende Schlaf zehrten wieder an meinen Kräften und ich
spürte, dass ich nicht lange durchhalten würde. Unter Aufbietung all meiner Kräfte versuchte
ich jeden Tag meine Arbeit zu verrichten. Aber je mehr ich mir zumutete, desto erschöpfter
wurde ich. Was sollte ich tun?
Als sich mein Gesundheitszustand spürbar verschlechterte, befürchtete ich einen
Nervenzusammenbruch. Es war eine ganz schlimme Zeit und ich glaubte ernstlich daran, in
einer Nervenklinik zu enden. Als ich keinen Ausweg mehr sah, trug ich mich mit dem Gedanken,
ich müsste die Kongregation verlassen und nach Deutschland zurückkehren, wo ich in normalen
Verhältnissen leben könnte. Der Oberin hatte ich nichts davon gesagt, sie hätte es doch nicht
verstanden.
Nun traf es sich glücklicherweise, dass die neue Generaloberin sich zur Visitation angesagt
hatte. Das war eine günstige Gelegenheit, ihr meine Schwierigkeiten darzulegen. Als sie ankam,
packte ich mal richtig aus mit allem, was mich belastete. Als sie von meinem möglichen Austritt
hörte, war sie natürlich nicht einverstanden und schlug vor, ich solle nach Rom ins
Generalratshaus gehen, um mich zu erholen. Die finanzielle Seite wurde auch geregelt und so
war die Reise beschlossen.
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Aber das war nicht ganz so einfach. Um nach Rom zu kommen, muss man erst wieder nach
Recife zurück. Erst von da aus startet das Flugzeug. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als in
den sauren Apfel zu beißen und die lange Busfahrt wieder anzutreten. Da man wegen der Hitze
als Proviant kein Butter– oder Wurstbrot mitnehmen konnte, musste ich mit den übrigen
Passagieren das jeweilige Restaurant aufsuchen. Da ging es ganz brasilianisch zu. Die
Fleischstücke wurden am Spieß über dem offenen Feuer gebraten, dann zerteilt und mit einer
etwa 80 cm langen Gabel den Gästen serviert. Auch daran kann man sich gewöhnen! In Recife
angekommen blieb ich eine Woche bei unseren Schwestern, die dort eine Schule unterhielten,
bis meine Reise nach Rom vorbereitet war. Ich sehnte mich nach einem Ort, wo ich von einem
Krankenhaus nichts mehr hören und sehen musste, wo ich endlich einmal in Ruhe und
Geborgenheit leben konnte und das Gefühl hatte, wieder zu Hause zu sein.
So bestieg ich nun das Flugzeug nach Lissabon. Bei diesem nächtlichen Flug über den Ozean
wurde das Hauptgericht, also das Mittagessen, um Mitternacht serviert. Bei der Ankunft gegen
Morgen gab es eine böse Überraschung. Das Essen war anscheinend nicht ganz frisch und ich
bekam Durchfall. Zum Glück hatte ich in Lissabon einen längeren Aufenthalt, so dass die Sache
sich wieder beruhigte. Halbtot erreichte ich Rom am 22. März 1974, denn der Durchfall brachte
auch andere Krankheitssymptome ans Tageslicht. Erleichtert stieg ich in Rom aus dem Flugzeug
und ich war wieder zu Hause! Damit war meine Tätigkeit in der Mission abgeschlossen.
Wie es weiterging …
Ich nahm an, dass ich nach einigen Monaten wieder nach Deutschland übersiedeln könnte.
Aber aus den Monaten wurden 5 Jahre Aufenthalt in Rom. Als ich hörte, dass man in Tutzing ein
Altersheim für alte und kranke Missionarinnen baute, meldete ich mich als Krankenschwester
für dieses Haus. Nach einem halben Jahr Praktikum für Altenpflege in Weilheim begann ich am
2. Juli 1980 meine Arbeit im Haus St. Benedikt in Tutzing. Allerdings dauerte es noch Jahre, bis
mein Gesundheitszustand sich merklich besserte.
Das Altenheim Haus St. Benedikt in Tutzing
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Hier noch einige Fotos aus der jüngsten Zeit
Sr. Alesia mit ihren Schwestern 2012
Mit den letzten zwei Schwestern im Jahr 2013
Das ist mein Bericht über meine Tätigkeit in der Mission. Ich danke meiner lieben Mutter, die
mir zum Abschied ein Album schenkte, um meine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Da diese
Ereignisse jedoch schon einige Zeit zurückliegen, sind mir manche Einzelheiten entfallen. Ich
hoffe, dass die Leser Verständnis haben für alle Unvollkommenheiten, sei es in Bezug auf
sprachliche Form oder auf sachliche Vollständigkeit.
Zum Hl. Osterfest 2015
Schwester Alesia Beer OSB
Haus St. Benedikt, Tutzing
Damit in allem Gott verherrlicht werde!
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