Entwicklung von berufswissenschaftlichen Forschungsin

Entwicklung von berufswissenschaftlichen Forschungsinstrumenten zur Früherkennung von Qualifikationsbedarf –
Leonardo Projekt „EarlyBird“1
Lars Windelband / Georg Spöttl
Berufsbildungsinstitut Arbeit und Technik (biat) der Universität Flensburg
1.
Einleitung
Wenn sich die Anforderungen an die Beschäftigten von Industriegesellschaften kontinuierlich verändern, dann sind bestens ausgebildete, trainierte und
motivierte Personen das wichtigste Kapital, um den ökonomischen Erfolg
nicht nur sicherzustellen, sondern auch voran zu bringen. Mehr als je zuvor
sind heute Faktoren wie Bildung, Wissen, Know-how und Know-that Grundlage für sozialen und ökonomischen Fortschritt. In diesem Kontext ist die
Bedeutung von beruflicher Bildung unübersehbar. Sie beeinflusst nicht nur
das berufliche Leben von Jugendlichen sondern deren gesamte Entwicklung
in der Gesellschaft. Berufliche Erstausbildung bietet in besonderer Weise die
Gelegenheit für eine nachhaltige Akzeptanz der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt, weil damit gleichzeitig die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen
entwickelt wird.
Im Lichte zunehmender Vernetzung der Ökonomie und aufgrund der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, gewinnt berufliche Bildung einen besonderen
Stellenwert (vgl. Brown 1997). Ausgehend von der Tatsache, dass zunehmend
weniger Arbeitskräfte unter 45 Jahre alt sein werden, dafür jedoch immer
mehr ältere Arbeitskräfte in Beschäftigung sind, wird unterstrichen, dass es
besonders wichtig ist, sehr viel Sorgfalt auf die Entwicklung und Qualifizierung einzelner Arbeitskräfte und des Arbeitskräftepotenzials zu verwenden.
Dieses impliziert, dass sowohl die Erstausbildung junger Menschen sehr sorgfältig durchzuführen ist, als auch die Weiterbildung nicht beschäftigter oder
nur teilweise beschäftigter Personen – Personen der sogenannten „heimlichen
Reserve“ (vgl. Sennet 1998) – intensiv qualifiziert werden müssen. Die zukünftige strukturelle Entwicklung der Systeme der Erstausbildung und Weiterbildung wird damit zum zentralen Feld politischer Diskussion mit dem Ziel
Das Projekt EarlyBird „Früherkennung von Qualifikationsbedarf und Maßnahmen gestaltungsorientierter Berufsbildung in der Anlagentechnik“, gefördert vom Programm LEONARDO DA VINCI der Europäischen Kommission, wurde von den Autoren koordiniert und
geleitet. (http://www.earlybird.eu.tc/)
1
1
von Wachstum und verbesserten Beschäftigungschancen. Eine Früherkennung von Qualifikationen kann dabei für eine auf die Zukunft ausgerichtete
Gestaltung beruflicher Bildung einen erheblichen Beitrag leisten (vgl. Tessaring 1998).
Aktuelle Forschungserkenntnisse sollten in jedem Falle für die Ausgestaltung
einer zukunftsorientierten Erstausbildung und Weiterbildung und für entsprechende konzeptionelle Ansätze genutzt werden. Um Zugang zum sogenannten „Geheimwissen“ der Facharbeiter zu bekommen und um die Genauigkeit
von Prognosen zu verbessern, ist es besonders wichtig, aktuelle Qualifikationsentwicklungen mit differenzierten Methoden der Früherkennung aufzunehmen. Qualitativ ausgerichtete Ansätze konzentrieren sich auf den Mikrolevel der realen Welt von Beschäftigung und sind dadurch in der Lage, Erkenntnisse quantitativ ausgerichteter Ansätze detailliert zu untermauern oder
auch zu widerlegen. Weiterhin sind diese Ansätze in der Lage, Qualifikationsanforderungen und dazugehörige Profile relativ genau zu erfassen.
Zielsetzung des Projektes „EarlyBird“ war es, tiefgreifender als es bspw. mit
sozialwissenschaftlichen und quantitativen Methoden möglich ist, die Entwicklungen auf dem shop-floor-level zu untersuchen.
In diesem Beitrag wird der berufswissenschaftliche Ansatz zur Früherkennung
von Qualifikationsbedarf näher vorgestellt, der innerhalb des EarlyBirdProjektes entwickelt wurde. Die Instrumente wurden im Projekt erprobt, um
daraus Erkenntnisse über die zukünftige Entwicklung der Facharbeit und die
Qualität der eingesetzten Erhebungsmethoden zu gewinnen.
2.
Forschungsinteresse
Die bisher existierenden Instrumente zur Früherkennung von Qualifikationsbedarf sind eher darauf ausgerichtet, neue Entwicklungen – z.B. das Entstehen neuer Sektoren – zu entdecken und darauf zu reagieren. Des weiteren
wollen die sozial- und arbeitswissenschaftlich orientierten Instrumente und
Methoden in erster Linie Trends erfassen oder detaillierte Tätigkeiten analysieren, um dann Vorschläge für Qualifikationsprofile zu gestalten. Allerdings
stehen dabei oft angepasste Profile im Zentrum, weil es in zahlreichen Fällen
um Weiterqualifizierung und nicht Erstausbildung geht (Windelband/Spöttl
2003a, S. 8).
2
Um für Betriebe eines Sektors nicht nur wesentliche Entwicklungslinien aufzuzeigen, sondern auch konkretisierte Qualifikationslücken zu definieren und
bei Bedarf zukunftsorientierte Berufsbilder zu entwickeln, ist ein Instrument
erforderlich, das für genauere Untersuchungen in Unternehmen geeignet ist,
ohne sich dort über mehrere Wochen aufhalten zu müssen. Solch ein Instrument wurde im Projekt entwickelt. Es genügt wissenschaftlichen Ansprüchen
und ist praktikabel genug, um es in Betrieben einsetzen zu können.
Die Anwendung auf ausgewählte Unternehmen erlaubt es, nicht nur ein Unternehmensprofil zu zeichnen, sondern ermöglicht auch eine genauere Feststellung des Qualifikationsbedarfs und der Qualifikationsentwicklung.
Um das Ziel zu erreichen, wurden
•
zwei Sektoren präzise untersucht und
•
mehrere sektorspezifische Indikatoren aus den Ergebnissen der Untersuchung entwickelt.
Damit sollte erreicht werden, sich auf sektorspezifische Entwicklungen und
deren Besonderheiten zu konzentrieren.
Die Untersuchungen im Sektor und in einzelnen Betrieben waren qualitativ
ausgerichtet und folgten methodisch neueren Forschungserkenntnissen der
Berufswissenschaften (vgl. Pahl/Rauner/Spöttl 2000; Spöttl 2000; Spöttl
2001; Becker 2003).
Bei den Untersuchungen standen die „Geschehnisse“ auf der „shop-floor“Ebene im Zentrum:
•
Detail von Facharbeit mit deren Einflussfaktoren,
•
Technik, Arbeitsorganisation und die darauf bezogenen Planungs-,
Entwicklungs- und Qualifizierungsprozesse,
•
Arbeitsinhalte in einzelnen Berufsfeldern,
•
konkrete Arbeitsaufgaben,
•
technische Verfahren und Anlagen sowie deren Mängel und Gestaltung,
•
die ganz konkreten Eigenschaften der Technik,
•
die ganz konkreten Arbeitshandlungen und deren Inhalte,
3
•
der konkrete organisatorische Rahmen und Ablauf von Reparaturund Instandhaltungsarbeiten (bereits hier zeigt sich, dass der Forscher
auch Sachverstand mitbringen muss) und
•
das objektive und „heimliche“ Wissen der Facharbeit u.a.
Um für eine zukunftsweisende Berufsbildung tragfähige „Berufsbildszenarien“
entwickeln zu können, kam es darauf an, herauszuarbeiten (vgl. Brown 1997;
Loose/Spöttl 2002),
•
was Facharbeit ausmacht,
•
wodurch sie besonders herausgefordert ist,
•
was deren inkorporiertes Wissen ist,
•
wie die Beziehung zwischen Arbeit, Technik, Wissen, Arbeits- und
Betriebsorganisation, Unternehmenskultur und Gesellschaft gestaltet
ist und
•
wie Lernen zu gestalten ist, um auf diese komplexen Facharbeiterdimensionen vorzubereiten.
Konkret heißt dies, dass die objektive/reale Welt (nicht die soziale) von Facharbeit in den Mittelpunkt der Untersuchungen gestellt wurde.
Das gelingt nur mit interdisziplinär angelegten Instrumenten der Qualifikationsforschung, wie dies bei den Berufswissenschaften der Fall ist (vgl. Norros
et al. 2002; Spöttl 2000; Becker 2003).
Diese Zielsetzung sichert einen hohen Tiefgang der Forschungsarbeiten auf
der „shop-floor“-Ebene.
3.
Berufswissenschaftliches Instrumentarium zur Früherkennung von Qualifikationsbedarf
Das im Projekt eingesetzte berufswissenschaftliche Instrumentarium (vgl.
Tabelle 1) wurde im Rahmen der Untersuchungen dahingehend überprüft, ob
es sich als ein Früherkennungsinstrumentarium eignet und ob es gegebenenfalls weiterentwickelt werden muss. Dort, wo erkannt wurde, dass eine Weiterentwicklung angebracht ist, wurde diese vorgenommen.
4
Ebene
Instrument
Methoden
Sektor- und Beschäftigungsstrukturen sowie berufsübergreifende Wirkungen
Sektoranalyse
Befragung von Schlüsselpersonen; Dokumentenanalyse; Auswertung von Erhebungen wissenschaftlicher Institute; Verbänden;
Gewerkschaften; Analyse von Weiterbildungsa ngeboten.
Betriebliche Arbeitsplätze, Geschäftsprozesse, Arbeitsprozesse,
Arbeits- und Betriebsorganisationsformen, Betriebsstrukturen, Gesamtabläufe.
Fallstudien
Arbeitsbeobachtung; halbstrukturierte Fachinterviews; Expertengespräche auf allen
Ebenen (Ermittlung der Arbeitsaufgaben);
Betriebsbegehungen.
Kompetenzen in Geschäfts- und
Arbeitsprozessen.
Arbeitsprozessstu- Arbeitsbeobachtung; handlungsorientierte
dien
Fachinterviews; Expertengespräche; Fachgespräche.
Tabelle 1: Eingesetzte berufswissenschaftliche Instrumente
Schwerpunkt des Untersuchungsdesigns und damit der Untersuchungen bildeten umfangreiche Sektoranalysen, 25 Fallstudien und Expertengespräche in
fünf europäischen Ländern (Österreich, Niederlande, Großbritannien, Italien
und Deutschland).
Die Sektoranalysen im Werkzeugmaschinen- und Recyclingsektor hatten zum
Ziel, den Sektor innerhalb Europas genauer zu erschließen. Mit den gesammelten Informationen konnte ein genaues Abbild der Sektoren- und Beschäftigungsstrukturen gezeichnet und ein Strukturwandel in beiden Sektoren identifiziert werden. Im Recyclingsektor ist ein Wandel zu mehr Professionalität
erkennbar, ausgelöst durch neue gesetzliche Regelungen, mehr Kundenorientierung, Maßnahmen zur Qualitätssicherung, Aufbau von Gesamtwirtschaftskonzepten und der Suche nach neuen Geschäftsfeldern. Dieser Wandel sah in
den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich aus. Die Unterschiede im Professionalisierungsgrad zwischen den einzelnen europäischen
Ländern wurden meist hervorgerufen durch die unterschiedlichen nationalen
Gesetzgebungen. Die Länder mit einem hohen Professionalisierungsgrad wie
Österreich, Niederlande oder Deutschland unterstützen oft schon seit Jahren
den Beschluss die Verwertung von Abfällen und Reststoffen zu fördern. In
den Ländern mit einer geringeren Professionalisierung wie Italien oder Großbritannien überwiegen dagegen oft die Deponierung und teilweise die
Verbrennung. Durch eine einheitliche europäische Gesetzgebung, wo die
5
Vermeidung und Verwertung von Abfällen und Reststoffen an erster Stelle
steht, ist der Weg zu einer Professionalisierung in Europa vorgezeichnet.
Im Werkzeugmaschinensektor kam es durch eine immer umfassendere Internationalisierung, neuen Organisationskonzepten und Produktionsverfahren zu
einem Wandel in der industriellen Produktion.
In einigen Ländern wie Italien und Großbritannien gab es bisher noch keine
Untersuchungen zur Qualifizierungs- und Beschäftigungssituation im Recyclingsektor. Hier nahmen die Sektoranalysen noch an Bedeutung zu, um die
Entwicklungen und den Wandel richtig einschätzen zu können.
Die Ergebnisse der Sektoranalysen in den einzelnen Partnerländern zeigte sehr
deutlich, dass mit den vorhandenen Methoden häufig nur kurzfristige Entwicklungen dargestellt werden konnten. Aus diesem Grund wurden die Sektoranalysen um:
•
die Betrachtung von Forschungsinitiativen und Forschungsfeldern
und
•
die Analyse von innovativen, sektorbezogenen Weiterbildungsangeboten
erweitert. Damit können zukünftig Entwicklungen und Trends erfasst werden,
die in einigen Jahren erhebliche Auswirkung auf die Kompetenz der Beschäftigten haben können.
Denn neue Entwicklungen und neue Anforderungen auf der Arbeitsebene
werden im Bildungswesen oft zuerst in der beruflichen bzw. betrieblichen
Weiterbildung aufgegriffen. Aufgrund ihrer Marktorientierung und Flexibilität
ist dies ein Indiz für viele Veränderungen, die von den stärker reglementierten
Bildungsbereichen erst mit deutlicher Zeitverzögerung adaptiert werden. Eine
Analyse der sektorspezifischen und betrieblichen Weiterbildungsangebote
kann Möglichkeiten aufzeigen, wie die Qualifizierungslücken zu beseitigen
sind. Dazu werden Weiterbildungsanbieter und Sektorexperten befragt, sowie
Datenbanken analysiert.
Eine weitere Verbesserung der Erhebungsergebnisse kann mit der Analyse
von Forschungsinitiativen und Forschungsbereiche erfolgen, die den betrachteten Sektor beeinflussen und damit in Unternehmen Veränderungsprozesse
unterstützen. Dies können Ergebnisse von Forschungsinstituten von Universitäten, freien Forschungsinstituten und Forschungsinstituten von Unterneh6
men sein. Darüber hinaus ist der Besuch von Messen sinnvoll, da hier neue
Produkte und Entwicklungen gezeigt werden, die entweder schon in die Arbeitswelt integriert sind oder in den nächsten Jahren diese beeinflussen werden. Solche Informationen sollen helfen, Entwicklungen früh zu erkennen
und zukünftige Tendenzen aufzuzeigen.
Fallstudien wurden in ausgewählten Betrieben durchgeführt, um Indikatoren
zur Früherkennung von Qualifikationsbedarf zu entwickeln und die Veränderungen auf der „shop-floor“-Ebene anzuzeigen. Dazu wurden die relevanten
Arbeitszusammenhänge und Arbeitsaufgaben der (Fach)Arbeiter untersucht.
Die Fallstudien bezogen sich auf Unternehmen, welche im Werkzeugmaschinensektor Produkte produzieren oder im Recyclingsektor Stoffe recyceln sowie das zugehörige Umfeld mit seinem Aus- und Weiterbildungsbereich.
Bei der Auswahl der Unternehmen wurden, vorwiegend innovative– sogenannte „best practice“ – Betriebe gesucht, um zukunftsrelevante Entwicklungen und deren Konsequenzen für die „shop-floor“-Ebene identifizieren zu
können. Oft haben innovativen Unternehmen auch schon Lösungen für die
Beseitigung von Qualifikationslücken parat. Von diesen können Untersuchungen profitieren, wenn Möglichkeiten der Verallgemeinerung mit überprüft
werden.
Für die Auswahl der Fallstudien halfen besonders die Informationen aus den
Sektoranalysen und die Aussagen von Sektorexperten aus den einzelnen Partnerländern weiter. Dazu wurden folgende Hilfsmittel eingesetzt:
•
Empfehlungen von Schlüsselpersonen und Experten des Sektors,
•
Persönliche Kontakte zu Firmen des Sektors,
•
Auswertung verschiedener Fachartikel und Zeitungsartikel,
•
Empfehlungen von Verbänden aus dem Sektor,
•
Recherche im Internet,
•
Auswertung der TOP 100 Initiative des Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie („Innovative Unternehmen stellen sich vor“).
Um ein „Bild“ über die veränderten Aufgabenstrukturen der „shop-floor“Ebene, über Innovationen, den betrieblichen Wandel und die Entwicklungsdynamik von Unternehmen, den Wandel der Ausbildung, die Reaktion auf
den Qualifikationsbedarf etc. zeichnen zu können, wurden im Rahmen der
7
Fallstudien verschiedene Personengruppen im Unternehmen mittels halbstrukturierter Interviews befragt:
§
Eigentümer/ Firmenleitung/ Leiter oder Management,
§
Produktionsleitung,
§
Personalverantwortliche / Qualifizierungsverantwortliche des zu untersuchenden Betriebes,
§
Fachvorgesetzte von (Fach)Arbeitern/ Gruppenleiter der
(Fach)Arbeiter,
§
2 – 3 (Fach)Arbeiter.
Durch den Einsatz von halbstrukturierten Fachinterviews konnten die Fragen
offen gestaltet werden, um auf die Aussagen des Gesprächspartners besser
reagieren zu können. Dabei wurden die Interviews der Facharbeiter am Arbeitsplatz durchgeführt2 und gegebenenfalls zu Expertengesprächen ausgebaut. Weitere Instrumente bei den Fallstudien waren die Arbeitsbeobachtung,
bei der die Arbeitshandlung betrachtet und interpretiert wurde sowie eine
Betriebsbesichtigung, um einen Überblick über den gesamten Betrieb zu
erhalten und die Arbeitsprozesse der Facharbeiter in die betrieblichen
Gesamtprozesse einordnen zu können.
Für den Erfolg der Untersuchung war der distanzlose Zugang der Forscher
zum Befragten sehr wichtig. Durch die Fachkompetenz und die „Fachsprache“ des Forschers konnte sich dieser viel besser in die Situation des Untersuchenden hineinversetzen und sich in der „Werkstattsprache“ mit dem zu Befragenden unterhalten. Wurde der Interviewer als Experte oder „Fachmann“
identifiziert, so konnte eine andere Qualität der Befragung erreicht werden, da
auf der Basis gegenseitigen Verstehens das Interview durchgeführt wurde. Der
Forscher konnte sich so sehr tief in die Arbeitssituation hineinversetzen3.
In zwei Beispielen wurden gezielte Arbeitsprozessanalysen durchgeführt, um
deren Eignung und den Nutzen innerhalb eines FrüherkennungsinstrumentaNur in einigen wenigen Fällen war dieses aufgrund der Lärmbelästigung nicht möglich.
Die Qualität der mittels der Fallstudien herausgearbeiteten Ergebnisse war in den Partnerländern sehr unterschiedlich. Ursache dafür war in erster Linie die Kompetenz der Interviewer.
Absolut fachfremde Interviewer wie z.B. beim italienischen Partner blieben mit ihren Erkenntnissen bei den allgemeinen Zusammenhängen stehen. Sozialwissenschaftlich geprägte Interviewer wie z.B. in den Niederlanden erschlossen weniger arbeitsrelevante Details und auch weniger
Fachprobleme, sondern vor allem soziale Zusammenhänge.
2
3
8
riums zu testen. In beiden Fällen dauerte die Erhebung mehrere Tage und es
wurden erfahrende Forscher eingesetzt, die in dem jeweiligen Sektor schon
mehrere Untersuchungen durchgeführt und eine Berufsausbildung innerhalb
des Sektors absolviert hatten. Im Unterschied zur Fallstudie nimmt bei der
Arbeitsprozessanalyse die Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Facharbeit
noch einmal erheblich zu.
Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigten sehr deutlich, dass zwar sehr gut
reale Arbeitsprozesse in Unternehmen, Unternehmensstrukturen und Entwicklungen von Unternehmen dargestellt werden konnten, jedoch Aussagen
zu Zukunftsentwicklungen, die weiter als 10 Jahre reichen, nicht oder nur im
Ansatz möglich waren. Die Identifizierung dieser Entwicklungen ist jedoch
notwendig, wenn man über Neu- oder Umstrukturierungen von Qualifikationen in einem Sektor oder Berufsfeld nachdenkt. Besonders die Gespräche mit
den Sektorexperten zeigten Wege, wie man zu langfristigen Vorhersagen
kommen kann. Innerhalb des Projektteams wurde aus diesen Erkenntnissen
das Instrument des Zukunfts-Expertenworkshops entwickelt, in welchen verschiedene Schlüsselpersonen und Sektorexperten gemeinsam zukünftige Qualifikationsentwicklungen und Trends diskutieren und gestalten.
Die Ergebnisse dieser Workshops behalten jedoch einen gewissen spekulativen Charakter und müssen in der Folge durch die anderen genannten Instrumente weiter verfolgt werden, um die Zuverlässigkeit der Aussagen kontinuierlich zu überprüfen. In Abbildung 1 ist die Struktur dieses erweiterten Verfahrens dargestellt. Es baut auf die durch die anderen Instrumente ermittelten
Ergebnisse auf. Dadurch lässt sich dieser weitere Schritt einerseits sehr effizient gestalten und andererseits trägt er zusätzlich zur Absicherung der bis
dahin gefundenen Ergebnisse bei.
9
Abbildung 1: Früherkennungsinstrumentarium zur Prognose von Qualifikationsbedarf in verschiedenen Berufsfeldern (bis zu 10 Jahren und darüber hinausgehende Perspektiven)
Der Vorteil des Zukunfts-Expertenworkshops ist, dass die Schlüsselpersonen
und Entscheidungsträger aus Verbänden, Unternehmen und der Berufsbildung „an einem Tisch sitzen“.
Ziel ist es nicht, die Ergebnisse des Zukunfts-Expertenworkshops eins zu eins
umzusetzen, sondern Anregungen zu geben für die Neu- und Umgestaltung
von beruflichen Bildungsprozessen und Berufsprofilen im betreffenden Sektor.
4.
Untersuchungsergebnisse: Aufgabenwandel auf der „shopfloor“-Ebene
Die Schritte hin zu sektorspezifischen, prospektiven Berufsbildern (Szenarien)
werden ausgehend von den Erkenntnissen und Ergebnissen der vorab charak10
terisierten Studien beschrieben. Dazu ist es erforderlich, einen auszugsweisen
Einblick in die Projektergebnisse zu geben.
Kreislaufwirtschaft
Besonders der Strukturwandel in der Kreislaufwirtschaft, der zu einer weiteren
Professionalisierung des Sektors geführt hat, bedingt immer mehr qualifiziertes Personal in den Unternehmen. Ursache dafür waren:
•
Die europäischen Gesetze und Verordnungen übertragen den
Unternehmen eine große Verantwortung, welche oft eine Reorganisation zahlreicher betrieblicher Abläufe hin zu verstärktem
Kreislaufdenken erfordert, das die gesamte Wertschöpfungskette
betrifft.
•
Die verschärfte Wettbewerbssituation auf nationaler und globaler
Ebene setzt alle Unternehmen unter Druck und verlangt nach Investitionen in qualifiziertes Personal und Ausstattung.
•
Zukunftsorientierte Unternehmen geben sich mit Zertifizierungen
nach dem ISO Standard nicht zufrieden und etablieren eigenständige Qualitätsmanagementkonzepte.
•
Unternehmen müssen die teils schon besondere Effizienz der Abläufe weiter verbessern, um erfolgreich zu sein. Das zieht nach
sich:
a) Investitionen in Humanressourcen und betriebsorientierte Personalentwicklung.
b) Optimierung der innerbetrieblichen Abläufe und Prozesse
durch Vermindern unnötiger Schnittstellen.
c) Investitionen in neuere Recyclingtechnologien.
d) Flexible Annahme neuer Geschäftsfelder.
•
Forcieren des Dienstleistungsgedankens, indem marktgerechte
Servicepakete geschnürt werden.
•
Entwickeln von „Full-Service-Angeboten“.
11
In der Kreislaufwirtschaft wird es in der Zukunft verstärkt darauf ankommen,
Qualifizierungsprozesse von unten zu etablieren, die den breiten, vielfältigen
und wechselnden Herausforderungen gerecht werden. Bisher finden vorwiegend nur Qualifizierungsmaßnahmen auf der mittleren oder der oberen Ebene
(Geschäftsführung) statt. Die Beschäftigten im Sektor brauchen jedoch eine
Qualifizierung, die auf die Herausforderungen der sich ständig verändernden
Arbeitsinhalte und der begrenzten Möglichkeiten der Rationalisierung und
Spezialisierung von Anlagentechnik reagiert.
Für die Mitarbeiter auf Facharbeiterniveau wurden innerhalb der Fallstudien
folgende Herausforderungen identifiziert:
• Unterstützung der Geschäftsprozesse,
• Sicherstellung der Prozessabläufe (des Verwertungsprozesses)
und selbständige Bewältigung der Arbeitsaufgaben,
• Führung und Anleitung der Mitarbeiter (un- und angelernte
Mitarbeiter),
• Koordination der Arbeiten, Kooperieren, Organisieren,
Einstellen auf Neues usw.,
• Qualitätsbewusstes Arbeiten und Handeln mit kontinuierlicher
Qualitätsverbesserung,
• Prozessoptimierungen im Sinne des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses,
• Problemlösefähigkeit bei wechselnden Arbeitsaufgaben,
• „Praktische“ Intelligenz zur Gestaltung von Aufbereitungsprozessen und Prozessinnovationen.
Die Tendenzen zu immer mehr automatisierten Systemen mit einer teilweise
hohen ICT-Diffusion verändern auch das Aufgabenspektrum der Beschäftigten. Dabei spielt die Fähigkeit der Störungsbeseitigung und Reparatur eine
immer größere Rolle. Das setzt technische Grundfertigkeiten und viel Erfahrung mit den Anlagen voraus, um deren „Verhalten“ in Störfällen bewerten
und Fehler zielgerichtet beseitigen zu können. Wichtig für die Mitarbeiter wird
es, immer mehr Störungsursachen zu analysieren und zu beseitigen. Für die
Behebung von kleineren Störungen oder besser für deren Vermeidung muss
der Bediener ein ausgezeichnetes Prozess- und Funktionswissen besitzen.
12
Werkzeugmaschinensektor
Der Werkzeugmaschinensektor unterliegt vielfältigen arbeitsorganisatorischen
und technologischen Veränderungen. Diese haben erhebliche Wirkungen auf
die Leistungsfähigkeit, Qualität, Wirtschaftlichkeit, Beschäftigtenstrukturen
und Arbeitszuschnitte. Bei den untersuchten Fällen waren innovative Bemühungen und Erfolge hinsichtlich einer effizienten Produktion und der Qualität
der erzeugten Produkte auszumachen.
Die Implementierung neuer Arbeitsorganisationsformen in Unternehmen
hatte in zahlreichen Fällen mit zum Ziel, mehr Eigenständigkeit und Verantwortung auf der „shop-floor“-Ebene zu installieren. Für die Facharbeiter bedeutet dies nicht nur einen erhöhten Aufgabenumfang und Kompetenzkonzentration, sondern auch eine deutlich veränderte Einbindung in die Unternehmen. Facharbeiter sind heute nicht mehr nur für Einzelaufgaben, sondern
für ganze Prozesse zuständig. Diese wiederum weisen erhebliche Umfänge auf
und erstrecken sich durchaus von der Auftragsannahme bis zur Auftragsfertigstellung und Übergabe an firmeninterne oder externe Kunden. Allein der in
vielen untersuchten Fällen feststellbare Aufgabenumfang belegt mehr als deutlich, dass neben dem Beherrschen der fachlichen Aufgaben mit seinen dazugehörigen Werkzeugen immer mehr Koordinierungs-, Planungs-, Abstimmungs- und Optimierungsaufgaben erforderlich sind und Dienstleistungsaufgaben eine erhebliche Rolle spielen.
Die massiven, strukturwirkenden Eingriffe zeigen sich mehr oder weniger
intensiv in allen untersuchten Fällen, unabhängig davon, ob die Untersuchungen in Italien, den Niederlanden, Österreich, Großbritannien oder Deutschland durchgeführt wurden.
Der Facharbeiter ist heute gleichzeitig Universalist und Spezialist in Technik
und muss gleichzeitig koordinieren, managen, optimieren und Probleme lösen.
Eine wichtige Erkenntnis aus den Fallstudien in den Unternehmen ist, dass
Qualifikationen, die bei tayloristischer Arbeitsorganisation dem Management,
vor allem dem mittleren Management zugeschrieben wurden, im Zuge neuer,
dezentraler Konzepte auf unteren Hierarchie- und Beschäftigungsebenen eine
gesteigerte Bedeutung erfahren. Solche, auf die Gestaltung und Steuerung der
Produktionsprozesse gerichteten, eher übergreifenden oder allgemeinen Qualifikationen, diffundieren aus den höheren und mittleren Hierarchieebenen auf
die „shop-floor“-Ebene.
13
Für Facharbeiter resultieren daraus im Vergleich zur vorangegangenen Aufzählung weitergehende und vor allem übergreifende Aufgaben wie:
•
Geschäftsprozessstützendes Verhalten muss entwickelt werden
bzw. vorhanden sein.
•
Höchste Transparenz bei der Auftragsabwicklung hat großen
Stellenwert.
•
Durch „Management-Fähigkeit“ sind Prozessabläufe zu sichern
und die anfallenden Aufgaben selbständig zu bewältigen.
•
Zusätzlich zur Bewältigung der technisch-fachlichen Aufgaben
kommt es auf das Kooperieren, Organisieren, Planen usw. an.
•
Durch ausgewiesenes Qualitätsbewusstsein und Selbstreflexion
soll eine kontinuierliche Qualitätsverbesserung erreicht werden.
•
Die Gestaltung von Produktionsprozessen soll dazu beitragen,
Prozess- und Produktinnovationen voran zu treiben.
Das skizzierte „Know-that“ und „Know-how“ bei potenziellen Fachkräften
zu entwickeln, erfordert erhebliche Lernprozesse, welche durch die derzeitigen
Qualifizierungskonzepte und Qualifizierungsangebote in den Partnerländern
nur teilweise, in einzelnen Fällen auch gar nicht abgedeckt werden. Wenn es
Betrieben gelingen soll, auf die strukturellen Veränderungen im Sektor erfolgreich zu reagieren, dann sind in jedem Falle Investitionen in Humanressourcen eine der Voraussetzungen dafür. D.h., auch die unteren Beschäftigungsgruppen wie durchschnittliche Facharbeiter müssen weitergebildet werden,
um die Entwicklung eines Unternehmens als Gesamtes zu unterstützen.
5.
Identifizierung des zukünftigen Qualifikationsbedarfs mittels Indikatoren
Um zukünftig schneller den Qualifikationsbedarf in Unternehmen identifizieren zu können, wurden im Projekt EarlyBird Indikatoren entwickelt, die genau
charakterisieren sollen, wodurch Veränderungen zustande kommen: die Arbeitsorganisation, neue Technologien, gesetzliche Regelungen, Innovationen,
neue Geschäftsfelder usw.
Dazu wurden alle in den Erhebungen identifizierten Veränderungen in den
Unternehmen bis hin zur „shop-floor“-Ebene zusammengetragen und geord14
net4. Danach wurde präzise herausgearbeitet, welche Indikatoren diese
Veränderungen und den Wandel anzeigen können (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Abhängigkeit und Wirkung von Indikatoren
Beim Herausarbeiten der Indikatoren musste beachtet werden, dass sich diese
bewerten lassen. Denn um die Veränderungen anzuzeigen, mussten die Indikatoren operationalisiert werden. D.h. die Operationalisierung eines Indikators
besteht in der Angabe von „Beschreibungen von Veränderungen“, der „Darstellung von Sachverhalten“, von „Zusammenhängen“, usw.. Die Operationalisierung umfasst eine Spezifikation dessen, was sich in einem Unternehmen,
bei Produkten, bei gesetzlichen Vorgaben auf dem Markt etc. verändert hatte.
Es war dann möglich, mit der Operationalisierung eines Indikators Aussagen
zu treffen, ob dieser überhaupt beobachtbar oder messbar ist.
In der Abbildung 3 soll der Weg am Beispiel des Indikators „Angebote für
Kunden“ aus dem Werkzeugmaschinensektor noch einmal verdeutlicht werden.
In Windelband/Spöttl 2003b Paper 2 sind alle identifizierten Veränderungen in den fünf
europäischen Ländern dargestellt.
4
15
Abbildung 3: Wirkung der Veränderungen auf der „shop floor“-Ebene – am
Beispiel „Angebote für Kunden“
Die Indikatoren wurden zur besseren Strukturierung in einzelne Cluster zusammengefasst. Für den Werkzeugmaschinensektor konnten 31 Indikatoren
und 10 Cluster identifiziert werden (vgl. Abbildung 4). Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Indikatoren kurzfristig substanziell verändern werden. Es ist
eher von Modifikationen auszugehen. Jedoch muss beim späteren Einsatz der
Indikatoren beachtet werden, dass diese vor jedem Einsatz im Sektor neu
operationalisiert werden müssen. Der entscheidende Vorteil ist allerdings, dass
sehr zielgerichtet Indikator um Indikator untersucht werden kann, weil das
relevante Indikatorgerüst bereits bekannt ist. Es kann allerdings sein, dass sich
bei den Untersuchungen herausstellt, dass einzelne Indikatoren zu eliminieren
und andere neue hinzuzufügen sind.
16
Abbildung 4: Indikatoren zur Früherkennung von Qualifikationsbedarf aus
dem Werkzeugmaschinensektor
6.
Europäische Berufsszenarien
Innerhalb des Projektes wurde die Szenariotechnik angewandt, um ausgehend
von der Analyse sektorspezifischer Entwicklungen5 und des identifizierten
Aufgabenwandels auf der „shop-floor“-Ebene aktuelle und zukünftig denkbare Aufgabenprofile zu skizzieren. Diese Profile wiederum waren Grundlage
für den Entwurf von Szenarien für zukünftige Berufsprofile. Dabei wird nicht
davon ausgegangen, dass diese eins zu eins umsetzbar sind, sondern sie
•
sollen dazu beitragen, Überraschungen über mögliche sektorspezifische Entwicklungen zu verhindern,
•
Leitideen für zukunftsorientierte Berufsprofile liefern und
Die Überlegungen basieren dabei auf der Basis von Erhebungen im Recycling- und Maschinenbausektor.
5
17
•
ein weites, zukunftsorientiertes Spektrum von Entwicklungen aufzeigen, um Sozialpartner im „Design“ moderner Berufsbilder zu unterstützen.
Die identifizierten Szenarien werden weder als Prognosen verstanden, die sich
auf quantitative Informationen aus der Vergangenheit und Gegenwart beziehen, noch als utopische Phantasien, die realitätsfremd sind. Sie basieren auf
den Ergebnissen berufswissenschaftlicher Untersuchungen und den ermittelten Indikatoren in den beiden Sektoren sowie auf Erkenntnissen aus verschiedenen Wokshops innerhalb des Projektteams in Kooperation mit
Sektorexperten und Schlüsselpersonen.
Zwei der insgesamt sieben entwickelten Berufsszenarien (vgl. Abbildung 5)
werden im folgenden näher vorgestellt6.
Alle sieben Berufsszenarien wurden im Projekt-Paper 3 von Spöttl/Windelband 2003c näher
beschrieben.
6
18
Abbildung 5: Europäisch ausgerichtete Berufsszenarien im zeitlichen Verlauf
Arbeitskraftunternehmer7 (Entrepreneurs)
In den letzten Jahren vollziehen sich immer mehr Reorganisationsprozesse in
Unternehmen in einer bisher nicht gekannten Qualität, wie die Ergebnisse der
Untersuchungen deutlich zeigen. Durch verschärfte Wettbewerbsbedingungen
sieht sich das betriebliche Management zu einem massiven Kostenabbau und
zur Erweiterung der betrieblichen Reaktionsmöglichkeiten veranlasst. Die
bisher in vielen Betrieben/Unternehmen vorherrschende Strategie zur Nutzung von Arbeitskraft durch eine rigide und detaillierte Steuerung des Arbeitshandelns (oft auf Basis tayloristischer Prinzipien) wird zunehmend verdrängt durch eine Verschiebung der Verantwortung hin zur „shop-floor“Ebene.
Als neue Merkmale bei den Beschäftigten der „shop-floor“-Ebene waren häufig feststellbar:
•
verstärkte Wahrnehmung selbständiger Planung, Steuerung und
Überwachung der eigenen Aufgaben,
•
zunehmende aktive und zweckgerichtete „Produktion“ und teilweise
„Vermarktung“ der eigenen Fähigkeiten und Leistungen innerhalb
des Betriebes,
•
Organisation in Gruppen- und Projektarbeit.
Ausgehend von der Operationalisierung einiger Indikatoren wie Organisations-, Verantwortungs-, Kommunikations- und Kooperationsstrukturen, Angebote für den Kunden, Entscheidungs- und Planungsprozesse, innere Beschäftigungsverschiebungen, Personalstrukturen, Kundenzugang, Beratungsaufgaben, Akquirierung etc. ist das Szenario „Arbeitskraftunternehmer“ entwickelt worden.
Der Arbeitskraftunternehmer zeichnet sich durch seine Selbstständigkeit aus. Er
ist selbst verantwortlich für das Ergebnis seiner Arbeit. Anweisungen und
Kontrollen durch Vorgesetzte sind abgelöst durch ökonomische Vorgaben,
Der Begriff des Arbeitskraftunternehmers ist übernommen von Pongratz/Voß (2001). Die
inhaltliche Ausrichtung in der projektspezifischen Diskussion unterscheidet sich weitestgehend.
Weitere Diskussionsrichtungen sind veröffentlicht in Kuda/Strauß (2002): „Arbeitnehmer als
Unternehmer?“.
7
19
die der Markt oder direkt der Kunde setzt. D.h., der Arbeitskraftunternehmer
übt seine Arbeitsaufgaben nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten aus.
Die Bezahlung ist ergebnisorientiert und besteht vor allem aus Prämien, Provisionen und Sonderzahlungen, die an Umsatz und Gewinn des Unternehmens gebunden sind. Der Arbeitskraftunternehmer ist flexibel, also überall
und ständig einsatzbereit und muss sich laufend weiterqualifizieren, um sich
den ständigen Veränderungen anzupassen. Der Kontakt zum Kunden bestimmt den gesamten Arbeitsprozess. Häufig anzutreffende Aufgaben des
Arbeitskraftunternehmers sind: Akquirierung von Aufträgen, Beratung und
Absprache mit dem Kunden für eine erfolgreiche Bearbeitung und Erfüllung
aller Kundenvorstellungen bis hin zur Auslieferung, Inbetriebnahme und Einweisung für den Kunden.
Die Form der Arbeit verläuft oft in Projekten, die einen innovativen und
selbstverantwortlichen Teamarbeiter erfordern, der frei von zeitlichen Regelungen operiert. Die Eigenständigkeit geht soweit, dass das Team ein eigenes
Budget für die selbständige Beschaffung von Materialien, Werkzeugen und
kleinen Teilen verwaltet und ein Mitspracherecht bei der Neuanschaffung von
Maschinen und Geräten hat.
Das Einsatzgebiet eines Arbeitskraftunternehmers liegt in Klein- und Mittelunternehmen. Dort ist er besonders in Nischenunternehmen oder Unternehmen mit Kleinserien anzutreffen.
Recyclinglogistiker (Recycling logician)
Die logistischen Prozesse werden im Sektor der Kreislaufwirtschaft weiter
sehr stark zunehmen, da die unterschiedlichen Stoffströme wachsen werden.
Die meisten Unternehmen werden weiterhin in verschiedenen Sparten aktiv
sein, was die Anzahl der unterschiedlichen Abfälle in einen Betrieb weiter
steigen lässt. Dafür müssen die entsprechenden Transportwege optimiert und
die richtigen Lagermittel gewählt werden. Um wirtschaftlich arbeiten zu können, müssen diese so gesteuert werden, dass keine Verluste auftreten. Hier
wächst ein neues Beschäftigungsfeld heran, wofür eine entsprechende Qualifizierung notwendig ist. Aufgrund dieser Entwicklungen wurde das Szenario für
das neue Beschäftigungsfeld Recyclinglogistiker entwickelt.
Logistik im Bereich Recycling ist das intelligente Bündeln und Verteilen von
Abfall- und Informationsströmen. Arbeitsbereiche des Recyclinglogistikers
20
sind Sammeln, Transportieren, Produktion, Distribution, Entsorgung und
Informationsmanagement. Oberstes Ziel ist dabei die Einsparung von Kosten,
deshalb analysiert er bestehende Verfahren und Abläufe im Logistikbereich,
verbessert diese gegebenenfalls und führt Wirtschaftlichkeitsberechungen zum
Sammeln, Transportieren, Lagern und Verteilen durch.
Eine der Hauptaufgaben des Recyclinglogistikers ist die Analyse der Transportwege der Abfälle und das Erstellen von Konzepten zur Bündelung der
Transportwege und zur bestmöglichen Verknüpfung der einzelnen Transportmittel, dies sowohl im als auch außerhalb des Unternehmens.
Der Recyclinglogistiker muss die richtige Wahl des Transport- und Lagerbehälters sowie des Förder- und Transportmittels treffen. Hier müssen nach
bestimmten Kriterien, wie Stoffeigenschaften, Art des Stoffes (Gefahrgut oder
nicht), Weglänge, usw., Entscheidungen getroffen werden, welcher Behälter
bzw. welches Transportmittel eingesetzt werden müssen, um den Gesamtprozess optimal laufen zu lassen. Bei allen Entscheidungen spielen die gesetzlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkte eine große Rolle.
Bei der Sammlung und Abholung von Abfällen sowie in der Städtereinigung
sogt er für den richtigen Fahrzeugeinsatz und optimiert die Touren (Routenplanung), sorgt für die Aufstellung und regelmäßige Leerung z.B. von Glasund Papiercontainern. Er berät den Kunden über korrekte Begleitpapiere
sowie den erwünschten Sortier- und Verpackungszustand der Abfälle. Die
Kunden werden über die Möglichkeit der Vermeidung, Verwertung und Beseitigung ihres Abfallaufkommens informiert.
Einsatzmöglichkeiten sind Unternehmen des Recyclingsektors, Entsorgungsunternehmen, Kompostierungsunternehmen etc. des gesamten Umweltsektors.
Dabei ist der Recyclinglogistiker einem mittelfristigen Szenario, wo noch offen
ist, wie sich die Beschäftigungsfelder entwickeln werden und welches Profil sie
letztlich annehmen werden, zugeordnet. Erst wenn dieses deutlich feststellbar
ist, können die Berufsszenarien überzeugend profiliert werden.
Das kurzfristige Szenario des Arbeitskraftunternehmers könnte auch – folgt
man einer anderen Terminologie – den Trendszenarien zugeordnet werden, da
sich die Entwicklungen in einigen innovativen Betrieben schon abzeichnen.
Das mittelfristige Szenario zeichnet sich in ersten Ansätzen in besonders innovativen und dynamischen Betrieben ab, es ist jedoch noch nicht besonders
stabil und hat noch keine größere Verbreitung.
21
7.
Zusammenfassung
Die aufgezeigten Szenarien auf der Grundlage empirisch ermittelter Indikatoren sind ein Beleg, dass Berufsbildung und Berufsbildungspolitik auf Entwicklungen in Industrie und Handwerk sich nicht auf das Reagieren beschränken
muss. Die hier aufgezeigte Untersuchungsmethode in Verbindung mit der
Szenarienentwicklung eröffnet Möglichkeiten, Entwicklungen frühzeitig zu
erkennen und mit Vorschlägen für Berufsbilder darauf zu reagieren. Darin
liegen im Kern zwei Chancen:
a) Berufsbildungsexperten werden als Gestalter dieses Feldes wahrgenommen.
b) Es eröffnet sich eine Möglichkeit, zukunftsorientiert an der Ausgestaltung der Berufsbildung und der Berufsbilder mitzuarbeiten.
Der in vielen Branchen und manchen Ländern vorherrschende Pragmatismus
könnte damit deutlich zugunsten einer schlichten Planung überwunden werden.
Vor allen die bereits vorhandenen Indikatoren zusammen mit der Forschungsmethode können helfen, zukünftige Entwicklungen auf der „shop
floor“-Ebene schneller zu identifizieren. Mit diesem Instrumentarium lassen
sich die Veränderungen in Unternehmen relativ genau erfassen und es kann
schneller eingeordnet werden, ob bestimmte Entwicklungen nur für einzelne
Unternehmen relevant sind oder für die gesamte Branche eine Bedeutung
haben. Die Spezifizierung der Indikatoren kann mittels der Sektoranalyse und
den Fallstudien erfolgen, so dass die modifizierten Indikatoren sofort für die
Untersuchungen genutzt werden können. Dabei ist die Aktualisierung – oder
besser Dynamisierung – der Indikatoren von enormer Bedeutung für einen
zukünftigen Einsatz, da ständig neu Anforderungen und Einflüsse hinzukommen, die heute noch gar nicht bekannt sind und deshalb bei den Überlegungen keine Rolle spielten.
In Deutschland wird von den Autoren die Umsetzung des berufswissenschaftlich orientierten Früherkennungssystems auf regionaler Ebene in SchleswigHolstein angestrebt, wo das Konzept leicht modifiziert zur Früherkennung
des Qualifikationsbedarfs eingesetzt werden soll.
22
Literatur
Atteslander, P. (1995): Methoden der empirischen Sozialforschung, Berlin,
New York (8. bearb. Auflage).
Becker, M. (2003): Diagnosearbeit im Kfz-Handwerk als Mensch-MaschineProblem - Konsequenzen des Einsatzes rechnergestützter Diagnosesysteme
für die Facharbeit, Dissertation, Bertelsmann Verlag, Bielefeld.
Brown, P. (1997): Cultural capital and social exclusion: some observations on
recent trends in education, employment and the labour market, Work, Employment, and Society, Vol. 9, No. 1, pp. 29-51.
Kuda, E. /Strauß, J. (Hg.) (2002): Arbeitnehmer als Unternehmer? Herausforderungen für Gewerkschaften und berufliche Bildung, VSA-Verlag Hamburg.
Loose, G.; Spöttl, G. (2002): The Dual Approach as a Platform for Work
Related Education and Training, Manuscript, Kuala Lumpur and Frankfurt.
Norros, L. /Nuutinen, M. (2002): The concept of the core task and the analysis of working practices, in: Boreham, N. /Samurcay, R. /Fischer, M. (Hg.):
Work Process Knowledge. Routledge, London and New York, p. 25-39.
Pahl, J.-P. /Rauner, F. /Spöttl, G. (Hg.) (2000): Berufliches Arbeitsprozesswissen – Ein Forschungsgegenstand der Berufsfeldwissenschaften, Nomos
Verlag Baden-Baden.
Pongratz, H. J. /Voß, G. G. (2001): Erwerbstätige als “Arbeitskraftunternehmer“, Sowi – Sozialwissenschaftliche Informationen, Jg. 30, Heft 4/2001, S.
42-52.
Sennet, R. (1998): The Corrosion of Character. The personal consequences of
work in the new capitalism, New York, Norton.
Spöttl, G. (2001): Berufswissenschaftlich ausgerichtete Qualifikationsforschung – ihr Beitrag zur Curriculumforschung, in: Fischer, M. /Heidegger, G.
/Petersen, W. /Spöttl, G. (Hg.): Gestalten statt Anpassen in Arbeit, Technik
und Bildung: Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Felix Rauner, Bertelsmann Verlag, Bielefeld, S. 258-277.
Spöttl, G. (2000): Der Arbeitsprozess als Untersuchungsgegenstand berufsfeldwissenschaftlicher Qualifikationsforschung, in: Pahl, J.-P. /Rauner, F.
/Spöttl, G. (Hg.) (2000): Berufliches Arbeitsprozesswissen – Ein Forschungsgegenstand der Berufsfeldwissenschaften, Nomos Verlag Baden-Baden.
23
Spöttl, G. /Windelband, L. (2003c): Europäisch ausgerichtete Szenarien für
Qualifikations- und Berufsprofile, Papier 3, biat-Reihe Nr. 13, Flensburg.
Tessaring, M. (1998): Training for a changing society: a report on current vocational education and training research in Europe, Thessaloniki, CEDEFOP.
Windelband, L. /Spöttl, G. (2003a): Forschungshandbuch – Instrumente zur
Früherkennung von Qualifikationsbedarf, Papier 1, biat-Reihe Nr. 17, Flensburg.
Windelband, L. /Spöttl, G. (2003b): Indicators for the identification of a need
for qualification, Paper 2, biat-Reihe Nr. 22, Flensburg.
24