Das Ziel aller Wünsche von Norbert Hesse Es regnete in Strömen, als er endlich die Lichter des Dorfes vor sich durch die Blätter es Unterholzes schimmern sah. Er drehte sich um, doch der alte Mann war fort. Mit schnellem Schritt ging er der Fährtensucher die Senke ins Dorf hinunter. Armselige Hütten und kleinere Häuser drängten sich aneinander. Allen gemeinsam war, dass sie wohl schon seit Jahren keine Farbe gesehen hatten. Er hatte fast die Mitte des Dorfes erreicht, als er die Schenke auf der anderen Straßenseite entdeckte. Er musste etliche, wassergefüllte Schlaglöcher umrunden, bevor er die Stufen zum Wirtshaus hinaufgehen konnte und die Tür öffnete. Der Schankraum war fast leer. Nur ein paar Dörfler, die ihn kurz musterten, um sich dann wieder ihrem Kartenspiel zu widmen. Seine Augen brauchten einen Augenblick, um sich an die Helligkeit gewöhnen, doch er sah, dass die Gaststube sauber und gepflegt war. Der Wirt sah auf und musterte den schlanken Mann, der sich aus seinem nassen Umhang wickelte. Er erkannte sofort, dass dies kein gewöhnlicher Gast war. Es waren nicht die Waffen, die er trug und auch nicht der Blick, den er forschend durch die Wirtschaft schweifen ließ, bevor er sich einen Platz suchte, der ihm einen ungehinderten Blick auf die Tür und alle Anwesenden erlaubte, während er selbst im Halbschatten kaum zu erkennen war. Es war die Art, wie er sich bewegte. Einer dieser Fährtensucher, vermutete der Wirt. Dieser hier glich einer der gefährlichen Sumpfkatzen, die es hier in der Gegend gab und mit diesen sollte man sich besser nicht anlegen, wenn man den nächsten Tag erleben wollte. Als der Fremde den Blick hob und zu ihm herüberblickte, ging er an dessen Tisch und fragte, was er für ihn tun könne. "Ein warmes Essen, einen Humpen Bier, ein heisses Bad und ein Bett für diese Nacht," antwortete der Mann leise. „Macht fünf Silberlinge, sechs, wenn Ihr Frühstück wollt.“ Der Fremde griff in die Tasche und schob ihm die gewünschte Summe über den Tisch. Der Wirt nickte und verschwand durch eine Tür hinter dem Tresen, die wohl zur Küche führte. Der Fremde ließ seine Gedanken schweifen und ihm kam sofort der alte Mann in den Sinn, der plötzlich vor ihm auf dem Waldweg aufgetaucht war. Warum hatte er nur auf den alten Mann gehört und war von seinem ursprünglichen Weg von Norden nach Westen abgebogen? Weil es wahr geklungen hatte, gestand er sich ein - zum ersten Mal, seit er sich auf die Suche gemacht hatte. Es gab zu viele, die darüber gesprochen hatten, doch meist stand hinter den Antworten auf seine Fragen die blanke Gier nach den Goldstücken, mit denen er die richtigen Antworten belohnen sollte. Bis auf diesen alten Mann, den er zunächst für einen Bettler gehalten hatte, wie es sie in diesen wirren Tagen nach dem Ende des Krieges zu hunderten gab. Er hatte ihn gefragt, ob es in der Nähe ein Dorf mit einer Wirtschaft gab. Der Mann hatte genickt, nach Westen gewiesen und etwas von zwei Wegstunden gemurmelt. Dann hatte er ihm ein Kupferstück zugeworfen und wollte sich schon abwenden, als der Alte sagte: „Ihr werdet bis zum Ende der Tage suchen, falls Ihr weiter so blind seid.“ Er hatte sich blitzschnell umgedreht und den Alten an der Gurgel gepackt: „Sprecht ihr immer so respektlos, alter Mann?″ Mühsam nach Atem ringend hatte der Alte gefragt: „Ist die Erwähnung von Wahrheit respektlos?″ „Was wisst Ihr schon von der Wahrheit," hatte er geantwortet und den Mann losgelassen. „Mehr als Euch bewusst ist, Fährtensucher. Doch die Wahrheit ist nicht immer willkommen.″ Es waren nicht nur die Worte, die ihn innehalten gelassen hatten, sondern auch dieser Blick, mit dem ihn der Alte ansah. Und dann hatte der Alte ihm von den Verlorenen Ebenen im Westen und dem Ambossberg erzählt. Hatte über die alte Legende und über das Amulett geredet und dass so viele zum Berg aufgestiegen, aber keiner je zurückgekommen war. Also hatte er sich er sich nach Westen gewandt und hier war er nun, im letzten Dorf an den Verlorenen Ebenen und dem wohl letzten Bett, in das er sich vor dem Ziel legen konnte. Das Wildbret, das bald darauf vor ihm stand, war fantastisch, genauso, wie er es am liebsten mochte. Während er es sich schmecken ließ, fragte er den Wirt nach Vorräten und einem Pferd. Der Wirt warnte ihn vor dem Weg durch die Verlorenen Ebenen. Erklärte ihm, dass viele Menschen in dieser Wüste verdurstet waren oder der sich verirrt hatten. Als er aber merkte, dass der Fremde sein Ziel nicht aufgeben würde, versprach er, dass die gewünschten Dinge am frühen Morgen bereit stehen würden. Nach dem Essen ließ er sich sein Zimmer zeigen, in dem schon ein heisses Bad bereit stand. Kaum im Bett, war er auch schon eingeschlafen. Es war noch dunkel, als er am Morgen in die Schankstube hinunter stieg. Der Wirt sah auf und wies auf den gedeckten Tisch: "Brot, Schinken, ein paar Eier und den Wein. Das Pferd habe ich für Euch schon gesattelt und auch ein paar zusätzliche Wasserschläuche hängen am Sattel." Der Fremde bezahlte das Pferd und die Vorräte und legte noch ordentlich etwas drauf, als Dank für seine Hilfsbereitschaft. Der Wirt hatte ihn gewarnt, dass die nächste Wasserstelle erst am Fuß des Ambossberges zu finden wäre und den würde er erst am Einbruch der Nacht erreichen. Die Schatten der Bäume wurden schon länger, als er den Fuß des Ambossberges erreichte. Er war froh, diese öde, trockene Gegend endlich verlassen zu können, in der er nur hin und wieder Leben entdeckt hatte. Er hatte Glück gehabt, er war in keinen der Sandstürme geraten, vor denen ihn der Wirt eindringlich gewarnt hatte. Er überlegte kurz, ob er sofort den Berg hochsteigen sollte, verwarf diesen dann wieder. Seine Wasservorräte gingen zur Neige und nicht nur das Pferd brauchte eine Ruhepause. Es war besser, er suchte nach der Wasserstelle und schlug dort das Lager für die Nacht auf. Er brauchte noch fast eine Stunde, bis er den kleinen Teich fand. Vorsichtig wie er war, hatte sich die Gegend genau angesehen und eine Stelle entdeckt, von wo er den Aufstieg am nächsten Morgen beginnen wollte. Er versorgte das Pferd und füllte die Wasserschläuche auf. Auf ein Feuer verzichtete er und aß nur ein wenig von seinem Trockenfleisch, dann rollte er sich in seine Decke und schloss die Augen. Doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Er musste lächeln, als er an seine Schwester dachte. Sie hatte getobt und gewütet, als er ihr von seinem Plan erzählt hatte: "Du bist und bleibst ein Kind, Cedar Feldor, wann hörst du endlich mit deinen Träumereien auf. Unsterblichkeit, dass ich nicht lache. Zu viele bezahlen ihre Unsterblichkeit mit dem Tod." Senja war zwar nur ein Jahr jünger als er, doch manchmal erinnerte er sie an seine Mutter, die, wie ihr Vater, bei einem Überfall einer Räuberbande, ums Leben gekommen war und die Kinder allein und auf sich gestellt zurück ließ. Er war gerade elf Jahre alt, da wurden sie von einem Fährtensucher aufgenommen und dieser hatte ihnen in den folgenden Jahren alles beigebracht, was man als Fährtensucher wissen musste. Senja wich nie von seiner Seite und oft hatte sie ihm aus dem Schlamassel geholfen, in das er sich durch sein impulsives Verhalten selbst gebracht hatte. Wo er impulsiv handelte, dachte sie nach. Irgendwie wusste sie immer, wenn er in Schwierigkeiten steckte. Acht Jahre waren sie jetzt bei den Fährtensuchern und hatten sich in dieser Zeit einen beachtlichen Ruf erworben. Wenn immer es einen schwierigen Auftrag gab, hieß es "Holt die Feldors, die schaffen es!". Er dachte noch einen Augenblick über das, was am nächsten Tag auf ihn warten würde, nach, aber dann übermannte ihn der Schlaf doch. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich durch die Nebelschwaden, die über dem kleinen Teich hingen, als Cedar erwachte. Er rollte seine Decken zusammen und begann nach trockenen Zweigen für ein Feuer zu suchen. Während sich das Wasser in dem Kessel erhitze, den er über das Feuer gehängt hatte, ging er hinüber zu seinem ruhig grasenden Pferd. Er verstaute die Decken, lockerte den Sattelgurt noch etwas mehr. Er würde den Anstieg zu Fuß in Angriff nehmen, da er nicht riskieren wollte, dass das Pferd sich in den losen Geröllhalden am Anstieg verletzte. Er nahm etwas Gemüse, Gewürze und einige Stücke Fleisch aus seinem Vorratsbeutel und warf diese in den Topf. Während die Suppe vor sich hin köchelte, überprüfte er den Vorrat an Pfeilen, die Sehen des Bogens und schliff die Schneide seines Schwertes nach. Als er gegessen hatte, trat er sorgfältig das Feuer aus, schulterte sich den Rucksack und den Bogen und sah sich noch einmal um: "Na dann, es wird Zeit, " sagte er halblaut zu sich und ging zu der Stelle hinüber, den er als den besten Weg nach oben am Abend zuvor entdeckt hatte. Er erste Teil war schnell überwunden, auch wenn das Geröll ihn manchmal wegrutschen ließ. Es ging auf Mittag zu, als der kaum erkennbare Weg plötzlich endete. Er ging ein Stück zurück, dorthin, wo er eine Ansammlung von Büschen gesehen hatte. Es dauerte eine Weile, bis er in dem Gewirr von Gestrüpp eine Abweichung der Buscharten erkannte. Es schien keinen Durchgang zu geben, doch mithilfe seines Schwertes gelang es ihm, eine Bresche zu schlagen, hinter der der Weg wieder sichtbar wurde. Der Aufstieg wurde immer mühsamer, da er immer wieder große Felsbrocken umrunden musste. Plötzlich sah er vor sich zwei Steine, in denen etwas eingemeißelt war. Er wischte den Dreck fort und befreite die Steinflächen von Moos. Es dauerte eine Weile, bis er die Schriftzeichen zuordnen konnte. Alte Elbenzeichen auf der einen und Zwergenrunen auf der anderen Seite. Sein alter Lehrmeister hatte darauf bestanden, dass man die Grundkenntnis der alten Schriften lernte, da man als Fährtensucher immer wieder auf solche Zeichen stoßen könnte. Dennoch dauerte es eine Weile, bis er den Text beider Steine zusammen hatte: "Fremder, gehe diesen Weg und entscheide dein Schicksal." War es eine Warnung oder ein Versprechen? Cedar dachte nicht weiter darüber nach, sondern wusste, dass er weitergehen würde. Der Weg wurde jetzt wieder einfacher, kaum noch Geröll, dafür aber Steinplatten, die in den Boden eingelassen waren. Er drehte sich um und stellte fest, dass er die Hälfte des Anstiegs zum Gipfel schon hinter sich gelassen hatte. Der Pfad wand sich, stetig ansteigend, um den Berg. Manchmal war es so steil, dass er nach ein paar Metern eine Pause einlegen musste, um wieder zu Atem zu kommen, dann wíeder war es eben. Es war Nachmittag, als er um eine Biegung kam und vor sich ein grosses Steintor entdeckte, das in den Berg zu führen schien. Er war fast am Ziel. Er nahm einen weiteren Schluck aus dem Wasserschlauch und sah sich um. Vor dem Tor fand er wieder zwei Steine dicht nebeneinander mit eingemeißelten Schriftzeichen. Diesmal war die Inschrift eindeutig eine Warnung: "Tritt ein und lass das Leben hinter dir," stand auf dem einen und auf dem anderen konnte er lesen: "Das Schicksal wartet dort, es gibt kein Zurück." Er schaute sich das Tor genauer an. Keine Klinken, keine Griffe, nichts, was die Tür öffnen konnte, nur der Umriss eines Tores im Fels. Er tastete die Umrisse ab, aber konnte keinen verborgenen Mechanismus entdecken. Er lehnte sich gegen die Tür, um sie aufzudrücken, aber nichts geschah. Er war sich sicher, dass er etwas übersehen hatte. Er ging noch mal zurück zu den Schriftsteinen und umrundete sie. Dann fiel es ihm auf: Jeder hatte am Boden, kaum sichtbar unter Sand und Moos, einen eingelassenen Runenstein, der sich von der Farbe des Schriftsteines unterschied. Er reinigte die Stellen und war verblüfft: Dort waren Fußabdrücke eingelassen, allerdings wiesen sie vom Tor weg, hin zu dem Weg, den er gerade herauf gekommen war. War er, Cedar Feldor, nicht Fährtensucher, und zwar der Beste? Dies Rätsel war eine Aufgabe, die er lösen musste. Er ging den Weg zurück und untersuchte sorgfältig den Boden nach weiteren Zeichen, konnte jedoch nichts entdecken. Also wandte er wieder dem Tor zu. Diesmal sah er sich den Boden davor genauer an. Er riss ein paar Zweige ab, bündelte sie und machte sich daraus einen Besen, mit dem er den Sand und Staub vor dem Tor fortwischte. Dann sah er es: Es waren zwei flache Steine dunkler Farbe, in die ebenfalls Fußabdrücke eingelassen waren, doch diese wiesen zum Tor. Er ging wieder zurück zu den Schriftsteinen und dachte nach. Wahrscheinlich zeigten diese Fußabdrücke an, dass man noch zurückgehen konnte, während die anderen den Eintritt in das Innerste des Berges bedeuteten. Er wünschte sich, seine Schwester Senja wäre jetzt hier. Sie würde sehr wahrscheinlich sofort eine Lösung parat haben. Es half nichts, hier war er auf sich allein gestellt. Cedar sah sich beide Fliesenpaare noch einmal an, dann traf er seine Entscheidung. Er sammelte ein paar größere Steine, ging wieder zu den Schriftsteinen und stellte sich mit dem Rücken zum Tor auf die Fliesen. Hinter sich hörte er plötzlich ein Knacken, gefolgt von einem schabendem Geräusch, dass an zwei aneinander reibende Mühlsteine erinnerte. Als es wieder still war, ging er zum Tor und trat auch dort auf die Fliesen, das Gesicht dem Tor zugewandt. Es blieb still und er wollte sich schon abwenden, da bewegte sich der Fels vor ihm. Schweigend wichen die Torflügel zu beiden Seiten nach innen. Nichts war zu hören - absolute Stille. Sogar die Vögel waren plötzlich verstummt. Mühsam versuchte er, etwas zu erkennen, doch nur der einfallenden Lichtkegel wies den Weg in die Dunkelheit. Er atmete tief durch und trat durch das Tor. Langsam begann sich das Tor zu schließen, doch damit hatte er gerechnet und legte schnell die gesammelten Steine zwischen die sich schließenden Torflügel, um so das Zufallen des Tores zu verhindern. Es schien zu funktionieren, nur noch ein schmaler Lichtstrahl fiel auf den Boden. Cedar schmunzelte, als er sich an die Warnungen seines alten Lehrmeisters erinnerte: "Sorge dafür, dass Du einen Ort wieder verlassen kannst." Er bemühte sich, den Anflug von Euphorie zu unterdrücken und rief sich zur Ordnung Noch hatte er das Amulett nicht und in Anbetracht dessen Bedeutung, nahm er nicht an, dass es leicht werden würde, es in die Hände zu bekommen. Mit einem letzten Blick auf das Tor wandte er sich um und folgte dem Lichtschein auf dem Boden. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er stellte fest, dass es nicht wirklich dunkel war. Ein gelblicher Schimmer schien von überall her zu kommen. Er drehte sich um sich selbst und versuchte das Ausmaß dieses Ortes zu erfassen. Die Größe war beeindruckend und er dachte an die Zeit, die die Zwerge für diesen Bau benötigt haben mussten, denn nur sie schienen zu einem solchen Bauwerk in der Lage gewesen zu sein. Langsam ging er weiter durch die riesige Halle. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch. Blitzschnell drehte er sich um und sah nur noch, wie die Steine, die er zwischen die Türflügel gelegt hatte, zu Staub zermahlen wurden, als sich die Tore mit einem lauten Krachen endgültig schlossen und das Tageslicht aussperrten. Er stöhnte auf, als er sich an die Worte auf dem Schriftstein erinnerte: "... es gibt kein Zurück". Nun ja, er würde schon einen Weg hinausfinden, aber erst mal musste er das Amulett finden. Er wandte sich um und ging mit langsamen Schritten weiter, die Hand fest um den Griff seines Schwertes geschlossen. "Es ist ein weiter Weg, den Du gegangen bist, Cedar Feldor," ertönte plötzlich eine Stimme irgendwoher aus der Dunkelheit. Cedar duckte sich, riss das Schwert aus der Scheide und sah sich vorsichtig um. "Keine Angst, niemand wird Dir hier etwas tun," sagte die Stimme wieder und fügte hinzu, "zumindest jetzt noch nicht." Cedar richtete sich langsam auf, als die Stimme wieder erklang: "Komm näher, Fährtensucher, lass dich anschauen." Die Stimme kam von Rechts, also wandte er sich in diese Richtung und ging langsam weiter. Vor ihm wurde es heller und er erkannte ein paar Stufen, neben denen zwei Personen standen: Ein Zwerg und ein Elf, beide bewaffnet. Der Zwerg stützte sich auf eine riesige Axt und der Elf hielt einen langen Stock in beiden Händen. Im ersten Moment dachte er, es handele sich um Statuen, doch dann bemerkte er, wie ihre Augen ihm langsam folgten, als er weiter ging. Als er die beiden Wächter, denn genau darum musste es sich bei den Beiden handeln, erreichte, sagte die Stimme leise: "Das ist weit genug. Nun erzähl mir, warum Du hier bist." Das Licht vor ihm wurde heller und er sah auf einer kleinen Empore einen Thron, auf dem ein uralter Mann saß. Lange schlohweiße Haaren hingen ihm bis auf die Schulter und sein Gesicht war von Narben bedeckt, die auch der lange weiße Bart nicht verdecken konnte. Seine Hände lagen auf den Lehnen des Thrones. Mit einer Bewegung an die beiden Wächter veranlasste er, dass diese sich zurückzogen. "Wer ... wer seid Ihr?" Der Alte ließ ein leises Lachen hören: "Eine gute Frage. Man nennt mich den Wächter, den Alten von Berg, den Hüter und noch vieles andere. Such Dir was aus, Du kannst mich auch Arioth nennen, es spielt keine Rolle." Der Alte sah ihn an und sein Blick blieb auf dem immer noch gezogenen Schwert hängen. Schnell steckte Cedar es in die Scheide. Beide schwiegen eine Weile, der Alte ihn aufmerksam beobachtend, Cedar, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. "Nun denn, " der alte Mann erhob sich, "dann will ich Dir zeigen, wonach Du die ganzen Jahre gesucht hast." Er sah ihn erwartungsvoll an: "Das ist es doch, was Du sehen willst, das Amulett, oder?" Cedar nickte nur, denn der Kloß im Hals verhinderte, dass er antwortete. Der Alte ging auf eine Nische hinter dem Thron zu. Dort konnte Cedar eine Truhe erkennen. Doch noch etwas fiel ihm auf. Es war, als hinge über dem Alten ein Lichtschimmer, der wie ein Aura alles um ihn herum erleuchtete, dennoch konnte er nirgendwo einen Schattenwurf erkennen. So langsam beschlich ihn das ungute Gefühl, dass hier nichts so wahr, wie es den Anschein hatte. Der alte Mann hatte die Truhe erreicht und hob den schweren Deckel hoch, griff hinein und begann darin zu kramen, während er vor sich hinmurmelte. Schließlich schien er Erfolg bei seiner Suche zu haben, schnauft kurz und hob einen Gegenstand aus der Truhe: "Da haben wir dich ja. Musst Dich nicht verstecken." Er drehte sich um und Cedras Blick fiel auf das Amulett, dass an einer Kette in der Hand des Alten baumelte. Er kam näher und wollte schon danach greifen, als der Alte seine Hand zurückzog: "Nicht so schnell, Cedar Feldor. Es gibt einiges zu sagen." Cedar zögerte, machte aber dann einen weiteren Schritt. So kurz vor dem Ziel wollte der Alte mit ihm reden? Nicht mit ihm! "Setz Dich!" Die lauten Worte des alten Wächters fuhren ihm durch Mark und Bein und hallten in der großen Halle wieder. Langsam trat er zur Seite und setzte sich auf die Bank an der Wand, die er vorher nicht gesehen hatte. "Vier Jahre bist Du jetzt auf der Suche und heute bist Du fast am Ziel, Fährtensucher." Arioth seufzte, als er sich neben den Fährtensucher setzte und dabei das Amulett in eine Tasche seines Umhanges schob. Cedar wollte etwas sagen, doch der Alte hob die Hand: "Du solltest wissen, dass Dein Weg nicht umsonst war, doch Du hast noch eine Wahl zu treffen." Ungläubig sah Cedar in das Gesicht des Alten: "Was soll das heißen? Was für eine Wahl?" "Das heißt, dass Deine Suche zwar zu Ende ist, aber hier und jetzt entscheidet sich, was Du aus Deinem Leben machen willst." Der alte griff in seinen Umhang und als er Cedar seine geöffnete Hand entgegen hielt, lagen darin zwei Kugel, die eine schwarz, die andere weiss. "Wenn das Leben so wäre, wie das hier in meiner Hand: Schwarz - Weiss, Arm Reich oder auch Gut und Böse, dann wäre es für viele Menschen einfacher, sich für eine Seite zu entscheiden. Manche Entscheidungen wären dann einfacher zu treffen. Doch es gibt auch den Bereich dazwischen, der von Kompromissen, von Abwägungen und von Fehlern bestimmt wird." Cedar nickte: "Ich weiss, was ihr meint, Arioth." Der Alte schloss die Hand und als er sie wieder öffnete, waren die Kugeln verschwunden. "Manchmal ist es einfach, eine Entscheidung zu treffen, ohne dass man, wie in diesem Fall, die Farbe kennt oder ob es sich wirklich um Kugeln handelt." Der alte Wächter sah Cedar in die Augen: "So ist es auch mit dem Amulett. Du willst, was immer man Dir darüber gesagt hat: Reichtum, Gesundheit, Ansehen oder gar Unsterblichkeit. All das spielt keine Rolle." "Natürlich spielt es eine Rolle!", rief Cedar. Der Alte lachte: "Nein, tut es nicht, denn wichtig ist nur die Entscheidung und der Weg, der Dich zu dieser Entscheidung geführt hat. Nichts ist ohne Preis und über den solltest Du erst nachdenken. Alles was Du machst, hat Konsequenzen, hat eine eigene Dynamik, die Dich befreien oder in den Abgrund reißen kann." Cedar schüttelte den Kopf: "Es spielt keine Rolle, denn ich habe kein Ziel mehr, habe für niemanden Verantwortung. Das Einzige was ich wollte, war dieses Amulett." Der Alte seufzte und erhob sich: "Nun denn, so soll es sein. Doch bevor Du Dir das Amulett umhängen kannst, wirst Du Dich würdig erweisen müssen, denn die Wächter werden Dich nicht Weiteres mit dem Amulett gehen lassen. Noch kannst Du gehen und es auf sich beruhen lassen." "Nein", rief Cedar, "ich bin soweit gekommen und nun soll mir das verwehrt werden, was ich so lange gesucht habe? Niemals!" Aus den Augenwinkeln sah er den Elfen und den Zwerg, die mit schnellem Schritt heran kamen. Er riss sein Schwert aus der Scheide: "Ich werde darum kämpfen!" Der Zwerg hob seine Axt und stürmte auf Cedar los, während der Elf mit einem mit ausholenden Hieb seinen Kampfstock schwang. Nur mit einem schnellen Schritt nach hinten konnte Cedar ausweichen. Er drehte sich und mit einer schnellen Bewegung stieß er das Schwert nach dem Zwerg. Dieser wich seinerseits aus und Cedar nutze seine jahrelange Kampferfahrung, indem er eine Rolle noch vorne machte und von unten auf den näher stehenden Elf hieb. Doch der Hieb schnitt nur in den Ärmel seines Gegners. Als er das sausende Geräusch hörte, riss er den Kopf zur Seite und dicht neben ihm traf die Axt auf den Boden. Er sprang auf und nickte anerkennend. Diese Zwei waren würdige Gegner und nicht leicht zu besiegen. Er sprang zur Seite, als der Zwerg wieder angriff. Er erkannte schnell die Unterschiede seiner Gegner. Der Zwerg versuchte es mit schierer Kraft, während der Elf mit Schnelligkeit sein Ziel zu erreichen wollte. Alle drei umkreisten einander, jeder versuchte die Schwäche des Gegners heraus zu finden. Cedar machte einen Ausfallschritt in Richtung des Elfen und merkte, dass der Zwerg sofort angriff. Er wich aus und versuchte es gleich noch mal, diesmal in Richtung des Zwerges. In diesem Fall griff der Elf sofort an. Diesmal war er nicht schnell genug und der Kampfstab des Elfen traf ihn in der Kniekehle. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, knickte ein und spürte, wie ihn die Axt des Zwerges an der linken Schulter traf. Obwohl der Hieb ebenso schmerzhaft war, konnte er sich froh sein, dass ihn nur die Fläche statt der Schneide traf, denn sonst wäre der Kampf wohl vorbei gewesen. Eine Rolle vorwärts brachte ihn aus der Reichweite der Angreifer. Er wusste, er musste schnell einen der beiden Gegner ausschalten, sonst hätte er keine Chance, dies lebend zu überstehen. Etwas hatte ihm allerdings der letzte Angriff gezeigt, der Zwerg ließ die rechte Seite ungedeckt, nachdem er die Axt geschwungen hatte. Der Kampf wogte hin und her und schließlich griff er zu einem Trick, den ihm der alte Fährtenmeister für Notfälle beigebracht hatte. Er stürmte auf den Elf zu und bevor er ihn erreichte, täuschte er ein Stolpern vor und ließ sich auf die Knie fallen, dabei klemmte er sein Schwert unter den Arm, sodass die Spitze nach hinten zeigte. Es geschah genau so, wie er es tausende Male geübt hatte. Der Zwerg sah das Schwert zu spät und es bohrte sich in den Brustkorb. Das Gewicht des fallenden Zwerges begrub ihn unter sich, doch genau das rettete ihm das Leben. Der Hieb des Elfen, der auf seinen Kopf zielte, traf stattdessen den Kopf des Zwerges. Er stieß dessen Körper von sich und sprang wieder auf die Füße. Der Elf stand wie erstarrt und schaute auf seinen Kampfgefährten. Jetzt oder nie, dachte Cedar, fasste mit beiden Händen den Griff seines Schwertes und mit einem Schrei schwang er es in Richtung des Elfen. Nur der schnellen Reaktion des Elfen war es zu verdanken, dass der Hieb ihn nicht sofort tötete. Das Schwert durchschlug den Kampfstab und grub sich in den rechten Oberarm des Elfen. Der Elf fiel auf die Knie und riss mit der linken Hand einen Dolch aus dem Gürtel und stieß es mit einer schnellen Bewegung in den Oberschenkel des Fährtensuchers. Cedar spürte, wie das Blut augenblicklich sein Bein hinunterran, und wusste, dass er für ein schnelles Ende sorgen musste, ansonsten würde ihn der Blutverlust zu sehr schwächen, als dass er gegen diesen Gegner noch eine Chance hätte. Den gleichen Gedanken schien der Elf auch zu haben. Beide, mühsam atmend, fixierten einander. Cedar entsann sich eines Tricks, den ihn ein Schausteller einmal verraten hatte, als es um Überraschungseffekte ging. Cedar unterdrückte den Schmerz und den Gedanken an seinen blutenden Oberschenkel und versenkt sich in sein Selbst. Er verdrängte alle Gedanken an den Schmerz und an den nahen Tod, bis er vollkommen zur Ruhe gekommen war. Er wartete, langsam atmend und bereitete sich vor. Dann griff der Elf an, mit großen Schritten rannte er auf ihn zu. Auch Cedar lief, leicht sein linkes Bein leicht nachziehend, auf seinen Gegner zu. Als sie sich fast erreicht hatten, warf sich er sich mit einem Sprung direkt vor dem Elfen auf den Boden und riss das Schwert hoch. Der Elf versuchte, ihm auszuweichen, und wollte über ihn hinwegspringen, doch diesmal war er zu langsam, und das Schwert des Fährtensuchers stieß von unten tief in den Brustkorb seines Gegners. Damit er sich die Schulter nicht auskugelte, ließ er das Schwert sofort los. Der Elf fiel hinter ihm auf den Boden und trieb das in ihm steckende Schwert noch tiefer in seinen Leib. Der Kampf war vorüber. Er richtete sich schwer atmend auf und der Schmerz durchflutete seinen Körper. Er sah auf, als der alte Mann heran kam. Er hob abwehrend die Hand, doch der Alte lächelte beruhigend: "Keine Sorge, Cedar Feldor, lasst mich Eure Blutung stillen." Der Alte kniete sich neben ihn, legte seine Hände auf seinen Oberschenkel und schloss die Augen. Ein Gefühl der Wärme, dann Hitze breitete sich in seinem Bein aus und dann war der Schmerz plötzlich verschwunden. "Das sollte reichen," sagte der Alte und erhob sich. "Ein guter Kampf für wahr." Er sah auf den Elf und den Zwerg: "Sie haben mir lange als Wächter gedient. Sie wussten, irgendwann würde einer kommen, der sie besiegen würde. Nun dürfen sie für alle Zeiten ruhen." Er hob beide Arme und murmelte ein paar Worte und plötzlich waren die beiden Kämpfer verschwunden, als wenn es sie nie gegeben hatte. Cedar schnappte erschrocken nach Luft: "Dann waren das Geister, gegen die ich kämpfte? Alles nur eine Narretei?" "Keine Narretei und keine Geister, denn die hättet Ihr nicht töten können. Es waren Wächter aus der Zwischenwelt, die noch eine letzte Aufgabe zu erfüllen hatten, bevor sie ihre endgültige Ruhe erhalten." Arioth drehte sich um und holte das Amulett aus seiner Robe und hielt es hoch: "Werdet Ihr mich auch töten, um an dieses Amulett zu kommen, oder was gedenkt Ihr jetzt zu unternehmen?" Cedar schaute auf das Amulett und dann in das Gesicht des Alten: "Ich will das Amulett, ich will die Unsterblichkeit, aber ich möchte Euch nicht töten müssen. Es ist genug Blut geflossen und ich frage mich, ob es das wirklich wert ist." Ein Lächeln er schien auf dem Gesicht des Wächters: "Ihr habt recht. Nichts ist es wert, ein Leben zu nehmen, es sei denn, um sein eigenes zu retten." Er hielt Cedar seine Hand hin und half ihm auf die Füße: "Kommt, Fährtensucher, wenn Ihr den Preis bezahlen wollt, sollt Ihr das Amulett bekommen." Cedar stutze: "Preis? Welcher Preis?" Arioth legte beide Hände auf die Schultern des Fährtensuchers: "So, wie das Amulett Euch dient, werdet ihr dem Amulett dienen. Es wird etwas von Euch fordern." Der Alte hob die Hand, als Cedar etwas sagen wollte: "Manche vor mir sind Diplomaten geworden und hatten den Auftrag, für Frieden in den Königreichen zu sorgen. Andere mussten Schlachten schlagen, um das Böse zu besiegen. Und ich? Meine Aufgabe war die des Heilers. Das Amulett wird es Euch wissen lassen, nicht heute, nicht morgen, vielleicht erst in vielen Jahren, doch es wird seine Forderung stellen." Cedar nickte mit dem Kopf: "Scheint mir ein guter Handel zu sein." Der Alte wies auf den Thron: "Dann setzt Euch dort hin." Cedar ging langsam auf den Thron zu und nahm Platz. Irgendwie hatte er ein komisches Gefühl bei der ganzen Sache. Eine leise Stimme regte sich in der Tiefe seines Kopfes und irgendwie klang sie wie die Stimme seiner Schwester Senja. Sie warnte ihn, auf diesen Handel einzugehen. Warnte ihn, dass der Alte ihm etwas Wichtiges verschwieg. Er verdrängte die Stimme und konzentrierte sich auf Arioth, der ihm das Amulett hinhielt: "Wenn Ihr dieses Amulett umlegt, Cedar Feldor, seid Ihr dann bereit, den Handel einzugehen und alles zu erfüllen, was das Amulett von Euch verlangt. Seid Ihr bereit, diese Halle als neue Heimstatt anzunehmen?" Cedar nickte und der Alte fuhr fort, indem er ihm das Amulett hinhielt: "Wenn Ihr bereit seid, an meiner Statt Eure Aufgabe zu übernehmen, dann antwortet mit einem lauten Ja." Obwohl er im Hintergrund seiner Gedanken den Aufschrei seiner Schwester vernahm, legte er das Amulett um seinen Hals und sagte er laut und deutlich: "Ja." Er hatte das Wort kaum ausgesprochen, als die gesamte Halle in einem hellen Licht erstrahlte und das große Eingangstor mit einem lauten Krachen aufsprang. Der Alte kicherte, als er sagte: "Wenn ich diese Halle verlassen habe, werden Dir zwei Wächter zur Seite stehen, so wie mir in den Jahren." Langsam wandte er sich um und ging zum Ausgang. Arioth hatte fast die Halle verlassen, als er sich noch mal umdrehte: "Ach eines noch, Fährtenleser. Ich lasse Dich am Leben, obwohl Du meine Wächter getötet hast. Ich lasse Dich leben, weil Du im letzten Moment auf meinen Tod verzichtet hast. Dies ist mein Geschenk an Dich. Ich wünschte, ich könnte Dir die Freiheit geben, aber Du hast diese Halle als neue Heimstatt gewählt. Ich hoffe, dass Du nicht, wie ich, zweihundertfünfzig Jahre warten musst, bis Deine Vertretung kommt." Damit verließ der Alte die Halle und die großen Tore begannen, sich zu schließen. Cedar schrie auf, sprang von dem Thron und wollte die Tore erreichen, doch es war zu spät. Mit einem lauten Krachen schlossen sie sich, bevor er auch nur den halben Weg hinter sich gebracht hatte. In diesem Moment erkannte er die Bedeutung des Schwures: Unsterblich, aber für Jahrhunderte in dieser Halle gefangen. ENDE Lübeck, im April 2015
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