22. Jahrgang Entscheiderbrief Informations-Schnelldienst 5/2015 Entscheiderbrief 5/2015 2 Inhalt Verfahren Verfolgung in Anknüpfung an das 2 Merkmal Religion Dublinverfahren 20143 Verfahrensbeschleunigung durch 4 konzentrierte Zulässigkeitsprüfung Akten unanfechtbar abgeschlossener 5 Verfahren: Aufbewahrung und Einsicht Aktuelle Rechtsfragen Aus der Rechtsprechung5 EuGH: Europarechtliche Vorgaben 8 zum Flüchtlingsschutz bei Desertion Blick zum Nachbarn Aktuelles aus Europa9 Was sonst?/Literatur Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes _ Familienangehörige suchen, verbinden und vereinen IZ Asyl und Migration weist hin auf 10 12 Verfolgung in Anknüpfung an das Merkmal Religion Neue Dienstanweisung zur Entscheidungspraxis des Bundesamtes Nach dem Urteil des EuGH vom 05.09.20121 stellt nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit eine schutzauslösende Verfolgungshandlung dar. Der Schutzbereich des mit der Religion verknüpften Verfolgungsgrundes umfasst solche Verhaltensweisen, die der Antragsteller für sich als unverzichtbar empfindet. Maßgeblich für die Beurteilung, ob eine hinreichend schwere Verfolgungsgefahr besteht, ist damit unter anderem der subjektive Umstand, dass sich für die betroffene Person die Befolgung einer 1 C-71/11 u. C-99/11; vgl. Entscheiderbrief 11/2012, S. 4 f. religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität als besonders wichtig offenbart. Das sich an die Entscheidung des EuGH anschließende Urteil des BVerwG2 stellte ebenfalls fest, dass bei der Prüfung, ob tatsächlich eine Verfolgungsgefahr gegeben ist, sowohl objektive als auch subjektive Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Vor diesem Hintergrund kommt es für die Entscheidungspraxis des Bundesamtes bei einer vorgetragenen Konversion nicht ausschließlich auf den erfolgten Glaubensübertritt an, da dieser allein in der Regel noch nicht zu einer begründeten Verfolgungsfurcht führt. Bei Antragstellern, die unverfolgt aus ihrem Herkunftsland ausreisen, wird daher eine doppelte Prognose unter Würdigung der Gesamtumstände vorgenommen. Das Bundesamt berücksichtigt das zu erwartende Verhalten des Antragstellers in seinem Herkunftsstaat und die voraussichtliche Reaktion der Behörden oder anderer Akteure. Maßgeblich für diese doppelte Prognose sind jedoch nicht detaillierte Kenntnisse des Antragstellers über die Konversionsreligion. Diese spielen bei der Entscheidung eine lediglich untergeordnete Rolle; ein sogenanntes Religionsexamen wird daher nicht durchgeführt. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, wie es Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 - 141 Weimarer Reichsverfassung verbürgt, ist zu respektieren. Danach prüft der taufende Pfarrer die Ernsthaftigkeit des Glaubensübertritts auf der Grundlage der geltenden kirchlichen Lebensordnungen.3 Basis der doppelten Prognose ist vielmehr die Ernsthaftigkeit des religiösen Engagements in Deutschland, das sich durch ein Verhalten ausdrückt. Bescheinigungen über die Art, den Umfang und die Dauerhaftigkeit der Beteiligung des Antragstellers an den Aktivitäten der jeweiligen Kirchengemeinde geben darüber Aufschluss und sind zu berücksichtigen. Für die Überzeugungsbildung werden stets alle Aspekte des jeweiligen Falles– sowohl subjektive als auch objektive – in den Blick genommen. 2 Vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 <5356202> (abschließend VGH BW, U.v. 12.06.2013 – A 11 S 757/13; vgl. Entscheiderbrief 10/2013, S. 4). 3 Kirchenamt der Evangelischen Kirche und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (Hrsg.), Zum Umgang mit Taufbegehren von Asylsuchenden, Eine Handreichung, November 2013, S. 18. Entscheiderbrief 5/2015 3 Die Dienstanweisung Asyl wurde im Abschnitt Verfolgung in Anknüpfung an das Merkmal Religion – eingestuft als VS-NfD – neu gefasst. Inhaltlich ergibt sich daraus zwar keine Änderung der Entscheidungspraxis des Bundesamtes zu einer vorgetragenen religiösen Verfolgung oder Konversion, wohl aber in der methodischen Herangehensweise der Entscheider. Hierfür enthält die aktualisierte Dienstanweisung Fragestellungen, die der Aufklärung der religiösen Identität und Praxis des Antragstellers dienen. Die Entscheidungspraxis des Bundesamtes im Hinblick auf eine religiöse Verfolgung eines Schutzsuchenden entspricht damit den Vorgaben von EuGH und BVerwG. Sarah Bega, 410/Ursula Gräfin Praschma, AL 4 1 (9.102, 2013 Rang 2), gefolgt von Bulgarien (4.405, 2013 Rang 13), Ungarn (3.913, 2013 Rang 4), Polen (3.311, 2013 Rang 1) und Frankreich (2.422, 2013 Rang 5). Hauptherkunftsländer der tatsächlich überstellten Personen waren dabei die Russische Föderation (1.435), Kosovo (267), Somalia (251), Afghanistan (246), Pakistan (192), Georgien (166), Marokko (147) und Serbien (142). Die Zustimmungsquote der anderen Mitgliedstaaten stieg von 62,2 Prozent im Jahr 2013 auf 77,3 Prozent im Jahr 2014 an. Der EURODAC-Treffer-Anteil bei den Ersuchen Deutschlands stieg mit 68,5 Prozent um 1,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der EURODAC-TrefferAnteil bei Ersuchen anderer Mitgliedstaaten an Deutschland sank im Vergleich zum Vorjahr um 1,0 Prozent auf 57,2 Prozent. Übernahmeersuchen von Mitgliedstaaten an Deutschland Dublinverfahren 2014 Jahr Übernahmeersuchen an Mitgliedstaaten Jahr ÜE Auf Grund Zustim- Über- DE an Eurodac- mungen stellungen MS Treffer1 MS an DE2 DE in MS 2014 35.115 24.059 68,5 % 27.157 77,3 % 4.772 2013 35.280 23.543 66,7 % 21.942 62,2 % 4.741 2012 11.469 8.344 72,8 % 8.249 71,9 % 3.037 Die Anzahl deutscher Ersuchen an andere Mitgliedstaaten blieb 2014 gegenüber dem Vorjahr nahezu konstant. Dabei stellte Deutschland mit 35.115 rund siebenmal so viele Ersuchen an andere Mitgliedstaaten, wie es von diesen erhielt. Ein wesentlicher Grund für das anhaltend hohe Niveau war die große Anzahl von Ersuchen gegenüber Italien auf Rang 1 Die Prozentzahlen beziehen sich auf das Verhältnis der Übernahmeersuchen auf Grund von EURODACTreffern zu der jeweiligen Gesamtzahl an Übernahmeersuchen. 2 Die Prozentzahlen beziehen sich auf das Verhältnis der Zustimmungen zu der jeweiligen Gesamtzahl an Übernahmeersuchen. ÜE Auf Grund Zustim- Über- MS an Eurodac- mungen stellungen DE Treffer3 DE an MS4 MS nach DE5 2014 5.091 2.911 57,2 % 4.177 82,0 % 2.275 54,5 % 2013 4.382 2.549 58,2 % 3.603 82,2 % 1.904 52,8 % 2012 3.632 2.024 55,7 % 2.767 76,1 % 1.495 54,0 % Die Zahl der Ersuchen von anderen Mitgliedstaaten an Deutschland ist von 4.382 im Jahr 2013 auf 5.091 im Jahr 2014 gestiegen. Bei den fünf Mitgliedstaaten, von denen Deutschland die meisten Ersuchen erhielt, handelte es sich um Schweden (1.084, 2013 Rang 1), gefolgt von Frankreich (818, 2013 Rang 2), Niederlande (570, 2013 Rang 6), Schweiz (548, 2013 Rang 4) und Griechenland (462, 2013 Rang 3). Diese Mitgliedstaaten stellten in 2014 68,4 % aller Ersuchen an Deutschland. 3 S. Fn. 1. 4 S. Fn. 2. 5 Die Prozentzahlen beziehen sich auf das Verhältnis der Überstellungen zu den jeweils gegebenen Zustimmungen. Entscheiderbrief 5/2015 4 Verhältnis deutscher Übernahmeersuchen zur Zahl der Asylerstverfahren in Deutschland Asylerst- Über- anträge in nahmeersuchen Deutschland DE an MS 2014 173.072 35.115 20,3 % 2013 109.580 35.280 32,2 % 2012 64.539 11.469 17,8 % Jahr Prozentualer Anteil Der Rückgang des prozentualen Anteils an Ersuchen im Verhältnis zu gestellten Asylerstanträgen gegenüber dem Vorjahr wird darauf zurückgeführt, dass im zweiten Halbjahr 2013 in erheblichem Maße Übernahmeersuchen auch in älteren Dublin-Verfahren gestellt werden mussten, denen mit Inkrafttreten der Dublin-III-VO in 2014 Verfristung gedroht hätte. Für das Jahr 2014 ist zu berücksichtigen, dass im Interesse der Verfahrensbeschleunigung in Westbalkan-Verfahren in erheblichem Umfang auf Übernahmeersuchen verzichtet wurde und die Asylanträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden. Caroline Sheldon, 411 Verfahrensbeschleunigung durch konzentrierte Zulässigkeitsprüfung Häufig stellt sich nach Erlass eines Dublin-Bescheides heraus, dass die Entscheidung nicht auf die Dublin-Verordnung gestützt werden konnte. Dies ist einerseits der Fall, wenn bereits die Zuerkennung internationalen Schutzes durch einen anderen Staat erfolgt ist. Andererseits ist dies der Fall, wenn die Zuständigkeit auf Deutschland durch Ablauf der Überstellungsfrist übergegangen ist. Nach Sicht des Bundesamtes bleibt ein in Deutschland gestellter Asylantrag in diesen Fällen unzulässig. Deshalb werden die Begründungen von Dublin-Bescheiden wie folgt ergänzt: „Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen, dass der Antragsteller entgegen der bisherigen Erkenntnislage bereits in einem anderen europäischen Staat internationalen Schutz erhalten hat und deshalb die Dublin III-Verordnung keine Anwendung finden kann, bleibt es gleichwohl bei der Unzulässigkeit des Asylantrags (§ 60 I 3 und II 2 AufenthG). Auch wenn der frühere Asylantrag nicht zur Zuerkennung von internationalem Schutz geführt hat und die Bundesrepublik Deutschland zu einem späteren Zeitpunkt für die Prüfung des neuen Asylantrags zuständig würde (z.B. wegen Ablaufs der Überstellungsfrist), ergibt sich daraus allein noch nicht die Zulässigkeit des neuen Asylantrags. Nach § 71a I AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn außerdem die Voraussetzungen des § 51 I - III VwVfG vorliegen.“ Die Ergänzung erfolgt als Reaktion auf die Rechtsprechung der VG, die eine Prüfung alternativer Rechtsgrundlagen oder die Möglichkeit einer Umdeutung des Bescheides nach Ablauf der Überstellungsfrist ablehnen. Das Bundesamt stellt den Inhalt der durch Ziffer 1 der Bescheide getroffenen Regelung klar. Eine materielle Prüfung und Bescheidung des Schutzersuchens unterbleibt. Die Mitteilung des zuständigen Mitgliedstaats ist nicht Regelungsinhalt des Bescheids, sondern nur eine erforderliche Zusatzinformation für den Antragsteller (§ 31 VI AsylVfG). Die Verwaltungsgerichte reduzieren unzutreffend den Bescheid auf eine reine Zuständigkeitsbestimmung. Eine solche „Umdeutung“ soll den Verwaltungsgerichten künftig nicht mehr möglich sein. Das BVerwG (B.v. 18.02.2015 - 1 B 2.15, vgl. Entscheiderbrief 3/2015, S. 4 f.) hat unter Aufhebung eines Urteils des VGH BY klargestellt, dass es die Aufrechterhaltung eines Einstellungsbescheides wegen Nichtbetreibens des Verfahrens, auch wenn die Voraussetzungen nach § 33 AsylVfG nicht erfüllt sind, nicht ausschließt, wenn der Asylantrag wegen des bereits in einem anderen EU-Staat zuerkannten internationalen Schutzes unzulässig ist. Warum sollte etwas anderes gelten, wenn z.B. die Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren abgelaufen ist, der Zulässigkeit des Asylantrags aber auch andere Gründe entgegen stehen? Matthias Henning, SV AL 4 Entscheiderbrief 5/2015 5 Akten unanfechtbar abgeschlossener Verfahren: Aufbewahrung und Einsicht Bislang wurden Akten mit (teil-)positiven Entscheidungen längerfristig aufbewahrt, falls kein besonderer Löschungsgrund, z.B. Einbürgerung, eintrat. Zukünftig löscht bzw. vernichtet das Bundesamt nicht mehr nur Akten negativ entschiedener Fälle zehn Jahre nach der Unanfechtbarkeit, sondern auch die Akten mit (teil-)positiven Entscheidungen, sofern keine weiteren Verfahren anhängig sind. Mithin scheiden Einsichtnahmen nach zehn Jahren generell aus. Anträge auf Akteneinsicht in unanfechtbar abgeschlossenen Verfahren werden in der Zentrale (Referat MD 5) bearbeitet, wenn sich die Akte bereits im Zentralarchiv des Referates MD 5 befindet. Gehen solche Anträge in einer Außenstelle ein, leitet diese sie an die Zentrale weiter. Gerd Hildner, 410 in Anspruch nehmen. Das nicht näher substantiierte Argument, Albanien sei hierfür zu klein, ist zu pauschal, insbesondere wenn weder versucht wurde, in eine größere Stadt zu ziehen, noch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Opferfamilie Interesse und Möglichkeiten hat, jemanden andernorts zu finden. Bei Epilepsie (hier: 15-jährige Roma) ist grundsätzlich nicht überwiegend wahrscheinlich, dass bei einer Rückkehr alsbald schwere gesundheitliche Gefahr oder ein lebensbedrohlicher Zustand droht. Dies gilt umso mehr, wenn im Heimatland schon eine ärztliche Behandlung mit dem Einsatz eines geeigneten Medikamentes (hier: Carbamazepin) stattfand. Eine in Deutschland später geänderte Therapie (jetzt Trileptal 600) ändert daran nichts. Eine weitere Verbesserung der Anfallssituation unter der bisherigen Therapie, die nicht zu schweren gesundheitlichen Gefahren führte, ist kein Maßstab für eine Entscheidung nach § 60 VII 1 AufenthG. Es genügt, dass eine Erkrankung im Grundsatz und hinreichend auf Landesniveau behandelbar ist (B.v. 19.03.2015 - 5 B 1167/15 <5734383>). Kosovo PTBS-Behandlung/Verfügbarkeit/ Zugänglichkeit Aus der Rechtsprechung Albanien Blutrache/Epilepsie VG Oldenburg: Im Eilverfahren bestätigte das VG den Bundesamtsbescheid wegen unglaubhaften Vortrags. Ergänzend führte es allgemein aus, dass es bei Gefahr von Blutrache prinzipiell möglich und zumutbar ist, sich an das Nationale Versöhnungskomitee zwecks Versöhnung oder Einigung zu wenden. Zudem existieren neben diesem weitere Versöhnungskomitees, etwa die Albanian Foundation for Conflict Resolution and Reconciliation of Disputes, und zahlreiche NGOs, die in diesem Bereich tätig sind, wie das Bundesamt in seinem „Blickpunkt Albanien“ näher darlegt. Im Übrigen kann man sich in der Regel einem am Wohnort drohenden Konflikt durch Umzug in einen entfernteren Landesteil entziehen und dort bestehenden hoheitlichen Schutz VG Hannover: Psychische Erkrankungen, insbesondere auch posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), sind in Kosovo auf Landesniveau hinreichend behandelbar. Es gibt im öffentlichen Gesundheitssystem neun regionale Gesundheitszentren („Mental Health Care Centres“). Patienten, die stationärer Behandlung bedürfen, werden in vier Regionalkrankenhäusern in Abteilungen für stationäre Psychiatrie sowie in der Psychiatrischen Klinik der Universitätsklinik Pristina behandelt. Diese Regionalkrankenhäuser verfügen über ausreichend Betten und jeweils über eine angeschlossene psychiatrische Ambulanz mit fachärztlicher Betreuung. Wer an einer PTBS leidet, erhält in den öffentlichen psychiatrischen Einrichtungen primär medikamentöse Hilfe. Es wird auch gesprächstherapeutisch behandelt, wenn dies medizinisch notwendig ist und ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Zudem führen NGO‘s psychotherapeutische Behandlungen durch. Soweit bestimmte Medikamente in Kosovo 6 nicht verfügbar sein sollten,1 ist grundsätzlich eine Umstellung auf andere Präparate mit vergleichbarer Wirksamkeit möglich. Den Übergang kann erforderlichenfalls die Mitgabe eines Medikamentenvorrates sichern. Bei Prüfung des individuellen, insbesondere finanziellen Zugangs kommt es auch darauf an, ob Verwandte im Ausland Unterstützung leisten können.2 Weiter ist Hilfe im Rahmen des Rückkehrerprojektes URA II in den Blick zu nehmen. Danach können psychisch erkrankte Rückkehrer kostenfrei von Psychologen, die in Deutschland zu Traumaspezialisten geschult wurden, professionellen Beistand erhalten oder es werden entsprechende Behandlungsmöglichkeiten bei kosovarischen Ärzten vermittelt (U.v. 19.03.2015 - 12 A 10746/14 <5568695> i.S. einer Volkszugehörigen der Roma). Rechtsfragen Überzeugungsbildung/Nachfluchtgrund/ Konversion zum Christentum VG Ansbach: Es bedarf hinsichtlich einer etwaigen Gefährdung im Heimatland grundsätzlich der vollen richterlichen Überzeugung, dass jemand während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet aus ernsthafter, fester innerer Überzeugung zum christlichen Glauben übergetreten ist und für ihn dessen Ausübung auch bei angenommener Rückkehr eine besondere, identitätsprägende und unverzichtbare Bedeutung hat. Dazu genügt regelmäßig nicht, dass ein Kläger in der mündlichen Verhandlung Fragen zum Christentum fehlerfrei beantwortet. Entscheiderbrief 5/2015 zum Datum der Asylantragsentscheidung zählen. Ebenfalls für die richterliche Überzeugungsbildung prinzipiell erkenntnisgeeignet sind das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde bzw. die näheren Umstände ihrer Arbeit. So ist gerichtsbekannt, dass die Freie evangelische Gemeinde Nürnberg e.V. ein Treffpunkt iranischer Asylbewerber ist, der durch Mund-zu-Mund-Propaganda mitgeteilt wird. Über die Gemeinde kann man in regelmäßigem Kontakt mit Landsleuten bleiben. Es liegt nahe, dass sich die Asylbewerber bei derartigen Treffen, die z.B. in Form von Bibelkreisen, Taufvorbereitung4 und Büchertischen stattfinden, auch über ihre Situation und erfolgversprechende Möglichkeiten, einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erhalten, austauschen. Als eine solche wird insbesondere die Konversion zum Christentum gesehen, die inzwischen in fast allen Asylverfahren von Iranern vorgetragen wird5 (U.v. 05.12.2014 - AN 1 K 14.30550 <5565537> zu Iran; vergleichbar VG Gießen, U.v. 11.12.2014 - 3 K 1598/14.GI.A <5737602> zu Iran; VG Frankfurt/M., U.v. 24.09.2014 - 1 K 3593/13.F.A <5481537> zu Iran; VG Wiesbaden, U.v. 20.08.2014 - 2 K 1111/12. WI.A <5465041> zu Pakistan; a.A. VG Stuttgart, U.v. 20.09.2013 - A 11 K 5/13 <5472083> zu Iran, Berufung wegen Abweichung zugelassen von VGH BW, B.v. 23.09.2014 - A 3 S 2322/13 <5472083>). Vgl. hierzu den Beitrag „Verfolgung in Anknüpfung an das Merkmal Religion“ in diesem Entscheiderbrief. Suizidalität/Abschiebung Es steht die bloße Wiedergabe erlernten Wissens im Raum, was keinen Rückschluss auf die innere Überzeugung zulässt. Deshalb sind für eine Überzeugungsbildung prinzipiell alle Aspekte eines Falles in den Blick zu nehmen.3 Dazu können beispielsweise die Persönlichkeit und intellektuelle Disposition eines Ausländers, die Glaubhaftigkeit seines Vorfluchtvorbringens sowie der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme zu einer christlichen Gemeinde in Relation zur Einreise in die Bundesrepublik und 1 Grundsätzlich können alle Medikamente des deutschen Pharmamarktes problemlos eingeführt werden (vgl. Entscheiderbrief 12/2014, S. 5). 2 Vgl. BVerwG, B.v. 01.10.2001 - 1 B 185/01, juris. 3 Vgl. VGH BY, Be.v. 07.05.2013 - 14 ZB 13.30083, juris und B.v. 29.04.2010 - 14 ZB 10.30043; OVG NW, B.v. 11.11.2013 - 13 A 2252/13.A <5384837 >. OVG NW: Nicht jede Form der Suizidalität begründet eine Gefahr i.S.d. § 60 VII 1 AufenthG. Es ist graduell zu differenzieren zwischen Suizidgedanken ohne Wunsch nach Selbsttötung – was ebenfalls zur Suizidalität zählt – und drängenden Suizidgedanken mit konkreten Absichten und Plänen bis hin zu Vorbereitungshandlungen. Die zeitlich begrenzte bloße innere Hinwendung zu Selbsttötungsgedanken jedenfalls rechtfertigt ohne das Hinzutreten damit 4 Kirchliche Bescheinigungen, etwa über eine Taufe, ersetzen grundsätzlich genauso wenig wie ärztliche Atteste eine richterliche Überzeugungsbildung (vgl. etwa VG Darmstadt, U.v. 28.03.2014 - 3 K 516/12.DA.A <5493746>, vgl. Entscheiderbrief 8-9/2014, S. 6 u. OVG NI, B.v. 16.09.2014 - 13 LA 93/14 <5567772>). 5 Vgl. VG Braunschweig, U.v. 11.06.2013 - 2 A 1271/12 <5554562>. Entscheiderbrief 5/2015 verbundener äußerer Anzeichen einer Gesundheitsverschlechterung wie Verletzungshandlungen, körperlichem Verfall oder vegetativen Auffälligkeiten keine Annahme einer besonders intensiven Gesundheitsverschlechterung. Charakteristisch für eine Ankündigung, sich wegen des Zwangs zur Rückkehr (hier: Afghanistan) das Leben zu nehmen, ist, „ (…) dass damit die Möglichkeit ihrer Umsetzung erst ins Blickfeld des Adressaten rückt und dies in der Regel auch bewusst veranlasst wird. Mangels zuverlässiger Überprüfbarkeit der dahinterstehenden Motivation und Ernsthaftigkeit muss schon die Äußerung als solche regelmäßig zu der Bewertung führen, dass suizidale Handlungen nicht ausgeschlossen werden können, was gleichbedeutend damit ist, dass die Möglichkeit einer Selbsttötung besteht. In gleichem Maße besteht diese Möglichkeit aber bei demjenigen, der entsprechende Gedanken hat, diese aber nicht äußert. Die Äußerung hat deswegen isoliert betrachtet wenig Aussagekraft. Die daraus allenfalls ableitbare Möglichkeit suizidaler Handlungen kann sich nur bei Hinzutreten weiterer Indizien zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit verdichten.“ Abgesehen davon liegt ein Abschiebungshindernis nach § 60 VII 1 AufenthG auch deswegen nicht vor, weil die als möglich erachtete suizidale Krise in Zusammenhang mit der Abschiebung als solcher steht und nicht mit den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat der Abschiebung. Deshalb geht es nicht um Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses, sondern allenfalls um die eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses gemäß § 60a II AufenthG, das nicht gegenüber dem Bundesamt, sondern allein gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen ist (U.v. 27.01.2015 - 13 A 1201/12.A <5386602>; zu Sicherungsmaßnahmen der ABH bei Suizidgefährdung i.V.m. einer Abschiebung vgl. VG Koblenz, B.v. 23.02.2015 - 3 L 99/15.KO). Dublin-Verordnung/Zuständigkeit bei wiederholtem Antrag Minderjähriger OVG SL: Unbegleitete Minderjährige können sich uneingeschränkt auf die Zuständigkeitsregelung in Art. 6 II Dublin-II-VO (Art. 8 IV Dublin-III-VO) berufen. Ob sie bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat erfolglos um Asyl nachsuchten, ist unerheblich. 7 Nach Ablehnung des ersten Asylantrags unterfällt nicht nur ein weiterer – nicht identischer – Antrag eines Minderjährigen unverändert Art. 6 II DublinII-VO. Auch ein nach Ablehnung des ersten Antrags identischer weiterer Asylantrag des Minderjährigen begründet die Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats. Dass ein anderer Mitgliedstaat der Wiederaufnahme zugestimmt hat, ändert daran nichts (U.v. 09.12.2014 - 2 A 313/13 <5417023>; jetzt BVerwG 1 C 14.15). Dublin-Verordnung/Überstellungsfrist/ „Kirchenasyl“ VG Saarlouis: Die Regelüberstellungsfrist von sechs Monaten beginnt nach der negativen Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz nach § 34a AsylVfG neu zu laufen (Art. 29 I 1; 27 III DublinIII-VO). Personen, die sich einer beabsichtigten Abschiebung durch Kirchenasyl (hier: sog. offenes „Kirchenasyl“6) und damit bewusst der Ordnung des Staates entziehen, dürfen aber nicht besser gestellt werden als sich gesetzestreu verhaltende Ausländer. Daher gilt gemäß Art. 29 II Dublin-III-VO für Personen in „Kirchenasyl“ nicht die Überstellungsfrist von sechs Monaten, sondern die für das Untertauchen einer Person vorgesehene Frist von achtzehn Monaten (Ue.v. 06.03.2015 - 3 K 832/14, 3 K 902/14 <5716221, 5748490>). Das Bundesamt hat mit der evangelischen und katholischen Kirche eine Pilotphase für Kirchenasylfälle vereinbart, in der bis Herbst 2015 Strukturen für eine Zusammenarbeit aufgebaut werden sollen. Bei der Bearbeitung solcher Fälle sind die „Bearbeitungshinweise zu Kirchenasylfällen“ vom 25.03.2015 zu beachten. Dublin-Verordnung/Familieneinheit/ Zusicherung – Prüfung VG Schwerin: Es bedarf keiner ausführlichen gerichtlichen Untersuchung im Einzelfall, in welche konkreten Verhältnisse in Italien zurückgeschickt wird. Zwar sind die Mitgliedstaaten bei der Überstellung von Familien mit Kindern (insbesondere Kleinkindern) gemäß der EGMR-Rechtsprechung verpflichtet, Zusicherungen der italienischen Behörden einzuholen, dass eine kindgerechte Unterbrin6 Bei sog. offenem Kirchenasyl handelt es sich um die Aufnahme in kirchlichen oder kirchennahen Räumen (z.B. bei 5748490 ein Pfarrheim sowie Kindergarten und das Außengelände) unter Mitteilung der Anschrift. Entscheiderbrief 5/2015 8 gung unter Wahrung der Familieneinheit erfolgt.7 Doch hat das Bundesamt gegenüber dem Gericht in allgemeiner Form erklärt, diese Zusicherung in jedem Einzelfall rechtzeitig vor Abschiebung über die Liaisonbeamtin vor Ort einzuholen.8 Es besteht kein Anlass, an der Verbindlichkeit dieser Erklärung zu zweifeln. Daher braucht das Bundesamt eine abgegebene Zusicherung nicht in jedem gerichtlichen Eilverfahren gesondert schriftsätzlich vorzutragen. Das BVerfG hat in seinen Beschlüssen vom 17.09.20149 keine weitergehenden Anforderungen aufgestellt (B.v. 13.02.2015 - 5 B 700/14 As <5749305>; zum Zeitpunkt und Inhalt einer Zusicherung aus Schweizer Sicht vgl. BVerwG [Schweiz], U.v. 12.03.2015 - E-6629/2014). Für das BVerfG bedarf diese Auffassung näherer Überprüfung. Die gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit des Behördenhandelns könnte im konkreten Einzelfall beeinträchtigt sein. Insbesondere sei fraglich, ob es ausreiche, wenn eine Behörde pauschal behaupte, sich nach Recht und Gesetz verhalten zu wollen (B.v. 17.04.2015 - 2 BvR 602/15 <5734815>). Umdeutung/Dublinbescheid in Drittstaatenbescheid VG Saarlouis: § 47 VwVfG erlaubt die Umdeutung eines Dublinbescheides in einen Drittstaatenbescheid. Beide Verwaltungsakte – die Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 27a AsylVfG einerseits und die Ablehnung eines Asylantrags nach § 26a AsylVfG andererseits – sind auf das gleiche Ziel gerichtet. Denn „in beiden Verfahren steht das Asylbegehren nicht inmitten; es erfolgt keine materielle Durchführung eines Asylverfahrens. Auch das anzuwendende Verfahren (vgl. § 31 I AsylVfG, insbesondere Satz 4) und die sich aus den beiden Varianten ergebende Rechtsfolge, die Abschiebungsandrohung nach § 34a AsylVfG, ist identisch.“ Die Entscheidung erging im Fall eines Eritreers, dem Italien 2013 den Flüchtlingsstatus zuerkannt hatte (U.v. 06.03.2015 - 3 K 904/14 <5724202>; a.A. VG Oldenburg, U.v. 11.03.2015 - 1 A 156/15 <5694895>). 7 U.v. 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel), vgl. Entscheiderbrief 11/2014, S. 5 f. 8Vgl. Entscheiderbrief 2/2015, S. 7. 9 2 BvR 1795/14 u.a., vgl. Entscheiderbrief 10/2014, S. 5. Näher zur Problematik s. Entscheiderbrief 12/2014, S. 2 f. (mit Beilage) u. vgl. „Verfahrensbeschleunigung durch konzentrierte Zulässigkeitsprüfung“ in diesem Entscheiderbrief. Dr. Roland Bell EuGH: Europarechtliche Vorgaben zum Flüchtlingsschutz bei Desertion Auf Vorlage des VG München urteilte der EuGH am 26.02.20151 zu den europarechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von Flüchtlingsschutz bei Desertion (Art. 9 IIe QualfRL2). Zugrunde lag der Fall eines US-Amerikaners, der 2007 seine Einheit in Deutschland verlassen hatte, weil er nach fünf Monaten Einsatz in den Jahren 2004/2005 nicht erneut als Mechaniker Hubschrauber in Irak warten wollte. Damit würde er sich seiner Auffassung nach an Kriegsverbrechen beteiligen. Er war 2003 in die Armee eingetreten und hatte seinen Dienst nach seiner Rückkehr aus Irak verlängert. . Der EuGH stellte fest, dass der Flüchtlingsschutz für sämtliche Militärangehörige gilt, d.h. auch für Logistik- und Unterstützungspersonal. unter Begehung von Kriegsverbrechen nicht nur das unmittelbar kriegerische Tun zu verstehen ist. Vielmehr soll grundsätzlich auch vor einer mittelbaren Beteiligung geschützt werden. In diesem Fall muss es aber bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheinen, dass jemand aufgrund seiner Funktionen eine für Vorbereitung oder Durchfüh- . 1 C-472/13 <5354888>. 2 Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Art. 12 II fallen. Die Neufassung der RL 2004/83 EG durch RL 2011/95/EU v. 13.12.2011 ließ den Wortlaut unverändert. Entscheiderbrief 5/2015 rung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde. es grundsätzlich unerheblich ist, ob bereits Kriegsverbrechen begangen wurden oder vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden könnten. Es reicht aus, wenn der Asylantragsteller eine hohe Wahrscheinlichkeit für solche Verbrechen darlegen kann. die Tatsachenwürdigung auf ein Bündel von Indizien zu stützen ist, welches sich für den Beleg einer Situation eignen, die die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt. Zu den relevanten Umständen, die dabei in den Blick zu nehmen sind, zählen insbesondere mit dem Herkunftsland verbundene aktuelle Tatsachen sowie individuelle Lage und persönliche Umstände des Antragstellers. zu berücksichtigen ist, ob eine militärische Intervention aufgrund eines Mandats des Sicherheitsrats der UN oder auf der Grundlage eines Konsenses der internationalen Gemeinschaft stattfindet und die Staaten der Operationen Kriegsverbrechen ahnden. In beiden Fällen ist der Ausschluss von Kriegsverbrechen bei der Durchführung gewährleistet. Rechtsvorschriften der beteiligten Staaten über die Bestrafung von Kriegsverbrechen sowie eine Ahndung sichernde Gerichte lassen die Behauptung, ein Militärangehöriger einer dieser Staaten könnte zu solchen Verbrechen veranlasst werden, wenig plausibel erscheinen. die Verweigerung des Militärdienstes das einzige Mittel für den Asylantragsteller sein musste, der Beteiligung an den behaupteten Kriegsverbrechen zu entgehen. Besteht die Möglichkeit eines Verfahrens zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, schließt dies einen Schutz nach Art. 9 IIe QualfRL grundsätzlich aus. Etwas anders gilt nur dann, wenn jemand beweist, keinen Zugang zu einem solchen Verfahren in seiner konkreten Situation gehabt zu haben. Dabei ist etwa zu berücksichtigen, ob sich der Schutzsuchende nicht nur freiwillig dienstverpflichten ließ, als die Armee bereits im Kampfeinsatz war, sondern seine Dienstzeit nach einem Einsatz auch noch verlängerte. von einer Verfolgung durch Diskriminierung bzw. unverhältnismäßige Strafen (Art. 9 II b, c QualfRL) wegen Desertion nicht schon deshalb ausgegan- . 9 gen werden kann, weil eine Entlassung aus der Armee im Raum steht oder 100 Tage bis 15 Monate Haft drohen, die sich u.U. auf bis zu fünf Jahre erhöhen kann. Solche Maßnahmen sind grundsätzlich vom legitimen Recht eines Staates gedeckt, eine Armee zu unterhalten. . . . . Dr. Roland Bell Viele Medienberichte zu diesem Fall erwecken den Anschein, als drohe dem Antragsteller allein durch negativen Ausgang seines Asylverfahrens eine Rückführung in die USA. Beispielsweile wurde getitelt: „Europäischer Richterspruch raubt US-Deserteur die Hoffnung“.3 Der Ausländer besitzt seit vielen Jahren ein asylunabhängiges Aufenthaltsrecht und seit Längerem eine Niederlassungserlaubnis. Die Redaktion, R.B. 3 Nürnberger Nachrichten v. 27.02.2015. Aktuelles aus Europa Frankreich Migration ins Vereinigte Königreich über Calais/Dünkirchen Insbesondere über Calais1 versuchen seit Jahren Migranten irregulär ins Vereinigte Königreich zu gelangen. Im Februar 2015 warteten Tausende (je nach Quelle von ca. 2.300 bis zu ca. 5.000 Personen)2 unter problematischen Bedingungen in mehreren Camps auf eine Gelegenheit. Derzeit handelt es sich überwiegend um Ägypter, Albaner, Eritreer, Iraner, 1 Rd. 75.000 Einwohner. Eine der ärmsten Städte Frankreichs mit einer Arbeitslosenquote von rd. 16 %. Das Migrationsproblem soll wesentlich dafür verantwortlich sein, dass die Immobilienpreise um ca. 30 % gesunken sind und Investoren die Stadt meiden. 2 Man rechnet mit deutlich höheren Zahlen für das Frühjahr und den Sommer, weil dann wegen besseren Wetters vermehrt Bootsschleusungen nach Italien erwartet werden. Entscheiderbrief 5/2015 10 Sudanesen, Syrer und Vietnamesen. Ein Pullfaktor nach Großbritannien ist, dass es dort keine AZRähnlichen Datenbanken, keine gesetzliche Meldepflicht und keinen Personalausweis gibt. Irreguläre tun sich so meist leichter als anderswo, Wohnraum, Arbeitsplatz und Ausbildung zu erlangen. In Calais werden allein bei der Grenzpolizei zwar rd. 600 Bedienstete eingesetzt. Doch stehen dem täglich 5.000 - 6.000 Lastkraftwagen entgegen, die den Eurotunnel sowie die Fährverbindungen in Richtung Großbritannien nutzen. Im Januar 2015 wurden bei Ausreisekontrollen am Eurotunnel und Hafen insgesamt 3.867 Migranten entdeckt (davon 1.850 am Eurotunnel und 2.017 auf dem Hafengelände). Aus diesem Personenkreis werden nach Feststellungen der Sicherheitsbehörden immer häufiger erhebliche Delikte begangen.3 In und um die (Fähr-)Hafenstadt Dünkirchen, nur ca. 50 km nordöstlich von Calais, kommt es trotz eines sehr weitläufigen Hafengeländes zu erheblich weniger Schleusungsversuchen. Es gibt dort auch deutlich weniger und kleinere Camps. Russische Föderation Schutzgesuche 2014 Wenn von „Asylanträgen in Industriestaaten“ (2014: 866.000 Erstanträge) gesprochen wird, fallen Schutzgesuche in der Russischen Föderation nicht unter diesen Begriff.4 Dies bleibt – auch von renommierten Medien5 – häufig unberücksichtigt, so dass ein unvollständiges Bild vermittelt wird. Im Jahr 2014 ersuchten in der Russischen Föderation 265.400 Personen um vorübergehendes Asyl und 5.800 Personen beantragten einen Flüchtlingsstatus.6 Dr. Roland Bell*7 3 Diebstahl, Raub, sexuelle Nötigung oder (versuchte) Vergewaltigung. 4 Als Motiv nennt UNHCR-Berlin „methodische Gründe“ (s. Pressemitteilung v. 25.03.2015). 5 S. etwa FAZ v. 26.03.2015, Flüchtlinge: Deutschland verzeichnet weltweit die meisten Asylanträge. 6 Quelle: UNHCR-Berlin, Pressemitteilung v. 25.03.2015. * Unter Verwendung von Informationen der Referate 211, 415. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes – Familienangehörige suchen, verbinden und vereinen Suchen Zu einer der wichtigen aus den Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen von 1977 herrührenden Aufgaben des DRK-Suchdienstes gehört die internationale Suche nach Menschen, die durch Kriege, bewaffnete Konflikte, Katastrophen oder auf Grund von Fluchtbewegungen von ihren Familienangehörigen getrennt wurden. Als Teil eines weltweiten Suchdienst-Netzwerkes, bestehend aus 189 nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), ist es dem DRK-Suchdienst möglich, in fast allen Regionen der Welt nach Angehörigen zu suchen. Bundesweit gibt es rund 80 spezialisierte DRK-Suchdienst-Beratungsstellen in den Landes- und Kreisverbänden des DRK sowie die überregionalen Suchdienst-Standorte Hamburg und München. Das Anliegen, Familienangehörige zu suchen, muss auf dem unabhängigen und freien Willen und Entschluss des Betroffenen beruhen; es darf nicht einer gesetzlichen oder anderen Art von Verpflichtung entspringen. Dies gilt auch für Minderjährige. Andernfalls wäre die Suche mit den humanitären Grundsätzen und Prinzipien der Bewegung der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften unvereinbar. Anfragen von Behörden, z.B. dem Bundesamt oder anderen Stellen, werden deshalb nicht entgegengenommen. Ebenso werden keine Suchanfragen bearbeitet, bei denen ersichtlich ist, dass die suchende Person zu der Suche von Dritten aufgefordert oder angehalten wurde. Das Ergebnis einer Suchanfrage stellt eine vertrauliche Information dar, die ausschließlich dem Suchenden selbst mitgeteilt wird, der dann frei entscheiden kann, mit wem diese Information geteilt werden soll. So wie jede Person das Recht hat, einen Familienangehörigen nicht zu suchen, hat auch jede Person das Recht, nicht gefunden zu werden. Sollte eine gesuchte Person, sobald Entscheiderbrief 5/2015 sie gefunden wurde, nicht wollen, dass ihre Kontaktdaten an den suchenden Familienangehörigen weitergegeben werden, so wird dies vom SuchdienstNetzwerk respektiert. Seit September 2013 besteht bei 20 europäischen Rotkreuzgesellschaften die Möglichkeit, Familienangehörige durch Veröffentlichung des eigenen Fotos zu suchen. Hierzu wird das Foto auf einer vom IKRK betreuten Website (www. familylinks.icrc.org/europe) veröffentlicht. Zusätzlich werden Plakate erstellt, die in derzeit 19 europäischen Ländern an von Flüchtlingen häufig frequentierten Orten aushängen. In Deutschland sind dies u.a. auch alle Außenstellen des Bundesamtes. Sollte die gesuchte oder eine dritte Person das Foto erkennen und weiterführende Informationen besitzen, so kann über ein Antwortformular auf der Website eine Nachricht an die einstellende Rotkreuzgesellschaft gesendet werden. Verbinden Bewaffnete Konflikte, Katastrophen und Fluchtbewegungen können zur Folge haben, dass Familienangehörigen keine gängigen Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen, um den Kontakt untereinander zu halten. In solchen Fällen besteht über den DRK-Suchdienst die Möglichkeit, sog. RotkreuzFamiliennachrichten zu verschicken. Auf einer halben Seite haben die Angehörigen Platz, persönliche Nachrichten zu schreiben, die über das SuchdienstNetzwerk der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung zugestellt werden. Sollten sich Angehörige aufgrund eines bewaffneten Konfliktes in Gefangenschaft befinden, ist es dem DRK-Suchdienst ebenfalls mit Hilfe des IKRK möglich, regelmäßige Skype-Telefonate zwischen den Inhaftierten und ihren Angehörigen in Deutschland zu ermöglichen. Da das IKRK in Konfliktregionen Zugang zu Gefängnissen hat, können in Deutschland lebenden Flüchtlingen in einigen Fällen auch Bestätigungen über Inhaftierungen in ihrem Heimatland ausgestellt werden, falls sie in dieser Zeit durch das IKRK besucht und/oder registriert wurden. 11 in Deutschland. Er berät v. a. zu den rechtlichen Voraussetzungen nach dem Aufenthaltsgesetz. Zunehmend gibt es auch Anfragen, die die Möglichkeit der Wiederherstellung der familiären Einheit für Asylsuchende innerhalb Europas betreffen. Der DRK-Suchdienst informiert über die schwierigen Regelungen der Dublin-III-Verordnung. Er unterstützt die Betroffenen zudem bei Problemen mit den deutschen Auslandsvertretungen oder den Ausländerbehörden, wenn dies aus humanitären Gründen erforderlich ist. Rechtlich abgesicherte Unabhängigkeit Aufgrund seiner Sonderstellung als Hilfsgesellschaft der Behörden im humanitären Bereich (§ 1 S. 1 DRKGesetz1) hat der DRK-Suchdienst vertrauensvolle Kontakte zum Bundesamt, den Ausländerbehörden und deutschen Auslandsvertretungen sowie den Innenministerien des Bundes und der Länder und dem Auswärtigem Amt. Hierbei hat nicht nur das DRK, sondern haben auch die Behörden jederzeit zu beachten, dass das DRK an die Grundsätze der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung gebunden ist (§ 1 S. 2 DRK-Gesetz). Daher hat der DRK-Suchdienst stets seine Unabhängigkeit – auch und gerade von staatlichen Stellen – zu wahren. Die dem DRK-Suchdienst anvertrauten personenbezogenen Daten sind durch das Suchdienstedatenschutzgesetz vom 02.04.20092 besonders geschützt. Erhobene Daten dürfen ausschließlich zum Zwecke der Suche und der Familienzusammenführung, also im Interesse der Betroffenen, verarbeitet und genutzt werden. Die Tätigkeit des Suchdienstes ist für die Betroffenen kostenlos. Weitere Informationen und alle Kontaktdaten finden sich auf www.drksuchdienst.de. Ronald Reimann, DRK-Suchdienst Vereinen Bei vielen Familien besteht neben der Kontaktvermittlung der Wunsch, wieder gemeinsam an einem Ort zu leben. Der DRK-Suchdienst unterstützt deshalb Flüchtlinge bei der Familienzusammenführung 1 Gesetz zur Änderung der Vorschriften über das Deutsche Rote Kreuz v. 05.12.2008, BGBl. I 2008, 2346. 2 BGBl. I 2009, 690; geändert durch Art. 3 des Gesetzes v. 03.05.2013, BGBl. I 2013, 1084. Entscheiderbrief 5/2015 12 weist hin auf Jan Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, ZAR Heft 3/2015, S. 81 ff. Uwe Berlit, Änderung des Optionsrechts, ZAR Heft 3/2015, S. 90 ff Informationen hierzu über IVS-Telefon:0911/943-7188 IVS-Fax: 0911/943-7198 E-Mail: [email protected] Demnächst lesen Sie: Freiwillige Ausreisen 2014 Aus der Rechtsprechung Asylanträge im internationalen Vergleich im Jahr 2014 BReg Ausweisungen im Jahr 2014 und Entwurf zur Reform des Ausweisungsrechts, BT-Drs. 18/4596 Lage der Binnenflüchtlinge in Afghanistan, BT-Drs. 18/4606 Rechtliche und praktische Folgen der Verzögerung bei der Registrierung neu eingereister Asylbewerberinnen und Asylbewerber, BT-Drs. 18/4581 Rückführungen von Asylsuchenden in die Ukraine, BT-Drs. 18/4580 Harald Dörig, Hohe Anforderungen an Asyl für USMilitärdienstverweigerer, jM Heft 4/2015, S. 169 ff. Anmerkung zu EuGH, U.v. 26.02.2015 - C-472/13. Das Urteil wird in dieser Ausgabe des Entscheiderbriefes behandelt. KAS (Hrsg.), Kirchenasyl, Rechtsbruch oder Akt der Barmherzigkeit?, Monitor Religion und Politik, Berlin 23.02.2015 Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bern Syrien: Die National Defense Forces, 28.03.2015 Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, 28.03.2015 Frank Swiaczny, Migration und Umwelt, Geographische Rundschau Heft 4/2015, S. 46 ff. Privilegierte Bevölkerungsgruppen sind in der Regel weniger verletzlich und haben mehr Möglichkeiten. Eine davon ist die Migration. Bei marginalisierten Gruppen ist es umgekehrt. Ihre größere Verletzlichkeit und geringen Möglichkeiten erklären, warum häufig gerade die am stärksten von Umweltwandel Betroffenen unfähig zur Wanderung sind. Impressum Entscheiderbrief 5/2015 - 08.05.2015 Auflage: 1250 Exemplare Herausgeber: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ISSN 1869-1803 Redaktion Entscheiderbrief Frankenstraße 210, 90461 Nürnberg www.bamf.de [email protected] Bezugsquelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Doris Tanadi, 223 90343 Nürnberg [email protected] www.bamf.de Tel.: +49 (0) 911/943-7100 Fax: +49 (0) 911/943-7198 Erscheinungsweise: monatlich; Redaktionsschluss jeweils der 15. eines Monats (Änderungen nach Bedarf) Druck: Bonifatius GmbH, Paderborn Druck-Buch-Verlag Gestaltung: Petra Schiller, 223 Bildnachweis: Wolfgang Heindel, 414 Text: Dr. Roland Bell, RL 224 (verantw. Leiter) Bernd Emtmann, 410 Wolfgang Heindel, 414 Maria Schäfer, 225a Martina Todt-Arnold, 225a Marlies Wick, 412 Josef Wiesend, 413 Nachdruck und Nutzung nur nach Zustimmung des Herausgebers mit Quellenangabe und Belegexemplar. Kein Anspruch auf Veröffentlichung oder Manuskriptrückgabe.
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