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22. Jahrgang
Entscheiderbrief
Informations-Schnelldienst
5/2015
Entscheiderbrief 5/2015
2
Inhalt
Verfahren
Verfolgung in Anknüpfung an das
2
Merkmal Religion
Dublinverfahren 20143
Verfahrensbeschleunigung durch 4
konzentrierte Zulässigkeitsprüfung
Akten unanfechtbar abgeschlossener 5
Verfahren: Aufbewahrung und Einsicht
Aktuelle Rechtsfragen
Aus der Rechtsprechung5
EuGH: Europarechtliche Vorgaben
8
zum Flüchtlingsschutz bei Desertion
Blick zum Nachbarn
Aktuelles aus Europa9
Was sonst?/Literatur
Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes _ Familienangehörige
suchen, verbinden und vereinen
IZ Asyl und Migration weist hin auf
10
12
Verfolgung in Anknüpfung
an das Merkmal Religion
Neue Dienstanweisung zur Entscheidungspraxis des Bundesamtes
Nach dem Urteil des EuGH vom 05.09.20121 stellt
nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit
eine schutzauslösende Verfolgungshandlung dar.
Der Schutzbereich des mit der Religion verknüpften
Verfolgungsgrundes umfasst solche Verhaltensweisen, die der Antragsteller für sich als unverzichtbar
empfindet. Maßgeblich für die Beurteilung, ob eine
hinreichend schwere Verfolgungsgefahr besteht, ist
damit unter anderem der subjektive Umstand, dass
sich für die betroffene Person die Befolgung einer
1 C-71/11 u. C-99/11; vgl. Entscheiderbrief 11/2012, S. 4 f.
religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität als besonders wichtig offenbart. Das sich an die
Entscheidung des EuGH anschließende Urteil des
BVerwG2 stellte ebenfalls fest, dass bei der Prüfung,
ob tatsächlich eine Verfolgungsgefahr gegeben ist,
sowohl objektive als auch subjektive Gesichtspunkte
zu berücksichtigen sind. Vor diesem Hintergrund
kommt es für die Entscheidungspraxis des Bundesamtes bei einer vorgetragenen Konversion nicht
ausschließlich auf den erfolgten Glaubensübertritt
an, da dieser allein in der Regel noch nicht zu einer
begründeten Verfolgungsfurcht führt. Bei Antragstellern, die unverfolgt aus ihrem Herkunftsland
ausreisen, wird daher eine doppelte Prognose unter
Würdigung der Gesamtumstände vorgenommen.
Das Bundesamt berücksichtigt das zu erwartende
Verhalten des Antragstellers in seinem Herkunftsstaat und die voraussichtliche Reaktion der Behörden oder anderer Akteure. Maßgeblich für diese
doppelte Prognose sind jedoch nicht detaillierte
Kenntnisse des Antragstellers über die Konversionsreligion. Diese spielen bei der Entscheidung eine
lediglich untergeordnete Rolle; ein sogenanntes Religionsexamen wird daher nicht durchgeführt. Das
Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, wie es Art. 140
GG i.V.m. Art. 136 - 141 Weimarer Reichsverfassung
verbürgt, ist zu respektieren.
Danach prüft der taufende Pfarrer die Ernsthaftigkeit des Glaubensübertritts auf der Grundlage der
geltenden kirchlichen Lebensordnungen.3 Basis der
doppelten Prognose ist vielmehr die Ernsthaftigkeit
des religiösen Engagements in Deutschland, das sich
durch ein Verhalten ausdrückt. Bescheinigungen
über die Art, den Umfang und die Dauerhaftigkeit
der Beteiligung des Antragstellers an den Aktivitäten der jeweiligen Kirchengemeinde geben darüber
Aufschluss und sind zu berücksichtigen. Für die
Überzeugungsbildung werden stets alle Aspekte des
jeweiligen Falles– sowohl subjektive als auch objektive – in den Blick genommen.
2 Vom 20.02.2013 - 10 C 23/12 <5356202> (abschließend
VGH BW, U.v. 12.06.2013 – A 11 S 757/13; vgl.
Entscheiderbrief 10/2013, S. 4).
3 Kirchenamt der Evangelischen Kirche und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen (Hrsg.), Zum Umgang
mit Taufbegehren von Asylsuchenden, Eine Handreichung, November 2013, S. 18.
Entscheiderbrief 5/2015
3
Die Dienstanweisung Asyl wurde im Abschnitt Verfolgung in Anknüpfung an das Merkmal Religion
– eingestuft als VS-NfD – neu gefasst. Inhaltlich ergibt sich daraus zwar keine Änderung der Entscheidungspraxis des Bundesamtes zu einer vorgetragenen religiösen Verfolgung oder Konversion, wohl
aber in der methodischen Herangehensweise der
Entscheider. Hierfür enthält die aktualisierte Dienstanweisung Fragestellungen, die der Aufklärung der
religiösen Identität und Praxis des Antragstellers
dienen. Die Entscheidungspraxis des Bundesamtes im Hinblick auf eine religiöse Verfolgung eines
Schutzsuchenden entspricht damit den Vorgaben
von EuGH und BVerwG.
Sarah Bega, 410/Ursula Gräfin Praschma, AL 4
1 (9.102, 2013 Rang 2), gefolgt von Bulgarien (4.405,
2013 Rang 13), Ungarn (3.913, 2013 Rang 4), Polen
(3.311, 2013 Rang 1) und Frankreich (2.422, 2013
Rang 5). Hauptherkunftsländer der tatsächlich überstellten Personen waren dabei die Russische Föderation (1.435), Kosovo (267), Somalia (251), Afghanistan
(246), Pakistan (192), Georgien (166), Marokko (147)
und Serbien (142).
Die Zustimmungsquote der anderen Mitgliedstaaten
stieg von 62,2 Prozent im Jahr 2013 auf 77,3 Prozent
im Jahr 2014 an.
Der EURODAC-Treffer-Anteil bei den Ersuchen
Deutschlands stieg mit 68,5 Prozent um 1,8 Prozent
gegenüber dem Vorjahr. Der EURODAC-TrefferAnteil bei Ersuchen anderer Mitgliedstaaten an
Deutschland sank im Vergleich zum Vorjahr um 1,0
Prozent auf 57,2 Prozent.
Übernahmeersuchen von Mitgliedstaaten an
Deutschland
Dublinverfahren 2014
Jahr
Übernahmeersuchen an Mitgliedstaaten
Jahr
ÜE
Auf Grund
Zustim-
Über-
DE an
Eurodac-
mungen
stellungen
MS
Treffer1
MS an DE2
DE in MS
2014
35.115
24.059
68,5 %
27.157
77,3 %
4.772
2013
35.280
23.543
66,7 %
21.942
62,2 %
4.741
2012
11.469
8.344
72,8 %
8.249
71,9 %
3.037
Die Anzahl deutscher Ersuchen an andere Mitgliedstaaten blieb 2014 gegenüber dem Vorjahr nahezu
konstant. Dabei stellte Deutschland mit 35.115 rund
siebenmal so viele Ersuchen an andere Mitgliedstaaten, wie es von diesen erhielt. Ein wesentlicher
Grund für das anhaltend hohe Niveau war die große
Anzahl von Ersuchen gegenüber Italien auf Rang
1 Die Prozentzahlen beziehen sich auf das Verhältnis
der Übernahmeersuchen auf Grund von EURODACTreffern zu der jeweiligen Gesamtzahl an Übernahmeersuchen.
2 Die Prozentzahlen beziehen sich auf das Verhältnis der
Zustimmungen zu der jeweiligen Gesamtzahl an Übernahmeersuchen.
ÜE
Auf Grund
Zustim-
Über-
MS an
Eurodac-
mungen
stellungen
DE
Treffer3
DE an MS4
MS nach DE5
2014
5.091
2.911
57,2 %
4.177
82,0 %
2.275
54,5 %
2013
4.382
2.549
58,2 %
3.603
82,2 %
1.904
52,8 %
2012
3.632
2.024
55,7 %
2.767
76,1 %
1.495
54,0 %
Die Zahl der Ersuchen von anderen Mitgliedstaaten
an Deutschland ist von 4.382 im Jahr 2013 auf 5.091
im Jahr 2014 gestiegen. Bei den fünf Mitgliedstaaten, von denen Deutschland die meisten Ersuchen
erhielt, handelte es sich um Schweden (1.084, 2013
Rang 1), gefolgt von Frankreich (818, 2013 Rang 2),
Niederlande (570, 2013 Rang 6), Schweiz (548, 2013
Rang 4) und Griechenland (462, 2013 Rang 3). Diese
Mitgliedstaaten stellten in 2014 68,4 % aller Ersuchen an Deutschland.
3 S. Fn. 1.
4 S. Fn. 2.
5 Die Prozentzahlen beziehen sich auf das Verhältnis der
Überstellungen zu den jeweils gegebenen Zustimmungen.
Entscheiderbrief 5/2015
4
Verhältnis deutscher Übernahmeersuchen zur Zahl der
Asylerstverfahren in Deutschland
Asylerst-
Über-
anträge in
nahmeersuchen
Deutschland
DE an MS
2014
173.072
35.115
20,3 %
2013
109.580
35.280
32,2 %
2012
64.539
11.469
17,8 %
Jahr
Prozentualer
Anteil
Der Rückgang des prozentualen Anteils an Ersuchen im Verhältnis zu gestellten Asylerstanträgen
gegenüber dem Vorjahr wird darauf zurückgeführt,
dass im zweiten Halbjahr 2013 in erheblichem Maße
Übernahmeersuchen auch in älteren Dublin-Verfahren gestellt werden mussten, denen mit Inkrafttreten der Dublin-III-VO in 2014 Verfristung gedroht
hätte. Für das Jahr 2014 ist zu berücksichtigen,
dass im Interesse der Verfahrensbeschleunigung in
Westbalkan-Verfahren in erheblichem Umfang auf
Übernahmeersuchen verzichtet wurde und die Asylanträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt
wurden.
Caroline Sheldon, 411
Verfahrensbeschleunigung
durch konzentrierte
Zulässigkeitsprüfung
Häufig stellt sich nach Erlass eines Dublin-Bescheides heraus, dass die Entscheidung nicht auf die
Dublin-Verordnung gestützt werden konnte. Dies
ist einerseits der Fall, wenn bereits die Zuerkennung
internationalen Schutzes durch einen anderen Staat
erfolgt ist. Andererseits ist dies der Fall, wenn die
Zuständigkeit auf Deutschland durch Ablauf der
Überstellungsfrist übergegangen ist. Nach Sicht des
Bundesamtes bleibt ein in Deutschland gestellter
Asylantrag in diesen Fällen unzulässig. Deshalb werden die Begründungen von Dublin-Bescheiden wie
folgt ergänzt: „Sollte sich zu einem späteren Zeitpunkt herausstellen, dass der Antragsteller entgegen der bisherigen Erkenntnislage bereits in einem
anderen europäischen Staat internationalen Schutz
erhalten hat und deshalb die Dublin III-Verordnung
keine Anwendung finden kann, bleibt es gleichwohl
bei der Unzulässigkeit des Asylantrags (§ 60 I 3 und
II 2 AufenthG). Auch wenn der frühere Asylantrag
nicht zur Zuerkennung von internationalem Schutz
geführt hat und die Bundesrepublik Deutschland zu
einem späteren Zeitpunkt für die Prüfung des neuen
Asylantrags zuständig würde (z.B. wegen Ablaufs der
Überstellungsfrist), ergibt sich daraus allein noch
nicht die Zulässigkeit des neuen Asylantrags. Nach
§ 71a I AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren nur
durchzuführen, wenn außerdem die Voraussetzungen des § 51 I - III VwVfG vorliegen.“ Die Ergänzung
erfolgt als Reaktion auf die Rechtsprechung der VG,
die eine Prüfung alternativer Rechtsgrundlagen oder
die Möglichkeit einer Umdeutung des Bescheides
nach Ablauf der Überstellungsfrist ablehnen. Das
Bundesamt stellt den Inhalt der durch Ziffer 1 der
Bescheide getroffenen Regelung klar. Eine materielle Prüfung und Bescheidung des Schutzersuchens
unterbleibt. Die Mitteilung des zuständigen Mitgliedstaats ist nicht Regelungsinhalt des Bescheids,
sondern nur eine erforderliche Zusatzinformation
für den Antragsteller (§ 31 VI AsylVfG).
Die Verwaltungsgerichte reduzieren unzutreffend den Bescheid auf eine reine Zuständigkeitsbestimmung. Eine solche „Umdeutung“ soll den
Verwaltungsgerichten künftig nicht mehr möglich
sein. Das BVerwG (B.v. 18.02.2015 - 1 B 2.15, vgl.
Entscheiderbrief 3/2015, S. 4 f.) hat unter Aufhebung
eines Urteils des VGH BY klargestellt, dass es die
Aufrechterhaltung eines Einstellungsbescheides
wegen Nichtbetreibens des Verfahrens, auch wenn
die Voraussetzungen nach § 33 AsylVfG nicht erfüllt
sind, nicht ausschließt, wenn der Asylantrag wegen
des bereits in einem anderen EU-Staat zuerkannten
internationalen Schutzes unzulässig ist. Warum
sollte etwas anderes gelten, wenn z.B. die Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren abgelaufen ist, der
Zulässigkeit des Asylantrags aber auch andere Gründe entgegen stehen?
Matthias Henning, SV AL 4
Entscheiderbrief 5/2015
5
Akten unanfechtbar
abgeschlossener Verfahren:
Aufbewahrung und Einsicht
Bislang wurden Akten mit (teil-)positiven Entscheidungen längerfristig aufbewahrt, falls kein besonderer Löschungsgrund, z.B. Einbürgerung, eintrat.
Zukünftig löscht bzw. vernichtet das Bundesamt
nicht mehr nur Akten negativ entschiedener Fälle
zehn Jahre nach der Unanfechtbarkeit, sondern auch
die Akten mit (teil-)positiven Entscheidungen, sofern keine weiteren Verfahren anhängig sind. Mithin
scheiden Einsichtnahmen nach zehn Jahren generell aus. Anträge auf Akteneinsicht in unanfechtbar
abgeschlossenen Verfahren werden in der Zentrale
(Referat MD 5) bearbeitet, wenn sich die Akte bereits
im Zentralarchiv des Referates MD 5 befindet. Gehen
solche Anträge in einer Außenstelle ein, leitet diese
sie an die Zentrale weiter.
Gerd Hildner, 410
in Anspruch nehmen. Das nicht näher substantiierte
Argument, Albanien sei hierfür zu klein, ist zu pauschal, insbesondere wenn weder versucht wurde, in
eine größere Stadt zu ziehen, noch Anhaltspunkte
dafür bestehen, dass die Opferfamilie Interesse und
Möglichkeiten hat, jemanden andernorts zu finden.
Bei Epilepsie (hier: 15-jährige Roma) ist grundsätzlich nicht überwiegend wahrscheinlich, dass bei
einer Rückkehr alsbald schwere gesundheitliche
Gefahr oder ein lebensbedrohlicher Zustand droht.
Dies gilt umso mehr, wenn im Heimatland schon
eine ärztliche Behandlung mit dem Einsatz eines geeigneten Medikamentes (hier: Carbamazepin) stattfand. Eine in Deutschland später geänderte Therapie
(jetzt Trileptal 600) ändert daran nichts. Eine weitere
Verbesserung der Anfallssituation unter der bisherigen Therapie, die nicht zu schweren gesundheitlichen Gefahren führte, ist kein Maßstab für eine Entscheidung nach § 60 VII 1 AufenthG. Es genügt, dass
eine Erkrankung im Grundsatz und hinreichend auf
Landesniveau behandelbar ist (B.v. 19.03.2015 - 5 B
1167/15 <5734383>).
Kosovo
PTBS-Behandlung/Verfügbarkeit/
Zugänglichkeit
Aus der Rechtsprechung
Albanien
Blutrache/Epilepsie
VG Oldenburg: Im Eilverfahren bestätigte das VG
den Bundesamtsbescheid wegen unglaubhaften
Vortrags. Ergänzend führte es allgemein aus, dass es
bei Gefahr von Blutrache prinzipiell möglich und
zumutbar ist, sich an das Nationale Versöhnungskomitee zwecks Versöhnung oder Einigung zu wenden.
Zudem existieren neben diesem weitere Versöhnungskomitees, etwa die Albanian Foundation for
Conflict Resolution and Reconciliation of Disputes,
und zahlreiche NGOs, die in diesem Bereich tätig
sind, wie das Bundesamt in seinem „Blickpunkt Albanien“ näher darlegt. Im Übrigen kann man sich in
der Regel einem am Wohnort drohenden Konflikt
durch Umzug in einen entfernteren Landesteil entziehen und dort bestehenden hoheitlichen Schutz
VG Hannover: Psychische Erkrankungen, insbesondere auch posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), sind in Kosovo auf Landesniveau
hinreichend behandelbar. Es gibt im öffentlichen
Gesundheitssystem neun regionale Gesundheitszentren („Mental Health Care Centres“). Patienten, die
stationärer Behandlung bedürfen, werden in vier Regionalkrankenhäusern in Abteilungen für stationäre
Psychiatrie sowie in der Psychiatrischen Klinik der
Universitätsklinik Pristina behandelt.
Diese Regionalkrankenhäuser verfügen über ausreichend Betten und jeweils über eine angeschlossene
psychiatrische Ambulanz mit fachärztlicher Betreuung. Wer an einer PTBS leidet, erhält in den öffentlichen psychiatrischen Einrichtungen primär medikamentöse Hilfe. Es wird auch gesprächstherapeutisch
behandelt, wenn dies medizinisch notwendig ist
und ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Zudem
führen NGO‘s psychotherapeutische Behandlungen
durch. Soweit bestimmte Medikamente in Kosovo
6
nicht verfügbar sein sollten,1 ist grundsätzlich eine
Umstellung auf andere Präparate mit vergleichbarer
Wirksamkeit möglich. Den Übergang kann erforderlichenfalls die Mitgabe eines Medikamentenvorrates
sichern. Bei Prüfung des individuellen, insbesondere
finanziellen Zugangs kommt es auch darauf an, ob
Verwandte im Ausland Unterstützung leisten können.2 Weiter ist Hilfe im Rahmen des Rückkehrerprojektes URA II in den Blick zu nehmen. Danach
können psychisch erkrankte Rückkehrer kostenfrei
von Psychologen, die in Deutschland zu Traumaspezialisten geschult wurden, professionellen Beistand
erhalten oder es werden entsprechende Behandlungsmöglichkeiten bei kosovarischen Ärzten vermittelt (U.v. 19.03.2015 - 12 A 10746/14 <5568695> i.S.
einer Volkszugehörigen der Roma).
Rechtsfragen
Überzeugungsbildung/Nachfluchtgrund/
Konversion zum Christentum
VG Ansbach: Es bedarf hinsichtlich einer etwaigen
Gefährdung im Heimatland grundsätzlich der vollen
richterlichen Überzeugung, dass jemand während
seines Aufenthaltes im Bundesgebiet aus ernsthafter,
fester innerer Überzeugung zum christlichen Glauben übergetreten ist und für ihn dessen Ausübung
auch bei angenommener Rückkehr eine besondere,
identitätsprägende und unverzichtbare Bedeutung
hat. Dazu genügt regelmäßig nicht, dass ein Kläger
in der mündlichen Verhandlung Fragen zum Christentum fehlerfrei beantwortet.
Entscheiderbrief 5/2015
zum Datum der Asylantragsentscheidung zählen.
Ebenfalls für die richterliche Überzeugungsbildung
prinzipiell erkenntnisgeeignet sind das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde bzw. die näheren Umstände ihrer Arbeit. So ist gerichtsbekannt,
dass die Freie evangelische Gemeinde Nürnberg
e.V. ein Treffpunkt iranischer Asylbewerber ist, der
durch Mund-zu-Mund-Propaganda mitgeteilt wird.
Über die Gemeinde kann man in regelmäßigem
Kontakt mit Landsleuten bleiben. Es liegt nahe, dass
sich die Asylbewerber bei derartigen Treffen, die z.B.
in Form von Bibelkreisen, Taufvorbereitung4 und
Büchertischen stattfinden, auch über ihre Situation
und erfolgversprechende Möglichkeiten, einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erhalten, austauschen.
Als eine solche wird insbesondere die Konversion
zum Christentum gesehen, die inzwischen in fast
allen Asylverfahren von Iranern vorgetragen wird5
(U.v. 05.12.2014 - AN 1 K 14.30550 <5565537> zu
Iran; vergleichbar VG Gießen, U.v. 11.12.2014 - 3 K
1598/14.GI.A <5737602> zu Iran; VG Frankfurt/M.,
U.v. 24.09.2014 - 1 K 3593/13.F.A <5481537> zu
Iran; VG Wiesbaden, U.v. 20.08.2014 - 2 K 1111/12.
WI.A <5465041> zu Pakistan; a.A. VG Stuttgart, U.v.
20.09.2013 - A 11 K 5/13 <5472083> zu Iran, Berufung
wegen Abweichung zugelassen von VGH BW, B.v.
23.09.2014 - A 3 S 2322/13 <5472083>).
Vgl. hierzu den Beitrag „Verfolgung in Anknüpfung
an das Merkmal Religion“ in diesem Entscheiderbrief.
Suizidalität/Abschiebung
Es steht die bloße Wiedergabe erlernten Wissens
im Raum, was keinen Rückschluss auf die innere
Überzeugung zulässt. Deshalb sind für eine Überzeugungsbildung prinzipiell alle Aspekte eines
Falles in den Blick zu nehmen.3 Dazu können beispielsweise die Persönlichkeit und intellektuelle
Disposition eines Ausländers, die Glaubhaftigkeit
seines Vorfluchtvorbringens sowie der Zeitpunkt der
Kontaktaufnahme zu einer christlichen Gemeinde
in Relation zur Einreise in die Bundesrepublik und
1 Grundsätzlich können alle Medikamente des deutschen Pharmamarktes problemlos eingeführt werden
(vgl. Entscheiderbrief 12/2014, S. 5).
2 Vgl. BVerwG, B.v. 01.10.2001 - 1 B 185/01, juris.
3 Vgl. VGH BY, Be.v. 07.05.2013 - 14 ZB 13.30083, juris
und B.v. 29.04.2010 - 14 ZB 10.30043; OVG NW, B.v.
11.11.2013 - 13 A 2252/13.A <5384837 >.
OVG NW: Nicht jede Form der Suizidalität begründet eine Gefahr i.S.d. § 60 VII 1 AufenthG. Es ist
graduell zu differenzieren zwischen Suizidgedanken
ohne Wunsch nach Selbsttötung – was ebenfalls zur
Suizidalität zählt – und drängenden Suizidgedanken
mit konkreten Absichten und Plänen bis hin zu Vorbereitungshandlungen. Die zeitlich begrenzte bloße
innere Hinwendung zu Selbsttötungsgedanken
jedenfalls rechtfertigt ohne das Hinzutreten damit
4 Kirchliche Bescheinigungen, etwa über eine Taufe,
ersetzen grundsätzlich genauso wenig wie ärztliche
Atteste eine richterliche Überzeugungsbildung (vgl.
etwa VG Darmstadt, U.v. 28.03.2014 - 3 K 516/12.DA.A
<5493746>, vgl. Entscheiderbrief 8-9/2014, S. 6 u. OVG
NI, B.v. 16.09.2014 - 13 LA 93/14 <5567772>).
5 Vgl. VG Braunschweig, U.v. 11.06.2013 - 2 A 1271/12
<5554562>.
Entscheiderbrief 5/2015
verbundener äußerer Anzeichen einer Gesundheitsverschlechterung wie Verletzungshandlungen, körperlichem Verfall oder vegetativen Auffälligkeiten
keine Annahme einer besonders intensiven Gesundheitsverschlechterung. Charakteristisch für eine
Ankündigung, sich wegen des Zwangs zur Rückkehr
(hier: Afghanistan) das Leben zu nehmen, ist, „ (…)
dass damit die Möglichkeit ihrer Umsetzung erst ins
Blickfeld des Adressaten rückt und dies in der Regel
auch bewusst veranlasst wird. Mangels zuverlässiger
Überprüfbarkeit der dahinterstehenden Motivation
und Ernsthaftigkeit muss schon die Äußerung als
solche regelmäßig zu der Bewertung führen, dass
suizidale Handlungen nicht ausgeschlossen werden
können, was gleichbedeutend damit ist, dass die
Möglichkeit einer Selbsttötung besteht. In gleichem
Maße besteht diese Möglichkeit aber bei demjenigen, der entsprechende Gedanken hat, diese aber
nicht äußert. Die Äußerung hat deswegen isoliert
betrachtet wenig Aussagekraft.
Die daraus allenfalls ableitbare Möglichkeit suizidaler Handlungen kann sich nur bei Hinzutreten
weiterer Indizien zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit verdichten.“ Abgesehen davon liegt ein Abschiebungshindernis nach § 60 VII 1 AufenthG auch
deswegen nicht vor, weil die als möglich erachtete
suizidale Krise in Zusammenhang mit der Abschiebung als solcher steht und nicht mit den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat der Abschiebung.
Deshalb geht es nicht um Voraussetzungen eines
zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses, sondern allenfalls um die eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses gemäß § 60a II AufenthG,
das nicht gegenüber dem Bundesamt, sondern allein
gegenüber der Ausländerbehörde geltend zu machen ist (U.v. 27.01.2015 - 13 A 1201/12.A <5386602>;
zu Sicherungsmaßnahmen der ABH bei Suizidgefährdung i.V.m. einer Abschiebung vgl. VG Koblenz,
B.v. 23.02.2015 - 3 L 99/15.KO).
Dublin-Verordnung/Zuständigkeit bei
wiederholtem Antrag Minderjähriger
OVG SL: Unbegleitete Minderjährige können sich
uneingeschränkt auf die Zuständigkeitsregelung in
Art. 6 II Dublin-II-VO (Art. 8 IV Dublin-III-VO) berufen. Ob sie bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat erfolglos um Asyl nachsuchten, ist unerheblich.
7
Nach Ablehnung des ersten Asylantrags unterfällt
nicht nur ein weiterer – nicht identischer – Antrag
eines Minderjährigen unverändert Art. 6 II DublinII-VO. Auch ein nach Ablehnung des ersten Antrags
identischer weiterer Asylantrag des Minderjährigen
begründet die Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats.
Dass ein anderer Mitgliedstaat der Wiederaufnahme
zugestimmt hat, ändert daran nichts (U.v. 09.12.2014
- 2 A 313/13 <5417023>; jetzt BVerwG 1 C 14.15).
Dublin-Verordnung/Überstellungsfrist/
„Kirchenasyl“
VG Saarlouis: Die Regelüberstellungsfrist von sechs
Monaten beginnt nach der negativen Entscheidung
über den vorläufigen Rechtsschutz nach § 34a
AsylVfG neu zu laufen (Art. 29 I 1; 27 III DublinIII-VO). Personen, die sich einer beabsichtigten
Abschiebung durch Kirchenasyl (hier: sog. offenes
„Kirchenasyl“6) und damit bewusst der Ordnung des
Staates entziehen, dürfen aber nicht besser gestellt
werden als sich gesetzestreu verhaltende Ausländer.
Daher gilt gemäß Art. 29 II Dublin-III-VO für Personen in „Kirchenasyl“ nicht die Überstellungsfrist
von sechs Monaten, sondern die für das Untertauchen einer Person vorgesehene Frist von achtzehn
Monaten (Ue.v. 06.03.2015 - 3 K 832/14, 3 K 902/14
<5716221, 5748490>).
Das Bundesamt hat mit der evangelischen und katholischen Kirche eine Pilotphase für Kirchenasylfälle
vereinbart, in der bis Herbst 2015 Strukturen für eine
Zusammenarbeit aufgebaut werden sollen. Bei der Bearbeitung solcher Fälle sind die „Bearbeitungshinweise
zu Kirchenasylfällen“ vom 25.03.2015 zu beachten.
Dublin-Verordnung/Familieneinheit/
Zusicherung – Prüfung
VG Schwerin: Es bedarf keiner ausführlichen gerichtlichen Untersuchung im Einzelfall, in welche
konkreten Verhältnisse in Italien zurückgeschickt
wird. Zwar sind die Mitgliedstaaten bei der Überstellung von Familien mit Kindern (insbesondere
Kleinkindern) gemäß der EGMR-Rechtsprechung
verpflichtet, Zusicherungen der italienischen Behörden einzuholen, dass eine kindgerechte Unterbrin6 Bei sog. offenem Kirchenasyl handelt es sich um die
Aufnahme in kirchlichen oder kirchennahen Räumen
(z.B. bei 5748490 ein Pfarrheim sowie Kindergarten
und das Außengelände) unter Mitteilung der Anschrift.
Entscheiderbrief 5/2015
8
gung unter Wahrung der Familieneinheit erfolgt.7
Doch hat das Bundesamt gegenüber dem Gericht
in allgemeiner Form erklärt, diese Zusicherung in
jedem Einzelfall rechtzeitig vor Abschiebung über
die Liaisonbeamtin vor Ort einzuholen.8 Es besteht
kein Anlass, an der Verbindlichkeit dieser Erklärung zu zweifeln. Daher braucht das Bundesamt
eine abgegebene Zusicherung nicht in jedem gerichtlichen Eilverfahren gesondert schriftsätzlich
vorzutragen. Das BVerfG hat in seinen Beschlüssen
vom 17.09.20149 keine weitergehenden Anforderungen aufgestellt (B.v. 13.02.2015 - 5 B 700/14 As
<5749305>; zum Zeitpunkt und Inhalt einer Zusicherung aus Schweizer Sicht vgl. BVerwG [Schweiz], U.v.
12.03.2015 - E-6629/2014).
Für das BVerfG bedarf diese Auffassung näherer
Überprüfung. Die gerichtliche Klärung der Rechtmäßigkeit des Behördenhandelns könnte im konkreten
Einzelfall beeinträchtigt sein. Insbesondere sei fraglich,
ob es ausreiche, wenn eine Behörde pauschal behaupte, sich nach Recht und Gesetz verhalten zu wollen (B.v.
17.04.2015 - 2 BvR 602/15 <5734815>).
Umdeutung/Dublinbescheid in Drittstaatenbescheid
VG Saarlouis: § 47 VwVfG erlaubt die Umdeutung
eines Dublinbescheides in einen Drittstaatenbescheid. Beide Verwaltungsakte – die Feststellung der
Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 27a AsylVfG
einerseits und die Ablehnung eines Asylantrags nach
§ 26a AsylVfG andererseits – sind auf das gleiche Ziel
gerichtet. Denn „in beiden Verfahren steht das Asylbegehren nicht inmitten; es erfolgt keine materielle
Durchführung eines Asylverfahrens. Auch das anzuwendende Verfahren (vgl. § 31 I AsylVfG, insbesondere Satz 4) und die sich aus den beiden Varianten
ergebende Rechtsfolge, die Abschiebungsandrohung
nach § 34a AsylVfG, ist identisch.“ Die Entscheidung
erging im Fall eines Eritreers, dem Italien 2013 den
Flüchtlingsstatus zuerkannt hatte (U.v. 06.03.2015
- 3 K 904/14 <5724202>; a.A. VG Oldenburg, U.v.
11.03.2015 - 1 A 156/15 <5694895>).
7 U.v. 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel), vgl. Entscheiderbrief 11/2014, S. 5 f.
8Vgl. Entscheiderbrief 2/2015, S. 7.
9 2 BvR 1795/14 u.a., vgl. Entscheiderbrief 10/2014, S. 5.
Näher zur Problematik s. Entscheiderbrief 12/2014,
S. 2 f. (mit Beilage) u. vgl. „Verfahrensbeschleunigung
durch konzentrierte Zulässigkeitsprüfung“ in diesem
Entscheiderbrief.
Dr. Roland Bell
EuGH: Europarechtliche
Vorgaben zum Flüchtlingsschutz bei Desertion
Auf Vorlage des VG München urteilte der EuGH am
26.02.20151 zu den europarechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von Flüchtlingsschutz bei
Desertion (Art. 9 IIe QualfRL2). Zugrunde lag der Fall
eines US-Amerikaners, der 2007 seine Einheit in
Deutschland verlassen hatte, weil er nach fünf Monaten Einsatz in den Jahren 2004/2005 nicht erneut
als Mechaniker Hubschrauber in Irak warten wollte. Damit würde er sich seiner Auffassung nach an
Kriegsverbrechen beteiligen. Er war 2003 in die Armee eingetreten und hatte seinen Dienst nach seiner
Rückkehr aus Irak verlängert.
.
Der EuGH stellte fest, dass
der Flüchtlingsschutz für sämtliche Militärangehörige gilt, d.h. auch für Logistik- und Unterstützungspersonal.
unter Begehung von Kriegsverbrechen nicht nur
das unmittelbar kriegerische Tun zu verstehen ist.
Vielmehr soll grundsätzlich auch vor einer mittelbaren Beteiligung geschützt werden. In diesem
Fall muss es aber bei vernünftiger Betrachtung
plausibel erscheinen, dass jemand aufgrund seiner
Funktionen eine für Vorbereitung oder Durchfüh-
.
1 C-472/13 <5354888>.
2 Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung
des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen
würde, die unter die Ausschlussklauseln des Art. 12 II
fallen. Die Neufassung der RL 2004/83 EG durch RL
2011/95/EU v. 13.12.2011 ließ den Wortlaut unverändert.
Entscheiderbrief 5/2015
rung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung
leisten würde.
es grundsätzlich unerheblich ist, ob bereits Kriegsverbrechen begangen wurden oder vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden
könnten. Es reicht aus, wenn der Asylantragsteller
eine hohe Wahrscheinlichkeit für solche Verbrechen darlegen kann.
die Tatsachenwürdigung auf ein Bündel von Indizien zu stützen ist, welches sich für den Beleg
einer Situation eignen, die die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen
lässt. Zu den relevanten Umständen, die dabei in
den Blick zu nehmen sind, zählen insbesondere
mit dem Herkunftsland verbundene aktuelle Tatsachen sowie individuelle Lage und persönliche
Umstände des Antragstellers.
zu berücksichtigen ist, ob eine militärische Intervention aufgrund eines Mandats des Sicherheitsrats der UN oder auf der Grundlage eines Konsenses der internationalen Gemeinschaft stattfindet
und die Staaten der Operationen Kriegsverbrechen ahnden. In beiden Fällen ist der Ausschluss
von Kriegsverbrechen bei der Durchführung
gewährleistet. Rechtsvorschriften der beteiligten
Staaten über die Bestrafung von Kriegsverbrechen
sowie eine Ahndung sichernde Gerichte lassen die
Behauptung, ein Militärangehöriger einer dieser
Staaten könnte zu solchen Verbrechen veranlasst
werden, wenig plausibel erscheinen.
die Verweigerung des Militärdienstes das einzige
Mittel für den Asylantragsteller sein musste, der
Beteiligung an den behaupteten Kriegsverbrechen
zu entgehen. Besteht die Möglichkeit eines Verfahrens zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, schließt dies einen Schutz nach Art. 9 IIe
QualfRL grundsätzlich aus. Etwas anders gilt nur
dann, wenn jemand beweist, keinen Zugang zu
einem solchen Verfahren in seiner konkreten
Situation gehabt zu haben. Dabei ist etwa zu berücksichtigen, ob sich der Schutzsuchende nicht
nur freiwillig dienstverpflichten ließ, als die Armee bereits im Kampfeinsatz war, sondern seine
Dienstzeit nach einem Einsatz auch noch verlängerte.
von einer Verfolgung durch Diskriminierung bzw.
unverhältnismäßige Strafen (Art. 9 II b, c QualfRL)
wegen Desertion nicht schon deshalb ausgegan-
.
9
gen werden kann, weil eine Entlassung aus der
Armee im Raum steht oder 100 Tage bis 15 Monate
Haft drohen, die sich u.U. auf bis zu fünf Jahre erhöhen kann. Solche Maßnahmen sind grundsätzlich vom legitimen Recht eines Staates gedeckt,
eine Armee zu unterhalten.
.
.
.
.
Dr. Roland Bell
Viele Medienberichte zu diesem Fall erwecken den
Anschein, als drohe dem Antragsteller allein durch
negativen Ausgang seines Asylverfahrens eine Rückführung in die USA. Beispielsweile wurde getitelt:
„Europäischer Richterspruch raubt US-Deserteur die
Hoffnung“.3 Der Ausländer besitzt seit vielen Jahren ein
asylunabhängiges Aufenthaltsrecht und seit Längerem
eine Niederlassungserlaubnis.
Die Redaktion, R.B.
3 Nürnberger Nachrichten v. 27.02.2015.
Aktuelles aus Europa
Frankreich
Migration ins Vereinigte Königreich über
Calais/Dünkirchen
Insbesondere über Calais1 versuchen seit Jahren Migranten irregulär ins Vereinigte Königreich zu gelangen. Im Februar 2015 warteten Tausende (je nach
Quelle von ca. 2.300 bis zu ca. 5.000 Personen)2 unter
problematischen Bedingungen in mehreren Camps
auf eine Gelegenheit. Derzeit handelt es sich überwiegend um Ägypter, Albaner, Eritreer, Iraner,
1 Rd. 75.000 Einwohner. Eine der ärmsten Städte Frankreichs mit einer Arbeitslosenquote von rd. 16 %. Das
Migrationsproblem soll wesentlich dafür verantwortlich sein, dass die Immobilienpreise um ca. 30 % gesunken sind und Investoren die Stadt meiden.
2 Man rechnet mit deutlich höheren Zahlen für das
Frühjahr und den Sommer, weil dann wegen besseren
Wetters vermehrt Bootsschleusungen nach Italien
erwartet werden.
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Sudanesen, Syrer und Vietnamesen. Ein Pullfaktor
nach Großbritannien ist, dass es dort keine AZRähnlichen Datenbanken, keine gesetzliche Meldepflicht und keinen Personalausweis gibt. Irreguläre
tun sich so meist leichter als anderswo, Wohnraum,
Arbeitsplatz und Ausbildung zu erlangen. In Calais
werden allein bei der Grenzpolizei zwar rd. 600
Bedienstete eingesetzt. Doch stehen dem täglich
5.000 - 6.000 Lastkraftwagen entgegen, die den Eurotunnel sowie die Fährverbindungen in Richtung
Großbritannien nutzen. Im Januar 2015 wurden bei
Ausreisekontrollen am Eurotunnel und Hafen insgesamt 3.867 Migranten entdeckt (davon 1.850 am
Eurotunnel und 2.017 auf dem Hafengelände). Aus
diesem Personenkreis werden nach Feststellungen
der Sicherheitsbehörden immer häufiger erhebliche
Delikte begangen.3
In und um die (Fähr-)Hafenstadt Dünkirchen, nur
ca. 50 km nordöstlich von Calais, kommt es trotz
eines sehr weitläufigen Hafengeländes zu erheblich
weniger Schleusungsversuchen. Es gibt dort auch
deutlich weniger und kleinere Camps.
Russische Föderation
Schutzgesuche 2014
Wenn von „Asylanträgen in Industriestaaten“ (2014:
866.000 Erstanträge) gesprochen wird, fallen Schutzgesuche in der Russischen Föderation nicht unter
diesen Begriff.4 Dies bleibt – auch von renommierten
Medien5 – häufig unberücksichtigt, so dass ein unvollständiges Bild vermittelt wird. Im Jahr 2014 ersuchten in der Russischen Föderation 265.400 Personen um vorübergehendes Asyl und 5.800 Personen
beantragten einen Flüchtlingsstatus.6
Dr. Roland Bell*7
3 Diebstahl, Raub, sexuelle Nötigung oder (versuchte)
Vergewaltigung.
4 Als Motiv nennt UNHCR-Berlin „methodische Gründe“ (s. Pressemitteilung v. 25.03.2015).
5 S. etwa FAZ v. 26.03.2015, Flüchtlinge: Deutschland
verzeichnet weltweit die meisten Asylanträge.
6 Quelle: UNHCR-Berlin, Pressemitteilung v. 25.03.2015.
* Unter Verwendung von Informationen der Referate
211, 415.
Der Suchdienst des
Deutschen Roten Kreuzes –
Familienangehörige suchen,
verbinden und vereinen
Suchen
Zu einer der wichtigen aus den Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen von
1977 herrührenden Aufgaben des DRK-Suchdienstes
gehört die internationale Suche nach Menschen, die
durch Kriege, bewaffnete Konflikte, Katastrophen
oder auf Grund von Fluchtbewegungen von ihren
Familienangehörigen getrennt wurden. Als Teil eines
weltweiten Suchdienst-Netzwerkes, bestehend aus
189 nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften und dem Internationalen Komitee vom
Roten Kreuz (IKRK), ist es dem DRK-Suchdienst
möglich, in fast allen Regionen der Welt nach Angehörigen zu suchen. Bundesweit gibt es rund 80
spezialisierte DRK-Suchdienst-Beratungsstellen in
den Landes- und Kreisverbänden des DRK sowie die
überregionalen Suchdienst-Standorte Hamburg und
München.
Das Anliegen, Familienangehörige zu suchen, muss
auf dem unabhängigen und freien Willen und
Entschluss des Betroffenen beruhen; es darf nicht
einer gesetzlichen oder anderen Art von Verpflichtung entspringen. Dies gilt auch für Minderjährige.
Andernfalls wäre die Suche mit den humanitären
Grundsätzen und Prinzipien der Bewegung der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften unvereinbar.
Anfragen von Behörden, z.B. dem Bundesamt oder
anderen Stellen, werden deshalb nicht entgegengenommen. Ebenso werden keine Suchanfragen bearbeitet, bei denen ersichtlich ist, dass die suchende
Person zu der Suche von Dritten aufgefordert oder
angehalten wurde. Das Ergebnis einer Suchanfrage
stellt eine vertrauliche Information dar, die ausschließlich dem Suchenden selbst mitgeteilt wird,
der dann frei entscheiden kann, mit wem diese
Information geteilt werden soll. So wie jede Person
das Recht hat, einen Familienangehörigen nicht zu
suchen, hat auch jede Person das Recht, nicht gefunden zu werden. Sollte eine gesuchte Person, sobald
Entscheiderbrief 5/2015
sie gefunden wurde, nicht wollen, dass ihre Kontaktdaten an den suchenden Familienangehörigen weitergegeben werden, so wird dies vom SuchdienstNetzwerk respektiert. Seit September 2013 besteht
bei 20 europäischen Rotkreuzgesellschaften die
Möglichkeit, Familienangehörige durch Veröffentlichung des eigenen Fotos zu suchen. Hierzu wird das
Foto auf einer vom IKRK betreuten Website (www.
familylinks.icrc.org/europe) veröffentlicht. Zusätzlich werden Plakate erstellt, die in derzeit 19 europäischen Ländern an von Flüchtlingen häufig frequentierten Orten aushängen. In Deutschland sind dies
u.a. auch alle Außenstellen des Bundesamtes. Sollte
die gesuchte oder eine dritte Person das Foto erkennen und weiterführende Informationen besitzen, so
kann über ein Antwortformular auf der Website eine
Nachricht an die einstellende Rotkreuzgesellschaft
gesendet werden.
Verbinden
Bewaffnete Konflikte, Katastrophen und Fluchtbewegungen können zur Folge haben, dass Familienangehörigen keine gängigen Kommunikationsmittel
zur Verfügung stehen, um den Kontakt untereinander zu halten. In solchen Fällen besteht über den
DRK-Suchdienst die Möglichkeit, sog. RotkreuzFamiliennachrichten zu verschicken. Auf einer halben Seite haben die Angehörigen Platz, persönliche
Nachrichten zu schreiben, die über das SuchdienstNetzwerk der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung zugestellt werden. Sollten sich Angehörige
aufgrund eines bewaffneten Konfliktes in Gefangenschaft befinden, ist es dem DRK-Suchdienst
ebenfalls mit Hilfe des IKRK möglich, regelmäßige
Skype-Telefonate zwischen den Inhaftierten und
ihren Angehörigen in Deutschland zu ermöglichen.
Da das IKRK in Konfliktregionen Zugang zu Gefängnissen hat, können in Deutschland lebenden
Flüchtlingen in einigen Fällen auch Bestätigungen
über Inhaftierungen in ihrem Heimatland ausgestellt werden, falls sie in dieser Zeit durch das IKRK
besucht und/oder registriert wurden.
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in Deutschland. Er berät v. a. zu den rechtlichen
Voraussetzungen nach dem Aufenthaltsgesetz. Zunehmend gibt es auch Anfragen, die die Möglichkeit
der Wiederherstellung der familiären Einheit für
Asylsuchende innerhalb Europas betreffen. Der
DRK-Suchdienst informiert über die schwierigen
Regelungen der Dublin-III-Verordnung. Er unterstützt die Betroffenen zudem bei Problemen mit den
deutschen Auslandsvertretungen oder den Ausländerbehörden, wenn dies aus humanitären Gründen
erforderlich ist.
Rechtlich abgesicherte Unabhängigkeit
Aufgrund seiner Sonderstellung als Hilfsgesellschaft
der Behörden im humanitären Bereich (§ 1 S. 1 DRKGesetz1) hat der DRK-Suchdienst vertrauensvolle
Kontakte zum Bundesamt, den Ausländerbehörden
und deutschen Auslandsvertretungen sowie den
Innenministerien des Bundes und der Länder und
dem Auswärtigem Amt. Hierbei hat nicht nur das
DRK, sondern haben auch die Behörden jederzeit zu
beachten, dass das DRK an die Grundsätze der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung
gebunden ist (§ 1 S. 2 DRK-Gesetz). Daher hat der
DRK-Suchdienst stets seine Unabhängigkeit – auch
und gerade von staatlichen Stellen – zu wahren. Die
dem DRK-Suchdienst anvertrauten personenbezogenen Daten sind durch das Suchdienstedatenschutzgesetz vom 02.04.20092 besonders geschützt.
Erhobene Daten dürfen ausschließlich zum Zwecke
der Suche und der Familienzusammenführung, also
im Interesse der Betroffenen, verarbeitet und genutzt werden. Die Tätigkeit des Suchdienstes ist für
die Betroffenen kostenlos. Weitere Informationen
und alle Kontaktdaten finden sich auf www.drksuchdienst.de.
Ronald Reimann, DRK-Suchdienst
Vereinen
Bei vielen Familien besteht neben der Kontaktvermittlung der Wunsch, wieder gemeinsam an einem
Ort zu leben. Der DRK-Suchdienst unterstützt deshalb Flüchtlinge bei der Familienzusammenführung
1 Gesetz zur Änderung der Vorschriften über das Deutsche Rote Kreuz v. 05.12.2008, BGBl. I 2008, 2346.
2 BGBl. I 2009, 690; geändert durch Art. 3 des Gesetzes v.
03.05.2013, BGBl. I 2013, 1084.
Entscheiderbrief 5/2015
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weist hin auf
Jan Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, ZAR Heft
3/2015, S. 81 ff.
Uwe Berlit, Änderung des Optionsrechts, ZAR Heft
3/2015, S. 90 ff
Informationen hierzu über
IVS-Telefon:0911/943-7188
IVS-Fax:
0911/943-7198
E-Mail:
[email protected]
Demnächst lesen Sie:
ƒƒ Freiwillige Ausreisen 2014
ƒƒ Aus der Rechtsprechung
ƒƒ Asylanträge im internationalen Vergleich im
Jahr 2014
BReg
ƒƒ Ausweisungen im Jahr 2014 und Entwurf zur Reform des Ausweisungsrechts, BT-Drs. 18/4596
ƒƒ Lage der Binnenflüchtlinge in Afghanistan, BT-Drs.
18/4606
ƒƒ Rechtliche und praktische Folgen der Verzögerung
bei der Registrierung neu eingereister Asylbewerberinnen und Asylbewerber, BT-Drs. 18/4581
ƒƒ Rückführungen von Asylsuchenden in die Ukraine, BT-Drs. 18/4580
Harald Dörig, Hohe Anforderungen an Asyl für USMilitärdienstverweigerer, jM Heft 4/2015, S. 169 ff.
Anmerkung zu EuGH, U.v. 26.02.2015 - C-472/13.
Das Urteil wird in dieser Ausgabe des Entscheiderbriefes behandelt.
KAS (Hrsg.), Kirchenasyl, Rechtsbruch oder Akt der
Barmherzigkeit?, Monitor Religion und Politik, Berlin 23.02.2015
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bern
ƒƒ Syrien: Die National Defense Forces, 28.03.2015
ƒƒ Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee,
28.03.2015
Frank Swiaczny, Migration und Umwelt, Geographische Rundschau Heft 4/2015, S. 46 ff.
Privilegierte Bevölkerungsgruppen sind in der Regel
weniger verletzlich und haben mehr Möglichkeiten.
Eine davon ist die Migration. Bei marginalisierten
Gruppen ist es umgekehrt. Ihre größere Verletzlichkeit
und geringen Möglichkeiten erklären, warum häufig
gerade die am stärksten von Umweltwandel Betroffenen unfähig zur Wanderung sind.
Impressum
Entscheiderbrief 5/2015 - 08.05.2015
Auflage: 1250 Exemplare
Herausgeber:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
ISSN 1869-1803
Redaktion Entscheiderbrief
Frankenstraße 210, 90461 Nürnberg
www.bamf.de
[email protected]
Bezugsquelle:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
Doris Tanadi, 223
90343 Nürnberg
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Tel.: +49 (0) 911/943-7100
Fax: +49 (0) 911/943-7198
Erscheinungsweise:
monatlich; Redaktionsschluss jeweils der 15. eines Monats
(Änderungen nach Bedarf)
Druck:
Bonifatius GmbH, Paderborn
Druck-Buch-Verlag
Gestaltung:
Petra Schiller, 223
Bildnachweis:
Wolfgang Heindel, 414
Text:
Dr. Roland Bell, RL 224 (verantw. Leiter)
Bernd Emtmann, 410
Wolfgang Heindel, 414
Maria Schäfer, 225a
Martina Todt-Arnold, 225a
Marlies Wick, 412
Josef Wiesend, 413
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