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BENJAMIN MATERN
Molly Mormon
Der einzig wahre Wahnsinn
Roman
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Deutsche Originalausgabe:
Molly Mormon – der einzig wahre Wahnsinn
Copyright © Sumuru Enterprises 11/2013
Umwelthinweis:
Bla bla bla, bla bla bla.
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1. Auflage
Druck und Bindung: entfällt
ISBN: kann mich mal
www.mollymormon.de
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Mein Dank geht an:
Gabi für ihre literarische Raffinesse und ihr künstlerisches Talent
Matze für die weiteren Korrekturen und den Humor
Gerald für seinen kreativen Input
Ju für den Gedankenanstoß
Bassi für weitere technische Hilfe
treue Molly-Fans wie Stef und Biene, die mir Woche
für Woche das Gefühl gegeben haben, dass es sich
lohnt, weiterzuschreiben
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P
räsident Uchtdorf hat vor ein paar Jahren bei einer CES-Andacht über Hans Christian Andersens »hässliches Entlein« gesprochen und es auf unser göttliches Potenzial bezogen und was in
uns steckt. »Ich bete darum, dass Sie beim Anblick Ihres Spiegelbildes über Mängel und Selbstzweifel hinwegsehen und erkennen können, wer Sie wirklich sind: herrliche Söhne und Töchter des allmächtigen Gottes.« Mama hat der Ausspruch so gut gefallen, dass sie bei
einer Familienabendlektion das Thema aufgegriffen und für jeden
von uns ein Zielschild gebastelt hat. Das grüne Papier ist kreisrund
ausgeschnitten und mit dem Foto eines Schwans verziert, der auf
tiefblauem Wasser majestätisch die Flügel ausbreitet. Ich habe das
Schild mit Klebestreifen unten an meinem Spiegel befestigt. Jeden
Morgen nach dem Aufstehen fällt mein Blick ohnehin zuerst auf das
Grauen, das ich dort sehe, und der Spruch dämpft immerhin ein wenig den Wunsch, nach dem erstbesten Gegenstand zu greifen und
mein Spiegelbild zu zerschmettern.
Heute morgen ist es besonders schlimm. Ich möchte am liebsten
nach der Nagelfeile greifen und mir das Gesicht weghobeln. Wie um
alles in der Welt sind mir über Nacht gleich drei neue Pickel gewachsen? »Über Mängel und Selbstzweifel hinwegsehen«, lese ich die
Worte in Präsident Uchtdorfs Zitat. Mama hat sie fett markiert – extra für mich? Einmal war ich so paranoid und wollte wissen, ob die
Zielschilder auch wirklich alle gleich aussehen oder Mama bei jedem
verschiedene Wörter markiert hat, aber natürlich war ich die einzige,
die den Zettel aufgehoben hat. Mama und Papa sicherlich auch irgendwo, aber bei all den Aktenordnern mit der Aufschrift »Kirche«
habe ich mir die Suche erspart.
Ich verlasse mein Zimmer, gehe zwei Schritte und poche gegen
die Badezimmertür. »Mach zu«, ruf ich.
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»Ja ja«, ertönt es, und ich lasse mich frustriert auf dem Wäschebottich nieder. Die Schlafzimmertür meines Bruders ist noch geschlossen, aber er ist sonntags in der Regel der letzte, der aufsteht.
Ich höre Mama unten in der Küche mit Geschirr klappern, Papa
kommt aus dem Dachzimmer, begrüßt mich und streicht mir im Vorbeigehen über die Wange, und geht ebenfalls nach unten. Endlich
kommt Sophie aus dem Bad und geht kommentarlos an mir vorbei,
was mir lieber ist als irgendwelche gehässigen Kommentare. Manchmal wünschte ich, wir würden zumindest das Klischee erfüllen, die
eine Tochter wäre schön, die andere dafür klug, aber nein, sie muss
ja auch noch besser in der Schule sein als ich. Ich verschwende keinen weiteren Gedanken an sie, damit meine Laune nicht noch weiter
sinkt, und widme mich der allmorgendlichen Schadensregulierung,
denn auch wenn wir über unsere Mängel und Zweifel hinwegsehen
sollen, ist der Drang nach äußerlicher Akzeptanz bittere Realität.
Womit ich nicht sagen will, die JD-Gruppe bestünde aus oberflächlichen Zicken – wir verstehen uns sogar sehr gut. Aber mit einer
Schwester wie Sophie und dem hässlichen Entlein im Spiegelbild stehe ich trotzdem in einem Existenzkampf um die Aufmerksamkeit
der Menschheit und um mich selbst, und bislang haben meine Waffen Make-up und Mascara leider kläglich versagt. Nachdem ich die
Endschlacht gegen den Fön gewonnen und mein dickes Haar irgendwie gebändigt habe, will ich zurück in mein Schlafzimmer. »Molly,
weckst du deinen Bruder?«, höre ich Mama rufen.
Ach ja, ich heiße Molly. Noch etwas, was ich meinen Eltern leider
niemals verzeihen werde. Einmal abgesehen davon, dass der Name
in Deutschland ohnehin nicht gewöhnlich ist und selten vorkommt,
ist Molly Mormon auch noch der Inbegriff der superheiligen, perfekten, besserwisserischen Stereotyp-Mormonin – das hat sich leider
auch in der Kirche hierzulande eingebürgert. Wenn ich meine Eltern
darauf hinweise, was sie mir angetan haben, muss ich mir stets die
Geschichte des süßen Kinderbuchs anhören, die sie Sophie vorgelesen haben, als Mama mit mir schwanger war. »Sophie hat auf mei-
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nen kugelrunden Bauch gezeigt und gefragt: ›Molly?‹«, erzählt
Mama dann immer verträumt, und jedes Mal wird die Geschichte
rührseliger, und ich warte noch auf den Tag, an dem es heißt, das
brennende Herz in ihrer Brust habe in jenem Augenblick meinen Eltern bezeugt, sie sollen ihr Kind so nennen. Ich liebe meine Eltern,
aber leider sind sie nicht selten schamlos peinlich, und wir unschuldigen Kinder dürfen es dann ausbaden – manchmal das ganze Leben
lang, wie eben eine Molly Mormon. Oder mein Bruder Justus, der tatsächlich den zweiten Vornamen Jonas hat – weil, wie Papa meint,
»die drei ??? doch immer so lustig waren«. Aber mein Mitleid mit
diesem Rotzlöffel hält sich ohnehin in Grenzen, seitdem die Pubertät
über ihn hereingebrochen ist, und ich widme mich lieber dem Menschen, der es wirklich verdient hat, von aller Welt bemitleidet zu
werden: ich selbst.
Wir sprechen ein Familiengebet und setzen uns an den Esstisch.
Das sonntägliche Frühstück besteht aus Marmorkuchen und Malzkaffee. Sophie isst einen fettarmen Joghurt, was schon viel für sie ist,
und meine Eltern unterlassen den Versuch, mit ihr über Ernährung
zu sprechen, da keiner in Stimmung für ihre unermüdlichen Klagelieder über ihre Figur ist. Ich esse ein Stück Kuchen und tunke ihn
genüsslich in den Malzkaffee und empfinde Schadenfreude, dass
sich Sophie wenigstens quälen muss, um ihre gute Figur zu halten –
denn genetisch bedingt ist diese bei ihr glücklicherweise auch nicht.
Papa ist in der Bischofschaft und berichtet Mama von der Ansprache, die er in der Abendmahlsversammlung halten wird. Er hat sie
gestern bis spät abends vorbereitet, während ich mit Mama und Justus einen Film gesehen habe und Sophie mit ihren Freunden unterwegs war. Justus spielt mit seinem Kuchen, ich schaue angeödet aus
dem Fenster in den Garten. In der Stadt bleibt selten über mehrere
Tage hinweg Schnee liegen, und für einen kurzen Augenblick bin ich
in der schönen Winterpracht gefangen, ehe mir bewusst wird, dass
gerade erst vier Wochen in diesem Jahr vergangen sind und ich die
Hälfte meiner guten Vorsätze bereits über Bord geworfen habe. Ich
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ärgere mich, dass meine fast schon lethargische Trägheit mein Leben
zerstört (fast so sehr wie mein Vorname), aber Fleiß und Elan sind
Eigenschaften, die nun einmal an Sophie gegangen sind. »Schmecken deine zwei Löffel Joghurt?«, frage ich bissig. Sophie ignoriert
mich und schlürft an ihrem Orangensaft. »Dir ist schon bewusst,
dass Fruchtsäfte gar nicht so kalorienarm sind, oder?« Na, spürt sie
den Dolch in ihrem Rücken endlich?
»Ich brauche die Vitamine«, entgegnet sie, bevor Mama und Papa
eingreifen können, »ich habe nicht vor, mir die Grippe einzufangen.«
Als ob ein Glas Orangensaft helfen würde. Aber ich verkneife mir
den Kommentar, denn ich bin mir durchaus bewusst, dass ich sie aus
eigener Unzufriedenheit kränke. Ich stehe auf, obwohl Justus noch
isst, und stelle mein Geschirr in die Spülmaschine. Justus schiebt sich
das letzte Drittel Kuchen mit einem Bissen in den Mund und tut es
mir gleich.
Kurze Zeit später sitzen wir im Auto und verbringen die anderthalb Minuten Fahrt zur Gemeinde schweigend. (Ab und zu gehen
wir auch zu Fuß, wie es sich bei dieser kurzen Strecke gehört, aber
Mama und Sophie finden es heute zu frostig.) Der Tabernakelchor
singt »Wo die Liebe wohnt«, ein Kirchenlied, das ich noch nie habe
sonderlich gut leiden können. Justus trommelt mit den Fingern auf
den Knien, aber ich spare mir einen entnervten Kommentar –
schließlich fahren ja wir zur Kirche und wollen nett zueinander sein.
Ich freue mich auf Luisa, meine beste Freundin, und auf den Unterricht bei den Jungen Damen, der die katastrophale Sonntagsschule
wiederum wettmacht.
Wir sind sechs aktive Junge Damen – und auch noch äußerst
günstig aufgeteilt: zwei Lorbeermädchen (Sophie und Fiona), zwei
Rosenmädchen (Luisa und ich), zwei Bienenkorbmädchen (die VogtZwillinge). Obwohl die Gruppe so überschaubar ist, hat unsere JDLeitung vor einem Jahr begonnen, zweimal im Monat für jede Altersgruppe einen eigenen Unterricht durchzuführen. Anfangs war es etwas gewöhnungsbedürftig, andererseits gibt es genügend Gemein-
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den und Zweige auf der Welt, wo es ohnehin nur ein bis zwei Jugendliche gibt, und Luisa und ich sind gern für uns. Heute ist so ein
Sonntag, und nachdem Luisa und ich einander überschwänglich begrüßt haben (ihr Vater ist der Bischof und üblicherweise noch früher
dort als wir), laufen wir gemeinsam nach hinten. Wir werden eine
gemeinsame Eröffnung haben und dann mit der Lehrerin – wer auch
immer das heute sein wird – in den Keller gehen.
Sophie ist die erste, die sich zu uns gesellt. Sie blickt zur Wanduhr
und stellt mit einem Stöhnen fest, dass wir noch fast eine halbe Stunde haben, bis die Versammlungen beginnen. (Sie hätte ja auch zu
Fuß nachkommen können!) Entnervt zieht sie eine Ausgabe des Liahonas aus ihrer Tasche und beginnt zu lesen. Wer hier wohl die Molly
Mormon ist!
Luisa und ich sind nur einen Monat auseinander. Während ich in
Frankfurt geboren und aufgewachsen bin, stammt ihre Familie aus
Norddeutschland und ist vor neun Jahren hergezogen, als ihr Vater
begonnen hat, für die Verwaltung der Kirche zu arbeiten. So wurden
er und mein Vater Kollegen, freundeten sich an, und es dauerte nicht
lang, bis unsere Familien einen gemeinsamen Familienabend durchführten und zusammen Ausflüge machten. Ich bin mir sicher, dass
der eine oder andere aus der Gemeinde zu tratschen begann, als Robert Bischof wurde und Papa sein Erster Ratgeber und ihnen die übliche Vetternwirtschaft in der Kirche unterstellte; jedoch machen sie
ihre Sache gut und die Mitglieder blicken wirklich zu ihnen auf, das
merkte ich immer wieder. Wir haben eine große und vielleicht auch
nicht ganz unproblematische Gemeinde, aber die Einheit ist zu spüren, und ich schätze die Bischofschaft, und die Freundschaft unserer
Familien hat es obendrein gestärkt. Vermutlich hätten sie es gern,
dass ihr Ältester, Luka, eines Tages Sophie ehelicht, aber die beiden
zeigen erstaunlich wenig Interesse aneinander.
Luisa und ich klagen einander oft unsere Wehwehchen, aber wir
haben einen Pakt geschlossen, dass wir uns nie wieder als hässliches
Entlein sehen wollen. Zum Schwan reicht es allerdings noch nicht,
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und so sind wir übereingekommen, dass wir »Durchschnitt« sind
und uns einfach noch der letzte Reifeschub fehlt, der uns zum Supermodel macht, das wir eines Tages zu sein gedenken.
Kurz vor halb zehn hat sich die JD-Gruppe nicht vergrößert, lediglich die JD-Leitung hat sich zu uns gesellt und bespricht, wie sie
vorgehen wollen, nun, da wir nur zu dritt sind. »Also, wir bleiben
heute zusammen«, verkündet Julia, unsere JD-Leiterin, eine zierliche
und unverheiratete Powerfrau Mitte Zwanzig, die mehr auf Zack ist
als ihre beiden Ratgeberinnen zusammen. Janine (Erste Ratgeberin)
zieht sich daraufhin gleich zurück und will sich um ihre Kinder
kümmern, die ohnehin nicht die begeistertsten PV-Gänger sind;
Anne (Zweite Ratgeberin) bleibt bei uns. Sophie darf das Anfangslied aussuchen und wählt »Wo die Liebe wohnt« (»Haben wir gerade
auf dem Hinweg gehört, sooo schööön!«).
Nach dem Anfangsgebet, JD-Leitspruch und geschäftlichen Angelegenheiten wegen der JD-Aktivität am kommenden Dienstag dreht
Julia ihren Laptop, der bereits geöffnet vor ihr stand, in unsere Richtung. »Wir schauen uns zuerst einen kleinen Film an …« Es ist bereits alles vorbereitet, und nachdem sie auf die play-Taste geklickt
hat, erscheint die verzweifelte Belle, die schluchzend über dem regungslosen Biest hängt und ihm ihre Liebe gesteht, woraufhin er sich
in einen Prinzen verwandelt. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel
– bitte nicht ein Thema, dass es nur auf innere Schönheit ankommt … das
verkrafte ich heute nicht. Einmal abgesehen davon ist es doch eine Tatsache, dass der blonde Prinz mit der Schweinenase erheblich hässlicher ist als das Biest, daher hat sich mir die Botschaft des Filmes nie
so ganz erschlossen. Glücklicherweise gibt es einen Cut, nachdem
Belle und Prinz Schweinchen sich inniglich küssen, und wir sehen
Arielle, die überglücklich erkennt, dass sich ihr grüner Fischschwanz
zu menschlichen Beinen verwandelt, und in ihrem glitzernd-blauen
Kleid läuft sie zum Strand und lässt sich von Prinz Erik (sehr viel
stattlicher als der andere Prinz) in Empfang nehmen. So geht es
munter weiter, nicht nur mit diversen Schlussszenen aus Walt-Dis-
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ney-Filmen, sondern auch aus anderen Märchen. Ein Schmatz-Gelage zieht sich über mehrere Minuten, und genau wie ich beginnen
auch Luisa und Sophie, nach ein paar Szenen zu grinsen und leicht
den Kopf zu schütteln. Alles zu schön, um wahr zu sein (und sicher
auch ein wenig zu kitschig).
Julia klappt den Laptop zu und schüttelt sich. »So ein Schmalz«,
stöhnt sie und wirft uns dann einen etwas seltsamen Blick zu, »oder
was meint ihr …?« Sie grinst. »Na, was haben diese Filmausschnitte
alle gemeinsam? – Habe ich übrigens ganz allein zusammengefügt.«
Sie klopft sich auf die Schulter.
»Ein Happy End«, sagt Luisa.
»Eigentlich ja ein Happy Beginning«, wirft Sophie ein, »also der
Film ist natürlich zu Ende, aber das eigentliche Glück der beiden beginnt ja jetzt erst.«
Damit hat sie recht, auch wenn Belle sicherlich einen Schock erleiden wird, wenn sie den Prinzen das erste Mal ungeschminkt zu sehen bekommt und vermutlich gleich die Scheidung einreicht.
Julia nickt. »Wenn wir ein Märchen erzählen, wie lautet normalerweise der letzte Satz?«
»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«,
kommt es von uns dreien wie aus einem Munde. Anne gluckst.
»Genau«, sagt Julia, »manchmal hört man auch etwas wie: ›Und
sie lebten glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage.‹ Wisst ihr,
wie das im Englischen heißt?«
»And they lived happily ever after«, antwortet Sophie. Streberin.
»Richtig. Was eigentlich heißt: Seit jenem Tag leben sie glücklich.«
Sie schaut in die Runde. »Gibt es da einen Unterschied?«
»Mit dem Tod ist es nicht vorbei«, macht Sophie die Schlussfolgerung, auf die unsere JD-Leiterin offenbar hinauswill. »Genau wie im
Evangelium.«
Julia nickt. »Ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt, Mädels«, sagt
sie, »man kann diese kitschigen Filme noch so sehr hassen, aber tief
im Herzen wünscht sich doch jeder genau das – ein happily ever after.
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Liebe, die niemals endet. Eine Familie, die niemals endet.« Sie zeigt
auf den Laptop. »Gegen so einen Prinzen hätte ich persönlich auch
nichts einzuwenden.«
Ich hoffe, sie redet von Prinz Erik und nicht von Prinz Schweinchen.
»Dass die im Film einen schönen Prinz abbekommen, ist auch
nicht weiter verwunderlich«, melde ich mich nun zu Wort, »bei so einer Taille.«
Julia lacht. »Glaub mir, Molly, wir werden dieses Jahr ganz sicher
noch darüber sprechen, welche falschen Werte uns die Medien vermitteln wollen und wie wir damit umgehen können. Aber heute geht
es mir tatsächlich nur um das happily ever after, auf das wir hinarbeiten sollen.«
Ich gestehe ja, dass sie meine Aufmerksamkeit gewonnen hat. Ich
gestehe auch, dass ich mir das ebenfalls wünsche. Aber das alles
scheint noch so weit weg zu sein, und als Julia uns auffordert, uns zu
überlegen, welche Eigenschaften unser Traummann wohl haben sollte, wird mir bewusst, dass ich keine so konkrete Vorstellung davon
habe wie Sophie, die ein Charaktermerkmal nach dem anderen von
sich feuert.
Natürlich soll er mich gut behandeln und hilfsbereit sein und seine Aufgaben in der Kirche pflichtbewusst wahrnehmen und mich attraktiv finden und möglichst eine Mission erfüllt haben und ein guter Vater sein … ist es überhaupt möglich, dass er dann noch gut aussieht? Ich gebe mich geschlagen – Prinz Schweinchen, ich gehöre dir!
Julia listet alle Eigenschaften an der Tafel auf und übergibt das
Wort an Anne, die uns auffordert, die Schriften aufzuschlagen und
nach Eigenschaften zu suchen, die wir an Jesus Christus bewundern.
Eine interessante Aufgabenstellung – hat Christus überhaupt Eigenschaften, die ich nicht an ihm bewundere? Außerdem bin ich mir sicher, dass er unter dem Vollbart attraktiv war. »Da Christus der einzig vollkommene Mensch war, ist es doch hinfällig, nach jemandem
Ausschau zu halten, der all diese Eigenschaften besitzt«, seufze ich.
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»Das soll er doch auch gar nicht«, entgegnet Sophie, »aber er soll
sich bemühen und man muss erkennen können, dass Jesus Christus
sein Vorbild ist.«
»Ich hingegen finde es interessant, dass ihr diese Eigenschaften
gleich auf euren Traummann bezieht«, sagt Anne lächelnd, »und
nicht auf euch selbst. Warum ist es wichtig, selbst an diesen Eigenschaften zu arbeiten, ehe wir sie von unserem Traummann fordern?«
»Ja, plaudere doch mal aus dem Nähkästchen«, sage ich.
Die anderen lachen. Anne ist dreißig und schon vierfache Mutter
– das halte ich für deutsche Verhältnisse schon fast rekordverdächtig,
auch wenn man ihr auf der Straße sicherlich eher zweifelhafte Blicke
zuwirft und sich fragt, aus welcher niederen Sozialschicht sie wohl
stamme.
Ich habe die richtige Frage gestellt, denn man merkt, wie sie ein
wenig ins Schwimmen gerät. Sie hat mit neunzehn geheiratet, war
bis über beide Ohren verliebt – hat sie sich da wirklich große Gedanken gemacht, wie sie sich christliche Eigenschaften erarbeiten kann,
um sich auf eine Ehe vorzubereiten?
»Bewusst vielleicht nicht, da hast du recht«, beantwortet sie unheimlicherweise meinen Gedankengang, »aber ich habe mich als
Mädchen bemüht, das Richtige zu tun und mir die JD-Ideale anzueignen. Und das sind genau die Eigenschaften, über die wir sprechen, und deshalb war ich auch bereit für diesen großen Schritt.«
Mit neunzehn? Ich spare mir einen zynischen Kommentar und
rede mir ein, dass ich wahrscheinlich nur neidisch bin, dass sie ihren
Platz im Leben gefunden hat und ich noch nicht den meinen.
Ich muss wieder an die Aussage von Präsident Uchtdorf zurückdenken. Christus möchte, dass ich über meine Mängel und Selbstzweifel hinwegsehe. Er hat uns geboten: »Liebe deinen Nächsten wie
dich selbst.« Da er ein vollkommenes Leben geführt hat, muss er dieses Gebot ja auch selbst erfüllt haben. Allerdings hatte er ja auch keine Mängel und Selbstzweifel, über die er hätte hinwegsehen müssen
… vielleicht hat ihn ausgezeichnet, dass er nicht in Stolz verfallen ist,
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weil er buchstäblich in allem vollkommen war.
Die Lektion hat es geschafft, mich nachdenklich zu stimmen und
schwebt noch immer in meinen Gedanken, während Luisa und ich in
die Sonntagsschulklasse schlendern. »Wir haben heute Prinzessinnen
gesehen, die ihren Traumprinzen gefunden haben«, war Julias Fazit,
»aber ich möchte euch auffordern, eine Christin zu werden, damit
ihr euren Traumchristen finden werdet.« Ich überlege, was ich schon
alles tue: Ich lese jeden Tag in den heiligen Schriften – nicht nur aus
Pflichtbewusstsein, sondern ich nehme tatsächlich gern am Seminarunterricht teil –, ich spreche morgens und abends ein persönliches
Gebet (manchmal eher kurz als ausführlich, aber immerhin), ich erledige meine Aufgaben daheim … trotzdem kann ich mich selbst nicht
besonders gut leiden. Aber vielleicht besteht der Schlüssel darin,
mich gar nicht so sehr auf meine Mängel und Selbstzweifel zu konzentrieren, sondern einfach mehr Gutes zu tun? Dieser Geistesblitz
beruhigt mich irgendwie.
Bruder Geppert ist leider ein unerträglicher Lehrer. Der ältere
Herr meint es gut, aber er hält sich für derart humorvoll und ist in
Wirklichkeit derart humorlos, dass die vierzig Minuten bei ihm jeden Sonntag eine Qual sind. Ich habe mehrfach versucht, Papa darauf hinzuweisen, dass sie einen neuen Lehrer berufen sollen, aber irgendwie funktioniert das nicht so richtig. Justus hat es vergleichsweise gut; die 12- und 13-jährigen sind bei Schwester Meister untergebracht, die vorher jahrelang in der Pfahl-PV-Leitung war und ihr
Feuerwerk der Kreativität munter in der Sonntagsschule fortsetzt. Jeden Sonntag berichtet Justus von genialen Aktivitäten im Unterricht,
für die ich ihn aus purem Neid und bloßer Bosheit ohrfeigen möchte.
Luisa und ich sitzen wieder nebeneinander. Die Jungs sind vollzählig und während Bruder Geppert einen unerträglich langweiligen
Vortrag über Adam und Eva hält, gespickt mit unerträglich unlustigen persönlichen Anekdoten, überlege ich, ob einer der Jungen mein
Traumchrist sein könnte. Levi und Manu schließe ich sofort aus, ich
hab die beiden gern, aber solange sie der furchtbaren »Checker«-
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Phase nicht entwachsen, in der sie sich seit Monaten befinden, wird
das wohl nichts. Leider sind sie obendrein dabei, Justus mit diesem
Virus zu infizieren, und das ist ein weiterer Grund, sie von ganzem
Herzen zu verachten. Ich bin eine gute Christin, oder?
Dominik ist mir selbst für meine Verhältnisse zu pickelig, Finn
hingegen sieht wirklich ganz süß aus, aber Luisa ist total in ihn verschossen und daher halte ich mich selbstverständlich zurück. Und
dann ist da noch Luka, aber der ist Sophie versprochen. Oder auch
nicht. Außerdem ist er Luisas Bruder (fühlt sich irgendwie an wie Inzest) und er wird in einem halben Jahr achtzehn und wenn ich genauer darüber nachdenke, kommt er äußerlich auch nicht ganz an
Prinz Erik heran, also werde ich wohl diesen erobern müssen. Arielle
wird dann halt zurück ins Meer verbannt. Vorzugsweise mit Beton
an den Füßen, damit sie nicht auf die Idee kommt, sie könne ihn sich
zurückholen.
Luisa und ich schreiben uns die ganze Zeit Briefchen. Bruder
Geppert bekommt es mit, aber er sagt nichts; ich glaube, es ist ihm
lieber, wenn wir nicht zuhören, aber zumindest leise sind, und tatsächlich schaffen wir das relativ gut, und Sophie und Luka raffen
sich ab und an sogar zu einer Antwort auf – selbstverständlich auf
eine Frage, die nicht gestellt wurde, denn Bruder Geppert stellt selten Fragen, sondern hält lieber Vorträge.
Wesentlich spannender wird die Abendmahlsversammlung nicht,
auch wenn ich mich während des Abendmahls erneut auf das besinne, was Julia und Anne uns heute näherbringen wollten. Wie werde
ich eine bessere Christin? Und werde ich besser, indem ich lerne,
über meine Mängel und Selbstzweifel hinwegzusehen, oder lerne ich
automatisch, besser darüber hinwegzusehen, weil ich mich bemühe,
christlicher zu sein?
Ich denke an die letzte Woche und was ich hätte besser machen
sollen. Die üblichen Streitereien unter Geschwistern, der übliche
Trotz unter Teenagern, der übliche Selbsthass … Ich möchte ja ein besserer Mensch sein, Vater im Himmel, denke ich, und ich möchte in der
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kommenden Woche weniger auf mich selbst achten und mehr auf andere,
vielleicht hilft mir das.
Zugegebenermaßen bin ich nicht besonders aufmerksam. Ich hätte gestern Abend das Licht früher ausknipsen sollen, aber das Buch
war zu fesselnd, und zu wenig Schlaf und die zwei Stunden Kirche,
die bereits hinter mir liegen, schlauchen mich. Papa hat die Schlussansprache und ich bemühe mich, wenigstens mit halbem Ohr hinzuhören, damit ich ihm einen Kuss auf die Wange geben und ihm ehrlich sagen kann, wie toll es war. Er spricht über Nächstenliebe. Oder
übers Sühnopfer? Dienen?
Ich sehe, wie Luisa zu Finn hinübersieht, der mit seiner Familie
auf der anderen Seite der Bank sitzt. Luisa sitzt heute bei mir – wir
wechseln uns normalerweise ab. Es würde mich auch nicht stören,
mit ihr ganz woanders zu sitzen, aber so ist es unseren Müttern lieber. Vermutlich zu Recht. »Wir können am Freitag ins Kino und ihn
und Dominik mitnehmen«, schlage ich Luisa vor.
»Du meinst in einem halben Jahr, wenn wir alle sechzehn sind?«,
entgegnet sie.
»Ach Quatsch, das ist doch kein Date. Das ist … eine Zusammenkunft von Freunden.«
Luisa zieht die Augenbrauen hoch. »Wenn wir noch einen Fünften mitnehmen …«
Ich werde jemanden aus meiner Klasse fragen. Dominik wäre mir
persönlich schon zu viel – aber ich will ja in der nächsten Woche vermehrt Nächstenliebe zeigen. »Besprechen wir noch«, sage ich und
lasse das Thema damit auf sich beruhen.
Ich drücke Papa einen Kuss auf die Wange. »Tolle Ansprache«, sage
ich. Er freut sich und stellt keine weiteren Fragen, beispielsweise was
mir am besten gefallen hat. »Der Teil über Jesus Christus«, würde ich
vermutlich antworten. Ich war doch nicht so aufmerksam, wie ich es
mir eigentlich vorgenommen hatte.
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»Ich fahre heute Nachmittag zu Luisa«, verkünde ich beim Mittagessen. »Und ich treff mich mit Levi und Manu«, äfft Justus meinen
Plan nach.
Ehe Sophie kundtun kann, was sie vorhat, hebt Papa vorsichtig
die Hand. »Wir werden heute Nachmittag etwas als Familie unternehmen«, sagt er.
Sophies und mein Blick treffen sich. »Was soll das bedeuten?«,
fragt Sophie. Es ist nicht so, dass wir als Familie nie etwas gemeinsam machen, aber Ausflüge finden eher am Samstag statt und der
Sonntagnachmittag gehört Luisa und mir, und Mama und Papa machen ein Nickerchen oder lesen oder Papa sitzt am Computer und
gibt genealogische Angaben ein oder Mama geht Besuchslehren oder
wir bekommen Besuch – von Luisas Familie beispielsweise. Also von
ihren Eltern. Und Luisa. Luka kommt nie mit.
»Ich will mich mit Levi und Manu treffen«, sagt Justus.
Mama grinst. »Wir haben eine Überraschung für euch. Wir wissen, euer Sonntagnachmittag ist euch kostbar – uns übrigens auch –,
aber ausnahmsweise müssen wir eure Pläne durchkreuzen.«
Sophie zuckt mit den Schultern. »Von mir aus«, sagt sie und
schiebt sich den letzten Bissen ihrer spärlichen Portion in den Mund.
Ich hole mein Handy hervor, was am Tisch eigentlich verboten
ist, und schicke Luisa eine SMS. »Kann doch nicht, Mama und Papa
verbieten es, weil sie uns grundlos bestrafen wollen.« Ich rede laut
mit, während ich die Nachricht eingebe und fange Papas vorwurfsvollen Blick ein. »Nun beschwer dich nicht, dass ich mein Handy am
Esstisch habe«, setze ich hinzu, »wenn meine Verabredung schon
platzt, dann sollte ich ihr wenigstens zügig absagen und den Grund
nennen.«
Luisa schreibt: »???«
»Molly!« Papa hat die Stimme erhoben.
Ich leg das Handy beiseite. Der Fluch der modernen Technik, und
natürlich lassen meine Eltern nie eine Gelegenheit aus, uns zu erklären, wie sie ihre Jugend ohne Handy und Internet und iPod und iPad
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überlebt haben. »Dafür sahst du aus wie Billy Idol!«, halte ich Papa
immer entgegen, »und zwar buchstäblich!« Damit kann ich ihn normalerweise beruhigen. (Nicht, dass ich mich gut mit Billy Idol auskenne, aber als wir einmal mit Luisas Eltern alte Fotos durchstöbert
haben, konfrontierten sie Papa damit, was unter den Erwachsenen
für schallendes Gelächter, unter uns Jugendlichen für Verwirrung
sorgte. Nach ausgiebiger Internetrecherche kann ich jedoch bestätigen: Es ist wahr.)
Nach dem Essen rufe ich Luisa kurz an und erkläre ihr die Lage.
»Kein Problem«, sagt sie, »meld dich, wenn du wieder da bist.«
Als wir erfahren, dass wir einen Spaziergang im Schnee machen,
ist die Stimmung endgültig im Eimer. »Wehe, ich erkälte mich!«, ruft
Sophie erbost, weigert sich aber standhaft, ihren Rock gegen eine etwas wärmere Hose auszutauschen. Simple Zickengeste – es ist nicht
so, als würde sie jeden Sonntag ihre Kirchenkleidung bis zur Abendstunde tragen. Aber nun, da wir rauswollen und etwas Wärmeres
angebracht wäre, kann sie heilig tun und sagen, dass sie ihren Rock
anbehalten und damit den Sabbat geheiligt hat; falls sie also stirbt,
müssen Mama und Papa die Verantwortung übernehmen und bis in
alle Ewigkeit brennen wie die Stoppeln.
Kurioserweise hebt sich die Laune, als wir draußen sind. Die frische Luft tut gut, und es schneit sogar gerade ein wenig. Wir laufen
nur fünf Minuten bis zum Hauptfriedhof. Vielleicht ein makaberer
Ort für einen Familienspaziergang, aber tatsächlich gefällt uns allen
die Ruhe, die hier herrscht, und die Wege und Gräber sind sehr
schön angelegt. Der Friedhof ist außerdem so groß, dass es jedes Mal
etwas Neues zu entdecken gibt, und kaum haben wir ihn betreten,
bereue ich ein wenig, dass wir nicht mehr so häufig herkommen. Ich
kann mich gar nicht entsinnen, wann wir das letzte Mal an einem
Sonntag so einen Ausflug unternommen haben. Papa ist oft genug
bis spät in den Nachmittag in der Gemeinde und führt Interviews,
und es grenzt schon an ein Wunder, dass wir heute gemeinsam zu
Mittag gegessen haben. Ob das zu der großen Überraschung gehört?
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Erneut denke ich an den Ausspruch von Präsident Uchtdorf, der
mich heute ganz besonders oft verfolgt. Ich mag Mängel und Selbstzweifel haben, aber irgendwie fühle ich mich gerade bestärkt, dass
ich eine gute Familie habe, für die es sich lohnt, dankbar zu sein.
Nun, vielleicht nicht unbedingt für meine Geschwister, aber auf jeden Fall für meine Eltern. Sie haben Gutes für uns im Sinn. Ich
möchte mehr für sie tun, um christlicher zu werden, und mir eine
positivere Einstellung erarbeiten.
Ich weiß, welchen Weg wir ansteuern, und wenig später stehen
wir vor dem Grab meiner Großeltern – Papas Eltern. Sie sind beide
nicht besonders alt geworden und kurz nacheinander verstorben. Ich
war sieben oder acht und kann mich zwar noch ganz gut an sie erinnern, aber nicht so lebhaft, wie ich es mir wünsche. Ich hoffe, wir
sind nicht hier, um das verschneite Grab zu pflegen.
Papa gibt Justus zwei Teelichter. Mein Bruder wechselt sie gegen
die verbrauchten aus, die sich in kleinen Lampen auf den Grabsteinen befinden. Das handhaben wir immer so, wenn Schnee fällt – wir
vernachlässigen die Pflanzenpflege und gewähren den Überresten
unserer Vorfahren ein kleines Licht.
Sophie, normalerweise weniger sarkastisch, kann sich nicht mehr
zurückhalten. »So eine schöne Überraschung, mir kommen die Tränen«, ruft sie aus, meint es aber nicht böse, und wir lächeln alle.
Mama und Papa halten sich an der Hand. »Nun«, sagt Mama,
»wir dachten, hier, wo Vor- und Nachfahren aufeinandertreffen, sei
der richtige Ort für die Neuigkeiten.« Sie sehen einander an. »Ihr bekommt ein Geschwisterchen!«
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2
C
hristus fordert uns in Matthäus 15:28 auf: »Kommt alle zu mir,
die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.« Ich kann mich noch daran erinnern, wie
wir diese Schriftstelle gemeinsam als Familie gelesen haben. Ich war
vielleicht gerade zwölf, und was genau eine Prüfung sein sollte, war
mir noch nicht so ganz bewusst. Sophie wusste das schon eher und
zählte sämtliche Mitschüler auf, mit denen sie sich plagen musste.
Schließlich ergriff Papa das Wort. »Ihr könnt euch bestimmt noch
ein bisschen daran erinnern, als Oma und Opa von uns gegangen
sind, oder?«
Bedächtig nickten wir.
»Das war eine ziemlich schwierige Zeit für mich. Das Evangelium
gibt uns die Gewissheit, dass wir all unsere Lieben eines Tages wiedersehen werden, aber wenn jemand von uns geht, tut das sehr weh,
besonders, wenn man nicht darauf vorbereitet ist und es plötzlich
geschieht. Ich habe nie in Frage gestellt, dass das alles irgendeinen
Sinn hat und Gott mich lieb hat, aber ich war sehr traurig.« Papa las
die Schriftstelle erneut vor. »Das, was Christus hier sagt, hat mir sehr
viel Kraft gegeben. Oftmals wäre es so leicht, uns von ihm trösten
und stärken zu lassen, aber wir sind zu stur, weil wir glauben, dass
wir das alleine können. Das brauchen wir aber nicht. Er ist für uns
da, wenn wir es zulassen.«
Welche Ironie, dass mir dieses Erlebnis jetzt gerade im Hinterkopf
aufflackert, nachdem meine Eltern die freudige Nachricht verkündet
haben. Hier, am Grabe meiner Großeltern.
»Ihr bekommt ein Geschwisterchen!«
Was sich wie ein schlechter Scherz anhört, beschleicht mich nach
und nach als Realität. Bislang haben weder Sophie noch Justus etwas
gesagt, doch schließlich quietscht Sophie auf und fällt meinen Eltern
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um den Hals. »Das ist ja unglaublich!«, ruft sie und hat Mühe, die
richtigen Worte zu finden.
»Hoffentlich wird es ein Junge«, ist Justus‘ glorreicher Kommentar, aber auch er schmiegt sich an Mama und Papa.
»Hast du nichts zu sagen, Molly?«, fragt Papa. Ich sehe, dass ihm
und Mama Freudentränen in den Augen stehen.
Nichts zu sagen? Doch, eine ganze Menge. Wie lange wissen sie
es schon? War das geplant? Wäre es nett gewesen, die bereits existierenden Kinder in die Planung einzubeziehen? Wie soll die Zimmerverteilung aufgehen, wo das Haus exakt vier Schlafzimmer hat und
jeder den Luxus eines eigenen Kämmerchens genießen darf? Müssen
Sophie, Justus und ich künftig komplett den Haushalt schmeißen,
während sich Mama um den quengelnden Säugling kümmert?
»Mama … du bist 41«, bricht es schließlich aus mir heraus.
Entgegen meiner Erwartungen lachen meine Eltern. »Heutzutage
sind viele Frauen, die ihr erstes Kind bekommen, kaum jünger als
ich«, hält mir Mama entgegen, »mach dir darüber mal keine Sorgen.«
Sie hat recht, eigentlich mache ich mir darüber auch gar keine Sorgen. Ich fühle mich überrumpelt und irgendwie verraten und weiß
gar nicht, warum ich mich nicht freuen kann, aber ich zwinge mir ein
Lächeln auf und stürze mich in die überschwängliche Familienumarmung. Papa drückt mich fest an sich, und ich spüre, wie sein Mantel
meine Tränen trocknet, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte.
Nach einer Weile machen wir uns auf den Heimweg. Die Leute
starren uns an. Eine fünfköpfige Familie, die Hand in Hand auf dem
verschneiten Friedhof spazieren geht, das sieht man äußerst selten in
der Großstadt. (Und auf der Welt.)
Als wir zu Hause ankommen, laufe ich flink nach oben und stürze in mein Zimmer. Am liebsten möchte ich abschließen. Nein, ich
möchte die Tür verriegeln – mit Brett und Nägeln, und zwar für die
nächsten paar Monate, damit ich mir in Ruhe Gedanken machen
kann, was soeben geschehen ist und wie sich das auf mein Leben
auswirkt. Wenn man bedenkt, wie mein ganzer Vormittag vom The-
21
ma »Mängel und Selbstzweifel« geprägt war, ist es interessant, dass
ich jetzt nicht mehr an mir selbst zweifele, sondern am Verstand meiner Eltern.
Aber wieso eigentlich? Was stört mich? Wieso kann ich es nicht
genau ausmachen? Ich lasse mich auf mein Bett fallen, verberge mein
Gesicht im Kopfkissen und unterdrücke einen Schrei. Als ich mich
umdrehe, fällt mir auf, dass Christus mich beobachtet, dessen Bild an
der Pinnwand über meinem Schreibtisch hängt. Ich fühle mich unwohl, wende mich ab und rufe dann Luisa an, um sie an meinem Gefühlschaos teilhaben zu lassen.
»Ständig beschwere ich mich bei meinen Eltern, dass wir nur zu
zweit sind«, meint Luisa, »und ihr seid in einer Weile zu viert. Versetz dich doch nur mal in die Lage des glücklichen Kindes – drei ältere Geschwister, die ihn nach Strich und Faden verwöhnen, Eltern,
die keine zwanzig mehr sind und daher nur halb so streng wie bei
Sophie und dir, und in ein paar Jahren seid ihr drei aus dem Haus
und er hat alles für sich.«
»Ich kann mich kaum halten vor Freude für ihn«, sage ich und
fühle mich missverstanden. Trotzdem würde ich am liebsten zu Luisa fahren und mich ausheulen, aber es wird bereits dunkel, und sie
wohnt nun einmal auf der anderen Seite der Stadt.
»Entspanne dich einfach ein wenig«, versucht Luisa mich zu beruhigen, »du hast nicht damit gerechnet und stehst ein bisschen unter Schock, aber warte nur ab. Schlaf ein paar Nächte darüber und du
wirst dich dran gewöhnen und dann auch darauf freuen. Außerdem
lenkt das doch von der Schule und den Zeugnissen ab.«
So ein Mist. Wie konnte ich nur verdrängen, dass es am Freitag
Zeugnisse gibt? Das war es wohl, mein Leben läuft aus dem Ruder!
Ich lasse mir von Luisa weitere zwanzig Minuten aufmunternde
Worte sagen. Sie übertreibt maßlos, aber ich fühle mich besser, schiebe meine kranken Phantasien beiseite und bin ihr dankbar – und ich
würde jederzeit dasselbe für sie tun. Kaum habe ich aufgelegt, klopft
es an meiner Zimmertür – nun gut, es ist also soweit, meine Eltern
22
haben doch bemerkt, dass etwas nicht stimmt und suchen das persönliche Gespräch mit mir.
Ich überlege, wie ich vortäuschen kann, hellauf begeistert zu sein,
aber dann kommt Sophie herein. Ein seltsamer Schachzug meiner Eltern, meine Schwester vorzuschicken.
»Was ist los mit dir?«, fragt sie leicht erschüttert und verärgert.
»Was ist los mit dir?«, halte ich ihr entgegen. »Es ist ja wohl klar,
dass keiner von uns mit Justus zusammenziehen wird. Also werden
du und ich uns ein Zimmer teilen müssen.« Ich halte inne. »Andererseits muss sowieso noch ein weiteres daher«, denke ich laut, »ohne
Frage brauchen Mama und Papa dringend getrennte Schlafzimmer,
denn so kann es nicht weitergehen!«
Sophie setzt sich ungebeten neben mich aufs Bett. »Irgendwie
kann ich mir nicht vorstellen, dass es dir um die Zimmeraufteilung
geht. Das wäre selbst für dich seltsam.«
Ich werfe eines meiner kleineren Zierkissen auf sie, aber sie fängt
es, lächelt, und legt es auf ihren Schoß. »Ich war genauso überrascht
wie du, okay?«, sagt sie, »ein neues Baby … das wird viel verändern.
Eben weil Mama und Papa keine fünfundzwanzig mehr sind.« Sie
wirft das Kissen sacht zurück und es landet neben mir. Jetzt erst
wird mir bewusst, dass ich das Kissen seit frühester Kindheit besitze.
Mama hat es für mich gemacht. Sie hat einen blauen Himmel draufgestickt und große Sonnenblumen, deren Blätter kuschelig weich aus
dem Kissen herausragen. Es ist süß, aber nichts daran wirkt völlig
mädchenhaft, als hätte sie bereits damals gewusst, dass ich rosa und
pink einmal verabscheuen würde. »Glaubst du wirklich, Mama und
Papa tun etwas, was der Familie schaden würde?«
Unsere Blicke treffen sich. »Nein«, sage ich und werfe das Kissen
erneut auf sie. »Ich hasse es, wenn du recht hast.«
Sophie lässt mich allein und ich verbringe den Abend zwischen
Herumliegen und Grübeln und den »Gilmore Girls«, auf die ich
mich auch nicht konzentrieren kann.
Beim Abendessen herrscht ausgesprochen beflügelte Stimmung
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und ich setze mir eine Maske auf und ziehe die Mundwinkel mit aller Macht nach oben. Als wir später das abendliche Familiengebet
sprechen, dankt Justus für das neue Baby und bittet um Gesundheit
für Mama. Mein »Amen« ist halbherzig.
Der Montagmorgen beginnt mit einer unbarmherzigen Doppelstunde Mathematik. Herr Rank, ein kleiner, aber sehr übergewichtiger
Mann, führt (ähnlich wie Herr Geppert in der Sonntagsschule) keinen Dialog mit uns, sondern schreibt 90 Minuten an die Tafel. Wir
schreiben tapfer mit. Was wir verstehen, bleibt uns überlassen. Das
wiederum bedeutet, dass ich hoffnungslos verloren bin. Luisa gibt
mir ab und an Nachhilfe in Mathe, aber noch einfacher wäre es,
wenn sie neben mir säße und dolmetschen könnte, was dieser Mann
dort vorn uns vermitteln will. Ich hoffe, Luisa und ich werden an unserem Ziel festhalten, zumindest die gleiche Universität zu besuchen,
wenn wir schon auf getrennte Gymnasien gehen müssen.
Ich schreibe die seltsamen Formeln gewissenhaft mit und Bengü
rechts neben mir schreibt wiederum alles von mir ab, da sie mal wieder ihre Brille daheim gelassen hat. Wenigstens ist sie weitaus besser
als ich in Mathe und kann mir die eine oder andere Frage so beantworten, dass ich sie verstehe.
Exponentialfunktionen. Wie soll mir ein Wort, das ein gesunder
Mensch nicht einmal auf Anhieb fehlerfrei aussprechen kann, das
Leben bereichern?
In einer Stadt fällt im Jahr 2000 0,5 Millionen Tonnen Müll an, 2001
hat es sich um 3% vermehrt.
a) Stelle eine Funktionsvorschrift auf.
b) Wann hat sich die Müllmenge verdoppelt?
»Aufgaben wie diese tragen erheblich zur Müllproduktion in
meinem Leben bei«, zische ich zynisch und ernte ein Lachen von
Bengü. Außerdem ist es mir völlig egal, wann sich die Müllmenge
verdoppelt hat. Warum gibt es keine Aufgaben zu dem Müll, der gerade meinen Alltag bestimmt?
24
»Schlechtes Wochenende gehabt?«, fragt Marvin, der zu meiner
Linken sitzt, und grinst.
»Ganz im Gegenteil«, erwidere ich, »meine Eltern haben nach all
den Jahren wieder zueinander gefunden und erwarten nun ihr viertes Kind. Ein Freudenfest im Hause Bach.«
Lizzy und Maren, die an der Innenseite des großen Us sitzen und
deren Tisch quer zu dem von mir und Bengü steht, drehen sich zu
uns um. »Echt?«, fragt Lizzy, »du wirst jetzt noch einmal Schwester?«
»Frag mal meine Mama«, sage ich trocken, »die bekommt jetzt
noch einmal ein Baby.«
»Vielleicht möchte Molly nach vorn kommen, weil sie das Ganze
besser erklären kann?«, unterbricht Herr Rank unser angeregtes Gespräch. Wir schauen beschlagen auf unser Heft und schreiben weiter.
Luisa ist und bleibt meine beste Freundin, aber das bedeutet nicht,
dass ich keinen Anschluss in der Schule habe. Ich verstehe mich sogar außerordentlich gut mit meinen Klassenkameraden, auch wenn
ich sie alle opfern und auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen
würde, falls das der Preis wäre, damit Luisa und ich in eine Klasse
gehen könnten. Wenn wir wenigstens auf die gleiche Schule gehen
würden! Aber dafür wiederum müssten meinetwegen nicht alle
gleich sterben.
Bengü stammt aus einer dieser neumodern-muslimischen Familien, die keine Kopftuchträger sind, und einerseits bewundert sie meine »konservativ-traditionelle« Einstellung, andererseits findet sie die
»Regeln« etwas überzogen. Lizzy geht es ähnlich, aber immerhin
habe ich beide im September mitgeschleppt, als die Jungen Damen
das Programm in der Abendmahlsversammlung gestaltet haben,
und ich bin äußerst stolz auf diese missionsorientierte Tat.
Lizzy befindet sich seit einer Weile in der superemanzipierten
Phase und lehnt grundsätzlich alles ab, was nach Hausfrau und Mutter klingt, aber ich weiß genau, dass auch sie dahingeschmolzen
wäre, wenn sie gestern Vormittag in der JD-Klasse Julias Best of
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Kitschkack gesehen hätte.
»Endlich sind alle Kinder selbstständig und jetzt will sie das Ganze erneut durchlaufen?« Lizzy ist so fassungslos, dass ich meine eigene Reaktion fast harmlos finde. Wir sitzen auf dem Pausenhof und
bibbern in der Kälte, aber die frische Luft tut gut nach dem Klassenmuff. (Und Herrn Ranks Schweißachseln.) »Dabei ist es in der heutigen Welt schon unvernünftig, auch nur ein einziges Kind in die Welt
zu setzen. Wenn ich mal Mutter sein will, adoptiere ich eines von
den vielen elternlosen, hungernden, ausgesetzten –«
»Beruhige dich, Mutter Theresa«, unterbricht Bengü sie, »ich finde es mutig. Und für den Neuling ist es doch toll, der hat gleich fünf
Eltern, die sich um ihn reißen.«
»Ja, so etwas Ähnliches hat Luisa auch gesagt«, murmele ich.
»Luisa ist nur neidisch, weil ihre mormonische Familie so überdimensional winzig ist im Vergleich zum Rest der Mormonenwelt«,
sagt Lizzy neckisch, die Luisa jedoch gut leiden kann.
Ich lege meine Hand auf die ihre. »Wenn du eines Tages an der
Macht bist und das kinderlose Deutschland ausstirbt, werde ich
trotzdem versuchen, für dich da zu sein!«, verspreche ich ihr.
Nach der Schule telefoniere ich mit Luisa, die mir bei den Mathematikhausaufgaben hilft, und ich bin begeistert, wie diszipliniert wir
uns erst meinem Hassfach widmen, dann dem Privaten. Von den übrigen Hausaufgaben habe ich allerdings anderthalb Stunden später
noch nichts erledigt und kritzele sowohl in Biologie als auch in Englisch mehr als dürftige Antworten unter die Aufgabenstellung, nur
damit ich endlich fertig bin und meine Ruhe habe.
Ich erfahre, dass Justus die Lektion beim Familienabend hat, was
mich erfreut, denn das bedeutet, sie wird nur zwei Minuten dauern,
ehe wir essen und noch gemeinsam ein Spiel spielen, aber vielleicht
bewahrt mich meine eigene Mutter ja vor diesem Schicksal, indem
ihr plötzlich schlecht wird.
Leider merke ich schnell, dass sie sich bester Gesundheit erfreut.
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»Ich hatte noch überhaupt keine Beschwerden«, berichtet sie begeistert, »ähnlich wie schon bei Justus. Ich hab den Test extra zweimal
gemacht, um sicherzugehen … und Dr. Blindow hat es uns am Freitag dann bestätigt.«
Ich möchte gratulieren, aber mir ist selbst mulmig zumute.
Jeder hat seinen Stammplatz beim Familienabend (allein schon
deshalb ist es undenkbar, dass noch jemand dazukommen sollte).
Mama, Papa und Justus sitzen auf der Couch, Sophie auf dem Sessel
und ich auf dem lovesac, den mir Justus nicht nur freundlicherweise
jeden Montag zur Verfügung stellt, sondern sogar aus seinem Zimmer für mich runterschleppt. (Wir haben den Deal, dass er mir die
restliche Woche dafür keine Nächstenliebe erweisen muss.)
Wir singen »Ich bin ein Kind von Gott«, beten, und Justus holt ein
Blatt Papier hervor. »Meine Damen und Herren, Mama und Papa
sind schwanger!«, ruft er aus und applaudiert laut. Sophie lacht, und
ich kann nicht anders und stimme ein. »Wir haben gestern bei den
JMs darüber gesprochen, was wir tun können, wenn es uns mal nicht
so gut geht, und Michi hat uns diese coole Geschichte gezeigt.«
Justus liest den Mormonen-Klassiker »Der Johannisbeerstrauch«
von Hugh B. Brown vor. Ich kenne die Begebenheit bereits aus dem
Seminarunterricht – und wer kennt sie nicht, Elder Browns berühmte
Allegorie über das notwendige Zurechtstutzen eines Strauches, was
nichts anderes bedeutet, als dass Gott auch uns manchmal stutzen
und weh tun muss, damit wir letztendlich so werden, wie er es will.
Natürlich hat mich beim Seminar eher interessiert, warum Elder
Brown unbedingt einen Johannisbeerstrauch als Beispiel heranziehen
muss – ich finde, diese sauren Beeren schmecken ganz fürchterlich.
Ich hätte den Strauch skrupellos jedes Jahr gestutzt, damit er niemals
Früchte tragen kann. Aber damit verfehle ich natürlich den Sinn des
Ganzen.
Justus fragt, nachdem er fertig ist, was wir daraus lernen können,
und Papa liest 2 Nephi 2:11 vor – dass es in allem einen Gegensatz
geben muss – und wir nur dann wahrhaft glücklich werden können,
27
wenn wir auch Leid erfahren und durch Prüfungen geformt werden.
»Und was machen wir, wenn es uns schlecht geht?«, fragt Justus. Ich
glaube schon, dass er sich selbst Antworten überlegt hat und bestimmt hat ihm der JM-Unterricht gestern Denkanstöße gegeben,
aber ich habe auch den Eindruck, dass ihn aufrichtig interessiert, wie
wir mit schwierigen Zeiten umgehen.
Ich erinnere mich an meinen gestrigen Vorsatz, weniger an mich
selbst zu denken, schlucke meine Unlust, teilnahmslos herumzuliegen und antworte. »Matthäus 15:18«, sage ich und setze mich aufrecht hin. »›Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.‹ Wir sollen zu
Christus kommen.«
»Wie kommst du zu Christus, Molly?«, fragt Mama.
Ich blicke zur Seite durch die großen Fenster in den idyllisch weißen Vorgarten. »Indem ich mein Herz für ihn öffne. Und indem ich
mich bemühe, so zu sein wie er ist … und so zu lieben wie er liebt.«
Das Fenster verschwimmt und ich schäme mich, dass mir die Tränen
kommen. »Es … es tut mir leid«, sage ich, »es tut mir leid, dass ich
gestern nicht so viel Begeisterung gezeigt habe.«
Ich blicke zurück zu Mama und Papa. Sie haben selbst Tränen in
den Augen. Natürlich. Das Familien-Virus. Heult einer, heulen alle.
(Außer Justus – aber ich bin mir sicher, das kommt noch, wenn er
groß ist.) »Ich möchte mich bemühen, mich darüber zu freuen«, sage
ich, »ich kann selbst nicht erklären, warum das schwierig für mich
ist. Ich bin noch etwas überwältigt … und brauche etwas Zeit.«
Ich raffe mich auf und lasse mich von meinen Eltern in die Arme
nehmen. Für einen Augenblick werfe ich all meine persönlichen Sorgen auf Jesus Christus und vertraue darauf, dass alles irgendeinen
Sinn ergibt. Und dass ich das kleine Balg lieben werde.
Justus steht auf. »Ta-daaa, und Molly wurde hiermit zum Johannisbeerstrauch des Abends gewählt!«
Ich lache und gebe ihm einen kleinen – liebevollen – Klaps auf
den Hinterkopf.
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»Schneller Herzenswandel«, meint Luisa zu mir beeindruckt, als ich
sie vor dem Schlafengehen anrufe. (Wir telefonieren zu viel.)
»Ein Wandel war das noch nicht«, sage ich ihr, »ich hab nach wie
vor Bedenken und halte die Entscheidung für leichtsinnig. Aber ich
akzeptiere sie und will meinen Frieden damit schließen.«
Nachdem ich aufgelegt habe, wird mir bewusst, dass meine Woche der guten Taten gerade erst begonnen hat. Als Nächstes muss ich
alles daransetzen, dass Finn endlich Luisa wahrnimmt und ihr den
Hof macht. Da wir in riesigen Schritten auf die sechzehn zugehen –
zumindest Luisa und ich, bei Finn ist es erst im Sommer so weit –,
sollten die richtigen Maßnahmen frühzeitig ergriffen werden.
Meine positive Einstellung hat meine Hausaufgaben leider nicht
drastisch verbessert, da ich jedoch in Englisch nicht an die Reihe
komme, entgehe ich der unbarmherzigen Kritik meines Lehrers, und
Bio findet heute glücklicherweise nicht statt. Ich will ja nicht egoistisch sein, aber nachdem ich bereits so viele Stunden am Stück versuche, alle Menschen mit liebevollen Augen zu betrachten, finde ich,
dass der Vater im Himmel mir langsam meine Mängel und
Selbstzweifel nehmen sollte. Ja ja, ich weiß, ich soll lernen, darüber hinwegzusehen, flüstert mir die Stimme im Hinterkopf zu, aber es schadet
doch nicht, wenn sie komplett beseitigt werden, oder?
Ich stehe in der großen Pause mit Lizzy und Bengü vor dem
Schwarzen Brett, als mir der Aushang ins Auge fällt. »Ist das schon
lange dort?«, fragte ich.
»Nein«, sagt Lizzy, »Frau Ömsen hat es erst gestern angebracht.«
Sie dreht sich mit großen Augen zu mir um. »Willst du da mitmachen?«, fragt sie ungläubig.
Es wird Zeit, meinen Selbstzweifeln ein Ende zu bereiten. »Nun«,
erwidere ich, »vielleicht schaue ich dort mal vorbei.«
29
3
B
ei der Generalkonferenz vor meinem zwölften Geburtstag richtete Jeffrey R. Holland vom Kollegium der Zwölf Apostel eine
Ansprache an die Jungen Damen der Kirche. Mama und Papa schauen sich die Konferenzversammlungen am liebsten allesamt drüben
im Gemeindehaus an, erwarten von uns Kindern aber nicht, dass wir
bei jeder dabei sind. An jenem Sonntag blieb Mama aus Gründen,
die ich nicht mehr weiß, zu Hause, und die Versammlung vom
Samstagnachmittag, die ja in der Regel am Sonntagnachmittag in
den Gemeindehäusern gezeigt wird, lief im Wohnzimmer über Papas Laptop. Mama und Sophie saßen andächtig davor, ich las gerade
in irgendeiner Zeitschrift, aber da es nicht so häufig vorkommt, dass
sich einer der Apostel speziell an die Mädchen richtet, bat Mama
mich, aufmerksam zu sein, und gehorsam legte ich die Zeitschrift
beiseite und sah auf den Bildschirm. »Denk dran, das betrifft dich alles bald auch«, meinte Mama zu mir, und ich lauschte interessiert.
Unter anderem sagte Elder Holland: »Ich bitte euch Mädchen:
Akzeptiert euch selbst mehr, nehmt euch an, wie ihr seid – eure Gestalt, euren Typ –, und sehnt euch nicht so sehr danach, wie jemand
anders auszusehen. Wir sind alle verschieden. Einige sind groß, andere sind klein. Einige sind rundlich, andere sind dünn. Und fast
jede wünscht sich zuweilen, etwas zu sein, was sie nicht ist!«
Damals blieb dieser Satz gar nicht so sehr an mir hängen, aber als
dann das berauschend schöne Teenageralter über mich hereinbrach
und sich die Mängel und Selbstzweifel einstellten, über die ich offensichtlich gern lamentiere, nahm ich mir die Aussage sehr zu Herzen.
Nur: Was bin ich denn? Der Begriff »Tochter Gottes« ist so weitläufig
und für mich schwer greifbar.
Ich bin neidisch, weil den Männern die heldenhaften Vorbilder in
den heiligen Schriften ja förmlich hinterhergeworfen werden. Natür30
lich verfügen sie über Eigenschaften, die für jede Frau ebenso wichtig sind, aber es täte trotzdem ganz gut, einfach mal den Namen einer Frau zu lesen, die Gutes getan hat. Da ist die Bibel sogar noch
großzügiger als das Buch Mormon, das mit Saria und Abisch und
der Frau König Lamonis eine eher klägliche Anzahl an rechtschaffenen Frauen hergibt, wenn man die Mütter der Söhne Helamans mal
außer acht lässt, die ohne Frage vorbildlich rechtschaffen gewesen
sein müssen, aber eben – weil namenlos – etwas abstrakt bleiben.
Eine einzige weitere Frau wird namentlich erwähnt: die Dirne
Isabel, und über sie wird gern hergefahren. Bei einer Jugendfireside
mit dem Bischof vor einiger Zeit sprachen wir über das Gesetz der
Keuschheit, und Bischof Flemming zog auch Almas Worte an Korianton heran, der statt Mission »Besuche« bei Madame Isabel vorzog.
Im Namen der wenigen Frauen im Buch Mormon fasste ich mir
ein Herz und meldete mich. »Wie können wir die arme Isabel eigentlich so verteufeln?«, warf ich ein, »wir sind mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten doch gar nicht vertraut. Wer weiß, was sie wirklich dazu getrieben hat, sich mit Prostitution ihr Geld verdienen zu
müssen. Vielleicht musste sie sich und ihre fünf kleinen Geschwister
versorgen, weil die Eltern tot waren.« Oder die Mutter schon wieder
schwanger war, denke ich heute.
Das hatte nichts mit dem Thema zu tun, auch wenn Bischof Flemming entspannt reagierte und sich alle anderen amüsierten, und ich
beschloss ganz sicher nicht, mir die Dirne Isabel als Beispiel zu wählen, dem ich nacheifern wollte, aber ich fragte mich, ob nicht vielleicht auch sie, wie Elder Holland es formulierte, sich zuweilen gewünscht hatte, etwas zu sein, was sie nicht war und so letztlich an
die falschen Leute geriet. Wir lesen später, dass Korianton wieder als
Missionar unterwegs war – also ist er offensichtlich von seinen Sünden umgekehrt. Wer weiß, ob es Isabel nicht auch so erging. Ich
wünsche es mir für sie. Vielleicht frage ich sie eines Tages.
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Der Gedanke, wer ich wirklich bin, beschäftigt mich, seitdem ich am
Dienstagvormittag am Schwarzen Brett den Aushang mit den Worten »Theater-AG sucht dringend Darsteller!« entdeckt und beschlossen
habe, mich dort zu melden. In einem Theaterstück verkörpert man
jemanden, der man nicht ist, muss sich aber in ihn hineinversetzen.
Ich ahne schon, dass sich die ganze Aktion als Metapher für mein
junges, verkorkstes Leben entpuppen wird, aber ich bin bereit, mich
einer neuen Herausforderung zu stellen, um das nervige hässliche
Entlein im Spiegel loszuwerden. Außerdem fand ich Schauspielerei
schon immer wahnsinnig spannend.
Am Dienstagabend habe ich bei der JD-Aktivität davon erzählt,
um die Aufmerksamkeit von der Schwangerschaft meiner Mutter ein
wenig auf mich zu lenken. Alle weiteren Fragen – welches Stück,
welche Rolle, wie oft Proben sind, wann die Aufführung sein wird,
wer noch alles mitspielt, ob auch gutaussehende Jungs mitmachen –
konnte ich leider nicht beantworten. Sophie bestärkte mich und sagte
glatt, sie würde mitkommen, stünde nicht der Abiturstress an.
Ich habe Lizzy und Bengü überredet, mich zum ersten Treffen am
Donnerstag nach der Schule zu begleiten. Dass Frau Ömsen einen
Tag vor der Zeugnisausgabe nichts Wichtigeres zu tun hat, wundert
mich, aber sie erklärt uns, dass es nur eine kurze Vorbesprechung ist
und es nächste Woche »richtig« losgehen wird.
Die Gruppe ist größer als ich gedacht habe, wir sind bestimmt um
die dreißig Leute, wobei ich nicht weiß, wie viele nur »schnuppern«
und nicht wieder auftauchen werden – Lizzy und Bengü sind ja auch
nur mir zuliebe hier. Bei der letzten Theaterproduktion, Brechts
»Dreigroschenoper«, waren viele beteiligt, die nun Abitur machen,
insofern ist es verständlich, dass Frau Ömsen Nachschub braucht.
Die Gesichter der anderen Schüler habe ich schon mal gesehen, eine
Schule mit nur knapp 1000 Schülern ist relativ überschaubar, aber
außerhalb meiner Klasse pflege ich keine näheren Kontakte.
Frau Ömsen ist eine jung gebliebene und attraktive Frau um die
fünfzig, die zu den beliebtesten und besten Lehrerinnen der Schule
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gehört. Irgendwie schafft sie es, jeden noch so öden Text, der auf
dem Lehrplan steht, interessant zu gestalten, aber besonders bei ihr
merkt man, dass sie sich nach den »alten« Zeiten zurücksehnt, als
die Lehrer bei der Auswahl der Lektüre noch flexibler waren. Viele
der Texte, die sie zwangsläufig mit uns durchgehen muss, weil sie
Material fürs Abitur bilden, gefallen ihr nicht. Die Theater-AG hat
sich zu einem Ventil für sie entwickelt, und seitdem ich auf der Schule bin, habe ich alle Produktionen begeistert angeschaut. Je nachdem,
wie aufwändig das Stück ist, dauern die Proben ein Schulhalbjahr
oder ein ganzes Schuljahr. Ich gehe davon aus, dass das aktuelle
Stück im Sommer aufgeführt werden soll, aber ich liege falsch.
»Ich möchte Dezember anpeilen«, verkündet Frau Ömsen, »und
die Sommerferien für längere Proben nutzen, wobei dann natürlich
gelockerte Anwesenheitspflicht herrscht. Ansonsten erwarte ich allerdings, dass ihr jede Woche hier seid, Fehlen gibt es nur in Ausnahmefällen.«
Die Aula ist erst vor wenigen Jahren renoviert worden und fasst
gut 500 Besucher, wobei es ein paar zusätzliche Sitzreihen hinten auf
der Glasempore gibt, die von der Bühne zwar ein ganzes Stück entfernt ist, aber besonders bei Musikkonzerten ist der Gesamtklang
dort oben sehr viel voller und angenehmer und ich bevorzuge die
Plätze dort. Musik wird auf der Schule stark gefördert und ich bin
mit meinen semi-tauglichen Klavierkünsten eher eine Außenseiterin
unter den Violinisten, Trompetern und Querflötisten.
Wir sitzen über die ersten drei Reihen verstreut und Frau Ömsen
steht vor der Bühne, an ihrer Seite steht Frau Beinker, eine recht kräftige weitere Deutschlehrerin, die bei der »Dreigroschenoper« die
Spelunken-Jenny gespielt und sogar ein Solo gesungen hat. Es war
nicht schön. Aber mutig.
»Das Stück, das wir planen, basiert auf englischer Lektüre«, fährt
Frau Ömsen fort, »und Frau Beinker und ich arbeiten bereits seit Wochen an einem vernünftigen Skript, wobei wir natürlich wie immer
euer Input brauchen. Die Vorlage ist recht umfangreich, und wir er-
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warten nicht, dass ihr sie bis nächste Woche durchgelesen habt, aber
im Laufe der Produktion sollte jeder den Roman gelesen haben.
Wichtig ist uns aber vor allem, dass nicht nur jeder herzlich willkommen ist, sondern wir für jeden eine Aufgabe finden – auch jemand,
der nicht so gerne schauspielern möchte, wird gebraucht, es gibt genug zu tun.«
Als sie schließlich den Roman hochhält, den die AG inszenieren
soll, beginnt mein Herz zu pochen. Unbewusst ergreife ich sowohl
Lizzys als auch Bengüs Hand und drücke sie so sehr, dass sie sich
schmerzerfüllt von mir losreißen müssen.
Jane Eyre.
Ich werde nie vergessen, wie Mama mir ihre bereits leicht zerfledderte Ausgabe in die Hand drückte. »Lies es einfach«, sagte sie. Zum
nächsten Geburtstag bekam ich dann ein eigenes Exemplar. Eines Tages möchte ich das Original lesen, aber der Roman wurde Mitte des
19. Jahrhunderts geschrieben, und auch wenn ich mit Englisch ganz
gut klarkomme, halte ich das Sprachniveau noch für etwas zu anspruchsvoll.
Vater im Himmel, das war ein Zeichen!, beschließe ich an Ort und
Stelle. So eine spontane Entscheidung von mir, hier mitzumachen –
und nun spielen wir ausgerechnet eines der besten und bedeutendsten Werke der Literaturgeschichte? Ich sehe bereits alle Mängel und
Selbstzweifel von mir fallen und mich zu höheren Ebenen emporschwingen.
»Ich möchte euch bitten, bis zur nächsten Woche entweder eine
Kurzfassung des Romans zu lesen oder ein paar Artikel, die ich euch
hier aufgelistet habe!« Frau Ömsen hält einen Zettel hoch. »Darunter
ist auch eine ziemlich ausführliche Inhaltsangabe. Beschäftigt euch
damit und überlegt euch, wie ihr euch das Ganze als Theaterstück
vorstellt und welche Figuren euch zusagen. Fixiert euch nicht nur
auf eine Figur – dann ist die Enttäuschung nicht so groß, wenn jemand anders sie spielt.«
Zu spät. Für mich gibt es nur eine Option.
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Lizzy blickt auf den Zettel, den Frau Ömsen und Frau Beinker gerade ausgegeben haben. »Ich habe noch nie etwas von diesem Buch
gehört«, sagt sie.
Ich bin nahezu entsetzt. »Gerade du müsstest es doch lieben«,
sage ich, »es ist nicht nur bedeutende Weltliteratur, es ist bedeutende
Frauenliteratur. Ich erwarte nicht, dass jeder Mensch auf Erden es
kennen sollte, aber zumindest jede Frau. Eigentlich auch jeder Mann.
Okay, jeder Mensch auf Erden.«
Bengü kichert. »Da blüht aber jemand auf.«
Frau Ömsen kommt auf uns zu. »Schön, dass ihr drei dabei
seid!«, sagt sie, »immerhin ein paar meiner eigenen Schüler.«
Bengüns Daumen deutet auf mich. »Das war ihre Idee.«
»Fein.« Frau Ömsen nickt mir zustimmend zu.
Ob sich das Ganze sogar auf meine Deutschnote auswirkt?
Ich bin wie ausgewechselt und kann von kaum etwas anderem reden. Luisa und ich sitzen im Starbucks am Römer und schlürfen eine
heiße Schokolade. Der Wind heute Nachmittag ist besonders eisig,
und wie es uns problemlos gelungen ist, auf Anhieb Sitzplätze zu ergattern, bleibt wohl ein Rätsel. Da Luisa auf der Südseite des Mains
im Stadtteil Sachsenhausen wohnt, treffen wir uns meist in der Innenstadt. Wir haben seit ein paar Jahren das Barbiespielen stark vernachlässigt, daher fährt eine selten zur anderen nach Hause, sogar
die Mathematikhausaufgaben erledigen wir im Café oder im Park.
»Endlich geschieht mal was Gutes«, freue ich mich und wärme
meine tiefgefrorenen Hände an der großen, heißen Tasse. Bei -5°C
die Handschuhe zu vergessen, gehört nicht zu meinen glorreichsten
Momenten.
»Und wie geht es weiter?«, fragt Luisa neugierig.
»Die nächsten beiden Wochen erläutern uns Frau Ömsen und
Frau Beinker, wie sie sich die Inszenierung gedacht haben, und wir
sprechen für die Rollen vor.«
»Und du bist dir sicher, dass du deine Rolle bekommst?«
35
»Sicher natürlich nicht. Aber ich nehme an, die meisten wollen
Jane spielen oder Blanche Ingram oder Helen Burns oder Mrs. Reed.
Aber Bertha Mason? Es ist nur eine einzige, recht kurze Szene, und
ich nehme an, fast alle möchten lieber mehr Zeit auf der Bühne verbringen.«
Janes Moral und Welteinstellung sind revolutionär und kaum
eine Liebesgeschichte hat mich mehr begeistert als die erwachsene,
vergleichsweise kitschfreie Romanze zwischen ihr und Mr. Rochester. Aber die Figur von Mr. Rochesters erster Ehefrau, einer Verrückten, die auf dem Dachboden des riesigen Anwesens eingesperrt ist,
löst eine unaussprechliche Faszination bei mir aus. Ich möchte diesem Monster Menschlichkeit verleihen, es soll erschrecken, aber Mitleid erregen. Ein allzu tiefer Einblick in ihre Psyche wird zwar bei einer Schulproduktion kaum möglich sein, aber ich werde mein Bestes
geben. Die Zuschauer sollen Bertha nicht nur verteufeln, sondern
überlegen, was wohl geschehen ist – und ob sich die Dinge anders
entwickelt hätten, wenn ihr das Schicksal wohler gesonnen gewesen
wäre. Unweigerlich muss ich an die Dirne Isabel denken.
»Vielleicht wollte sie nur geliebt werden«, füge ich hinzu.
»Das lässt sich bei Wahnsinnigen schlecht sagen«, meint Luisa.
Ich verschweige ihr, dass ich gerade an die Dirne Isabel gedacht
habe, und nippe an meiner Schokolade. »Immer hören wir, dass wir
akzeptieren sollen, wer wir sind, unser Potenzial erkennen und das
Beste aus unserem Leben machen. Mir tun Frauen wie Bertha Mason
leid, deren äußere Umstände es nicht zugelassen haben, dass sie ihr
Leben in den Griff bekommen hat.«
Ich sehe deutlich, dass sich Luisa ein Grinsen verkneift. »Dass
Bertha Mason eine erdachte Figur ist, weißt du aber schon?«
Ich setze die Tasse ab und lehne mich zurück. Ein Blick über das
Geländer nach unten verrät, dass vor der Kasse die Hölle los ist. Pech
gehabt, Leute, denke ich, wir bleiben hier für immer sitzen.
»Und selbst wenn nicht«, setzt Luisa hinzu, »es gibt immer einen
Weg aus der Misere. Abgesehen davon haben du und ich wirklich
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kein Recht, uns zu beklagen. Eigentlich haben wir ja alles, was wir
brauchen. Und wir beginnen keine neue Diskussion, warum alles
einfacher wäre, wenn wir besser aussehen würden!«
»Darum geht es auch nicht.« Nicht nur. Zwar hat mich das morgendliche Gefühl, mich regelmäßig häuten zu dürfen, nicht verlassen, aber seitdem ich Mamas Schwangerschaft akzeptiert habe, spüre
ich, dass Selbstakzeptanz der nächste – vielleicht sogar der wichtigste – Schritt auf meinem Weg zur Selbstfindung ist.
Da ich mir aber vorgenommen habe, diese Woche vor allem nicht
mit mir selbst beschäftigt zu sein, widme ich mich Wichtigerem: Luisas Liebesleben. »Kino morgen Abend steht?«, hake ich nach, »Lizzy
und Bengü kommen mit, womit der Date-Charakter gestorben wäre
und du dir keine Sorgen machen brauchst.«
Luisa wird augenblicklich unruhig. »Und wer soll Finn
einladen?«, fragt sie, »wenn Mädchen Jungs einladen, wirkt das doch
so … verzweifelt.«
»Ich wirke verzweifelt, denn ich werde ihn und Dominik über Facebook anschreiben«, erläutere ich, »du bist einfach mit von der Partie. Allerdings muss das Angebot durchaus reizvoll sein, also keine
chick flicks oder etwas in der Richtung.« Ich bin bestens vorbereitet
und habe bereits alle möglichen Optionen herausgesucht. Ich hole
den sorgsam zusammengefalteten Zettel aus meiner Tasche. »Sherlock Holmes läuft an«, sage ich, »und Avatar haben wir auch immer
noch nicht gesehen. Die Jungs aber bestimmt schon. Könnte mir jedoch vorstellen, dass sie ihn sich ein zweites oder drittes Mal anschauen würden.«
»Ist mir alles recht«, meint Luisa, »mach’s nur nicht zu peinlich,
okay? Ich werd mich vermutlich gar nicht auf den Film konzentrieren können.«
Ich lange mit beiden Armen über den Tisch und tätschele Luisas
Wangen. »Luisa, ich mach alles für dich!« Das würde ich wirklich,
aber im gleichen Augenblick schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel,
dass ich für meine Verkuppelungsaktion als neuzeitlicher Amor bitte
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meine Traumrolle als Bertha Mason ergattern darf. Ich finde, dass
das ein rechtschaffener Wunsch ist und ein fairer Deal wäre. Mal sehen, ob Gott sich darauf einlässt.
Bei all der Aufregung um Jane Eyre und Luisas ewige Ehe habe ich
die Zeugnisausgabe am Freitagvormittag prompt vergessen, aber da
ich fast alle Noten kenne, habe ich die zwei Vierer in Mathe und
Physik bereits akzeptiert und Mama und Papa gebeichtet, und die
Zweier überwiegen glücklicherweise und heben den Schnitt. Ich
drücke Mama das Zeugnis also nach der Schule kommentarlos in die
Hand und sage: »Schlecht ist es wirklich nicht … und zur Belohnung
gönne ich mir Kino mit Luisa und ein paar weiteren Freunden, in
Ordnung?« Mama zeigt sich einverstanden. Da ich die naturwissenschaftliche Inkompetenz von ihr geerbt habe, hat sie auch keine andere Wahl, und so freue ich mich auf einen entspannten Abend.
Das Szenario, dass Finn und Dominik womöglich keine Zeit oder
keine Lust haben könnten, war ich gedanklich gar nicht durchgegangen, und tatsächlich hatte ich noch gestern Abend die Zusage. Wie
sich herausstellte, wollte Finn von heute auf morgen ohnehin bei Dominik übernachten (er wohnt außerhalb Frankfurts) und die beiden
hatten noch keine konkreten Pläne für heute Abend. Wir haben uns
auf Avatar geeinigt, den, wie ich erfuhr, nur Dominik schon gesehen
hat. Nach der Schule habe ich gleich ein paar Karten im 3-D-Kino in
der Fußgängerzone reserviert, und wir treffen uns schon am späten
Nachmittag, holen die Karten ab und setzen uns in den nächsten McDonald’s. Lizzy und Bengü kennen ja Luisa bereits, Dominik und
Finn gehören glücklicherweise zur umgänglichen Sorte und anstatt
peinlicher Witze und unbehaglicher Stimmung entwickelt sich ein
spritziger Abend und lenkt perfekt von der Zeugnisausgabe ab, die
bei Dominik sicherlich mal wieder ein Flop war. Immerhin haben
seine Eltern ihm nicht den Abend mit uns verboten.
Der Kinosaal ist bereits verdunkelt und die Filmvorschau hat begonnen; als Dominik und Finn die Reihe durchrutschen, schicke ich
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Luisa unauffällig an mir vorbei, damit diese neben Finn sitzt, und
lehne mich dann genüsslich zurück und genieße das Feuerwerk der
Effekte. Immer mal wieder schiele ich rüber, ob Finn vielleicht seine
Hand auf Luisas gelegt hat – leider nicht, aber ich möchte die Verabredung als ersten Schritt verbuchen und mache mir keine Sorgen.
Lizzy findet grundsätzlich alles schlecht, was beim Rest der Welt
für Begeisterung sorgt, aber selbst sie findet keine plausiblen Argumente, den Film schlechtzureden. Auch ich bin positiv überrascht,
wie sehr mich eine solch flache, vorhersehbare Story, die aus zehn
anderen Filmen zusammengeklaut wurde, packen kann, aber die visuelle Achterbahnfahrt war aufregend und jeden Cent wert.
»Warum haben wir das noch nicht öfter gemacht?«, fragt Finn,
während wir nach dem Kino durch die Fußgängerzone schlendern.
Ein Blick auf die Uhr verrät, dass ich mich bald auf den Heimweg
machen muss, sonst bekommen Mama und Papa die Krise.
»Wir sind 15, Finn«, erwidere ich, »das bedeutet, dass wir euch
ätzend finden und umgekehrt, vergiss das nicht.«
»Außerdem seht ihr euch immer in eurer Kirche«, sagt Lizzy,
»wenn Bengü und ich gewusst hätten, dass Mormonenjungs so nett
sein können, hätten wir schon längst verlangt, dass wir was miteinander unternehmen.«
»Hey, ihr seid jeden Sonntag herzlich willkommen!«, verteidige
ich mich, »wenn ihr halt nicht auftaucht …«
Luisa ist schweigsam, aber ich sehe, dass sie sich wohlfühlt. Heute Nacht wird wohl jemand von Finn träumen! Ich drücke sie
schwesterlich an mich, als wir uns in der U-Bahn-Station voneinander verabschieden. Lizzy und Bengü haben den Bus genommen, und
ich fahre mit Finn und Dominik noch eine Haltestelle zusammen,
ehe die beiden aussteigen müssen.
Vielleicht ist der Begriff »Tochter Gottes« doch gar nicht so abstrakt, wie ich immer dachte. Heute Abend war ich ganz ich selbst –
und zu keinem Zeitpunkt kam mir der Gedanke, ich müsse anders
oder hübscher oder lustiger sein als ich es bin. Ich war Molly. Und ge-
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nau so haben mich die vier behandelt. Ich werde das Gefühl nicht
los, dass ich morgen früh mein Spiegelbild zwar wieder verfluchen
werde, aber ich lasse den jetzigen Höhenflug auf mich einwirken
und erfreue mich daran.
»Cool, dass ihr mitgekommen seid«, sage ich zu Finn und Dominik, »ich kann mich gar nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal, als
Jungs dabei waren, so einen Spaß hatte.«
»Yo, war chillig«, lautet Dominiks intellektuell nicht unanspruchsvolle Antwort.
Finn wirft erst Dominik, dann mir einen verstohlenen Blick zu.
»Sag mal … hat Lizzy eigentlich einen Freund?«, fragt er schließlich
ein bisschen schüchtern, »die ist ja echt süß.«
Binnen einer Sekunde haben alle Glückshormone meinen Körper
verlassen und der Albtraum ist zurück.
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41
4
D
ie Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht,
sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen,
trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft
alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.« (1 Korinther 13:48.)
O Paulus, Paulus … wie soll es meinem Herz jemals gelingen,
sich diese positive, liebevolle Einstellung anzueignen?
Ich sitze nach einer fast schlaflosen Nacht am Frühstückstisch
und fühle mich elektrisch geladen.
Die Liebe ist langmütig. Mir platzt gleich der Kragen!
Die Liebe ist gütig. Ich möchte Finn den Hals umdrehen!
Sie ereifert sich nicht. Ich rege mich gerade tierisch über ihn auf!
Sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Ich bin außerdem ein besserer
Mensch als er.
Sie handelt nicht ungehörig. Ich werde ihn umbringen!
Sie sucht nicht ihren Vorteil. Aber ich werde es vertuschen müssen.
Sie lässt sich nicht zum Zorn reizen. Ich flippe gleich aus!
Sie trägt das Böse nicht nach. Ich werde ihm das nie verzeihen!
Sie freut sich nicht über das Unrecht. Ich werde ihn vermöbeln und
dann mit dem Finger auf ihn zeigen und lachen.
Sie freut sich an der Wahrheit. Wenn man mich fragt, wer ihm das angetan hat, muss ich halt flunkern.
Sie erträgt alles. Ich ertrage diese Situation nicht.
Sie glaubt alles. Ich verliere meinen Glauben.
Sie hofft alles. Meine Einstellung war nie mieser.
Sie hält allem stand. Außer diesem Leben.
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Die Liebe hört niemals auf. Mein Herz ist wie aus Stein.
»Die beiden Vierer bekommen wir auch noch weg«, sagt Papa
freundlich. Ach stimmt ja, wir reden gerade über mein Zeugnis.
Mein Durchschnitt ist 2,7 – ich kann damit leben, auch wenn ich
weiß, dass ich locker auf 2,4 käme, wenn ich mich mehr anstrengen
würde und im Unterricht konzentrierter wäre.
»Mathe und Physik sind überbewertet«, entgegne ich und verschweige, dass ich in Bio gerade noch so eine 3 bekommen habe.
»Die Naturwissenschaften«, seufzt Mama, »wir sind eben doch
eher eine sprachbegabte Familie.«
ELTERN!, rufe ich genervt in Gedanken, SEHT IHR DENN
NICHT, DASS ICH GERADE DAMIT BESCHÄFTIGT BIN, JEMANDEN ZU VERACHTEN?!
»Hm-mm«, brumme ich.
Ich kann nicht fassen, dass Finn Interesse an Lizzy gezeigt hat.
Mein perfekter Plan wurde perfide vereitelt. Dabei hat er doch den
ganzen Film über neben Luisa gesessen, und ich kann mich auch
nicht entsinnen, dass er besonders viel mit Lizzy gesprochen hätte.
»Hat Lizzy einen Freund?«, hat er mich beiläufig gefragt und
mich dabei mit den großen blauen Augen angesehen, seine blonde
Surferfrisur fast vollständig unter der schwarzen Mütze versteckt,
nur der Pony lugte ein wenig hervor.
Natürlich habe ich das geantwortet, was jede treue beste Freundin geantwortet hätte: »Ja, hat sie. Sie sind ziemlich frisch zusammen. Und bis über beide Ohren verliebt, wenn du weißt, was ich
meine.« Ich habe künstlich aufgelacht und ihm mit der Faust sachte
an die Schulter gestoßen. Hätte ich mich noch lächerlicher aufführen
können?
Die ganze Nacht habe ich gegrübelt, wie ich nun weiter vorgehen
soll. Luisa die Wahrheit sagen und ihr das Herz brechen? So lange
auf Finn eindreschen, bis er seine tief verborgenen Gefühle für Luisa
entdeckt? Eines steht fest: Er und Lizzy dürfen sich nie wieder sehen.
Und es wäre gut, wenn sich Lizzy wirklich einen Typen angelt.
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» – ist?«, fragt Papa.
»Ja«, sage ich.
Mama und Papa sehen einander verdutzt an und blicken dann
zurück zu mir. »Das ist keine Antwort auf meine Frage«, bemerkt
Papa.
»Siehst du nicht, dass sie mit ihren Gedanken woanders ist?«,
meldet sich nun Sophie zu Wort, und ich will sie gerade zu meiner
Retterin erklären, als sie mich frontal und gnadenlos erdolcht: »Bertha Mason war gestern mit zwei Jungen im Kino, ist ihnen mit Haut
und Haar verfallen und kann sich nicht zwischen ihnen entscheiden.
Ob der Geist Jane Eyres ihr einflüstern kann, wem ihr Herz wirklich
gehört? Finn oder Dominik? Wer wird der Glückliche sein?«
Ich hebe das stumpfe Messer, mit dem ich gerade Butter auf mein
Brötchen geschmiert habe. »Es tut mir leid, aber das ist dein Ende,
Sophie Bach«, prophezeie ich.
»Molly, leg das hin!« Mama klingt nicht amüsiert. »Darüber
macht man keine Scherze.«
»Ja, ihr habt recht«, sage ich, »reden wir doch lieber über Sophies
Zeugnis und wie sie es noch so kurz vor dem Abitur schafft, alle mit
ihren vorbildlichen Noten zu beeindrucken. Der naturwissenschaftliche Familien-Gen-Defekt scheint an ihr vorübergegangen zu sein!«
»Oder ich habe gelernt«, gibt sie bissig zurück.
»Gib mal bitte das Nutella rüber!«, sagt Justus.
Ich bin versucht, eine Diskussion zu starten, ob es die, der oder das
Nutella heißt, stehe jedoch patzig auf und greife meine Brötchenhälfte. »Ich werde das Frühstück heute in meinem Gemach einnehmen«,
verkünde ich meiner Gefolgschaft.
Auf dem Weg nach oben höre ich meine Eltern meinen Namen
rufen. Ich schaffe doch immer wieder den Abgang einer waschechten
Drama Queen.
Das Brötchen schmeckt mir kaum und ich schlinge es nur halb zerkaut hinunter. Immerhin habe ich den ganzen Vormittag nicht einen
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Gedanken an Mamas Schwangerschaft verschwendet, das ist doch
auch eine gewisse Art von Fortschritt, rede ich mir ein.
Ich öffne mein Exemplar von Jane Eyre und blättere ein paar hundert Seiten vor bis zur dramatisch geplatzten Hochzeit von Jane und
Mr. Rochester. Ich habe mich immer gefragt, was wohl geschehen
wäre, wenn Richard Mason, Berthas Bruder, nicht die Trauung unterbrochen hätte, weil er wusste, dass Mr. Rochester in Wirklichkeit
bereits verheiratet war. Wäre Mr. Rochesters düsteres Geheimnis jemals ans Licht gekommen? Hätte Jane jemals das Zimmer im Dachboden entdeckt, wo Bertha Mason hauste?
Fasziniert lese ich mir laut vor, wie Jane Bertha beschreibt – sie
kann zunächst nicht unterscheiden, ob es sich um ein Tier oder um
einen Menschen handelt, sie sieht ein wildes Tier mit angegrauter
Mähne, eine angekleidete Hyäne, die sich zähnefletschend auf ihren
Gatten stürzt, nachdem sie Jane (immerhin im Brautkleid) wahrgenommen hat. Eine Wahnsinnige durch und durch.
Hast du so etwas wie Hass gespürt, Bertha?, frage ich mich. Haben
dich negative Emotionen getrieben oder die Sehnsucht nach deinem Mann?
Die Krankheit, die sie verrückt machte, brach immerhin erst nach der
Hochzeit aus. Ja, mein Wunsch ist bestärkt, Bertha nicht nur eine
Wahnsinnige sein zu lassen. Sie war verletzlich. Wer weiß, wieso sich
letztlich der Hebel vom gesunden Verstand zum Wahn umgestellt
hat. Möglicherweise hat ihre erste große Liebe ihre Gefühle nicht erwidert. Oder sie hat versucht, ihre beste Freundin mit deren großer
Liebe zusammenzubringen und ist dabei kläglich gescheitert. Ein
Seufzer entfleucht mir.
Ich muss das alles in Ordnung bringen – nur wie?
Luisa besucht heute mit ihrer Familie die Großeltern, und ich bin erleichtert, sie nicht sehen zu müssen, denn ich könnte ihr keine heile
Welt vorgaukeln. Klar, als angehende Schauspielerin müsste ich
dazu imstande sein, und es kann ja auch sein, dass dies eine Probe
für mich ist, mein Talent unter Beweis zu stellen. Aber nicht voll und
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ganz mit Luisa ehrlich sein zu können? Das ist mir noch nie passiert.
Sie weiß buchstäblich alles von mir, und ich gehe davon aus, dass es
andersrum genauso ist.
Ich könnte das neue Schuljahr natürlich vorbildlich beginnen, indem ich irgendetwas für den Unterricht tue, aber angesichts der strapaziösen emotionalen Situation, in der ich mich befinde, sehe ich
mich dazu nicht in der Lage und vertiefe mich stattdessen in Bertha
Mason und hänge anschließend unten auf der Couch vor dem Fernseher herum, obwohl ich genau weiß, dass am Samstagnachmittag
nichts Gescheites läuft.
»Lies doch das Sonntagsschulthema für morgen«, schlägt Mama
allen Ernstes vor.
»Was nützt es mir denn?«, halte ich ihr entgegen. »Bruder Geppert schert sich einen feuchten Dreck, ob wir gelesen haben, und hält
ohnehin wieder nur einen Vortrag.«
»Mir gefällt es nicht, wie du und Sophie immer über ihn sprecht«,
sagt Mama und legt ihr Kreuzworträtsel beiseite. »Wie wäre es mit
ein bisschen mehr Nächstenliebe?«
Mama, mein Seelenleben ist heute darauf konzentriert, auf Finn sauer
zu sein, da ist keine Nächstenliebe mehr übrig.
»Außerdem geht es beim Leseauftrag nicht nur um den eigentlichen Sonntagsschulunterricht, sondern um dich und was du aus dem
Thema herausziehen kannst.«
Mütter, die Bescheid wissen. Ich erinnere mich, wie Julia vor Kurzem bei einem Thema diese Ansprache von der FHV-Präsidentin heranzogen hat. Schade, dass Schwester Beck diesen Titel bereits geklaut hat, denn mir fällt gerade erschütternd viel zu dem Thema ein.
»Mama, es ist das Alte Testament …« Ich bin schon froh, dass ich
dem beim Seminarprogramm entkommen bin. Nun gut, dafür muss
ich das Seminar im vierten Jahr mit dem Alten Testament abschließen, aber ich bin überzeugt, dass ich bis dahin genug Profi im Umgang mit den Schriften bin und die nötige Kraft und Ausdauer dafür
habe.
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Meine Mutter lässt sich nicht beirren und holt ihre Dreifachkombination. »Komm, ich hab den Leseauftrag auch noch nicht gelesen.«
Sie schlägt in der Köstlichen Perle das Buch Mose auf.
Ich habe wirklich, wirklich keine Lust. Andererseits langweile ich
mich und habe vermutlich nichts zu verlieren.
Wir lesen von Kain und der »liebevollen« Beziehung zu seinem
Bruder Abel und welche traurigen Auswirkungen es hat, wenn man
sein Leben dem Satan weiht. Lieber schnell weiterlesen.
Die Begebenheit von Henoch hat mich schon immer interessiert.
Eine Stadt, die so rechtschaffen ist, dass sie in den Himmel aufgenommen wird. »Und der Herr nannte sein Volk ZION, weil sie eines
Herzens und eines Sinnes waren und in Rechtschaffenheit lebten;
und es gab keine Armen unter ihnen«, lese ich Mose 7:18 vor.
»Und wie erreicht man das?«, fragt Mama.
»Bedingungslose Nächstenliebe«, fällt mir als Erstes ein.
»Und wem könntest du mehr Nächstenliebe entgegenbringen?«
Finn, denke ich, aber das ist schwer, weil ich ihn momentan hasse.
»Versuch es doch mal mit Bruder Geppert«, ermuntert mich
Mama. »Versuch morgen im Unterricht einfach mal, keine negativen
Gefühle zu haben und irgendetwas aus seiner Lektion mitzunehmen.
Ich weiß, das klingt nicht besonders verlockend, aber deine schwangere Mutter hat dich gerade darum gebeten, und wenn du es nicht
tust, wirst du zwangsläufig ein schlechtes Gewissen haben.« Sie
grinst mich unschuldig an.
Mütter, die manipulieren. Schwester Beck, ich brauche Ihren Ansprachentitel nicht mehr, ich habe gerade meinen eigenen gefunden.
Die JD-Klasse am Sonntag ist wieder vollzählig, aber es ist der letzte
Unterricht im Monat und wir werden nicht in Gruppen aufgeteilt.
Während Janine über Tempelbündnisse spricht, muss ich immer wieder zu Luisa schauen, die neben mir sitzt. Ich versuche, so ausgelassen (und schlecht gelaunt) zu sein wie jeden Sonntagmorgen, aber so
richtig gelingen will es mir nicht.
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Als Bruder Geppert in der Sonntagsschule mit seiner Vorlesung
über Kain und Abel beginnt, möchte ich alles, was Mama mir aufgetragen hat, augenblicklich über Bord werfen. Luisa schiebt mir nach
drei Minuten das erste Briefchen zu. »Laaaangweilig«, schreibt sie.
Ich unterdrücke ein Kichern und spüre einen Funken Erleichterung,
das nicht etwas wie »Was ist eigentlich heute mit dir los?« darauf
steht oder besser noch »Irgendwie lässt mich das Gefühl nicht los,
dass du mir etwas verheimlichst!« oder »Finn hat mir gestanden,
dass er Lizzy liebt und du wusstest es! Ich hasse dich!«
Ich zücke meinen Kugelschreiber und will gerade antworten, als
Bruder Geppert demonstrativ seine Schriften aufschlägt. »Bin ich
meines Bruders Hüter?«, liest er vor. »Was bedeutet es denn, seines
Bruders Hüter zu sein?« Er setzt an, seine eigene Frage zu beantworten, als sein Blick verwundert auf mich fällt. »Ja, Molly?«
Mir wird bewusst, dass mein Arm in die Höhe geschnellt ist. Das
tue ich nur für dich, Mama! »Das bedeutet, dass man sich umeinander
sorgt und füreinander da ist. Und sich bemüht, seinem Bruder …
oder seiner Schwester Gutes zu tun.«
»Genau«, pflichtet Sophie mir bei, woraufhin Gelächter erschallt.
»Nicht nur die leiblichen Geschwister«, sage ich, »im Prinzip sind
wir ja alle Brüder und Schwestern … es geht um unsere Mitmenschen … besonders um unsere Freunde.«
»Und wie schafft man das?«, fragt Bruder Geppert. Ich kann mich
nicht entsinnen, wann er das letzte Mal satte zwei Fragen hintereinander gestellt hat … gut, die erste war ohnehin als rhetorische geplant, aber ich glaube nicht, dass irgendjemand hier sich beklagt.
»Wie wird man seines Bruders Hüter?«, setzt er hinzu.
»Durch bedingungslose Nächstenliebe«, wiederhole ich das, was
ich gestern bereits Mama geantwortet habe.
Bruder Geppert greift den Gedanken kurz auf und fährt dann mit
seinem Vortrag fort, aber meine eigene Antwort lässt mich nicht los.
Man sagt in der Kirche immer so leichtfertig, die Liebe sei die Antwort auf alles – so langsam beschleicht mich die Erkenntnis, dass
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dem wirklich so ist. Das bedeutet, dass ich nicht sauer auf Finn sein
kann – wieso auch? Er weiß doch wahrscheinlich gar nicht, dass Luisa auf ihn steht. Er fand Lizzy attraktiv und hat beiläufig herausfinden wollen, ob er sich Hoffnungen bei ihr machen kann – wer weiß,
ob er seitdem überhaupt einen weiteren Gedanken an sie verschwendet hat. Er hat mich weder nach ihrer Telefonnummer gefragt noch
nach ihrem Nachnamen, damit er sie vielleicht auf Facebook ausfindig machen und Kontakt zu ihr aufnehmen kann.
Ich atme tief durch und rufe mir erneut ins Gedächtnis, was im
ersten Korintherbrief über die Nächstenliebe geschrieben steht.
Die Liebe ist langmütig. Ich werde geduldiger sein.
Die Liebe ist gütig. Ich werde gütiger sein.
Sie ereifert sich nicht. Ich werde mich nicht mehr unnötig aufregen.
Sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Ich werde nicht mehr angeben
oder eingebildet sein.
Sie handelt nicht ungehörig. Ich werde mich richtig verhalten.
Sie sucht nicht ihren Vorteil. Ich werde weniger egoistisch sein.
Sie lässt sich nicht zum Zorn reizen. Ich werde lernen, mich zu beherrschen.
Sie trägt das Böse nicht nach. Ich werde weniger nachtragend sein.
Sie freut sich nicht über das Unrecht. Ich werde mich für Gerechtigkeit
stark machen.
Sie freut sich an der Wahrheit. Ich werde die Wahrheit sagen.
Sie erträgt alles. Ich werde die Fehler meiner Mitmenschen übersehen.
Sie glaubt alles. Ich werde Glauben ausüben.
Sie hofft alles. Ich werde mir eine positivere Einstellung erarbeiten.
Sie hält allem stand. Ich werde stets das tun, was richtig ist.
Die Liebe hört niemals auf. Ich werde mich von ganzem Herzen bemühen, ständig gut über alle Menschen zu denken.
Luisa stößt mich an, und mir fällt ein, dass ich seit fünf Minuten ihren Brief beantworten soll. »Ja«, schreibe ich, »laaaangweilig – aber
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irgendwie besser als sonst, oder?«
Beim Abendmahl überlege ich, ob ich meinen Vorsatz von vergangener Woche eingehalten habe. War ich ein besserer Christ? Habe ich
mich mehr um andere bemüht? Ich möchte nicht in Stolz verfallen,
aber mein Gefühl sagt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin und
schon weitaus katastrophalere Wochen hinter mir hatte.
Darf ich als Dank Bertha Mason spielen?, möchte ich beten, aber ich
verkneife es mir. Hilf mir lieber erkennen, was ich Luisa sagen soll.
Selbstverständlich reicht mir in genau diesem Augenblick Finn das
Abendmahl. Ich nehme vom Brot, nehme Finn das Abendmahlsgeschirr aber nicht ab, und höflich beugt er sich ein wenig in die Reihe
und reicht es Luisa ebenfalls direkt.
Ich kann schon verstehen, was sie an ihm findet – er sieht ein bisschen aus wie ein blonder Zac Efron, und für einen Fünfzehnjährigen
ist er erstaunlich wenig nervig und man befindet sich bei ihm grundsätzlich in angenehmer Gesellschaft. Vielleicht wäre ich selbst nicht
abgeneigt, aber das könnte ich Luisa niemals antun, und ich möchte
mich doch außerdem darauf konzentrieren, mein Leben halbwegs in
Griff zu bekommen und eine oscarreife Leistung als Bertha Mason
abzuliefern.
Ich beschließe also, Finn zu vergeben, und da mein persönlicher
Reifeschub heute Vormittag so unermesslich groß ist, kralle ich ihn
mir nach der Kirche, als Luisa gerade auf Toilette ist. »Finn, ich war
unehrlich und es tut mir leid«, sage ich zu ihm – mir ist bewusst,
dass ich möglicherweise Luisas Leben zerstöre, aber ich muss darauf
vertrauen, dass die Wahrheit am Ende siegen wird. »Lizzy hat keinen Freund.«
Finn grinst breit. »Wirklich?« O nein, er freut sich. Mist. »Kein
Problem, Molly«, sagt er dann und will sich abwenden, hält dann
aber inne. »Wieso hast du gelogen?«
Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll und tue, was jedes Mädchen in meiner Situation tun würde: Ich werde rot und schweige.
Finn nickt. »Ich verstehe«, sagt er.
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Tut er das?
Ich weiß nicht, wie mir geschieht, aber er gibt mir eine kurze Umarmung. »Ich hab dich total gern«, sagt er, »aber halt nicht … so.«
Ach das denkt er? Nun, es ist das geringere Übel und ich muss
meine beste Freundin nicht verraten. »Ja … das habe ich mir schon
gedacht«, bringe ich schließlich irgendwie über die Lippen, »aber ich
wollte es nicht wahrhaben und als du mich nach Lizzy gefragt hast,
war es so, als hättest du mir mein Herz mit bloßen Händen herausgerissen, und da dachte ich …« Ich glaube, ich trage zu dick auf. »Je denfalls ist es in Ordnung. Und ich bin drüber weg. Und wünsche
dir alles Gute. Euch. Nein, nur dir.«
»Ich bin am Wochenende eventuell wieder bei Dominik«, sagt
Finn. »Vielleicht habt ihr Lust, wieder was zu machen?«
»Ja … ich frage mal nach.« Es ist erbärmlich, dass ich schon wieder Märchen erzähle, aber eigentlich ist er ja selbst schuld. Natürlich
werde ich Lizzy nicht ein weiteres Mal einladen und sagen, dass sie
krank geworden ist, wenn wir am Freitag unterwegs sind und ich
ihn und Luisa irgendwo einsperre, bis er seine Liebe zu ihr erkennt.
»Cool«, sagt Finn, »wir können die Tage ja noch mal telefonieren
und alles Weitere besprechen!«
»Ja ja …« Ich wende mich ab.
Es ist ein wenig milder geworden; kein Tauwetter, aber am Himmel
ist kaum eine Wolke zu sehen, die Sonne scheint uns warm aufs Gesicht – und halb Frankfurt geht am Main spazieren. Luisa und ich
lassen uns davon nicht stören. Es gibt für mich in der Stadt kaum
einen schöneren Spazierweg, besonders wenn wir die in Deutschland einzigartige Skyline im Blick haben. Die Stadt mag vielerorts als
dreckige und kriminelle Großstadt verpönt sein, aber allein diese
eindrucksvolle Aussicht sollte die meisten Kritiker verstummen lassen. Hinzu kommt die weiße Winterpracht, die den belebten Wegen
und Straßen ein kleinwenig Idylle verleiht.
»Tut mir leid, dass ich heute Morgen etwas seltsam drauf war«,
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sage ich. Es bringt ja nichts, das Gespräch ewig aufzuschieben.
»Wieso?«, fragt Luisa, »mir ist nichts aufgefallen.«
»Wirklich?« Ich bin also tatsächlich eine gute Schauspielerin. Bertha Mason, ich komme! Aber darum geht es jetzt nicht.
»Luisa … es gibt da etwas, was ich dir über Finn sagen muss …«
52
5
Z
u meinen Lieblingsliedern im Gesangbuch gehört Nr. 193,
»Wenn uns ein Mensch zum Guten lenkt«. Es gibt kein anderes
Kirchenlied, das meiner Meinung nach Freundschaft so eindrucksvoll thematisiert. In der ersten Strophe heißt es:
Wenn uns ein Mensch zum Guten lenkt,
ist das ein Zeichen deiner Gnad;
du sendest Segen aus der Höh
durch andrer Menschen Wort und Tat.
Mit anderen Worten: Wenn unsere Freunde etwas Gutes in unserem
Leben bewirken, ist das ein Segen von Gott. Was nun, wenn wir unseren Freunden Kummer bereiten müssen?
Glücklicherweise denke ich augenblicklich an die Geschichte vom
Johannisbeerstrauch, die Justus beim Familienabend vorgelesen hat.
Kummer und Schmerz kommen nicht automatisch vom Widersacher
– manchmal muss Gott uns eben zurechtstutzen. Das kann ebenfalls
durch Freunde geschehen. Ich hoffe, dass Luisa das genauso sieht.
»Finn … Finn hat Interesse an Lizzy gezeigt.«
Luisa ist stehengeblieben. Die Menschenmassen strömen um uns
herum, manche Fahrradfahrer und Sonntagnachmittagsjogger werfen uns genervte Blicke zu, weil wir den Gehweg blockieren.
»Er hat das schon am Freitag nach dem Kino bekundet, als ich
mit ihm und Dominik in der U-Bahn war … ich … ich wusste nicht,
ob ich es dir sagen soll oder nicht.«
Luisa nickt gefasst. Sie schluckt, aber hält die Tränen zurück. »Er
mag Lizzy«, wiederholt sie.
Ich möchte sie an mich reißen und in meinen Armen wiegen, bis
alles rausgeheult ist, aber ich habe Angst, auch nur auf sie zuzuge53
hen. Ich weiß, dass es keine bloße Schwärmerei ist. Seit fast einem
Jahr schmachtet sie ihm hinterher, wollte aber bloß nicht, dass ich irgendetwas unternehme, denn es könnte ja peinlich werden. Nun
habe ich es geschafft, dass sie Zeit mit ihm verbracht hat – zumindest
in der Gruppe – und der Schuss ging nach hinten los.
»Es ist alles meine Schuld«, sage ich, »Luisa, es tut mir so leid –«
»Nein«, wehrt sie ab und schüttelt vehement den Kopf, »du
kannst ja nichts dafür.«
Ich wage es, gehe zwei Schritte nach vorn und umarme sie. Ich
merke deutlich, dass sie die Umarmung nicht richtig erwidert und
ihren linken Arm nur ganz matt auf meinen Rücken legt. Ich löse
mich wieder von ihr, völlig hilflos, was ich tun oder sagen soll. So
viel zur Ehrlichkeit! Gott ist der Gärtner hier, möchte ich am liebsten
Hugh B. Brown zitieren, und eines Tages wirst du dafür dankbar sein,
dass er deine Äste gestutzt hat …
Luisa weicht zurück. »Ich werde nach Hause fahren, okay? Ich
brauch einfach etwas Zeit zum Nachdenken.«
Sie streckt kurz die Hand aus und winkt mir zu, dann kehrt sie
sich ab und läuft in Richtung Eiserner Steg. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und ignoriere die weiterhin strafenden Blicke der Passanten, die mich garantiert für völlig durchgeknallt halten.
Grandios. Ich bin die schlechteste beste Freundin des Universums.
Irgendwie schaffe ich es, tief Luft zu holen und mich ein bisschen
zu beruhigen. Erstens: Sie ist traurig und enttäuscht, aber nicht von
mir (habe ich den Eindruck). Zweitens: Selbst wenn Freunde unzertrennlich sind, braucht jeder einmal seinen Freiraum und muss für
sich sein, um nachzudenken. Drittens: Luisa hat ein Zeugnis vom
Evangelium und wird sich nicht einfach so vom Eisernen Steg in den
Main stürzen.
Um sicherzugehen, bleibe ich noch fünf Minuten stehen und beobachte die Brücke aus der Ferne, aber abgesehen von Touristenpärchen, die verliebt über die Brüstung schauen, fällt mir niemand ins
Auge, vor allem keine kreischenden Mädchen, die in den Fluss
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plumpsen. Du sendest Segen aus der Höh durch andrer Menschen Wort
und Tat. Plötzlich bin ich mir nicht sicher, ob das stimmt.
Das neue Schuljahr beginnt einfach so, als wäre nichts geschehen.
Mein Stundenplan ist unverändert, die Laune am Montagmorgen die
gleiche. Irgendwie überlebe ich den Seminarunterricht mit Papa, obwohl ich 98% der Antworten Sophie überlasse und meine Gedanken
weniger das Buch Mormon umkreisen als Luisa, aber ich lasse mir
nichts anmerken.
Ich schicke Luisa ab und zu eine SMS und würde das Handy am
liebsten die ganze Zeit vor mir liegen haben, aber Handy in der
Schule … ein schwieriges Thema.
Luisa antwortet mir kurz und bündig und mehrmals lese ich den
Satz »Ich brauch noch etwas Zeit«. Einerseits bin ich beruhigt, dass
sie mir antwortet, andererseits panisch – sie war doch immer diejenige, die mit mir über alles geredet hat. So etwas wie Funkstille kenne
ich gar nicht. Wie kann sie mich, ihre aller-allerbeste Freundin auf
der Welt, die ihr stets eine Schulter zum Ausweinen hingehalten hat,
wenn Finn sie mal wieder nicht beachtet hat, nun verschmähen?
Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie sie, kurz nachdem die
Familie hergezogen war, eines Sonntagmorgens in der PV-Klasse saß
und eine kleine Keksdose dabei hatte. Eine Lehrerin war noch nicht
in Sicht und sie und ich waren allein.
»Krieg ich einen Keks von dir?«, fragte ich.
»Ich hab nur noch einen«, meinte sie, »wir können den teilen,
aber dann bist für immer meine Freundin, bis ich tot bin!«
»Okay, und wenn wir uns mal streiten?«
»Hmm … das geht nicht. Dann kann ich doch nicht mit dir
teilen«, war ihr Fazit.
Ich ließ nicht locker. »Aber wir können uns ja wieder vertragen!«
Und ich bekam die Kekshälfte. Und wurde ihre Freundin. Und
wir sind uns sicher, dass wir auch nach dem Tod noch befreundet
sein werden. Wenn wir diese Sache hier überstehen, dann wohl auch
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alles Weitere; trotzdem mache ich mir Sorgen.
Zur Aktivität am Dienstagabend taucht sie nicht auf. »Luisa ist
krank«, erklärt Julia den anderen und geht sicherlich davon aus, dass
ich das bereits weiß. Meine Sorge steigt.
So sehr es mich auch erfüllt, Trübsal zu blasen, beschließe ich, mich
wenigstens außerhalb des Schulunterrichts abzulenken, und ich vertiefe mich in Jane Eyre und male mir meine Bertha Mason aus und
wie ich zudem Frau Ömsen erpressen könnte, falls sie die Rolle jemand anderem zugedacht hat. Ich lese die Textpassage immer wieder und krame unsere drei Filmadaptionen aus der DVD-Sammlung.
Justus, der ab und zu im Wohnzimmer vorbeischaut und sich beschwert, dass ich den Fernseher blockiere, gruselt sich. »Wieso willst
du freiwillig diese Verrückte spielen?«, fragt er und mustert mich.
»Na ja, von den Haaren her stimmt es ja schon mal.«
»Raus!«, befehle ich und deute auf die Tür.
Die vierstündige BBC-Verfilmung des Romans gefällt mir grundsätzlich am besten. Sie ist ausführlich und brillant gespielt, aber gerade die Szene mit Bertha Mason hat mir immer Kopfzerbrechen bereitet, weil sie optisch ganz und gar nicht monströs dargestellt wird,
sondern eher hübsch, fast zahm. Sie flippt zwar aus, aber das Animalische, das Charlotte Brontë so eindrucksvoll schildert, fehlt völlig.
Andererseits überlege ich, ob es nicht doch zu dem zerrissenen
Charakter passt, der mir vorschwebt. Sie ist verrückt, hat aber eigentlich kein böses Naturell – vielleicht sieht Jane nur das, was sie sehen
will? Immerhin wurde ihre Hochzeit gerade erfolgreich ruiniert.
Ich hole Justus zurück und zwinge ihn, die Szene mit mir durchzuspielen. Zunächst ist er sehr amüsiert und lacht die wilde Version
von mir selbst aus, aber als er endlich sagt: »Ich glaub, ich hab Angst
vor dir!«, weiß ich, in welche Richtung ich gehen muss.
Den ganzen Mittwoch über bin ich förmlich von Bertha Mason besessen. Frau Ömsen und Frau Beinker dürfen keinen Zweifel daran ha-
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ben, dass ich die Richtige für die Rolle bin. Zum Glück reiße ich mich
zusammen und verhalte mich nicht im Unterricht wie eine angekleidete Hyäne, und ich bleibe brav und beiße keine Schüler in den Hals.
Im Laufe der Tage schaue ich immer weniger aufs Handy, gestehe
Luisa ihren Freiraum zu und hoffe, dass sie sich fängt und weiß,
dass ich jederzeit bereit bin, mit ihr zu sprechen.
Sowohl Bengü als auch Lizzy lassen sich breitschlagen, mich am
Donnerstag nach der 8. Stunde ein zweites Mal in die Aula zu begleiten, obwohl wir von der letzten Doppelstunde Französisch Kopfschmerzen haben. (Ich liebe Sprachen, aber zu viel ist zu viel.) Mit
dem Läuten der Schulklingel hat jedoch mein Herzklopfen eingesetzt und ich spüre, wie sich das Adrenalin in meinem Körper verbreitet. Ich springe auf, fege meine Schulunterlagen lieblos in die Tasche und greife nach meiner Jacke. »Auf geht’s!«, rufe ich.
Lizzy und Bengü teilen meinen Enthusiasmus nicht, und ich habe
ihnen bereits versprochen, dass sie beim Theaterstück nicht mitmachen müssen, wenn sie nicht wollen, aber für den Fall, dass ich heute
als Bertha Mason vorsprechen darf, brauche ich seelischen Beistand.
Mein Herz sackt in die Hose, als ich grob durchzähle und feststelle, dass wir mindestens zehn mehr sind. Ich bin wohl nicht der einzige Fan von Jane Eyre, anders kann ich mir das plötzliche Interesse
nicht erklären.
Frau Ömsen hingegen ist hellauf begeistert von dem Zuwachs
und spricht sich lobend aus, dass weitere dazugekommen sind.
»Nächste Woche nehme ich noch weitere Akteure auf«, sagt sie, »in
zwei Wochen dann nicht mehr.« Frau Beinker tritt vor und hält eine
Liste hoch, aber Frau Ömsen ist nach wie vor diejenige, die redet.
»Zunächst möchte ich, dass ihr alle nach vorne kommt und euch in
die Liste eintragt – entweder direkt bei einer Figur, die euch zusagt,
oder allgemein unter ›Darsteller‹. Alternativ unter ›Produktionsteam‹. Ihr könnt euch auch gern unter mehrere Figuren schreiben.«
Frau Beinker legt die Liste vor sich auf einen Tisch, ehe Frau Ömsen
fortfährt. »Je nachdem, wie groß der Andrang ist, kann auch eine
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Person mehrere kleine Rollen besetzen. Ohne Frage verbringen Jane
und Mr. Rochester am meisten Zeit auf der Bühne und stehen im
Mittelpunkt, aber die restliche Crew ist deshalb nicht weniger wichtig – ganz im Gegenteil. Ich lege großen Wert auf hervorragende Szenen bei den Reeds, auf Lowood, bei den Rivers’, und die Szenen mit
den Ingrams müssen ebenfalls sitzen.«
Und der Albtraum Bertha Mason auf dem Dachboden sowieso, erlaube
ich mir, in Gedanken hinzuzufügen.
»Außerdem möchte ich gern Wünsche berücksichtigen, aber es
geht nicht nur darum, dass ihr euch euren Traum erfüllt, sondern
wir wollen ein gutes Stück auf die Beine stellen. Seid mir also nicht
böse, wenn wir die Rollen eventuell umdisponieren, weil wir Potenzial in euch entdecken, dessen ihr euch vielleicht noch gar nicht bewusst seid.« Ihr Augenzwinkern ist nicht zu übersehen. Das klingt ja
geradezu evangeliumsgetreu, was sie sagt. Ich hoffe nur, dass es mir
mit Bertha Mason nicht so geht wie so oft im Erdenleben: Man will
etwas, aber der Vater im Himmel hat etwas anderes vorgesehen, weil
wir mehr daraus lernen. Das Johannisbeerstrauch-Prinzip. Aber
manchmal sind unsere Wünsche ja auch gut, wie sie sind.
Die Liste liegt aus, und ich stelle mich bewusst hinten an, damit
ich gleich sehe, ob ich Konkurrenz habe. Lizzy und Bengü sind planlos, ob sie überhaupt mitmachen wollen. Bengü malt phantastisch,
und ich habe ihr bereits ans Herz gelegt, wenn sie nicht mitspielen
will, zumindest bei den Kulissen ihre Hilfe anzubieten, wenn sie die
Zeit entbehren kann. Lizzy ist sich unschlüssig. Vielleicht kann sie
die alte Grace Poole spielen, überlege ich, die Angestellte, die auf
Bertha Mason aufpasst. Damit wäre auch das Luisa-Problem gelöst:
Grace Poole ist nämlich eine hässliche alte Jungfer, und falls sich
Finn das Stück anschaut, findet er sie völlig abstoßend und flüchtet
in die Arme der Nächstbesten – nämlich Luisa, die ich dann geschickterweise an seine Seite platziert habe. Ich bin genial.
Wie zu erwarten, ist Janes Rolle heiß begehrt – neun Mädchen haben sich eingetragen. Bei Mr. Rochester ist der Andrang mit nur vier
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Jungen vergleichsweise harmlos.
Mein Herz macht einen Freudensprung – Bertha Mason ist komplett frei! Wahrscheinlich kennen zwei Drittel dieser Versager das
Buch und Berthas tragende Rolle nicht einmal, die so manches Werk
der Weltliteratur geprägt hat.
Lizzy lugt mir über die Schulter. »Trag mich bei Eliza Reed ein«,
entscheidet sie spontan, »die heißt so ähnlich wie ich.«
Was für ein unwürdiger Grund!, will ich ihr ungläubig vorwerfen,
aber ich halte mich zurück – jetzt herablassend zu werden, hat bestimmt negative Auswirkungen auf meine Zukunft in diesem Stück.
Mit Karma ist nicht zu spaßen.
»Bertha Mason, was? Spannende Rolle!«
Ich blicke auf und schaue geradewegs in die schwarzen Augen einer der Bewerberinnen für Jane. Ich kenne sie, weil sie ebenfalls in
der »Dreigroschenoper«, der letzten Produktion der Theater-AG,
mitgespielt hat. Aber selbst wenn sie das nicht getan hätte – man
kennt sie einfach. Viktoria »Vicki« Greiser aus dem 11. Jahrgang ist
Schulsprecherin, das beliebteste Mädchen der Schule und obendrein
bildschön. Ich bin der Meinung, dass die Theater-AG ihr zuliebe
»Schneewittchen« von den Gebrüdern Grimm inszenieren sollte,
denn sie sieht genauso aus, wie man sich die Märchenfigur vorstellt:
lange schwarze Haare, blasse Haut, dunkelrote Lippen, die sie, wie
mir scheint, nicht einmal groß mit Lippenstift hervorhebt.
Es ist faszinierend, wie viel Ausdruck Vicki beim Theaterspielen
gerade durch ihre Mimik an den Tag legt, denn im echten Leben hat
sie eigentlich nur einen einzigen Gesichtsausdruck – einen eindringlichen Blick und ein mattes Lächeln, und man kann sich leider nie sicher sein, ob sie die Existenz ihres Gegenübers billigt oder ob sie ihn
bei nächster Gelegenheit vernichten wird. Jedenfalls war ich schlau
genug, mich nie mit ihr anzulegen, andererseits gehöre ich auch
nicht zu der Sorte Mädchen, die irgendetwas mit jemandem wie
Vicki Greiser zu tun hätte. Um zu ihrer Clique zu gehören, bin ich
nicht schön und beliebt genug, glücklicherweise bin ich jedoch auch
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nicht hässlich und unbeliebt genug, um von ihr tagtäglich im Gang
und auf dem Pausenhof gedemütigt zu werden.
Nun fürchte ich aber, sie eine Sekunde zu lang angestarrt zu haben, und schnell lege ich den Stift hin, nachdem ich Lizzys Namen
auf die Liste geschrieben habe.
»Bertha fasziniert mich«, sage ich, »die Rolle ist klein, aber anspruchsvoll, und sie reizt mich.« Ich weiß nicht, ob mein Auftritt zu
selbstbewusst rüberkam, aber da Vickis Gesichtsausdruck sich nicht
verändert hat, könnte ich ohnehin unmöglich erkennen, ob ihr gefällt, was ich von mir gebe, oder nicht.
»Wer weiß, vielleicht bilden wir ja Mr. Rochesters erste und zweite Frau«, sagt Vicki, wendet sich ab, und ich bekomme eine Gänsehaut bei diesem eingemeißelten Lächeln.
»Ja … vielleicht«, erwidere ich.
»Ach, was würde ich nicht geben, um mit der befreundet zu
sein«, flüstert Lizzy mir ins Ohr, »ich fürchte, ich würde dich und
Bengü glatt verkaufen.«
Ich blicke Vicki hinterher. Sie unterhält sich mit Milo aus ihrem
Jahrgang. Er hat das Moritat von Mackie Messer im Vorspiel der »Dreigroschenoper« gesungen und mich damit tief beeindruckt, so klein
die Rolle auch gewesen sein mag. Nun hat er sich für die Rolle des
Mr. Rochester beworben, und ich muss sagen: Von den Knaben, die
sich hier eingeschrieben haben, passt er wohl am besten. Ich würde
ihn mit seinen recht harten und kantigen Zügen nicht als ParadeSchönling bezeichnen, aber mit gefallen die dunklen und irgendwie
sanftmütigen Augen, und auch aufgrund seiner recht großen Statur
kann ich ihn mir sehr gut als Mr. Rochester vorstellen.
Lizzys irrsinnige Worte haben mich schließlich erreicht und ich
drehe mich entrüstet zu ihr um. »Mich verkaufen? Für Schneewittchen?« Ich senke die Stimme – hoffentlich hat sie mich nicht gehört,
denn sonst verwandelt sich Schneewittchen bestimmt in die Stiefmutter und lässt ausnahmsweise mich in den glühenden Pantoffeln
bis zum Tode tanzen. Aber sie unterhält sich weiterhin angeregt mit
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Milo und, wie sollte es anders sein, lächelt dabei.
»Die Frau hat jeden im Griff«, meint Lizzy. »Wen sie als Freund
haben will, der wird ihr Freund, was sie sich vornimmt, erreicht sie,
wen sie vernichten möchte, den vernichtet sie. Genau die Art von Leben, die ich mir immer gewünscht habe. Du und ich können viel von
ihr lernen, Molly.«
»Du meinst also, sie wird ihre acht Konkurrentinnen um die Rolle
der Jane bis nächste Woche alle entsorgt haben?«, frage ich.
»Ja«, sagt Lizzy, und ich fürchte, sie meint es sogar ernst.
Tatsächlich findet das Vorsprechen für Jane und für Mr. Rochester
erst nächsten Donnerstag statt. Heute soll uns die Grundidee des
Stückes vermittelt werden, und – wer möchte – darf gern zeigen, was
er vorbereitet hat.
»Niemand?« Frau Ömsen schaut erwartungsvoll in die Runde.
Bestimmt bin ich nicht die Einzige, die darauf brennt, aber die
Erste … ? Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich habe so gut wie
keine Schauspielerfahrung – und vielleicht habe ich ja auch gar kein
Talent. Plötzlich befürchte ich, wie eine dieser grottenschlechten
Pseudo-Sängerinnen zu sein, die sich durch sämtliche Castingshows
hangeln in der Hoffnung, endlich entdeckt zu werden, aber von jeder Jury böse niedergemäht werden, weil sie, realistisch betrachtet,
völlig talentfrei sind und es nicht erkennen wollen.
Erfreulicherweise werden wir von exakt einer solchen Situation
Zeuge, als Lillian Heidel aus der 9. sich anbietet, uns ihre Blanche Ingram zu präsentieren. Ich habe Blanche Ingram – an der Mr. Rochester Interesse bekundet, die man als Leser aber eher verachtet, weil sie
sich immerhin den Mann angeln will, der für Jane vorbestimmt ist –
nie als schönes Dummchen wahrgenommen. Natürlich reicht ihr
Verstand nicht an Janes heran, aber es wäre herablassend, sie als
blöd zu bezeichnen, weil sie in reichen Verhältnissen herangewachsen ist und einfach ein anderes Leben kennt als Jane. Ganz im Gegenteil, ich glaube, sie ist durchaus klug, weshalb Mr. Rochester den
Gedanken, sie zu heiraten, vermutlich nicht völlig ablehnt; aber
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Blanche verhält sich kaltschnäuzig und habgierig, was ich als ihr
Verhängnis interpretiere – nicht einen zu geringen IQ.
Lillian spielt aber genau das – ein strunzdummes Supermodel,
das sich über die Bühne bewegt wie über den Laufsteg und hier und
da eine Zeile aus dem Buch fallen lässt. Mein Fremdschämen war nie
größer, auch wenn ich mir immer wieder sage: Die anderen werden genau das über dich denken, was du gerade über dieses arme Mädchen denkst!
Leider ist das mit dem Stolz so eine Sache. Ich sehe, wie Lizzy
und Bengü die Augen weit aufgerissen haben; Lizzy hält eine Hand
vor den Mund, damit man ihr Grinsen nicht sieht. Vickis Lächeln
hingegen hat sich nicht verändert. Ich merke aber, dass ich immer
peinlicher angerührt bin von dem Auftritt.
»Oh, Mr. Rochester«, haucht Lillian einen Stuhl an und deutet auf
einen weiteren Stuhl, der wohl Mr. Rochesters Ziehkind Adèle Varens darstellen soll, »ich glaubte, dass Sie kein Freund von Kindern
seien!« Sie spitzt die Lippen und haucht die Worte, als wolle sie den
Stuhl augenblicklich verführen.
Wir sind höflich und klatschen, als die Vorstellung zu Ende ist.
Frau Ömsen schaut freundlich. »Danke, Lillian, für diese … recht interessante Interpretation!« Sie sieht sich um. »Noch jemand?«
»Nun geh schon!«, sagt Bengü. »Egal wie es wird, das eben
kannst du an Schlechtigkeit niemals überbieten!«
»Danke, du machst mir Mut …«, entgegne ich zähneknirschend.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, aber gleichzeitig merke ich,
dass ich ruhig werde, weil ich das Gefühl kenne – ich habe es schon
vor Ansprachen und Referaten verspürt. Es ist Lampenfieber – keine
Todesangst. Ich spüre, dass ich zeigen möchte, was ich einstudiert
habe, dass die Mühe nicht umsonst gewesen sein soll.
Ich will die Hand heben, als ich die Vibration meines Handys
vernehme. Schnell krame ich es aus meiner Tasche und werfe einen
Blick auf das Display: Luisa.
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6
V
on klein auf wird uns die Bedeutung der Entscheidungsfreiheit
förmlich eingetrichtert. Sie bildet die Grundlage unserer Existenz – alles im Plan Gottes fällt darauf zurück, dass wir unseren eigenen Weg wählen, auch wenn Jesus Christus uns die Pforte geöffnet
und die Option ermöglicht hat, zum Vater im Himmel zurückzukehren.
An manchen Tagen wäre mir der Plan des Satans gar nicht unrecht. Es ist gut, dass ich eigene Entscheidungen treffen kann, aber
manchmal ist mir das zu anstrengend, und ich wünschte, jemand
würde mich einfach in die richtige Richtung zerren.
Präsident James E. Faust sagte einmal: »Manchen Menschen fällt
es schwer, Entscheidungen zu treffen. Ein Psychiater fragte einmal
einen Patienten: ›Fällt es Ihnen manchmal schwer, zu einem Entschluss zu kommen?‹ Der Patient erwiderte: ›Also, ja und nein.‹«
Mir gefällt das Beispiel, weil es mir so bekannt vorkommt. Ich stehe mir bei Entscheidungen oft selbst im Weg.
Präsident Faust fuhr fort und sagte: »Wie treffen wir richtige Entscheidungen? Mit einer Entscheidung geht ein bewusster Entschluss
einher. Um eine intelligente Entscheidung zu treffen, müssen wir alle
bekannten Fakten und Aspekte einer Angelegenheit abwägen. Doch
das reicht nicht aus. Richtige Entscheidungen erfordern Gebet und
Inspiration.«
Daran möchte ich von ganzem Herzen glauben – aber was ist mit
Blitzentscheidungen? Entscheidungen, die sofort gefällt werden müssen? Bei denen keine Zeit bleibt, sich hinzuknien oder gemeinsam
mit der Familie zu fasten?
Ich starre auf das Handy in meiner Hand. Seit Tagen sehne ich
mich danach, dass Luisa mit mir sprechen will, nun ist es so weit,
und ich will gerade der Theater-AG zeigen, was ich vorbereitet habe.
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Normalerweise wäre es kein Problem, Luisa wegzudrücken und in
einer halben Stunde zurückzurufen, aber angesichts ihres gebrochenen Herzens und einer Funkstille von drei Tagen – länger als jemals
zuvor in unserer Freundschaft –, weiß ich nicht, was die richtige Entscheidung ist.
Lizzy, die mir gerade erst gestanden hat, dass sie Bengü und mich
verkaufen würde, um mit dem schönsten und beliebtesten Mädchen
der Schule befreundet zu sein, macht sich heute gut als Reinkarnation Luzifers: Sie nimmt mir die Entscheidung ab, indem sie mir das
Handy aus der Hand reißt, mich zwei Schritte nach vorn schubst
und ruft: »Molly hat etwas vorbereitet!«
Frau Ömsen sieht auf ihre Liste und schaut mich erwartungsvoll
an. »Bertha Mason«, sagt sie, »ich bin gespannt!«
Und ich erst.
Ich möchte gern einen Vortrag über Bertha halten und was ich in
ihrem Charakter sehe und rüberbringen möchte, aber ich weiß, dass
die anderen ohnehin nur Blut lechzen und sehen wollen, was ich zu
bieten habe, insbesondere nach Lillians grotesker Darstellung von
Blanche Ingram, die bei allen für unterdrücktes Gelächter gesorgt
hat.
»Da Bertha nicht spricht und viel durch Körpersprache geschieht,
bräuchte ich zwei Freiwillige, die kurz Jane und Mr. Rochester übernehmen … und vielleicht noch eine Grace Poole.« Richard Mason,
Berthas Bruder, spielt in der Szene ebenfalls keine unbedeutende
Rolle, aber für meine Demonstration brauche ich ihn nicht.
Ich könnte es natürlich Lillian gleichtun und mit Stühlen interagieren, und so reizvoll der Gedanke ist, wie eine Bekloppte einen
Stuhl anzuspringen und von einem anderen Stuhl zurückgehalten zu
werden, ist es mit Menschen doch erheblich unkomplizierter.
Frau Beinker betritt sofort die Bühne und ist bereit, die Rolle von
Grace Poole zu übernehmen; Frau Ömsen winkt Vicki und Milo als
Jane und Mr. Rochester heran.
Frau Beinker stellt sich vor einen Stuhl und tut so, als würde sie
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kochen. Ich hocke mich abseits und schließe die Augen. Die Bühne
ist leer, aber ich lasse das dunkle Dachbodenzimmer von Thornfield
Hall vor meinem inneren Auge lebendig werden: vermoderte Möbel,
zerrissene Teppiche und Vorhänge, die die Wände bedecken, eine
einzelne Lampe, deren Kerzenschein das Zimmer nur dürftig erleuchtet. Ein kleiner Herd, vor dem Grace Poole steht und etwas vorbereitet.
»Guten Morgen, Mrs. Poole«, sagt Milo, »wie geht es Ihnen? Wie
steht es heute mit Ihrer Schutzbefohlenen?«
Er ist vorbereitet. Ich bin zutiefst beeindruckt, wie sehr sich Milo
mit dem Roman auskennen muss, wenn er auf Anhieb weiß, wie sein
Text lautet, denn sicher konnte er sich auf eine so große Rolle wie
Mr. Rochester nicht in dem Maße vorbereiten wie ich auf die kurze
Szene mit Bertha Mason.
Ich darf mich nicht ablenken lassen!, ermahne ich mich selbst. Das ist
nicht Milo, das ist Edward. Genauso wenig wie dort Frau Beinker
und Vicki stehen, sondern Grace und die Frau, die ich hasse … die Frau,
die mir Edward genommen hat.
Ich blende aus, was vor mir gesagt wird. Ich kauere mich auf den
Boden und schaukele mit dem Oberkörper ein wenig vor und zurück, fast unmerklich, dass es nicht allzu lächerlich aussieht. Ich
muss mich selbst daran erinnern, dass ich – Molly – harmlos aussehe: Ich bin weder grotesk geschminkt, noch sind meine Haare verfilzt (jedenfalls nicht mehr als sonst), ich trage keine verweste, zerfetzte Kleidung.
Edward kommt auf mich zu. Es ist lange her, dass er mich besucht hat. Ich verfluche ihn, weil er nie herkommt, aber sehne mich
gleichzeitig nach ihm. Langsam bewege ich mich auf ihn zu und
richte mich dann auf. Ich ignoriere das Gebrabbel von Grace und
starre Edward in die Augen. Seine Lippen bewegen sich, aber ich
höre nicht, was er sagt. Als ich einen schnellen Schritt auf ihn zugehe, stellt er sich schützend vor jemanden – jetzt erst nehme ich sie
wahr. Sie schaut nicht ängstlich, nur völlig fassungslos, als begreife
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sie nicht, was gerade vor sich geht. Sie ist ganz in Weiß gekleidet.
Nein, es ist nicht nur ein weißes Kleid. Ich sehe den Schleier. Sie trägt
einen Brautschleier.
Ich schaue kurz zu Edward, dann zu ihr. Ein greller Schrei entweicht mir, wie ich ihn noch nie in meinem gesamten Leben von mir
gegeben habe. Edward und sie zucken sichtlich zusammen, dann
stürze ich mich auf sie. Edward hält mich fest; für einen kurzen Augenblick sind unsere Gesichter nur wenige Zentimeter auseinander.
Ich fletsche die Zähne und will mich mit aller Macht losreißen, als er
zu lachen beginnt.
»Wow, du bist gut«, sagt Milo, »ich glaube, ich bräuchte doch jemanden, der Richard Mason spielt und mir hilft, dich zu bändigen.«
Ich fange mich und sehe zu den anderen. Ich ernte Applaus, nicht
so tosend, wie ein angehender Theaterstar es verdient, aber auch bei
weitem nicht so halbherzig wie bei Lillian. Ein noch größerer Höhepunkt für mich ist jedoch Vicki, deren Augen nach wie vor aufgerissen sind – sie muss tatsächlich einen Schreck bekommen haben. Ihr
Lächeln ist gestorben – wer kann schon von sich behaupten, es sei
ihm gelungen, Vicki ihren Gesichtsausdruck aus Stein zu rauben?
Ich hüpfe schnell von der Bühne und flüchte in Lizzys Arme.
»War es sehr lächerlich?«, frage ich vorsichtig. »Und bitte sei
ehrlich!«
»Also, ich musste anfangs schon grinsen«, gesteht Lizzy, »einfach,
weil du wirklich wie eine völlig Bekloppte gewirkt hast … aber dann
dieser Aufschrei … ich hab direkt eine Gänsehaut bekommen!«
Ich fühle mich phantastisch und vor allem erleichtert. »Selbst
wenn sie mir die Rolle nicht gibt, war es das wert«, sage ich – und
meine es. Ja, ich will Bertha Mason spielen, aber allein das Erlebnis,
einmal gezeigt zu haben, was in mir steckt und wozu ich imstande
bin, erfüllt mich mit tiefster Befriedigung.
Die restliche Zeit vergeht im Fluge. Kein anderer möchte vor allen
etwas vorspielen, und wir werden in kleinere Gruppen geteilt; Frau
Ömsen und Frau Beinker führen Gespräche mit weiteren potenziel-
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len Darstellern; wir skizzieren, wie wir uns die Inszenierung vorstellen. Wir haben die vorläufige Aufteilung der Szenen erhalten; Bengü
hat Feuer gefangen und überlegt, wie man ein riesiges, düsteres Anwesen wie Thornfield Hall glaubhaft auf eine Schulbühne bringen
kann.
Ich schaue verstohlen auf mein Handy und stelle gefrustet fest,
dass Luisa zweimal versucht hat, mich anzurufen. Zwanzig Minuten
noch, diszipliniere ich mich und hoffe, dass sich Luisa noch ein bisschen in Geduld üben kann.
Ganz besonders eifrig bei der Sache ist Vicki, deren Ideen sich auf
Jane selbst beschränken, und es besteht kein Zweifel daran, dass sie
für Frau Ömsen bereits die Entscheidung gefällt und sich die Rolle
gegeben hat. Fröhlich schnatternd an ihrer Seite stehen ihre besten
Freundinnen Samira und Kathrin, leider genauso hübsch, bestätigen
ganz klischeehaft jeden Kommentar von Vicki und bekräftigen alles,
was sie sagt, indem sie es (Wort für Wort) wiederholen.
Ebenfalls bei ihnen, wenn auch einen Schritt abseits, steht Milo
mit verschränkten Armen. Jetzt, wo ich ihn neben Vicki sehe, wird
mir bewusst, wie ähnlich sich die beiden sehen – Vicki ist zwar ein
ganzes Stück kleiner und hat mehr meine Körpergröße, aber sowohl
die helle Porzellanhaut, als auch die schwarzen Haare und dunklen
Augen stimmen überein. Ob sie in Wirklichkeit Vampirgeschwister
sind? Ist ja alles schon vorgekommen.
Frau Ömsen entlässt uns. Ich möchte mich gerade zügig von Lizzy und Bengü verabschieden, damit ich mich endlich der vertrackten
Situation mit Luisa widmen kann, als ich meinen Namen höre. Vicki
lächelt mich an, Samira und Kathrin beäugen mich eher skeptisch.
»Wir gehen noch etwas trinken, um unsere Ideen ein wenig auszuführen«, sagt sie. »Vielleicht möchtest du mitkommen? Du scheinst
dich mit der Materie gut auszukennen.«
Ich brauche Lizzy nicht anzusehen, um zu spüren, wie sie neben
mir vor Neid erblasst. Ich weiß auch genau, was sie denkt: Das ist ein
Angebot, das man nicht ablehnt. Es ist auch keine Einladung, son-
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dern eine Tatsache, eine Option ohne Alternative, wenn ich mir
Vickis Gunst anlachen möchte, wobei ich vermute, dass sie lediglich
von meinem Wissen über Jane Eyre profitieren will – an mir als
Mensch ist sie wohl kaum interessiert, geschweige denn als Freundin.
»Ich bin schon verabredet«, erwidere ich, »aber danke der Nachfrage. Ein andernmal gern.«
Vicki lächelt weiterhin, während sie mich von oben bis unten
mustert. »Das ist schade«, sagt sie. »Es wäre sicher nett gewesen, ein
wenig zu plaudern, und deine Bertha und meine Jane ein wenig zusammenzuführen.«
Ich habe keinen blassen Schimmer, was um alles in der Welt in
mich fährt, dass ich das denkbar Dämlichste von mir gebe, was mir
in dieser Situation jemals über die Lippen kommen könnte: »Noch ist
es nicht deine Jane.« Kaum habe ich es ausgesprochen, beiße ich mir
auf die Lippe, und mir wird bewusst, was ich da gesagt habe. Ich
wusste selbst nicht, dass meine Todessehnsucht so groß ist. Neben
mir schnappt Lizzy hörbar nach Luft.
Und zum ersten Mal sehe ich eine Veränderung in Vickis Gesicht,
und das, obwohl ihr Lächeln trotz allem nicht versiegt – aber der
Funke Freundlichkeit in ihrem Blick ist verschwunden und einer
durchdringenden Eiseskälte gewichen. Das war’s wohl: Ich werde
sterben müssen. Vermutlich durch einen Vampirbiss.
Milo rettet mich allerdings, als er zu lachen beginnt. »Wo sie recht
hat, hat sie recht«, frotzelt er.
Vicki wendet sich von mir ab. »Komm, wir gehen«, meint sie zu
Milo und ihren beiden Freundinnen und würdigt mich keines weiteren Blickes.
Lizzy explodiert und möchte mich nach ihren weit aufgerissenen
Augen zu urteilen am liebsten durchschütteln und mir dabei immer
wieder eine scheuern, aber ich habe keine Zeit dafür. »Ich muss mit
Luisa sprechen«, sage ich.
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»Endlich!«, meldet sich Luisa. »Wo warst du denn nur?«
»Ich hatte doch Theater-AG«, sage ich und bemühe mich, es nicht
als schlechtes Omen zu deuten, dass meine beste Freundin vergessen
hat, was mich die ganze Woche (abgesehen von ihr und Finn) beschäftigt hält.
Luisa schweigt für einen Augenblick. »Das ist mir tatsächlich völlig entfallen«, sagt sie dann. »Ach Molly, ich … treffen wir uns?«
Die Haltestelle befindet sich direkt bei der Schule. »Ich kann in
drei Minuten in der Stadt sein«, erwidere ich. Wenig später steige ich
nicht in die U-Bahn Richtung daheim, sondern Richtung City.
Wir umarmen einander nicht übermäßig lang, aber sehr innig. »Es
tut mir leid, dass ich zu beschäftigt mit mir war, um dich in deinen
Vorbereitungen auf Bertha zu unterstützen«, sagt Luisa.
»Nun mach dir keinen Kopf deswegen«, entgegne ich. »Hauptsache, dir geht es besser … und alles normalisiert sich.«
Ich frage sie nach ihrem Gemütszustand, aber sie besteht darauf,
dass ich zuerst von der Probe berichte, und ausführlich erzähle ich
von meinem Auftritt und wie ich mir Vicki zur Feindin gemacht
habe. »Ich verstehe nicht, was Milo an ihr findet«, ist mein Fazit. »Er
wirkt immer so nett und zuvorkommend … das müssen die Vampirgene sein.«
Luisa stößt mich an. »Klingt ein wenig so, als würdest du ihn gern
mal zubeißen lassen«, lacht sie.
»Solange er nicht das Priestertum Gottes trägt, läuft da schon mal
gar nichts«, wehre ich mit hochrotem Kopf diese impertinente Anschuldigung ab. »Und nun erzähl gefälligst von dir.«
»Finn hat mich angeschrieben«, berichtet sie daraufhin mit leuchtenden Augen.
»Ehrlich?«, staune ich, aber sie hat ihr Handy bereits gezückt und
zeigt mir die SMS. Es ist recht kurz und bündig, und er fragt nach
morgen Abend, weil er ja wieder bei Dominik ist, und ob »wir alle«
etwas machen wollen oder nicht.
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Luisa ist außer sich vor Freude. »Und das, obwohl du das letzte
Woche auf die Beine gestellt hattest – und obwohl du Lizzy angeschleppt hast. Das ist ein gutes Zeichen, oder?«
»Auf jeden Fall!«, sage ich – ehe mir einfällt, dass Finn ja denkt,
dass ich was von ihm will. Deshalb hat er auch Luisa angeschrieben
– hielt er für gefahrloser. Was soll ich ihr nur sagen? Kaum nachdem
mir die Entscheidung, ob ich als Bertha auf die Bühne stürmen oder
mit Luisa telefonieren soll, bequemerweise von Lizzy abgenommen
wurde, folgt die nächste Blitzentscheidung, die ich nun wohl wirklich selbst treffen muss: Sag ich Luisa, was Sache ist, nachdem es ihr
endlich wieder gutzugehen scheint? Oder lasse ich ihr die Hoffnung
– denn selbst wenn Finn sein Glück noch nicht erkannt hat, vielleicht
entwickeln sich noch Gefühle? Vater im Himmel, wieso hängt Luisas
ewiges Glück eigentlich von mir ab?
Ich bringe es nicht übers Herz, das ihre erneut zu brechen. »Was
hast du ihm geantwortet?«, frage ich daher. »Habt ihr was ausgemacht für morgen Abend?«
Wie mir Luisa berichtet, hat Dominik vorgeschlagen, dass wir alle
zu ihm kommen und gemeinsam einen Film schauen oder ein paar
Spiele spielen, was ich für eine gute Idee halte, denn je intimer die
Atmosphäre ist, desto besser die Chancen, einander kennenzulernen.
»Du kannst ja Vicki dazu einladen«, schlägt Luisa verschmitzt
vor, woraufhin ich Würggeräusche von mir gebe, »oder Milo.«
Der Gedanke sagt mir schon eher zu, aber irgendetwas kann mit
Milo nicht stimmen, wenn er sich freiwillig mit Vicki abgibt. Ob sie
gar keine Vampirin ist, sondern eine Hexe, die ihn verflucht hat? Ja,
ich kann sie mir sogar sehr gut vorstellen, wie sie vor dem Kessel mit
der grünen, köchelnden Brühe steht und Puppen von Mitschülern
hineinwirft. Ab und zu durchbricht ein gehässiges Lachen die Stille,
bevor ihr Gesicht wieder zu einem eisigen Lächeln erstarrt, und sie
ergötzt sich daran, erneut eine Existenz zerstört zu haben.
»Hör auf, schlecht über Vicki zu denken«, mahnt Luisa mich.
»Du kennst mich zu gut«, sage ich. Bleibt zu hoffen, dass sie mir
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eines Tages meine Notlüge von heute Nachmittag verzeihen wird.
Als ich abends vor meinem Bett knie und den Tag Revue passieren
lasse, bekunde ich tiefe Dankbarkeit für meinen Auftritt als Bertha
Mason, äußerste Verachtung für Vicki Greiser und große Verwirrung
über die Situation mit Luisa. Ich versuche zu erkennen, ob es in Ordnung war, dass ich ihre Gefühle geschont habe, oder ob ich alles
noch schlimmer gemacht habe. Ätzende Entscheidungsfreiheit.
Ich stelle mir vor, wie ich im Vorherdasein, nachdem die beiden
Pläne offen dargelegt wurden, meine Hand hob. »Molly, kann das
vielleicht warten?«, fragte der Vater im Himmel sehr liebevoll, aber
mit energischem Unterton. (Wobei ich damals natürlich noch nicht
Molly hieß, sondern sicher Geistkind #58848212 oder so.)
»Wie wäre ein Kompromiss?«, habe ich sicherlich vorgeschlagen.
»Wir nehmen den Erlösungsplan, aber wenn das Entscheiden zu anstrengend ist, wird es uns abgenommen? Das klingt einfach logischer, finde ich.«
Totenstille, dann haben ein paar geklatscht, dann immer mehr,
dann schließlich ein tosender Applaus. Ein Klopfen auf meine Geistschulter von den Geistern rings um mich.
Ich verwerfe den Gedanken und verkrieche mich in mein Bett,
ohne das Gebet zu einem anständigen Ende gebracht zu haben, und
warte darauf, dass ich einschlafe und nicht mehr daran denken
muss.
Ich wache weit vor dem Klingeln des Weckers auf und bin so rechtzeitig fertig, dass ich ausgiebig frühstücken könnte, wenn ich Appetit hätte. Mama steht im Bademantel in der Küche und schmiert für
Sophie, Justus und mich Lunchpakete.
Mama begrüßt mich munter, und ich setze mich an den kleinen
Küchentisch und schiebe Marmeladengläser hin und her.
»Irgendwelche aufregenden Wochenendpläne?«, fragt Mama.
»Spieleabend bei Dominik«, sage ich lustlos.
Mama sagt nichts. Ich weiß, sie spürt, dass etwas nicht stimmt,
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aber sie drängt mich nicht zum Reden. Das hat sie nie getan, auch
wenn ich immer gewusst habe, dass ich jederzeit über alles mit ihr
sprechen kann.
»Wie weiß ich, ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist?«,
platzt es aus mir heraus. »Wie fühlt sich das an?«
Mama legt das Messer hin und wendet sich mir zu. »Was meinst
du denn, wie es sich anfühlen müsste?«, fragt sie.
»Wenn sie richtig ist, sollte sie sich richtig anfühlen. Wenn sie
falsch ist, sollte ich ein schlechtes Gewissen haben. Aber manchmal
… hab ich irgendwie beides.«
»Inwiefern fühlt es sich richtig an?«
»Ich habe die Gefühle von jemandem nicht verletzt.«
»Und inwiefern falsch?«
»Ich war nicht hundertprozentig ehrlich. Also, ich habe nicht gelogen … aber eben auch nicht alles gesagt.«
Mama setzt sich zu mir. Zum ersten Mal, seitdem ich von ihrer
Schwangerschaft weiß, nehme ich wahr, dass sie die Hände auf den
Bauch gelegt hat, wenn vielleicht auch nur unbewusst. »Was ist stärker?«, fragt sie. »Das richtige Gefühl oder das schlechte Gewissen?«
»Das schlechte Gewissen«, sage ich sofort. Ich schaue zur Seite,
damit Mama nicht sieht, wie mir die Tränen in die Augen steigen.
»Luisa und ich sagen uns doch alles … ich hab nur so Angst, dass sie
traurig ist und ich sie nicht trösten kann.«
Ich spüre Mamas Hand auf meiner. »Glaubst du, der Vater im
Himmel erwartet richtige Entscheidungen von uns und bestraft uns
dann dafür? Selbst wenn es danach aussehen könnte, ist dem nie so.
Vertrau ihm ein bisschen.« Sie steht auf und gibt mir einen Kuss auf
die Wange. »1 Nephi 3:7 stimmt wirklich.«
Bevor ich mich zur Schule aufmache, schreibe ich Luisa eine SMS
und frage sie, ob wir uns früher treffen können. Okay, ich will dir vertrauen, Vater im Himmel, denke ich, bitte lass Luisa mich dafür nicht hassen …
72
7
A
ls Julia ihren ersten JD-Unterricht mit uns durchführte, war ich
von ihrem souveränen Auftreten beeindruckt. Es war ihre erste
Berufung in Frankfurt; sie hatte erst zwei Wochen zuvor aus beruflichen Gründen ihre Heimatstadt Berlin verlassen müssen – neue Umgebung, neue Kollegen, neue Gemeinde und gleich eine Berufung als
JD-Leiterin, das war alles bestimmt ein großer Stressfaktor. Aber sie
ließ sich nichts anmerken und vermittelte uns von Anfang an ein Gefühl, das zwischen »Ihr habt ja noch gar keine Ahnung, wie sehr ich
euch lieben werde!« und »Wer mir auf den Keks geht, muss leiden!«
lag.
Sie heftete ein großes Poster an die Tafel, auf dem ein Schlüssel zu
sehen war. »Was ist die Lösung für alles?«, fragte sie. »Der Schlüssel,
der jedes Problem löst?«
Wir sahen einander ratlos an. »Jesus Christus?«, fragte Sophie
dann verunsichert.
Julia überlegte kurz. »Wodurch hat Christus denn jedes Problem
lösen können?«, hielt sie Sophie dann entgegen.
Als niemand antwortete, stellte sie eine andere Frage: »Welche
beiden Gebote benannte Christus als die wichtigsten?«
Nun ging uns langsam ein Licht auf. »Gott lieben und unseren
Nächsten lieben wie uns selbst«, sagte Fiona.
»Nennt mir mal ein paar Figuren aus den heiligen Schriften, die
trotz großen Leids – oder gerade deswegen – Nächstenliebe in ihrem
Herzen hatten!«, forderte Julia uns auf.
Nach und nach fielen Namen wie Josef aus Ägypten, der seinen
Brüdern freimütig vergab, obwohl sie ihn so schlecht behandelt hatten; Nephi, der seinen störrischen Brüdern ebenfalls immer wieder
eine Chance gab; die Söhne Mosias, die sich ins Land ihrer Feinde
begaben, weil deren Errettung ihnen so sehr am Herzen lag; Königin
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Ester, deren Liebe zu ihrem Volk letztlich der Auslöser war, dass sie
ihr eigenes Leben aufs Spiel setzte.
Julia las uns Moroni 7:48 leicht abgewandelt vor: »Darum betet
mit der ganzen Kraft des Herzens zum Vater, dass ihr von dieser Liebe erfüllt werdet, die er all denen zuteilwerden lässt, die wahre
Nachfolger seines Sohnes Jesus Christus sind; damit ihr Töchter Gottes werdet.« Emphatisch klappte sie das Buch zu. »Ich möchte, dass
ihr überlegt, was für Situationen ihr gerade durchmacht, die sich
besser ertragen lassen könnten, wenn ihr mehr Nächstenliebe in eurem Herzen verspüren würdet!«, fuhr sie fort. »Und wir wollen heute etwas Handfestes erarbeiten.« Sie gab jedem einen Zettel und
einen Stift. »Schreibt euch die Situation auf und notiert euch 1.) was
ihr tun wollt und 2.) wann ihr es tun wollt!«
Während die anderen froh und munter loskritzelten, wollte mir
nicht so richtig etwas einfallen. Aber ich mochte Julias Ansatz, ein
Problem anzupacken, anstatt nur darüber zu klagen, was eine meiner vielen Unarten ist. In den vergangenen Monaten fiel mir dieser
Unterricht immer mal wieder ein, wenn ich auf jemanden wütend
war oder schlechte Gefühle anderer Art hatte, und ich stellte mir
dann vor, was ich wohl dazu in Julias Unterricht notiert hätte und ob
es mir gelungen wäre, das Problem so in den Griff zu bekommen.
Das Gespräch mit meiner Mutter heute morgen hat mir Trost gegeben, wenngleich nicht völlig die Anspannung genommen, aber ich
habe gleich die erste Schulstunde genutzt und mir aufgeschrieben,
was mich derzeit beschäftigt und wie ich es bewältigen will.
Problem 1: Ich möchte mit Luisa noch mal ganz offen über alles
sprechen, auch wenn es ihr das Herz brechen sollte. Aber keine
Schwindeleien mehr. Eben weil sie mir so am Herzen liegt. Zeitpunkt: Heute Nachmittag.
Problem 2: Ich bin total angenervt von Finn, dabei hat der Arme
ja eigentlich nichts Unrechtes getan – ich möchte ihn halt zu seinem
Glück zwingen. Aber ich muss ihm gegenüber mehr Nächstenliebe
ausüben und darf ihn nicht für die Situation verantwortlich machen.
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Zeitpunkt: Noch heute Abend bemühe ich mich darum.
Problem 3: Ich hab etwas ziemlich Dummes zu Vicki Greiser gesagt und nun hasst sie mich vermutlich. Bei ihr ist die Lage noch etwas komplizierter, weil sie ganz offensichtlich von einem Dämon besessen ist und das Universum vernichten möchte, aber ich muss
trotzdem einen Weg finden, mich ihr gegenüber nett zu verhalten.
Das heißt ja nicht, dass wir gute Freundinnen werden müssen – nur
miteinander auskommen, das wäre gut, gerade auch angesichts dieses Theaterstücks, das mir sehr viel bedeutet. Zeitpunkt: Donnerstag
bei der Probe. Ich muss einen Weg finden, wie ich freundlich sein
kann, ohne dass es als Geschleime rüberkommt. Und es wäre auch
hilfreich, wenn ich aufrichtig freundlich bin.
Ich bin zufrieden mit den Zielen für die nächste Woche (auch
wenn sie mich die Aufmerksamkeit im Unterricht gekostet haben).
Nächstenliebe, hier komme ich!
Es ist wärmer geworden und der Schnee ist innerhalb von zwei Tagen dem Dauerregen zum Opfer gefallen, heute ist es jedoch ein wenig klarer und die milde Temperatur hat Luisa und mich veranlasst,
ein bisschen durch die Stadt zu schlendern und so zu tun, als hätten
wir Geld und könnten uns neu einkleiden, und zwar in Größen, die
uns eigentlich nicht passen.
Es gelingt mir irgendwie, unverkrampft zu sein. Ich denke an die
kleine Funkstille von vergangener Woche und sträube mich davor,
sie zu wiederholen, aber mir geht auch Mamas Rat nicht aus dem
Kopf, dass der Vater im Himmel uns einen Weg bereitet, wenn wir
das Richtige tun wollen. Letzten Endes wird Rechtschaffenheit immer belohnt, und ich will daran glauben, dass Gott mich nicht im
Stich lässt und mir hilft, die richtigen Worte zu finden.
Wir sind im Kaufhaus und blödeln herum, und ich will die heitere Stimmung nicht kaputtmachen, aber ich merke, wie ich mich auf
kaum etwas anderes konzentrieren kann als das bevorstehende Gespräch. Luisa steht gerade vor dem Spiegel und bewundert sich in ei-
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nem blauen Pullover, der ihr tatsächlich sehr gut steht. Sie scheint
das ebenso zu sehen, denn sie wirkt zufrieden. Diese Gelegenheit
sollte ich nutzen.
»Luisa, auch auf die Gefahr hin, dass der Abend komplett ätzend
wird, aber ich muss dir etwas sagen«, entfährt es mir und ich verziehe das Gesicht zu einer ängstlichen Grimasse.
Luisa schaut mich durch den Spiegel erstaunt an. »Alles in Ordnung im Lande Jane Eyres?«, fragt sie vorsichtig. »Oder befinden
sich mal wieder ein Haufen verrückter Frauen auf dem Dachboden
deines Lebens?«
Vielleicht wäre es manchmal besser, verrückt zu sein und kein Gefühl mehr dafür zu haben, was um einen herum so geschieht. »Nein,
darum geht es ausnahmsweise nicht«, sage ich, »sondern um Finn.«
Ich atme tief durch. »Nach der blöden Situation letzte Woche ist noch
etwas geschehen und ich habe mich einfach nicht getraut, mit dir
darüber zu sprechen …«
Ihre Augen weiten sich, aber sie wirkt (noch) gefasst.
»Du warst so begeistert, dass er dich angeschrieben und gefragt
hat, ob wir uns alle heute treffen wollen … aber ich glaube, dass er
dir und nicht mir eine Mail geschickt hat, weil er denkt, dass ich was
von ihm will …«
Nun dreht sie sich zu mir um. »Was?!«
Ich schildere ihr kurz die Episode vom Sonntag und wie ich eigentlich ehrlich sein wollte und mich dann üblerweise in meinen eigenen Lügen verstrickt habe und dass alles meine Schuld ist und ich
mir nie verzeihen werde, dass ich ihr Leben zerstört habe. Ich bin bereit loszuflennen und wegzulaufen, verharre jedoch eisern an der
gleichen Stelle.
Luisa hält einen Moment inne, ehe sie mir die Reaktion schenkt,
mit der ich am allerwenigsten gerechnet hätte: Sie umarmt mich.
»Schon okay«, sagt sie.
Die Tränen kann ich nun erst recht nicht zurückhalten. »Bist du
sicher?«, frage ich.
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»Molly, in was für Geschichten du dich verstrickst, nur damit es
mir gut geht … Ich könnte mir wirklich keine bessere Freundin wünschen.« Sie löst sich von mir und drückt meine Hände. »Manchmal
frage ich mich, ob meine Verliebtheit etwas übertrieben ist … das ist
schon so viel Stress für mich, und ich will gar nicht, dass es auch
dich noch so schwer belastet.«
»Ich will nur, dass du glücklich bist … und wenn er dich endlich
nur mal beachten würde, der Depp …«
Luisa umarmt mich erneut. »Wird schon irgendwie …«
»Ist alles in Ordnung?« Die Verkäuferin wirkt verwirrt – nicht
verwunderlich, wenn zwei Teenies heulend vor dem Ankleidespiegel
stehen und einander umarmen, während die eine einen Pulli aus
dem Regal anhat.
»Ja«, sage ich schnell, »wir haben uns nur gerade gegen dieses
wunderschöne Teil entscheiden müssen. Geben Sie uns bitte noch
einen Augenblick?«
Die Arme weiß nicht, was sie sagen soll, und zieht sich zurück.
Luisa und ich bekommen uns kaum noch ein, und das angespannte
Gefühl in meinem Bauch löst sich endlich.
Problem 1: erledigt!
Wir besorgen noch ein wenig Knabberkram, ehe wir uns auf den
Weg zu den Jungs machen. Dominik wohnt nicht weit entfernt von
meiner Schule im schönen Frankfurter Nordend, besucht allerdings
eine andere Schule als ich. Er ist Einzelkind, beide Eltern sind berufstätig und verdienen gut, und ihre Wohnung kann sich durchaus blicken lassen. Der Eingang befindet sich im Erdgeschoss, aber das
Apartment ist verteilt über zwei Etagen mit einer schönen schwarzen
Wendeltreppe gleich im Eingangsbereich und einem großen Wintergarten, der ans Wohnzimmer anschließt.
Dominiks Mutter begrüßt uns herzlich mit einer Umarmung. Sie
trägt eine Jacke und scheint auf dem Sprung zu sein. »Ich hole Jochen von der Arbeit ab und wir gehen ins Theater«, erklärt sie. »Do-
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minik weiß, wo alles ist. Wir werden nicht zu spät zurück sein und
können euch beide dann nach Hause fahren.« Ein freundliches Angebot, das Luisa und ich nicht ausschlagen.
Finn wartet bereits im Wohnzimmer und hat es sich auf der
großen schwarzen Ledercouchgarnitur gemütlich gemacht. Er begrüßt uns, ist aber zu stark in das Spiel auf der Playstation versunken, um uns stärkere Aufmerksamkeit widmen zu können.
Mir wird jetzt erst bewusst, dass wir zwei Jungen und zwei Mädchen sind. Dass Dominiks Mutter damit einverstanden ist … Meine
Eltern wissen ja nur etwas von einem Spieleabend »mit ein paar
Freunden«, nicht von einem potenziellen Doppeldate.
Dominik trägt seine dunkelgraue Schirmmütze auch daheim, und
ohnehin ist er ohne sie kaum zu sehen. Seinem aschblonden Strubbelhaar würde die ein oder andere Entlüftung bestimmt gut tun.
Ich werfe einen Blick auf den Fernseher. »Lego?«, frage ich ungläubig. »Du spielst ein Lego-Spiel?« Wie soll ich denn so jemals
mehr Nächstenliebe entwickeln?
»Hast du ’ne Ahnung«, erwidert er grinsend. Er pausiert und
wirft mir einen Controller zu. »Spiel mit, macht Spaß!«
Ich drücke das suspekt aussehende Gerät Luisa in die Hand.
»Spiel du mal«, sage ich augenzwinkernd, »ich bereite mit Dominik
die Snacks vor.«
Als ich nach und nach Getränke und Süßigkeiten auf dem Beistelltisch platziere, sehe ich zu meiner Freude, dass sich Finn und
Luisa köstlich amüsieren; aber als Dominik und ich uns zu ihnen gesellen, schaltet Finn die Playstation brav aus. Dominiks Familie hat
aus dem letzten Urlaub in der Schweiz eine besonders ausgeklügelte
Version von »Mensch ärgere dich nicht« mitgebracht, die man mit
Partner spielt; die Karten entscheiden unser Schicksal, und so sind
Finn und ich Spielpartner, was zumindest den Vorteil hat, dass er neben Luisa sitzen kann.
Finn und Dominik spielen beide erheblich klüger als Luisa und
ich, aber sie verhalten sich wie Kavaliere und helfen uns freundlich,
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anstatt uns für unsere teilweise idiotischen Fehler anzumotzen. Ich
merke, wie sich im Laufe des Abends meine negativen Gefühle für
Finn abschwächen. Wenn man bedenkt, dass er ja vermutlich glaubt,
ich wäre in ihn verschossen, verhält er sich wie schon am Sonntag
sehr unkompliziert und keineswegs abweisend, was ich für einen
echt reifen Charakterzug halte. Er ist höflich und recht humorvoll,
und einmal abgesehen davon, dass Luisa ihn rein äußerlich unwiderstehlich findet, kann ich immer besser verstehen, warum sie ihn mag.
Er hat eine angenehme Art und nicht verdient, dass ich wütend auf
ihn bin, weil er anders empfindet, als Luisa und ich es uns wünschen. Dennoch, rede ich mir ein, heißt das ja nicht, dass er diese Gefühle nicht noch entwickeln kann, und als Dominik in einer Spielpause in die Küche geht, um Getränkenachschub zu holen, laufe ich
ihm hinterher, weil sich Luisa und Finn gerade besonders angeregt
unterhalten. Nun muss ich nur noch eine Möglichkeit finden, wie
wir den beiden so lange wie möglich fern bleiben.
»Was für eine wunderschöne Küche!«, rufe ich entzückt aus und
stelle mich quer in den Türrahmen, damit Dominik erst gar nicht auf
die Idee kommt, sich die Getränke zu schnappen und schnurstracks
ins Wohnzimmer zurückzumarschieren. »Erzähl mir alles darüber!«
Ich muss zugeben, dass mir schon mal klügere Wege eingefallen
sind, Zeit aufzuschieben.
»Über die Küche?« Dominik kratzt sich an einem besonders
großen Pickel am Kinn, aber ich bewahre mir standhaft mein Lächeln. Vicki wäre stolz auf mich.
»Ja … Sie sieht so neu aus und ist so schick …«
Er zuckt mit den Schultern. »So neu ist sie auch wieder nicht.« Er
öffnet den Kühlschrank und holt eine Packung Saft heraus.
Wie viel kostet eine Packung Orangensaft? Einen Euro? Ich hoffe, seine Eltern werden mir die Geldverschwendung verzeihen, aber ich
entreiße Dominik die Packung mit einem »Ich nehm die schon!«, nur
um sie dann (absichtlich) auf den Boden fallen zu lassen. Glücklicherweise ist dabei der Deckel aufgegangen und überall ist Saft.
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Ich entschuldige mich aufrichtig, und es ist mir auch völlig egal,
ob mich Dominik für einen Tolpatsch hält. Er nimmt wortlos einen
Lappen und reicht mir einen zweiten, und wir wischen das Chaos
auf, dabei entschuldige ich mich immer wieder für das Missgeschick.
»Danke, dass du mir hilfst!«, sage ich.
Das entlockt ihm ein Lächeln. »Oh, du hast da was!« Er nimmt
tatsächlich meinen linken Arm und reibt ein wenig mit dem Lappen
an meinem Oberteil, wo ein Saftspritzer zu sehen ist. Als unsere Blicke sich treffen, erfüllt mich Unbehagen. Er strahlt viel zu sehr. Es
hat schon seinen Grund, warum wir solche Situationen bis zur
Vollendung des 16. Lebensjahres meiden sollen.
Ich drehe den Wasserhahn auf und reinige den Lappen, wringe
ihn aus und will dann zurück ins Wohnzimmer rennen, als mir bewusst wird, wie sehr sich die Situationen ähneln – Finn mag denken,
dass ich in ihn verliebt bin, aber er hat sich wie ein Gentleman verhalten.
Nun denke ich, dass Dominik etwas von mir will, und ich verhalte mich
wie eine hysterische Kuh? Gottes Wege sind unergründlich, aber meine
Nächstenliebe zu Finn wächst augenblicklich noch ein ganzes Stück
mehr. Ich bedanke mich nochmals bei Dominik für seine Hilfe, und
gemeinsam gehen wir zu den anderen beiden.
Während der nächsten Partie beruhige ich mich und genieße das
Spiel, und kaum habe ich mir innerlich gesagt: Problem 2: erledigt!,
hören wir den Schlüssel in der Wohnungstür, und Dominiks Eltern
kommen herein, was den gemeinsamen Abend beendet. Wir verabschieden uns, indem wir den Jungen eine kurze Umarmung geben,
bedanken uns bei Dominiks Eltern, dass sie uns ihre traumhafte
Wohnung zum Spielen zur Verfügung gestellt haben, und gehen
dann mit Dominiks Mutter zum Auto.
Auf dem Heimweg ist Luisa beflügelt. Dominiks Mutter berichtet
vom Theaterbesuch, aber ich höre nur mit halbem Ohr hin. Ich freue
mich, dass Luisa und Finn sich gut verstanden haben, und schiebe
leichte Panik, dass Dominik plötzlich Gefühle für mich entdeckt hat,
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auch wenn ich mir wieder und wieder sage, dass das vielleicht lediglich Gottes Weg ist, mir zu zeigen, wie es in Finns Herz aussieht.
Und Dominik mag äußerlich nicht mein Typ sein, aber er ist ein lieber Kerl, und wer weiß, wie oft er vor dem Spiegel steht und ein
hässliches Entlein sieht, dabei hat er dieses herrlich schelmische
Grinsen, das automatisch ansteckt; in seiner Gesellschaft ist es nie
langweilig. Und außerdem, und spätestens das trägt mir das warme
Gefühl der christlichen Nächstenliebe zurück ins Herz, wäre ich bereit, jeden Preis zu zahlen, damit Luisa glücklich wird, und würde
mich jederzeit wieder mit Dominik in der Küche verbarrikadieren.
Mama erkundigt sich am nächsten Tag neugierig, wie das Gespräch
mit Luisa gelaufen ist, und nachdem ich ihr berichtet habe, wie positiv Luisa alles aufgenommen hat, umarmt sie mich und sagt mir,
dass sie stolz auf mich ist. »Du bist eine reife junge Dame«, sagt sie.
»Der kleine Wurm hier drin könnte sich nicht glücklicher schätzen,
eine Schwester wie dich zu haben!« Sie klopft sachte auf ihren
Bauch.
Muss sie die Stimmung gleich versauen? Ich habe gestern so viel
Nächstenliebe ausgeübt und habe den dritten Brocken – Vicki the
Vampire – noch vor mir, da habe ich diese Woche für den Familienzuwachs nicht so viel übrig.
»Der wird so verwöhnt sein, dass er uns allen das Leben zur Hölle macht«, prophezeie ich halb ernst, halb im Spaß, aber Mama lacht.
Weder in der Kirche noch bei der gemeinsamen JD-/JM-Aktivität am
Dienstagabend rede ich sonderlich viel mit den Jungs, aber Luisa berichtet mir, dass sie und Finn sich nun ab und zu E-Mails schreiben.
Auf der einen Seite freue ich mich, auf der anderen Seite frage ich
mich, ob Finn, wenn er Lizzy so schnell vergessen konnte, es überhaupt ernst meinen kann. Ich rufe mir ständig den lieben und unschuldigen Jungen von Freitagabend in Erinnerung und frage mich
jetzt, wo ein paar Tage vergangen sind, ob er es vielleicht nicht doch
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irgendwie faustdick hinter den Ohren hat. Er ist ja schließlich auch
nur ein Junge mit den leidlichen Teenager-Hormonen.
Ich hole mir mein tägliches Update von Luisa und lenke meine
Konzentration ansonsten auf das eintönige zweite Schulhalbjahr und
natürlich Jane Eyre, was ich erneut von vorn zu lesen begonnen und
bereits zur Hälfte fertig habe. Inzwischen hat uns Frau Ömsen das
vorläufige Skript zugemailt, das ich an einem Abend durchgelesen
habe. Da sie spezifisch um Feedback und Anmerkungen gebeten hat,
habe ich mich erdreistet und ihr ein paar Vorschläge zur Szenenumsetzung geschickt. Am Mittwoch nach der Deutschstunde bedankt
sie sich dafür und zeigt sich beeindruckt. »Ich freue mich auf die
Probe morgen!«, sagt sie. »Ich bin gespannt, was für Ideen die anderen haben! Und wie sich die Vorsprecher für Jane und Mr. Rochester
machen werden.«
Ich habe Vicki die ganze Woche noch nicht gesehen – was nichts
zu sagen hat, denn als Harpyie kreist sie sicherlich in den Schulpausen irgendwo über Frankfurt herum und gibt sich nicht mit den
langweiligen Sterblichen ab.
Sofort schelte ich mich für diesen Gedanken. Ich will netter zu ihr
sein!, trichtere ich mir ein. Ich muss aufhören, ständig so von ihr zu
denken, so groß die Verlockung auch sein mag. Problem 1 und 2 auf
meiner Liste habe ich so toll gelöst, da sollte es mir doch gelingen,
Problem 3 ähnlich grandios zu bewältigen.
Luisa hat mir eine SMS geschrieben und mitgeteilt, dass sie mich von
der Theaterprobe abholt, und vielleicht werde ich ihr ja dann schon
sagen können, ob es nun mit Bertha Mason geklappt hat oder nicht.
Frau Ömsen und Frau Beinker sind mit den Mädchen und Jungen
in der Aula, die für die Rolle von Jane bzw. Mr. Rochester vorsprechen, wir übrigen besprechen im Nebenraum voller Tatendrang die
möglichen Kulissen, die Bengü gleich skizzenhaft an die Tafel malt.
»Wir können nicht ständig umbauen«, sagt sie, »aber die Bühne
ist groß genug, dass wir das Anwesen zumindest auf Wohnzimmer
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und Schlafzimmer aufteilen können und vorne an der Bühne einen
kleinen Außenbereich gestalten.«
Ich bin davon angetan, wie rege die Mitarbeit ist – es sind erst
zwei Wochen seit der ersten Besprechung vergangen, aber es scheint,
als hätten alle zumindest das Skript gelesen, wenn auch nicht gleich
den ganzen Roman. (Kann ja nicht jeder so engagiert sein wie ich.)
Oliver, der ebenfalls bei den Kulissen mithelfen möchte, deutet auf
das Schlafzimmer. »Wir können es mit wenigen Requisiten zum
Dachbodenzimmer umgestalten«, erklärt er. »Wirken Flammen aus
Hartkarton zu billig?«
»Mein Vater meint, wir können die Nebelmaschine haben«, verkündet Emre stolz. »Vielleicht lässt sich das Feuer eher mit Effekten
simulieren?«
Alle sind begeistert. Wenn sich unser Ideenreichtum nur halbwegs umsetzen lässt, sollte das eine äußerst gelungene Produktion
werden. Da fällt mir ein, dass ich Frau Ömsen noch vorschlagen
wollte, das Schulorchester um Hilfe zu bitten – die eine oder andere
Szene würde mit musikalischer Untermalung jedem Zuschauer den
Atem verschlagen.
Dreist überlasse ich die muntere Meute dem Brainstorming und
schleiche mich aus dem Nebenraum in die Aula – ich bin sowieso
neugierig, wie sich die potenziellen Janes machen. Gerade verlässt
Lillian die Bühne, die nun doch Jane spielen will, weil Blanche Ingram ihr nicht genug Text hat, und ich bin in meiner Arroganz ehrlich gesagt froh, dass ich diesen Versuch nicht mitansehen musste.
Vicki und Milo betreten die Bühne und spielen einen recht heiteren Dialog zwischen Jane und Mr. Rochester, was mich wundert, da
es dramatischere Szenen gibt, mit denen man – falls gut gespielt – erheblich besser punkten könnte. Andererseits halte ich Vicki für
durchtrieben genug, dass sie sich etwas bei der Auswahl dieser Szene gedacht hat. Keine Minute vergeht, ehe ich mir eingestehen muss:
Sie ist gut. Beide sind gut. Vicki hat alle Grazie abgelegt und verleiht
Jane leicht plumpe Züge, lässt sich jedoch keineswegs unterbuttern
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und kontert Mr. Rochesters Sticheleien recht selbstbewusst. Milos
Gesicht ziert ein süffisantes Lächeln, das ihm die lästigen Vampirzüge nimmt, und gerade weil ich Mr. Rochester in meinen Gedanken
nie als schönen Mann gesehen habe, bin ich überrascht, wie wenig
mich Milos gutes Aussehen stört – denn erweckt wird die Figur vor
allem durch seine Haltung und seine Mimik.
Bei Vicki ist es ähnlich, aber ich merke, dass mich ihr gutes Aussehen durchaus stört. Zuerst sage ich mir, dass es der Neid des hässlichen Entleins auf den Schwan ist – ich irre mich jedoch, wie mir
plötzlich bewusst wird. Sie ist zu perfekt. Durch jede einstudierte
Geste und ihr blendendes Aussehen nimmt sie Jane eine gewisse Authentizität, die ich bei dieser Figur erwarte.
Das Schlimme ist, dass mein Herz unweigerlich mit Stolz erfüllt
wird. Ich spiele Bertha besser, als du jemals Jane spielen wirst!, kommt es
mir augenblicklich in den Sinn, und bevor zur Strafe ein Blitz einschlägt und die Aula explodiert, gehe ich schnell auf Frau Ömsen zu,
die interessiert in der zweiten Reihe sitzt und sich Notizen macht.
Als sie mich bemerkt, winkt sie mich lächelnd heran und lässt mich
neben ihr Platz nehmen.
»Ich habe nur eine kurze Frage«, sage ich im Flüsterton, »aber das
kann auch warten, bis die beiden fertig sind …« Vicki und Milo spielen unbeirrt und haben mich auch gar nicht bemerkt, was vermutlich
das Beste für alle ist.
»Was hältst du von ihr als Jane?«, fragt Frau Ömsen und nickt in
Vickis Richtung.
Ich fühle mich geschmeichelt, bin aber überrascht, dass sie ausgerechnet meine Meinung hören möchte.
»Mir scheint, du hast das Buch sehr gut verinnerlicht«, fügt sie
hinzu. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir so viele Gedanken
um Bertha Mason machst, ohne dir Janes Charakter ausführlich zurechtgelegt zu haben.«
Ich schaue nach vorn. Vicki ist auf Milo fixiert; interessant, dass
sie imstande ist, ihr Lächeln aus Stein abzulegen, wenn sie möchte.
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»Miss Eyre, ziehen Sie den Stuhl noch etwas näher«, sagt Milo mit
einer energischen Geste, »ich kann Sie ja kaum sehen, ohne meine
bequeme Lage aufzugeben; dazu habe ich allerdings keine Lust.«
»Ja, Sir«, erwidert Vicki.
Ich weiß ja, wie siegessicher Vicki sich bereits als Darstellerin von
Jane wähnt, was es nicht leichter macht, sie zu mögen. Sie wirkt
falsch und durchtrieben auf mich, aber wenn Ammon und seine Brüder für ihre Erzfeinde Nächstenliebe empfanden, sollte es mir doch
möglich sein, meine schlechten Gefühle in den Griff zu bekommen.
Ich denke an Julias Worte, die sie Sophie und uns anderen Mädchen
in der JD-Klasse mit auf den Weg gegeben hatte: Nächstenliebe ist die
Lösung für alles.
Ich raffe mich innerlich auf, obwohl ich an sich jeder anderen die
Rolle mehr gönnen würde (außer vielleicht der peinlichen Lillian aus
der 9.), und beschließe, den Riss in unserer nicht vorhandenen Beziehung, den ich vergangene Woche durch meinen unüberlegten Kommentar verursacht habe, zu flicken. »Sie spielt exzellent«, sage ich,
»sie holt das aus Jane raus, was sie kann.« Auch wenn sie mir nicht völlig in dieser Rolle gefällt.
Frau Ömsen schaut kurz zu mir herüber. Sieht sie mir die Zweifel
an? Ihr Blick ist nämlich eher fragend als zustimmend.
»Vicki wird das super hinkriegen«, bekräftige ich, was ich bereits
gesagt habe. »Sie wird die Rolle zuverlässig lernen und ist vermutlich die beste Wahl.« Mein Herz pocht, aber ich bin trotzdem ruhig.
Meine Worte entspringen nicht meiner vollen Überzeugung, aber ich
hoffe, dass der Vater im Himmel weiß, wie ich es meine – dass ich
nicht unehrlich sein will, sondern mich bemühe, freundlicher zu
sein. Problem 3: Erledigt! … Na ja, mehr oder weniger jedenfalls.
Die Szene ist vorbei. Zu allem Überfluss erspäht Vicki mich nun
und schenkt mir ein Lächeln der Sorte Dartpfeile. Ob ich einfach laut
applaudieren und »Bravo, Zugabe!« rufen soll? Das wiederum wirkt
vermutlich so affektiert, dass sie gleich Lunte riechen wird.
»Danke, Vicki, hervorragende Leistung«, sagt Frau Ömsen. »Milo,
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würdest du noch kurz auf der Bühne bleiben?«
Ich habe vergessen, warum ich eigentlich in die Aula gekommen
bin, erhebe mich und will zurück in den Nebenraum zu den anderen. Da höre ich Frau Ömsen meinen Namen rufen.
Erneut wende ich mich ihr zu und mein Blick fällt im Millisekundentakt von ihr zu Vicki zu Milo und wieder zurück.
»Ich möchte, dass du es auch ausprobierst«, sagt Frau Ömsen.
Ich verstehe nicht. »Was meinen Sie?«, frage ich.
»Ich möchte, dass du für Jane vorsprichst«, wiederholt Frau Ömsen ihre Aufforderung noch einmal deutlicher.
Hoffentlich habe ich mich verhört. »Was meinen Sie?!«, stelle ich dieselbe Frage erneut. Meine Gesichtszüge sind mir wahrscheinlich total entgleist.
»Ich bin überzeugt, dass du aus dem Stehgreif eine Szene spielen
kannst«, fährt sie fort. »Mich würde interessieren, wie deine ganz
persönliche Jane wirkt.«
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87
8
I
ch weiß nicht, ob ich für eine Frau in der Geschichte der Kirche
größere Bewunderung hege als für Emma Smith. Letztes Jahr
brachte ein Bekannter Mama und Papa aus dem Urlaub in Utah
einen Spielfilm über das Leben von Emma mit. Es handelte sich nicht
um den Weichspülkitsch, den ich aus den meisten Filmen dieser Art
erwartet hatte, sondern um das realistische Porträt einer großen
Frau, die Christus selbst als »auserwählte Frau« bezeichnet hat.
Wann immer von ihr gesprochen wird, empfinde ich einen tiefen Respekt, und ich glaube, dass es vielen anderen ähnlich ergeht. Sogar
Bruder Geppert war vor wenigen Wochen sichtlich bewegt, als er bei
seinem allsonntäglichen Vortrag eine Begebenheit aus der Anfangszeit der Kirche anführte und feierlich Zeugnis von »Johseff und
Emma Schmiss« ablegte.
Die Darstellerin von Emma war mir fast ein wenig zu hollywoodhübsch; ich habe bei ihr nie eine klassische Schönheit vor Augen gehabt, vielleicht aber auch, weil ich ebenfalls keine bin und nie sein
werde, mir aber wünsche, dass ich in meinem Leben ähnlich viel
Kraft und Ausdauer an den Tag legen kann wie sie. Ich habe mich oft
gefragt, wie oft Emma, wenn Joseph mal wieder ins Gefängnis geworfen wurde oder ein weiteres Kind früh starb, eigentlich die
Schnauze voll hatte, ihr tiefer Glaube sie jedoch trotzdem vorantrieb.
Auch frage ich mich, ob sie, wenn sie vor eine neue, schwierige Situation gestellt wurde, sofort irgendwo die Hand des Herrn erkennen konnte, oder ob ihr Vertrauen in die höheren Mächte so tief verwurzelt war, dass sie weitermachte, einfach weil sie wusste, dass es
richtig war. Und ob sie manchmal mit Gott haderte, weil sie ein
rechtschaffenes Leben führte und Gutes bewirken wollte und trotzdem viel Seelenqual erleiden musste.
Vielleicht hält manch einer es für stark übertrieben, dass ich an
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Emma Smith denken muss, während ich langsam nach vorne gehe.
Jede Stufe hinauf zur Bühne fällt mir schwer, als seien meine Füße
plötzlich zu Blei geworden. Ich will mir überhaupt nicht anmaßen,
diese Situation mit dem Leid zu vergleichen, das Emma Smith einst
durchmachte – aber es will mir einfach nicht in den Kopf, was soeben geschehen ist: War ich nicht aufrichtig genug? Ich wollte Vicki
wirklich etwas Gutes tun, als ich mich Frau Ömsen gegenüber positiv über ihr Vorsprechen geäußert habe, aber ein Frieden ist nun
wohl endgültig hinfällig – allein die Tatsache, dass mich Frau Ömsen
nach vorne gerufen hat, wird mir Vicki nie verzeihen. Ich wollte doch
gut sein, Vater im Himmel, bete ich flehentlich, und dafür werde ich jetzt
bestraft? Dieses Gefühl muss Emma immer wieder begleitet haben.
Ich laufe direkt an Vicki vorbei, und der Ausspruch »Wenn Blicke
töten könnten« eröffnet mir völlig neue Dimensionen. Das habe ich
wirklich nicht gewollt, rufe ich ihr in Gedanken zu, aber ich habe den
Eindruck, dass meine telepathische Botschaft nicht ankommt.
Außerdem musste ich schon beim ersten Lesen von Jane Eyre immer mal wieder an Emma Smith denken – ich habe bei beiden Frauen ein ähnliches Bild im Kopf: eine eher verborgene Schönheit, die
die Liebe ihres Mannes weniger durch klimpernde Augen und Wespentaille, sondern durch ein rechtschaffenes Herz, eine kämpferische
Natur und abgeklärtes Verhalten erobert hat. Ich verehre Jane Eyre,
aber es macht mich traurig, dass diese erdachte Figur das Happy End
bekam, das Emma zu Lebzeiten verwehrt wurde.
Ich bin in der Mitte der Bühne angekommen. Milo hat die Augenbrauen hochgezogen und scheint selbst nicht so recht zu wissen, was
nun auf ihn zukommt. Ich wende mich Frau Ömsen zu, die nach wie
vor auf ihrem Platz sitzt und sich Notizen macht, und ich beschließe,
einen letzten Rettungsversuch zu unternehmen. »Frau Ömsen … Ich
möchte nicht«, sage ich. »Ich bin auch überhaupt nicht vorbereitet.«
Ich schaue kurz zu Vicki, in der Hoffnung, dass unsere Blicke sich
nicht treffen. Natürlich treffen sie sich. Ist das etwa ein eiskaltes Lächeln? Natürlich ist es das.
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Frau Ömsen hingegen schaut eher ernst drein. »Ich hatte den Eindruck, dass du zu diesem Buch ein besonderes Verhältnis hast, Molly«, sagt sie.
»Ja, aber Vicki –«
»Vicki war super«, unterbricht sie mich, »aber das hier hat nichts
mit ihr zu tun oder mit irgendeiner anderen, die für die Rolle vorgesprochen hat. Mich würde schlicht und einfach interessieren, wie du
Jane spielen würdest.«
Ich weiß aber nicht, wie ich sie spielen würde … Für mich kommt
doch niemand außer Bertha Mason in Frage. Die Rolle ist überschaubar und doch spektakulär und ich habe mir so viele Gedanken um
sie gemacht. Es gibt viel in Janes Charakter, womit ich mich identifizieren kann und möchte, aber sie darstellen stand für mich von Anfang an zu keinem Zeitpunkt zur Debatte.
»Du darfst das Skript gern verwenden«, fügt Frau Ömsen hinzu.
»Ich erwarte nicht, dass du alle Passagen auswendig kannst.«
Etwas anderes wäre ja auch nahezu unverschämt gewesen, aber
wenn ich eine Szene aus Jane Eyre spielen muss, gibt es nur die eine,
die ich spielen möchte. Und dafür brauche ich tatsächlich kein
Skript, denn ich habe diesen Dialog zwischen Jane und Mr. Rochester unzählige Male gelesen: Es ist das Gespräch direkt vor Mr. Rochesters Heiratsantrag, ein hochdramatischer Augenblick, in dem
Jane sich erlaubt (und nahezu gezwungen wird), schwach zu sein,
verletzlich zu sein und in dem sie ihre Seele entblättert. Diese Szene
hat für mich eine besondere Bedeutung, weil sie mir zeigt, dass eine
starke Frau auch Schwäche zeigen muss – genau das zeichnet wahre
innere Stärke aus. Ich bin felsenfest überzeugt, dass es Emma Smith ähnlich ging.
Ich schüttele den Kopf. »Ich kann den Text«, sage ich. Das wird
Vickis Zorn steigern, und ich hege keineswegs den Wunsch, eine unvergessliche Performance als Jane abzulegen, aber sie hat es verdient,
dass ich mir Mühe gebe und Frau Ömsen einen Einblick in meine
Gedankenwelt gewähre. Vielleicht reicht das ja aus, um ihr zu zei-
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gen, dass ich einer solchen Leistung überhaupt nicht gewachsen bin.
»Die Szene vor dem Antrag«, sage ich zu Milo, »bis zu Janes kleinem Monolog.«
»Mit Vergnügen«, sagt er. Er überfliegt kurz die Szene im Skript.
»Ich bin bereit«, verkündet er schließlich mit einem charmanten Lächeln, das mich irgendwie noch nervöser macht.
Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Vater im Himmel, eigentlich
finde ich nicht, dass ich mir das selbst eingebrockt habe, sage ich, ich möchte daran glauben, dass du aus irgendeinem Grund deine Finger im Spiel
hast … ich hoffe nur, dass es keine Strafe für irgendwas ist. Ich hole tief
Luft, balle die Fäuste und begebe mich erhobenen Hauptes in mein
Unglück.
Milo hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er geht einen
halben Schritt vor mir und schaut mich nicht an, während er redet.
»Jane, Thornfield ist wunderschön im Sommer, nicht wahr?«
»Ja, Sir.« Wir bewegen uns kaum vorwärts – so breit ist die Bühne
ja auch nicht. Ich blende die Leere um mich herum aus und sehe
stattdessen das prächtige Grün, das Thornfield Hall umgibt, die Lorbeerbüsche am Wegesrand.
»Wie schade«, sagt Milo mit einem Seufzer, »aber so geht es immer im Leben. Kaum hat man einen glücklichen Ruhefleck gefunden, muss man aufstehen und weitergehen.« Er wirft einen Blick in
den Text, lässt die Hände jedoch gleich wieder sinken.
»Muss ich das denn?«, frage ich zaghaft. »Muss ich Thornfield
wieder verlassen?« Ich bewege mich kaum noch vorwärts.
Er sieht mich immer noch nicht an. »Ja, das müssen Sie wohl,
Jane«, sagt er schließlich. »Es tut mir leid, aber Sie müssen fort.«
Auch wenn ich weiß, wie es weitergeht und dass es gut ausgeht,
tut es mir weh. Ich bin wütend auf Mr. Rochester, weil er Jane so
quält, und gleichermaßen darf ich mir keine Entrüstung anmerken
lassen, sondern schlucke die Enttäuschung gänzlich hinunter. Noch
zeigt Jane nicht ihre Gefühle. »Sie werden also heiraten, Sir?«
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»Ja, Sie haben es erraten«, kommt es knapp und kalt. »Mit Ihrer
Klugheit haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen.«
Milo spielt phantastisch. Er ist so gut, dass ich tatsächlich versucht bin zu vergessen, dass das alles eine Farce ist und nicht die
Wirklichkeit. Ich stelle mir Emma Smith vor, wie sie mit Joseph einen
Spaziergang macht. In ihrem Fall war sie diejenige aus gutem Hause
und Joseph der aus ärmlichen Verhältnissen. Aber sie hätte auch bettelarm sein können – einer so charismatischen Frau wie Emma wäre
Joseph auf jeden Fall verfallen.
Wir führen den bitteren Dialog fort – Mr. Rochester wirkt wie ein
kaltherziger, zynischer Fiesling, wie er über seine bevorstehende
Hochzeit mit Blanche Ingram sinniert und Jane mitteilt, dass er sie
sofort entlassen und nach Irland schicken muss, weswegen sie sich
niemals wiedersehen werden. Wieso fordert er sie so heraus, obwohl
er sie liebt? Ist es ihm wichtig, dass er sie »knackt« – dass sie ihm
ihre wahren Gefühle offenbart, bevor er sie zur Frau nehmen kann?
Als Mr. Rochester über das besondere Band zwischen ihm und
mir spricht, dass es ihn innerlich zerreißt, mich gehen zu sehen,
schmerzt mir das Herz – denn ich als Jane weiß noch nicht, welch
glücklicher Augenblick mir bevorsteht. Er wirft mir vor, dass ich ihn
ohnehin vergessen würde. »Ich würde Sie niemals vergessen, Sir!«,
rufe ich empört und erhebe die zitternde Stimme. Meine Brust hebt
und senkt sich erregt. »Ich sehe die Notwendigkeit der Abreise vor
mir. Sie starrt mich an wie die Notwendigkeit des Sterbens.«
Er dreht den Spieß um. »Worin sehen Sie die Notwendigkeit?«
»In Miss Ingram, Sir!«, rufe ich, und er verschwimmt. »In dieser
edlen, wunderschönen Frau – in Ihrer Braut!« Ich werde ruhiger.
»Und deshalb muss ich gehen. Sie haben es doch selbst gesagt.«
»Nein, Sie müssen bleiben!«, sagt er nun. »Ich schwöre es!«
»Nein, ich muss gehen!«, schleudere ich ihm entgegen – der einzige Mann, für den ich es je gewagt habe, Gefühle zu entwickeln, kein
Schönling wie Prinz Erik, aber so viel stattlicher, ein ebenbürtiger
Geist, der mir das Gefühl gibt, Mensch zu sein, begehrenswert zu
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sein. »Glauben Sie denn, dass ich bleiben kann, um Ihnen ein Nichts
zu sein? Glauben Sie denn, dass ich eine Maschine ohne Gefühle bin?
Glauben Sie denn, dass ich keine Seele habe, dass ich ohne Herz bin,
weil ich arm und klein und hässlich und einsam bin? Sie irren sich!
Ich habe so viel Seele wie Sie, und wenn Gott mir nur ein wenig
Schönheit und Reichtum hätte zuteil werden lassen, würde ich es Ihnen ebenso schwergemacht haben, mich zu verlassen! Meine Seele
redet zu der Ihren, als hätten wir beide das dunkle Tor des Todes
passiert, und wir ständen zu den Füßen Gottes – einander gleich!
Wie wir es auch hier sein sollten!«
Ich weiß nicht, wann ich mein Herz das letzte Mal so laut habe
pochen hören. Gleichzeitig spüre ich Erleichterung und streiche mir
die Tränen aus dem Gesicht, die sich aus irgendwelchen Gründen
dorthin geschlichen haben. Ich schaue gar nicht erst zu Frau Ömsen,
sondern möchte von der Bühne stürmen, weil ich mit den Emotionen, die mich durchströmen, nicht klarkomme und selbst nicht verstehe, ob ich mich gerade zum Affen gemacht habe oder ein nie zuvor gespürtes Band zu Jane geknüpft habe. Ich verzichte auf eine
Verbeugung. Das ist alles zu viel für mich – Jane ist zu viel für mich,
Bertha ist zu viel für mich, ich muss einfach hier weg.
Leider mache ich die Rechnung ohne Milo, der gar nicht geschnallt hat, dass ich innerlich mit der Szene abgeschlossen habe und
nicht weiterspielen möchte. »Wie wir es auch hier sein sollten …«,
höre ich ihn murmeln und spüre nur noch, wie er mich zu sich herumreißt, mich mit beiden Armen an sich zieht und seine Lippen auf
meine presst.
Der anfängliche Schock wird abgelöst von einem Gefühlsgemisch
aus Schwerelosigkeit und gleich eintretender Ohnmacht. Ich spüre,
wie er seine starken Hände langsam von meinen Oberarmen zu meinem Gesicht führt und es sanft festhält.
Milo löst sich von mir, aber ich sehe seine schwarzen Augen nach
wie vor direkt vor mir. »So, Jane«, fügt er hinzu, so leise, dass Frau
Ömsen es wohl kaum hören kann.
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Ich taumele zurück. Ich weiß, ich sollte die Szene zu Ende spielen,
aber ich bin völlig durcheinander und kann nicht mehr klar denken.
Ich stelle peinlich berührt fest, dass meine linke Hand meine Lippen
berührt und schnell nehme ich sie herunter. »Milo …«, entfährt es
mir, »hast du sie noch alle?«
Er beginnt zu lachen. »Milo, hast du sie noch alle?«, äfft er mich belustigt nach. »Sag bloß, du möchtest die Szene nicht zu Ende spielen?
Die schönste des ganzen Buches? Den Heiratsantrag?«
Nein, ich möchte nicht mehr Jane sein, ich möchte Molly sein,
und ich möchte kreischend rauslaufen, und irgendwie möchte ich
dennoch das wiederholen, was gerade geschehen ist, einfach damit
ich weiß, dass es sich tatsächlich zugetragen hat. Was fällt diesem ungehörigen, ungezogenen, unerhörten, unverschämten, gutaussehenden,
charmanten Idioten eigentlich ein, mich so bloßzustellen?
Nun endlich wage ich einen Blick von der Bühne in den fast leeren Zuschauerraum. Frau Ömsen klappt ihre Notizen zu. »Das war
sehr beeindruckend, ihr beiden«, sagt sie. »Milo nimmt das Handwerk ernst.« Sie zwinkert ihm zu.
Erleichtert stelle ich fest, dass sich Vicki nicht mehr in der Aula
befindet. Wenn ich nur einen Funken Glück habe, ist sie gleich zu Beginn meiner Vorstellung rausgestürmt und hat nichts mitbekommen.
Milo ist von der Bühne gehüpft und zieht sich seine Jacke über.
Dass er die Rolle so gut wie sicher hat, dürfte wohl niemand mehr
anzweifeln, am wenigsten er selbst.
»Das war unter aller Kanone«, sage ich ihm im Vorbeigehen.
»Das war Schauspiel«, entgegnet Milo und wendet sich mir dann
zu, während er sich den Schal um den Hals wickelt. »Und sag bloß,
dir hat es nicht gefallen, Molly.«
Das Problem ist, dass es sich in meiner Phantasie bei Emma und
Joseph ähnlich abgespielt haben muss: Joseph küsste sie aus heiterem Himmel und zuerst trommelte die empörte Emma mit ihren
kleinen Fäusten auf Joseph ein, ließ sich dann aber von ihren Gefühlen überwältigen und gab sich dem entzückenden ersten Kuss hin.
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Der erste Kuss.
Dass das gerade mein allererster Kuss war, ist mir völlig entfallen.
So habe ich ihn mir nicht vorgestellt – auf der Bühne während der
Theater-AG? Wie erbärmlich!
»Wie romantisch!«, kreischt Luisa entzückt und klatscht aufgeregt in
die Hände. Sie bekommt sich vor Aufregung gar nicht mehr ein.
»Janes erster Kuss ist dein erster Kuss! Ist dir eigentlich klar, wie viele Mädchen davon nur träumen können?«
»Milo hat mein Leben zerstört«, halte ich ihr vor. »Für ihn war
das ja alles rein professionell. Nicht so wie bei Emma und Joseph.«
»Wie kommst du denn jetzt auf Emma und Joseph?«
Warum ist die Welt eigentlich nicht imstande, meine genialen Gedanken und Schlussfolgerungen nachzuvollziehen?! »Egal«, sage ich, »wahrscheinlich macht es ihm Spaß, unschuldige Seelen zu zertreten. Er ist
genauso bösartig und gemein wie Vicki.«
»Ich glaube, dich stört eher der Gedanke, dass du dich von der
ganzen Sache beflügelt fühlst und es für ihn nur Teil der Szene war«,
neckt mich Luisa.
»Nein, mich stört, dass ich mir fest vorgenommen habe, nett zu
Vicki zu sein und dann in so einen Schlamassel gerate! Ich hoffe, sie
hat das nicht gesehen, sonst bringt sie mich um … Jeder sieht doch,
dass sie auf ihn steht, und man sieht die beiden ja auch ständig zusammen. Was auch immer der Vater im Himmel mit dieser ganzen
Sache im Sinn hatte, ich habe es ordentlich vermasselt.«
Ich sehe mich schon vor dem Richterstuhl Gottes sitzen. »Molly,
leider hast du meine Absichten für dich nicht erkannt und meinen
Plan völlig in den Sand gesetzt«, sagt er seufzend. »Und nun bist du
eine größere Schande für die Menschheit als Lady Gaga. Ab in die
Hölle mit dir, hässliches Entlein.«
Irgendwo im Hintergrund lacht Emma Smith. »Und die wollte
mir nacheifern!«, sagt sie hämisch und schüttelt den Kopf.
»Aaaaargh«, schreie ich auf. Draußen regnet es in Strömen und
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wir sind bei Luisa zu Hause, damit sie mir bei den Mathehausaufgaben hilft. Ich schiebe den Früchtetee zur Seite und versinke mit meinem Gesicht in den Armen.
Ich spüre Luisas Hand auf meiner Schulter. »Nicht, dass ich mich
an deinem Unglück erfreue«, sagt sie, »aber irgendwie auch schön,
dass unser beider Liebesleben so verkorkst ist.«
Mein Kopf schnellt in die Höhe. »Ich habe aber kein
Liebesleben!«, sage ich. »Ich bin nicht in Milo verliebt oder so! Dass
er gut aussieht und ich ihn total nett finde und er mich mit seinem
Schauspiel voll beeindruckt hat und ich zufälligerweise den Kuss so
aufregend fand, dass ich ihn jederzeit wiederholen möchte, bedeutet
rein gar nichts.«
Ich lasse den Kopf wieder auf die Tischplatte sinken. Ich glaub,
ich bin in Milo verknallt. So ein Mist aber auch.
Frau Ömsen und Frau Beinker haben verkündet, die Rollenbesetzung »in den nächsten Tagen« per E-Mail zu verschicken. Jeder Blick
ins Postfach wird zur reinsten seelischen Folter, auch wenn ich keinen Grund habe, mir Sorgen zu machen – ich bin Bertha Mason, sage
ich mir immer wieder. Es wäre so arrogant zu glauben, dass ich mir
dank einer kurzen Szene die begehrteste Rolle im Stück geangelt
habe, die ich ja auch gar nicht haben will. Außerdem würde das bedeuten, dass ich die Szene mit Milo immer und immer wieder durchspielen müsste, vermutlich auch nach der Schule irgendwo, wo wir
ungestört sind, und das wäre ja … schrecklich.
Am Sonntag fährt Sophie direkt nach der Gemeinde mit zu Fiona,
Justus zu Levi und Papa hat noch Gespräche, und so bin ich mit
Mama nach der Kirche alleine in der Küche, und auch wenn ich immer noch ein bisschen beleidigt mit Gott bin, möchte ich weiterhin
mehr Nächstenliebe zeigen und habe Mama gezwungen, sich hinzusetzen, während ich Kartoffeln schäle.
»Meinst du, Emma hat bei Joseph schnell gewusst, dass sie ihn
mal heiraten würde?«, frage ich beiläufig. »Die beiden kamen doch
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aus zwei unterschiedlichen Schichten, zwei ganz verschiedenen Welten … hatte sie keine Angst, sich darauf einzulassen?«
Mama legt die marinierte Hähnchenbrust in der Auflaufform zurecht. Ich sehe, wie sie sich das Grinsen verkneift. »Das spielt bei Liebe am wenigsten eine Rolle«, sagt sie. »Wenn beide wollen und wenn
Gott will, gibt es immer einen Weg.«
Ich lege den Schäler kurz hin. Gottes Willen erkennen ist momentan nicht meine größte Stärke.
»Was mir bei den beiden besonders gefällt, ist, dass sie durchgebrannt sind«, gesteht Mama. »Wenn du dir anschaust, wie das heutzutage abläuft mit dem ganzen ›Ich muss darüber beten und fasten‹
… meinst du, wenn zwei ineinander verliebt sind und gut zueinander sind, schiebt Gott einen Riegel vor die Tür? Und hier haben wir
einen großen Propheten Gottes, der so verknallt war, dass er seine
Angebetete einfach geheiratet hat. Das macht ihn mir noch sympathischer.« Vielleicht schaue ich zu überrascht, aber Mama fügt gleich
hinzu: »Versteh mich nicht falsch, Molly. Es ist wichtig, dass der Heilige Geist uns stets durchs Leben führt. Aber manchmal erwecken
die Mitglieder der Kirche bei der Heiratswahl den Eindruck auf
mich, dass die Offenbarung wichtiger sei als die Gefühle – als sei
Liebe an sich keine Art von Offenbarung.« Nun grinst sie doch.
»Und nun raus mit der Sprache: Wieso fragst du?«
»Es gibt da diesen Jungen«, sage ich nach einer kurzen Pause,
»aber er ist nicht in der Kirche. Und er will auch gar nichts von mir.
Und ist sowieso zu gut für mich. Aber irgendwie … na ja, ich finde
ihn halt doch süß.«
Mama steht auf. Sie ist ein bisschen größer als ich, und da Papa
recht groß ist, hatte ich immer die Hoffnung, wie meine Schwester
im Teenageralter einen ordentlichen Schuss in die Höhe zu machen,
aber diese Hoffnung war, fürchte ich, vergebens. Im letzten Jahr hat
sich jedenfalls nichts mehr getan. »Erst einmal, Molly Bach: Niemand ist ›sowieso zu gut‹ für dich! Du bist eine wunderschöne, intelligente junge Frau! Hast du verstanden?«
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Ach Mama. Du bist die allerliebste Lügnerin der Welt!, will ich rufen,
aber ich genieße es ja, weil ich weiß, dass sie es aufrichtig meint.
»Zweitens habe ich volles Vertrauen in dich, dass du keine
Dummheiten begehst. Ich weiß, dass das Evangelium einen großen
Stellenwert für dich hat. Und wenn dir ein hübscher Junge aus der
Schule den Hof machen sollte, hast du jedes Recht, dich geschmeichelt zu fühlen! Warum auch nicht? Es ist doch Schwachsinn, jeden
zu verteufeln, der nicht der Kirche angehört. Du weißt, was gut und
was schlecht ist, und du weißt, wo die Grenzen liegen. Und wenn du
Zweifel hast, kannst du jederzeit zu Papa und mir kommen, auch
das weißt du.«
Ich umarme Mama und sage nichts. Ich schätze mich glücklich,
dass meine Eltern nie den Zeigefinger heben, sondern mir ein bodenständiges Verhältnis zu den Geboten vermitteln. Ich fühle mich augenblicklich besser, auch wenn mir klar ist, dass Milo jemanden wie
mich niemals attraktiv finden würde, solange es Mädchen wie Vicki
gibt.
Andererseits gab es ja auch Frauen wie Emma und fiktive Figuren wie Jane, die mir zeigen, dass wahre Liebe nicht vom Körper eines Schwanes abhängig ist, sondern vom Geiste eines Schwanes.
Als die Kartoffeln kochen und Fleisch und Gemüse im Ofen sind,
gönnt sich Mama eine Auszeit auf der Couch, und ich schleiche ins
Arbeitszimmer und schalte den PC an, obwohl ich weiß, dass Papa
es nicht gern hat, wenn wir sonntags am Computer hängen. Er weiß
aber auch, dass ich dringend auf die Mail von Frau Ömsen warte –
und siehe da, sie lächelt mich in meinem Postfach an.
Betreff: Jane Eyre – Rollenverteilung.
Sofort schlägt mir das Herz wieder bis zum Hals, und nach einem
Augenblick Unentschlossenheit öffne ich die Mail.
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J
ane Eyre: Molly Bach. Ich fahre mir mit den Händen durch die Haare und verharre in dieser Position, während ich versuche, den
Schock zu bewältigen und irgendwie zur Ruhe zu kommen. Ich bin
überhaupt nicht in der Lage, die vielen Gedanken, die meine Synapsen überfluten, zu ordnen, und in meinem Kopf herrscht das totale
Chaos.
Was hat sich Frau Ömsen dabei gedacht?
Was hat sich GOTT dabei gedacht?
Wird Vicki es kurz und schmerzlos machen oder werde ich einen langsamen und qualvollen Tod sterben müssen?
Mein Blick fällt auf die weitere Rollenverteilung. Wie zu erwarten
hat sich Milo Mr. Rochester geangelt. Lizzy wird Eliza spielen. Vicki
ist für Blanche Ingram vorgesehen. Und Bertha Mason … Frau Beinker?! Das ist ja wohl der schlechteste Scherz von allen. Das ist meine
Rolle! Das war mein Traum! Wie kann Frau Ömsen mich nach einem
kurzen popeligen Vorsprechen, auf das ich nicht einmal vorbereitet
war, für die Hauptrolle casten? Hat sie irgendeine offene Rechnung
mit Vicki, die ich nun ausbaden darf?
Ich hänge inzwischen heulend über der Tastatur und zucke zusammen, als ich bemerke, dass Mama das Arbeitszimmer betreten
hat. Ich habe sie überhaupt nicht hochkommen hören. »Was ist denn
los?«, fragt sie erschrocken. Wahrscheinlich läuft mir der schwarze
Mascara, den ich heute mal wieder zu übereifrig aufgetragen habe,
über die Wangen und meine Haare sind zerzaust. Ich sollte Mama
bitten, ein Foto zu schießen – einen besseren Beweis, dass ich Bertha
Mason bin, kann Frau Ömsen wohl gar nicht bekommen.
Natürlich komme ich nicht dazu, eine zynische Bemerkung fallen
zu lassen, und finde mich in Mamas Armen wieder, die mich wiegt
und mir über den Kopf streicht. Plötzlich lässt sie mich los. »Du
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wirst Jane Eyre spielen?« Ihr Blick muss auf den Monitor gefallen
sein. Sie schnappt nach Luft und ihrer Kehle entweicht ein aufgeregtes Quietschen.
Sie nimmt sicher an, dass ich gerade Freudentränen vergieße, und
ich sollte sie aufklären, ehe es zu einem großen Missverständnis
kommt. »Ich will Jane nicht spielen!«, sage ich. »Ich will Bertha spielen. Das ist eine mittlere Katastrophe, Mama! Ich weiß überhaupt
nicht, wie das passieren konnte!«
Mamas Kinnlade ist nach wie vor heruntegeklappt, aber ihre Begeisterung schlägt in Verwunderung um; ich meine sogar, ein wenig
Missbilligung in ihren Augen entdecken zu können. »Molly, nun sag
mir nicht, dass du meine Lieblings-Romanfigur ausschlägst!« Ihre
Hände befinden sich inzwischen auf meinen Schultern und ich warte
nur darauf, das sie mich wild durchschüttelt. »Das kannst du deiner
schwangeren Mutter nicht antun!«, fügt sie hinzu.
»Du kannst nicht jeden Tag deine Schwangerschaftskarte ausspielen«, werfe ich ihr vor. »Außerdem weißt du, wie gern ich Bertha
spielen will und wie gut ich mich auf die Rolle vorbereitet habe!«
»Aber Frau Ömsen würde dir doch nicht ohne Weiteres die
Hauptrolle geben«, beharrt Mama. »Du musst doch dafür ebenfalls
vorgesprochen haben? Wieso weiß ich nichts davon?«
»Weil ich’s nicht erzählt hab.« Ich werde kleinlaut und patzig. Ich
schildere ihr ganz kurz, wie mich Frau Ömsen am Donnerstag dazu
genötigt hat, eine Szene vorzuspielen. Ich erwähne weder, dass Vicki
Greiser direkt vor mir dran war und sicher schon auf dem Hauptfriedhof die Gebeine meiner Großeltern ausgräbt, weil sie sie als
Zutaten für eine Voodoo-Puppe benötigt, noch Milos Schock-Knutscher, der das Gefühlschaos perfekt gemacht hat.
Nun ist Mama plötzlich diejenige, die Tränen in den Augen hat.
»Du hast völlig unvorbereitet vorgesprochen und gleich die
Hauptrolle bekommen?« Sie wedelt sich mit beiden Händen Luft zu.
»Meine Tochter!«
»Kontrolliere dich, Mutter«, weise ich sie zurecht.
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Sie fängt sich. »Molly«, sagt sie, »wenn du das wirklich nicht
willst, rede mit Frau Ömsen darüber. Zwingen kann sie dich ohnehin
nicht. Aber versprich mir, wenigstens darüber nachzudenken. Bertha
Mason wäre ein tolles kurzes Abenteuer, aber überlege nur, was für
Möglichkeiten dir eine große Rolle wie Jane eröffnet!«
Ich nicke gehorsam. Wir umarmen einander ein weiteres Mal,
dann fliehe ich in mein Zimmer. Am liebsten möchte ich weiterheulen, doch meine Tränendrüsen sind inzwischen ausgetrocknet, und
überhaupt ist mir inzwischen weniger nach Weinen zumute als nach
lautem Herumbrüllen. Ich lasse es Mama und den Nachbarn zuliebe
bleiben.
Das heutige Sonntagsessen in kleiner Runde verläuft ruhig. Mama
und Papa unterhalten sich angeregt über die Versammlungen; auf
Fragen reagiere ich kurz angebunden. Dafür telefoniere ich mit Luisa
etwa vierundzwanzig Stunden. Ähnlich wie Mama erklärt sie mich
für verrückt, dass ich diese Rolle nicht annehmen will. »Hallo, du
kannst mit Milo erneut herumknutschen!«, macht sie die ganze Sache ein wenig verlockender. »Immer und immer wieder!«
»Und was habe ich davon?«, halte ich ihr entgegen. »Das stürzt
mich doch seelisch nur noch weiter in ein schwarzes Loch … Vicki
steht auf ihn und irgendetwas findet er ja auch an ihr … Das allein
lässt schon darauf schließen, dass er nicht ganz dicht sein kann.«
»Süß, wie eifersüchtig du bist«, erwidert Luisa, »aber red dir weiterhin schön ein, du würdest ihn nicht mögen.«
Ich kann mir einreden, was ich will, das Dilemma der ganzen Situation stößt mir unentwegt sauer auf. Dabei ist es ja nicht einmal so,
dass ich mich überhaupt nicht geschmeichelt fühle, aber Frau Ömsen
war trotzdem geistig umnachtet bei dieser Entscheidung. Oder sie
steckt gar nicht dahinter, sondern Frau Beinker, weil sie sich meine
Rolle angeln wollte. Diese niederträchtige Person!
Nachdem Sophie und Justus von ihren Verabredungen heimgekommen sind, sitzen wir beim Abendessen, und ich bin Mama dank-
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bar, dass sie das Thema Jane Eyre nicht anspricht. Stattdessen lenkt
sie die Unterhaltung auf unseren Familienzuwachs und sie und Papa
werfen sich auf einmal kuriose Blicke zu wie damals vor der
Schwangerschaftsenthüllung. Ich befürchte das Schlimmste. Sind es
Zwillinge? Drillinge? Ein Mutantenbaby?
»Wir haben einen Auftrag für euch«, sagt Papa schließlich. »Wie
ihr wisst, ist morgen gemeinsamer Familienabend.«
Das bedeutet, dass Oma und Opa (Mamas Eltern) uns besuchen.
Sie wohnen in Friedrichsdorf, wo der Tempel steht; wenn wir den
Tempel besuchen, nutzen wir die Zeit meistens für einen Besuch bei
ihnen, aber wir haben auch, so weit ich zurückdenken kann, einmal
im Monat gemeinsam Familienabend mit ihnen.
»Wir werden morgen über ein besonderes Thema sprechen«,
fährt Papa fort, »und zwar über die Bedeutung eines Namens. Ihr
seid nämlich alt genug und wir möchten euch in die Entscheidung
einbeziehen, wie euer Geschwisterchen heißen wird. Daher bitten
wir darum, dass ihr euch Gedanken um einen Namen macht. Opa
wird die Lektion durchführen.«
»Dürfen Oma und Opa auch mitentscheiden?« Sophies Ton ist ein
wenig panisch – zu recht. Ich liebe meine Großeltern heiß und innig,
aber alte Leute haben grundsätzlich einen seltsamen Geschmack,
auch wenn es Mama und ihre Geschwister im Gegensatz zu mir gut
getroffen hat. Was mich wiederum dankbar macht, dass meine Eltern
uns in solch eine wichtige Entscheidung einbeziehen wollen, denn so
bleibt uns hoffentlich ein weiteres Desaster à la »Molly« oder »Justus
Jonas« erspart.
»Wollen wir nicht damit warten, bis wir wissen, was es ist?«, fragt
Sophie. »Ist ja nicht mehr lange hin, bis man das erkennt.«
»Wir finden es spannender so«, meint Mama verspielt. »Alle Optionen abdecken. Und wir dachten, dass ihr auch euren Spaß daran
hättet, Jungen- und Mädchennamen herauszusuchen.«
»Voll korrekt von euch«, gibt Justus seine Zustimmung.
»Ja«, pflichte ich ihm bei, »und ein ganzer Tag zum Überlegen …
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sehr großzügig.« Als ob ich mit meinen Gedanken nicht ganz woanders wäre. Vielleicht sollten wir das Kind, falls es ein Mädchen wird,
Bertha nennen, damit Bertha Mason zumindest auf diese Weise ein
Teil der Familie wird, aber ich sehe ein, dass ich damit den schlechten Namensgeschmack meiner Eltern noch übertrumpfen würde.
»Keine Sorge«, sagt Mama, »wir fällen morgen ja keine Entscheidung, sondern es soll der erste Anstoß sein.«
Wir könnten es »Viktoria« nennen und ich erzähle Vicki, dass wir
es extra nach ihr benannt haben. Sie ist dann so berührt, dass sie mir
alles vergibt. Natürlich würde sie dieses positive Gefühl im Herzen
gar nicht vertragen und sich augenblicklich in Staub auflösen, aber
auch damit wäre der Menschheit vermutlich ein Gefallen getan.
Ich senke den Kopf und esse den letzten Bissen Brot. Ich werde
den morgigen Tag verfluchen, das weiß ich jetzt schon.
Als ich vor einiger Zeit neugierig nachgeschaut habe, was mein Vorname bedeutet, musste ich entsetzt feststellen, dass »Molly« als Ableitung aus dem Aramäischen »Die Verbitterung« bedeutet. Sehr
schön, ein weiterer Fausthieb ins Gesicht. Dessen waren sich meine
Eltern natürlich nicht bewusst; sie fanden den Namen ja auch einfach nur »niedlich«. »Molly« ist aber auch Ableitung von »Maria«,
und eine Bedeutung davon ist »diejenige, die geliebt wird«, was ja
um einiges besser klingt.
Ein Vers im Buch Mormon, der mir besonders gut gefällt, steht in
Helaman 5:6. Dort spricht Helaman, der Enkelsohn Almas des Jüngeren, zu seinen beiden Söhnen Lehi und Nephi, und fordert sie zur
Missionsarbeit auf.
Er sagt ihnen außerdem: »Ich habe euch die Namen unserer ersten Eltern gegeben, die aus dem Land Jerusalem gekommen sind;
und dies habe ich getan, damit ihr an sie denkt, wenn ihr an euren
Namen denkt; und wenn ihr an sie denkt, damit ihr an ihre Werke
denkt; und wenn ihr an ihre Werke denkt, damit ihr wisst, wie es gesprochen und auch geschrieben ist, dass sie gut waren.«
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Was Lehi und Nephi wohl davon hielten? Ob sie oft an ihre beiden Vorfahren und deren großartige Werke dachten? Von Lehi erfahren wir nicht so viel, aber von Nephi lesen wir ein paar erstaunliche
Begebenheiten – und nicht zuletzt gab er diesen Namen ja auch an
einen seiner Söhne weiter, der dann ein Apostel Jesu Christi auf dem
amerikanischen Kontinent wurde.
Manchmal frage ich mich, ob ich eine andere Einstellung zu vielem hätte, wenn mein Name ein anderer wäre. Ich verbinde mit
»Molly« nichts. Ich kenne keine nennenswerten Persönlichkeiten mit
diesem Namen, an denen ich mich ausrichten könnte, keine Figuren
in der Geschichte der Kirche – der einzige rote Faden, der sich durch
mein Leben zieht, heißt »Molly Mormon«, obwohl ich mit dieser Art
von Person nichts gemein habe.
Zu allem Überfluss ergaben ein paar Recherchen, die ich aus
Frust betrieb, dass »Molly« im Englischen außerdem der Begriff für
eine Maultierstute ist und in Irland scherzhaft als Name für Prostituierte verwendet wird. Ich hoffe, dass wir in Englisch niemals ein
Buch lesen werden, in dem diese beiden Verwendungen vorkommen, denn sonst werde ich garantiert zum Gespött der Klasse. (Davon bin ich bislang verschont geblieben, allerdings ist »Molly«, so
ungewöhnlich der Name für eine Deutsche sein mag, mitten in dem
internationalen Mix an Vornamen meiner Mitschüler unauffällig.)
Molly. Die Verbitterte. Die Maultierstute. Die irische Dirne. Die Jane
Eyre von morgen.
Mein Geschwisterchen verdient einen besseren Namen; einen, der
Gewicht trägt wie Nephi oder Lehi (auch wenn ich ihm diese beiden
eher nicht antun würde).
Mein Name ist an allem Schuld, beschließe ich – wie schon so oft –
an Ort und Stelle. Tief im Inneren weiß ich zwar, dass das nicht
stimmt, aber es hilft immer, seine Probleme abzuwälzen und sich
selbst schuldlos zu sprechen. So werde ich heute Abend besser einschlafen können.
Abends im Bett lese ich Helaman 5 erneut und bete um einen trendy
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Namenseinfall. Leider kommt in meinen wirren Träumen nichts dergleichen vor, und missmutig kämpfe ich mich am Morgen aus dem
Bett. Nach dem Seminar lasse ich das Frühstück ausfallen und nehme mir stattdessen nur ein bisschen Obst und Brot mit; ich will früher als gewöhnlich in der Schule sein, um mit Frau Ömsen zu sprechen. Satte zwanzig Minuten vor der ersten Stunde hocke ich vor
dem Lehrerzimmer, dabei weiß ich nicht einmal, ob Frau Ömsen
überhaupt schon zur ersten Stunde erscheinen wird.
Wir haben gleich Mathe, und Herr Rank steht grundsätzlich bereits beim ersten Klingeln vor der Klassentür – viel Zeit habe ich also
nicht. Der Vater im Himmel scheint jedoch heute seinen sozialen Tag
zu haben und nur eine Minute später sehe ich Frau Ömsen Seite an
Seite mit einem anderen Lehrer auf das Lehrerzimmer zukommen.
Ich erhebe mich und spüre, wie sich mir schlagartig die Kehle zuschnürt.
»Molly!«, begrüßt sie mich freudig. »Guten Morgen!«
»Morgen«, erwidere ich höflich, »kann ich kurz mit Ihnen
reden?«
Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss noch ein
paar Kopien machen«, sagt sie. »Könnten wir das auf die große Pause verschieben? Ich –«
»Bitte!« Ich merke jetzt schon, wie mir Verzweiflungstränen kommen und meine Stimme zittrig wird.
Frau Ömsen erkennt den Ernst der Lage. »Komm kurz mit«, sagt
sie. Im Lehrerzimmer gibt es einen separaten Raum für Lehrer-Schüler-Gespräche, und Frau Ömsen wirft Jacke und Tasche kurz über ihren Stuhl, ehe sie mit mir dort hineingeht und mir einen Platz anbietet. Der Raum ist klein und schlecht beleuchtet und bis auf einen
grauen Tisch mit sechs Stühlen und einen schmalen grauen Schrank
leer und wirkt wie ein Verhörzimmer auf mich, aber Frau Ömsen
rückt ihren Stuhl an den Kopf des rechteckigen Tisches, sodass wir
uns nicht gegenüber sitzen, sondern im rechten Winkel zueinander,
was die Situation angenehmer macht. »Du bist überrascht, nehme ich
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an?«, fragt sie.
»Frau Ömsen … ich fühle mich wirklich – wirklich! – geehrt, aber
ich kann die Rolle nicht annehmen!«, bricht es aus mir heraus.
»Das ist aber schade!«, sagt sie. »Und wieso nicht?«
»Weil Sie mich überschätzen«, erkläre ich, »und ich Ihre Entscheidung auch nicht nachvollziehen kann. Vicki war –«
»Hat Vicki etwas zu dir gesagt?« Ihr Ton ist ernst.
»Nein …«, erwidere ich verwundert.
»Vicki war gut«, meint sie, »wenn auch etwas steril. Aber glaubst
du nicht, dass Frau Beinker und ich uns bei dieser Entscheidung etwas gedacht haben? Du warst toll als Bertha Mason, Molly, aber ich
gebe dir doch keinen zweiminütigen Auftritt, wenn ich sehe, wozu
du auch nur aus dem Stegreif in der Lage bist!«
Ich schlucke. »Vicki ist die klügere Wahl«, beharre ich.
Frau Ömsen beugt sich ein wenig vor, als hätte sie Angst, dass
uns jemand belauscht. Vielleicht gibt es Überwachungskameras?
»Ich möchte dir mal etwas sagen. Wenn Vicki dir die Rolle austreiben will, gibst du mir umgehend Bescheid, ja? Es gab Vicki Greisers zu meiner Schulzeit und es wird sie immer geben und ich kenne
das Spiel, das sie abziehen, und habe genug davon. Lass dich nicht
von ihr einschüchtern!«
Das klingt fast wie ein militärischer Befehlston, und ich bin versucht, »Jawoll, Sergeant!« zu brüllen, aber ich kann mich nicht einmal
zu einem Nicken aufraffen, sondern sehe sie nur mit großen Augen
an.
»Ich werde dich selbstverständlich nicht dazu zwingen, die
Hauptrolle zu spielen, Molly.« Sie klingt wieder etwas sanfter. »Ich
möchte dich einfach bitten, darüber nachzudenken und mir bis Donnerstag Bescheid zu geben. Du kannst gern die Rolle der Bertha Mason haben, aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass du damit dein
Potenzial verschenkst.«
Nein, stöhne ich in Gedanken, kommen Sie mir nicht mit meinem Potenzial … wenn sie mit solchen Evangeliumsbegriffen um sich schleu-
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dert, erfüllt mich doch automatisch das schlechte Gewissen, wenn
ich ablehne.
Ich gebe mich fürs Erste geschlagen. »Okay«, erkläre ich mich
einverstanden, »ich denke darüber nach.«
Frau Ömsen entlässt mich und mit gesenktem Kopf trotte ich
zum Klassenzimmer, nur um von Lizzy und Bengü kreischend in
Empfang genommen zu werden. Sie gratulieren mir überschwänglich zu meiner neuen Rolle, und auch ein paar meiner anderen Klassenkameraden loben mich oder sind zumindest äußerst überrascht,
wozu die doch eher unauffällige Molly imstande ist.
Bereits eine Minute vor dem Klingeln kommt Herr Rank, öffnet
die Tür und alle strömen ins Klassenzimmer, nur Lizzy hält mich zurück. »Meinst du, das gibt Ärger mit Vicki?«, fragt sie.
»Danke, Lizzy«, sage ich zähneknirschend, »dieser Gedanke ist
mir noch überhaupt nicht gekommen …« Ich muss auch an Frau Ömsens Worte denken – klang ja fast so, als könne sie Vicki selbst nicht
ausstehen oder zumindest das, wofür Vicki steht. Eigentlich unprofessionell, mit einer Schülerin darüber zu sprechen, auch wenn der
Gedanke, Frau Ömsen auf meiner Seite zu haben, mein Herzflattern
ein bisschen reduziert. Aber was kann eine normalsterbliche Lehrerin denn gegen einen Succubus aus der Unterwelt ausrichten?
Plötzlich kommt mir die Idee, meinen Eltern vorzuschlagen, den
kleinen Fratz Molly zu benennen nach seiner großen Schwester, die
von ihrer bösen Mitschülerin brutal ermordet wurde. Vielleicht findet Molly 2 in ihrem traurigen Leben sogar ein paar positive Aspekte, denen sie nacheifern kann?
Ich löse mich von Lizzy und beschließe, mich vom Matheunterricht berieseln zu lassen. Verstehen werde ich ohnehin nichts, und so
schreibe ich eifrig ab, was Herr Rank an die Tafel kritzelt, ohne mir
näher Gedanken darüber zu machen.
Der Vormittag zieht an mir vorbei, als wäre ich geistig abwesend.
Lizzy und Bengü können trotz der plausiblen Vicki-Erklärung nicht
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verstehen, weshalb ich keine richtige Begeisterung für Frau Ömsens
Entscheidung zeige. Warum gerade Lizzy, die ansonsten ja immer
äußerst emanzipiert tut, am liebsten das Schoßhündchen dieses
Mädchens sein möchte, ist mir schleierhaft. Und eigentlich ist Vicki
ja nur ein Faktor von vielen, warum ich am liebsten das Land verlassen möchte. Selbst Jane ist weggelaufen, sage ich mir, aber sie hatte mit
der geplatzten Hochzeit wenigstens einen triftigen Grund. Ich verdiene es
gar nicht, ihren Namen zu tragen.
Ob meine kleine Schwester wohl den Namen Jane verdienen würde? Aber er klingt mir zu Englisch. Vielleicht eine deutsche Abwandlung – Janina oder Jan, falls doch ein Junge? Mir gefällt auch der Vorname von Mr. Rochester, Edward, nur ist dieser Name dank der aktuellen Vampirliteratur völlig unbrauchbar geworden. Wieder etwas,
woran eigentlich nur Vicki Schuld haben kann.
Alle Pausen verbringe ich auf der Mädchentoilette am Ende der
Schule, die so gut wie immer leer ist, damit ich bloß nicht Vicki oder
Milo über den Weg laufe, denn beides wäre für mich auf emotionaler
Ebene katastrophal. Vicki würde mir mit bloßen Händen die Augen
auskratzen und Milo bestimmt etwas Unverschämtes sagen, woraufhin ich herumstottere und mich blamiere. Ich schließe mich in die
letzte Kabine ein, hocke mich auf den geschlossenen Toilettendeckel
und warte geduldig, bis die Pause vorbei ist. Lizzy und Bengü stellen
glücklicherweise keine Fragen.
Nach der letzten Schulstunde gehe ich zu Fuß eine U-Bahn-Haltestelle weiter; Milo kommt immer mit dem Rad, Vicki fährt ebenfalls
U-Bahn, allerdings Richtung Innenstadt, aber allein der Gedanke,
dass ich sie auf der anderen Straßenseite auf die Bahn würde warten
sehen und sie mich möglicherweise erspäht, stresst mich zu sehr.
Sinn ergibt das alles nicht, denn ich weiß ja, dass ich ihr nicht ewig
aus dem Weg gehen kann … oder doch? Vielleicht kann ich herausfinden, was ihr Vater beruflich macht, ein Konkurrenzunternehmen
überzeugen, dass es ihm ein besseres Jobangebot unterbreitet und
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dann muss die komplette Familie leider wegziehen. Och, schade.
Der Gedanke an diese (irrsinnige) Möglichkeit hebt meine Laune,
bis ich daheim Sophie in die Arme laufe, die mich sogleich mit den
Worten begrüßt: »Ich hab heute gehört, dass du Vicki Greiser bei der
Hauptrolle ausgestochen hast? Du bist ja mutig.«
Ich ziehe meine imaginäre Pistole und verpasse ihr eiskalt einen
Kopfschuss.
Mama erkundigt sich nach meinem Wohlbefinden und ich berichte ihr kurz von dem Gespräch mit Frau Ömsen, wobei ich erneut
kein Wort über Vicki fallen lasse. Mama tätschelt mir die Wange.
»Du wirst schon die richtige Entscheidung treffen«, bestärkt sie
mich.
Ja, ja. Richtige Entscheidungen treffen. Meine große Stärke.
Ich zwinge mich zu den Hausaufgaben und brauche eine volle
Stunde für gerade mal zwei unspektakuläre Aufgaben, was daran
liegt, dass meine Gedanken ständig abdriften und ich mich bei Jane
Eyre, dem Namen meines künftigen Brüderchens oder Schwesterchens und der großen Ungerechtigkeit, die sich mein Leben
schimpft, wiederfinde.
Als Oma und Opa zum Abendessen auftauchen, werfe ich zeitweilig meine Sorgen über Bord. Meine Großeltern sind ein Musterbeispiel an Heiligen der Letzten Tage, wie ich finde, und die Art und
Weise, wie sie ein so sauberes Vorzeigeleben führen und sich mein
Opa trotzdem seinen herrlich dreckigen Humor bewahrt hat, wirkt
auf mich erfrischend und nachahmungswürdig.
»Dein Name wurde bei der Oscar-Verleihung gar nicht genannt.
Frechheit!«, begrüßt mich Opa. Ich drücke ihm einen Kuss auf die
Wange und bin sofort besser gelaunt.
Beim Abendessen folgt das obligatorische Kreuzverhör an uns
drei Kinder, wobei ich meinen Großeltern nie böse bin, sondern mich
an ihrem regen Interesse freue. Sophie legt Rechenschaft ab über ihre
Abi-Vorbereitungen, Justus wird wegen seines guten Zeugnisses gelobt, und ich werde über das Theaterspielen ausgefragt. Oma und
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Opa haben beide Jane Eyre gelesen.
»Das war ein richtig schöner Roman«, meint Opa. »Die Sturmhöhe
war ja grässlich bedrückend.«
»Das stammt aber auch nicht von Charlotte, sondern von Emily
Brontë«, erklärt ihm Oma.
»Ach, ist doch alles das Gleiche«, entgegnet Opa und beißt in sein
Schwarzbrot mit Harzer Käse.
Als wir uns nach dem Essen in der Couchecke versammeln, geben Justus und Sophie ihren Stammplatz für Oma und Opa frei. Sophie holt sich einen Stuhl vom Esstisch, Justus hockt sich vor mich
und lehnt sich an den lovesac. Sophie hat die Leitung und normalerweise müssen wir vier Lieder mehr als gewöhnlich singen, was besonders für Justus und seinen Stimmbruch eine große Qual ist (und
für uns, die wir das hören müssen, ebenfalls). Sie ist heute jedoch
gnädig gestimmt, und es gibt nur ein Anfangs- und ein Zwischenlied, ehe wir ein paar Termine abstimmen und dann die Zeit an Opa
übergeben wird.
Opa zückt sein Buch Mormon. »Ihr wisst ja, worum mich eure Eltern gebeten haben«, sagt er, »daher möchte ich zuerst einmal wissen, was ihr mit eurem eigenen Namen verbindet.«
Ich hasse ihn, will ich am liebsten unverblümt ausrufen.
»Mein Name bedeutet Weisheit«, erklärt Sophie und berichtet ausufernd, wie sehr sie dieser wundervolle Name geprägt hat. Ich
möchte platzen vor Wut. Warum nur stimmt bei Sophie von Natur
aus alles? Ich sage doch, der Name ist schuld – hätten meine Eltern
mich anders genannt, wäre ich hübscher, intelligenter und hätte keine Hemmungen, Jane Eyre zu spielen, weil sowieso nur ich in Frage
käme. Ich wäre die Vicki Greiser der Schule.
»Sophie ist so weise, dass ich ihr meinen Namen zu verdanken
habe«, sage ich. »Hätte sie beim Vorlesen des lieblichen Kinderbuches nicht ständig Mamas Babybauch mit ›Molly‹ betitelt, wäre mir
diese Ehre sicher nie zuteil geworden. Allerdings frage ich mich ab
und zu, wie wohl alles gekommen wäre, wenn die Figur in dem
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Buch Donnertrud oder Tattanka-Tattonka geheißen hätte.«
»Molly, wir haben dir deinen Namen auch gegeben, weil wir ihn
mögen«, wirft Mama ein, bevor mich Sophie anzicken kann.
»Lasst uns mal gemeinsam was im Buch Mormon lesen«, lenkt
nun Opa ein. Er ruft uns die Begebenheit in Mosia in Erinnerung
und wie König Benjamin zu seinem Volk von einem Turm aus
spricht und es auffordert, seinen Worten Glauben zu schenken.
»In Vers 2 lesen wir, dass das Volk eine solche Herzenswandlung
erlebt, dass keiner mehr auch nur die Neigung verspürt, Schlechtes
zu tun«, erklärt Opa. »Wer weiß, was dann geschieht?«
»Das Volk geht mit Gott einen Bund ein«, sagt Sophie, »und
nimmt den Namen Christi auf sich.«
»Danke, Sophie.« Opa strahlt uns an. »In Vers 8 lesen wir: ›Es ist
kein anderer Name gegeben, wodurch die Errettung kommt; darum
möchte ich, dass ihr den Namen Christi auf euch nehmt, ihr alle, die
ihr mit Gott den Bund eingegangen seid, dass ihr bis zum Ende eures Lebens gehorsam sein wollt.‹« Er sieht mich an. »Es mag vorkommen, dass uns manchmal der eigene Name nicht so in den Kram
passt, aber letzten Endes ist nur eines entscheidend: dass wir den
Namen Christi auf uns nehmen. Dass wir mit seinem Namen gerufen werden können und uns darauf vorbereiten.«
Opas Worte berühren mich. Nur der Name Christi zählt. Mir wird
warm ums Herz, und ich weiß ja auch genau, dass das der Wahrheit
entspricht. Der Name Molly Bach ist der Name, unter dem mich die
Menschen hier kennen, aber soll der Vater im Himmel mich nicht eines Tages als Kind Christi zu sich rufen können?
Ich lehne mich ein bisschen zurück und schaue an die Zimmerdecke, da ich die leidige Tendenz habe, immer gleich losheulen zu
müssen, und bereits merke, wie mir wieder Tränen in die Augen steigen. Und dennoch habe ich einen Namen auf Erden bekommen, sage ich
mir, und es soll ein Name sein, auf den ich eines Tages stolz sein kann.
Und wenn ich schon keine nennenswerten Leute kenne, die Molly heißen,
dann werde ich halt die erste Molly, an die eines Tages alle denken, wenn
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sie diesen Namen hören.
Opa übergibt das Wort an Papa. »Uns ist wichtig, dass euch das
immer bewusst ist«, sagt Papa. »Ihr habt eine Identität als Teil dieser
Familie, aber der Name, auf den es wirklich ankommt, ist der Name
unseres Heilands.« Er legt seine Hand auf Mamas Bauch. »Und wir
freuen uns, dass wir alle dem kleinen Wurm hier dabei helfen können, den gleichen Weg einzuschlagen. Habt ihr euch überlegt, wie er
oder sie heißen könnte?«
Justus hat bereits eine Liste aus der Hosentasche geholt.
»Und keine Namen von den Transformers, X-Men oder Pokémon«,
fügt Papa hinzu, woraufhin Justus ein missbilligendes Geräusch von
sich gibt, einen Stift nimmt und etwa die Hälfte seiner Liste durchstreicht. »Tnomen Gaugiel!«, ist dann schließlich sein Vorschlag.
Oma wiederholt den Namen fragend und meint, sich verhört zu
haben, wir anderen müssen lachen, auch wenn Justus beharrt, es sei
kein Scherz gewesen.
Ich denke an Jane. Ich würde bei einem Mädchen gern einen Namen nehmen, der Janes Stärke und Gottestreue wiedergibt. Plötzlich
habe ich eine Idee und ärgere mich, dass ich noch nicht früher darauf
gekommen bin. »Wie wäre es mit Emma?«, schlage ich vor. »Der
Name ist hübsch und erinnert an Emma Smith.«
Mich trifft der Schlag, aber Sophie pflichtet mir tatsächlich bei.
»Den Namen habe ich auch auf meiner Liste«, sagt sie.
»Emma klingt aber doof im Vergleich zu Black Widow«, meint Justus empört.
Mama und Papa notieren ihn sich. »Der gefällt uns auch«, sagt
Mama, und zu Justus: »Also Emma, nicht Black Widow.«
Ich nenne auch den Namen Jan, einfach weil er mich von den
Buchstaben her an Jane erinnert. Sophie nennt noch Joshua, Niklas,
Marie und Anna, und ich bin selbst beeindruckt, wie wir alle bei recht
unspektakulären und größtenteils einheimischen Namen bleiben,
auch wenn Justus zwischendurch Xena und Han Solo einwirft.
Mama und Papa erklären uns, dass sie die Liste an den Kühl-
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schrank hängen und dass wir sie nach Belieben erweitern können
und immer mal wieder beim Familienabend durchgehen werden.
Papa holt unsere Spielkarten hervor und wir lassen den Abend
bei einer Runde Canasta ausklingen, aber so ganz bei der Sache bin
ich immer noch nicht. Opas Gedanken haben mich berührt und gleichermaßen nachdenklich gestimmt. Er hat recht: Worauf es letztlich
ankommt, ist, wie ich mich als Jüngerin Jesu Christi bewähre. Trotzdem habe ich es satt, unter meinem Vornamen zu leiden. Ich habe
genug davon, meinem Namen die Schuld für alles zuzuschieben,
schließlich ändert sich weder durch Schuldzuweisung noch durch
Selbstmitleid irgendetwas.
Ich entschuldige mich in einer Spielpause kurz und wetze nach
oben an Papas Computer, der glücklicherweise eingeschaltet ist. Ich
öffne mein E-Mail-Postfach und setze Frau Ömsens Adresse in die
Empfängerzeile.
»Liebe Frau Ömsen«, schreibe ich mit pochendem Herz, »ich habe
mich entschieden …«
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10
D
er Leitgedanke 2010 für die Jungen Damen und Jungen Männer lautet »Sei mutig und stark«. In Josua 1:5, der Schriftstelle,
auf die sich das Motto bezieht, verheißt der Herr dem Propheten Josua: »Fürchte dich also nicht, und hab keine Angst; denn der Herr,
dein Gott, ist mit dir bei allem, was du unternimmst.«
Als Julia, Anne und Janine uns das Motto in einem Unterricht
vorstellten, sagte Anne: »Gibt es überhaupt eine größere Verheißung
als die, dass der Herr bei allem, was wir tun, bei uns ist?«
Wir hören oft in der Kirche, Angst sei ein Gefühl, das vom Widersacher stamme – Beklommenheit, Unsicherheit und Furcht befangen
unseren Verstand und machen uns anfällig. Wenn wir auf den Herrn
vertrauen, gibt es buchstäblich nichts, wovor wir uns fürchten brauchen. Selbst alles Negative, das uns widerfährt, kann dem Heil unserer Seele letztlich nichts anhaben, wenn wir uns voll und ganz in die
Hand des Herrn geben.
Warum verspüre ich dann gerade Panik?
Ich verlasse die U-Bahn und sehe mit Grauen auf die neue Woche.
Eigentlich sollte ich erhobenen Hauptes in die Schule stolzieren – ich
bin die Hauptdarstellerin des neuen Stücks der Theater-AG, worum
mich viele beneiden. Bis vor Kurzem war ich eine unscheinbare
Maus, die mit ihren paar Freunden ihren Weg gegangen ist – bald
werden die meisten Schüler wissen, wer ich bin. Sie werden meinen
Namen, mit dem ich mich ja nun langsam abfinde, kennen. Ich habe
die Chance, den Namen Molly endlich zum Guten zu wandeln. Als
ich Frau Ömsen gestern die E-Mail mit meiner Zusage schrieb, zitterten meine Hände regelrecht. »Was mache ich da nur?«, fuhr es mir
die ganze Zeit durch den Kopf. Dieser Gedanke hat mich immer
noch nicht losgelassen, auch nicht nach Frau Ömsens Antwort, die
lediglich aus einem Smiley bestand.
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Die Panik lässt nicht nach und wird mit jedem Schritt größer.
Ich löse mich von der Schülermasse, die aus dem U-Bahn-Waggon geströmt ist und den Seiteneingang der Schule betritt, der näher
zur Haltestelle liegt, und laufe wie immer ein paar Meter weiter zum
Haupteingang. Zwar habe ich einen längeren Weg zum Klassenzimmer, aber ich entkomme dem Massenauflauf meiner Mitschüler, in
dem mir nie wohl zumute und somit dem Panikzustand von heute
morgen daher alles andere als förderlich ist. Irgendwo lauern Vicki
und ihre Spione, die darauf warten, mich von hinten zu packen, aufs
nächste Mädchenklo zu schleppen und dort in einem Hohlraum hinter den Kacheln bei lebendigem Leibe einzumauern.
Als ich die Treppe zu den drei Schwingtüren langsam hochgehe,
sehe ich Milo, der sich rechts an eine Glasscheibe gelehnt hat. Seine
blaue Jacke ist offen; er verschränkt die Arme und ich erkenne auf
seinem weißen Shirt nur die schwarzen Buchstaben M und T. Vermutlich steht dort irgendetwas mit »Molly« und »tot«. Seine Beine
sind lässig übereinander geschlagen, aber als sein Blick auf mich
fällt, richtet er sich gerade auf und winkt mir zu.
Auch das noch.
»Molly!«, ruft er mich, damit auch wirklich jeder Zweifel verfliegt, dass er mit mir reden will. Immerhin sehe ich, dass die Buchstaben auf seinem Shirt lediglich zu einem Markenlogo gehören.
Ich erröte augenblicklich, und da der Morgen sehr mild ist, kann
die Farbe nicht von der Kälte herrühren, was die Situation noch peinlicher macht, und so schießt mir unweigerlich noch mehr Röte ins
Gesicht. Ein Teufelskreis. »Hallo …«, bringe ich schließlich hervor, als
ich oben angelangt bin. Ich würde am liebsten verlegen zu Boden
schauen, aber ich zwinge mich, Milo anzusehen. Warum kann mir
Schauspielerei im wahren Leben nicht ähnlich leichtfallen?
»Ich gehe davon aus, dass Frau Ömsen uns von nun an wenigstens die Hälfte der Zeit separat proben lässt«, kommt er direkt zur
Sache, »aber wir sollten noch einen oder zwei weitere feste Nachmittage der Woche zum Proben einplanen. Die Chemie zwischen Roche-
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ster und Jane muss beim Zuschauer rüberspringen, sonst ist das ganze Stück im Eimer. Das siehst du doch genauso, oder?«
»Ja … natürlich«, erwidere ich.
»Fein.« Nun lächelt er. Sein Lächeln ist immer ein bisschen schief
und der rechte Mundwinkel ein wenig weiter nach oben gezogen als
der linke. Mit der rechten Hand streicht er sich eine Strähne des rabenschwarzen Haares, die sich gelöst hat, aus dem Gesicht. Bei seiner Rolle im letzten Stück der Theater-AG habe ich ihn als talentiert
wahrgenommen, nicht als Schönling, aber je öfter ich ihn anschaue,
desto attraktiver finde ich ihn, und die Vorstellung, dreimal die Woche allein mit ihm zu proben – und womöglich wieder von ihm geküsst zu werden, wenn auch »rein professionell«, verschlägt mir den
Atem, und meine Knie beginnen zu schlottern.
Vicki, rufe ich mir in Erinnerung. Wenn ich nur wüsste, was genau
zwischen den beiden läuft.
»Also?«, fragt er. »Welche Tage passen dir gut?«
»Milo, ich wollte Vicki wirklich nicht die Rolle klauen«, platzt es
plötzlich aus mir heraus. Ich und mein Talent, meine Klappe nicht
halten zu können, aber ich kann mich nicht länger bremsen. »Ich
habe Frau Ömsen sogar gebeten, ihr die Rolle zu geben, und –«
»Warum das denn?« Er verzieht das Gesicht. »Und wie kommst
du darauf, du hättest ihr die Rolle geklaut? Frau Ömsen und Frau
Beinker fanden dich besser, so einfach ist das.«
»Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie besonders begeistert von der Entscheidung ist …« Und du doch bestimmt auch nicht,
denke ich, du möchtest garantiert lieber mit ihr spielen als mit mir.
Milo verdreht kurz die Augen und schüttelt verärgert den Kopf.
»Diese lächerliche, universale Vicki-Angst hier an der Schule«,
schnaubt er. »Proben wir nun oder nicht?«
»Montag und Mittwoch würden mir passen«, sage ich kleinlaut.
»Gut.« Er kramt einen kleinen Zettel aus der Jackentasche. »Hier
ist meine Nummer. Einzelheiten können wir ja noch besprechen.«
»Da bist du ja!« Vickis Stimme jagt mir einen Schauer über den
116
Rücken, und als ich mich ruckartig zur Seite drehe, steigt sie gerade
wie eine Königin zwischen ihren Hofdamen Samira und Kathrin die
Treppe empor. Zu allem Überfluss hält Milo den Zettel, den ich entgegengenommen habe, ebenfalls noch fest. Ich entreiße ihm das
Stück Papier und lasse es in meiner Tasche verschwinden, aber Vicki
verfolgt das Ganze mit zusammengekniffenen Augen. Wie gut nur,
dass sie dabei ihr Lächeln nicht verliert.
»Ah, Miss Eyre«, begrüßt sie mich; der Hohn ist nicht zu überhören. Vicki trägt die langen Haare offen und sie kontrastieren mit der
sommerlich-cremeweißen Jacke, die sie bis zum Kinn geschlossen
hat, aber wohl eher aus modischen Gründen und nicht der Temperatur wegen, denn ihr Rock reicht gerade bis zum halben Oberschenkel. Und trotzdem sieht sie blendend aus, sogar in unkeuschen Klamotten.
»Du scheinst Frau Ömsen ganz schön beeindruckt zu haben.«
Ich sollte einfach den Hals strecken, ihn ihr hinhalten und »Hier,
trink schon!« sagen.
Sei mutig und stark!, kommt es mir in den Sinn. Nur wie? Stattdessen sage ich gar nichts und bemerke lediglich, wie mir heiß wird.
Meine Wangen müssen inzwischen glühen.
»Halt dich zurück, Vicki«, sagt Milo. Mein Ritter in glänzender
Rüstung! Er geht an mir vorbei und gesellt sich an Vickis Seite.
»Warum machst du sie verlegen?«
»Das würde ich nie wagen«, spottet Vicki, »aber ich glaube kaum,
dass sich Miss Eyre überhaupt in Verlegenheit lassen bringen würde,
oder, Schätzchen?« Vicki hakt sich bei Milo ein, auch wenn ihre
schwarzen Augen nach wie vor auf mich fixiert sind.
»Ignorier sie einfach«, rät Milo mir hinter vorgehaltener Hand, als
ob Vicki ihn nicht hören könnte. »Das mache ich auch immer und es
ist die beste Taktik gegen Miss Ingram.«
Ich bin perplex, dass er mich in Schutz nimmt, aber völlig dankbar kann ich ihm trotzdem nicht sein, denn die Rage in Vickis funkelnden Augen ist nicht zu übersehen. Oder himmelt sie ihn so an,
dass sie sich deswegen von ihm Kontra geben lässt?
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»Gehen wir«, meint Vicki im Befehlston zu Milo und ihren Zofen
und ignoriert damit wiederum Milos Stichelei. »Jane beginnt mich zu
langweilen.«
Ich verspüre das unnachgiebige Verlangen, ihr eine runterzuhauen. Aber nur gewalttätig zu werden, weil ich zu angespannt bin, als
mich mit Worten verteidigen zu können, wäre wohl die denkbar erbärmlichste Reaktion.
»Ruf mich an, Molly, ja?«, ruft Milo mir noch zu, ehe Vicki ihn
fortschleppt und ihm etwas zuzischt, was ich nicht mehr verstehe,
aber sicher ist es ein gehässiger Kommentar über mich.
Ach, Milo! Was auch immer dich bewogen hat, für mich einzutreten … ich werde es dir nie vergessen. Vicki nur leider auch nicht.
Aber warum bin ich denn nicht selbst imstande, mich zu verteidigen? Wortlos herumstehen und sie auf mir herumhacken zu lassen,
das ist doch mehr als peinlich. Sei mutig und stark … von wegen!
Luisa schickt mir stündlich eine SMS und hakt nach, ob ich mich
schon bei Milo gemeldet habe. Ich verneine dies standhaft. Natürlich
habe ich bereits fünfzehn Nachrichten ausformuliert, die ich ihm
schicken könnte, aber jede klingt dann doch zu blöd oder erweckt
den Eindruck, ich könnte mich zu sehr auf das Treffen freuen.
»Kaum ist meine kleine Schwester 16 Jahre alt, kann sie sich vor
dem begehrtesten Jungen der Schule nicht retten«, stichelt Sophie am
Abend bei der JD-Aktivität, als Luisa und ich uns erneut angeregt
über das Thema unterhalten und nicht mitbekommen, dass uns alle
aufmerksam zuhören.
Julia und ihre Ratgeberinnen sind heute Nachmittag bei sämtlichen jungen Müttern der Gemeinde vorbeigefahren und haben alles
an Bügelwäsche zusammenkramt, die es dort zu finden gab; und
nun stehen fünf tapfere Mädchen (Fiona ist krank) und ihre JD-Leitung hinter jeweils einem Bügelbrett und bügeln wie die Weltmeister. »Ich werde erst nächste Woche 16«, gebe ich zurück und ärgere
mich darüber, dass manche Mütter ihren 3-jährigen Töchtern Blusen
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anziehen müssen. Wer soll denn so etwas vernünftig bügeln? Außerdem habe ich die Tatsache, dass ich wieder ein Jahr älter werde, bislang erfolgreich verdrängt. Als ob sich an meinem traurigen Leben
irgendetwas ändern wird, nur weil ich jetzt offiziell »daten« darf,
was auch immer das heißen mag.
»Egal«, sagt Sophie, »ist doch fabelhaft, dass du kein schlechtes
Gewissen haben brauchst, wenn du mit Milo dreimal die Woche herumknutschst.«
Ich reiße das Bügeleisen hoch, um Sophie damit zu drohen, aber
streife blöderweise dabei meine eigene Hand. Zuerst zucke ich mit
einem kleinen Aufschrei zusammen, dann lasse ich das Bügeleisen
auf die Bluse fallen, wo es nur kurz hin- und herwackelt, ehe es laut
auf den Boden kracht.
Ich habe den linken Handrücken bereits an meinem Mund und
befeuchte die angekokelte Stelle mit meinem Speichel. Luisa hebt das
Bügeleisen auf und legt es in die Halterung meines Bügelbretts. »Du
bist unerträglich!«, rufe ich Sophie zu.
»Mädels!«, mahnt Julia. »Alles in Butter!«
Ich stürme in die Küche und halte die rechte Hand unter kaltes
Wasser. Mit der linken wische ich mir die Wuttränen aus dem Gesicht.
»Das war doch nur ein Witz!« Sophie taucht im Türrahmen auf
und möchte sich vermutlich pflichtbewusst entschuldigen, obwohl
sie der Meinung ist, sie treffe ja gar keine Schuld. »Ich weiß gar nicht,
worüber du dich aufregst«, setzt sie hinzu. »Du bist die Hauptdarstellerin im Schultheaterstück und hast Einzelproben mit Milo Falkenstein! Lass mich doch ein einziges Mal neidisch auf dich sein …«
»Du? Neidisch auf mich?« Dass ich nicht lache. »Du weißt genau
wie ich, dass mir Vicki das Leben zur Hölle machen wird und freust
dich bereits jetzt schon darüber!«
»So ein Schwachsinn. Dass sich die halbe Schule von diesem Biest
unterbuttern lässt, ist lächerlich! Was beschäftigt uns schon seit Jahresbeginn? Sei mutig und stark … nur so ein kleiner Gedankenanstoß,
119
Molly.« Sophie wendet sich ab und verlässt die Küche.
Als ich zu den eifrigen Bügelfrauen zurückkehre, unterhalten sich
alle wieder angeregt, und ich überspiele meine miese Laune und
widme mich dem nächsten Kleidungsstück.
Nach der Aktivität hocken Luisa und ich uns noch ein paar Minuten in die leere Kapelle. Ich habe keine Lust, mit Sophie nach Hause
zu laufen, und die Jungs spielen nebenan in der Kulturhalle noch
Fußball, wie uns die gelegentlichen Treffer an die Zwischenwand
akustisch bestätigen – Grund genug, noch ein wenig zu bleiben und
nachher mit Finn und Dominik zu schwatzen.
Luisa versucht mich zu bearbeiten, damit ich nächste Woche meinen Geburtstag in zumindest kleinem Rahmen feiere. Ich habe die
letzten paar Tage immer mal wieder darüber nachgedacht, aber eine
zufriedenstellende Lösung fällt mir nicht ein, denn ich möchte Lizzy
und Bengü einladen, aber auch Finn und Dominik. Aber Luisa zuliebe kann ich doch unmöglich zulassen, dass sich Lizzy und Finn in
diesem Leben jemals wieder begegnen! Dann feiere ich lieber gar
nicht. Oder ich feiere allein mit Vicki und wünsche mir von ihr als
Geburtstagsgeschenk, dass sie es kurz und schmerzlos macht und
ich keinen allzu grausamen Tod sterben muss.
»Es ist dein Tag«, beteuert Luisa erneut. »Es geht um dich und
nicht um mich. Sei doch einmal ein bisschen egoistisch!«
»Und wenn die beiden miteinander flirten?« Meine Stimme ist zu
einem Flüstern geworden, als könne mich Finn durch die Wand beim
Fußballspielen hören. »Dann sitzt du traurig in der Ecke und alles ist
meine Schuld!«
»Gar nichts ist deine Schuld!«, regt sich Luisa auf.
»Woran ist Molly Schuld?« Wir zucken zusammen und drehen
uns hektisch zur Tür, durch die Finn und Dominik spaziert sind.
Zum Glück habe ich geflüstert! Diese frechen Lauscher!
»Molly möchte euch zu ihrem Geburtstag einladen und macht
sich selbst viel zu viel Stress«, sagt Luisa seufzend.
Ich unterdrücke einen Aufschrei. Ich kann nicht glauben, dass
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meine beste Freundin mich derart in die Bredouille bringt.
»Zu viel Stress womit denn?«, fragt Dominik. »Ist doch klar, dass
wir dabei sind! Wann feierst du?«
Ich ringe um Worte und nach Atem. »Ich habe keinen Stress«, behaupte ich. »Ich weiß einfach noch nicht, ob ich was machen will
und falls ja, was.«
»Wir sind zu jeder Schandtat bereit, das weißt du doch«, meint
Finn. »Sag uns Bescheid und wir werden dort sein!«
Bevor der Schweißgeruch uns erreicht, sind die beiden schon wieder verschwunden. Ich will Luisa eine Standpauke halten, aber selbst
dazu fehlt mir die Kraft, und so drohe ich ihr müde meine bittere Rache für ihre Aktion von eben an und verabschiede mich. Daheim
wartet hoffentlich ein kleiner Teller mit Schnittchen auf mich, und
ich freue mich darauf, mich von allen zurückziehen und mich in
Selbstmitleid suhlen zu können, das kann ich doch so gut.
So komme ich nach Hause, greife mein Abendbrot, das mir Mama
liebevoll zubereitet hat, laufe nach oben in mein Zimmer, werfe die
Tür zu und beklage das jämmerliche Ende eines jämmerlichen Tages.
Ich habe keinen Stress, habe ich Dominik und Finn standhaft zu versichern versucht. Welch grandiose Lüge! Die Wahrheit ist doch, dass ich
gerade kaum etwas anderes verspüre als Stress. Wie soll ich denn
mutig und stark sein, wenn ich von einem Fettnäpfchen ins nächste
tappe? Alles, was ich mache, ist falsch. So wie König Midas in der
griechischen Mythologie alles durch bloße Berührung zu Gold verwandelte, habe ich den Eindruck, dass ich alles durch bloße Berührung zu Pech und Schwefel mache. Mein Geburtstag wird ein Reinfall, meine Proben mit Milo werden mich innerlich zerreißen und mit
Vicki steht mir auch noch großes Unheil bevor.
Ja, ich weiß, ich müsste nur nach unten in Mamas Arme laufen
und sie würde mir versichern, dass alles gut wird, und ein paar weitere aufbauende Worte finden. Aber heute Abend ist mein Stolz zu
groß, und es kann nicht sein, dass ich nicht selbst ein Problem an der
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Wurzel packen und aus meinem Leben entfernen kann.
Ich habe mich nach dem Abendbrot komplett in meine Überdecke
gewickelt und kämpfe meinen rechten Arm frei, mit dem ich nach
dem Buch Mormon auf dem Nachttisch greife. Mutig und stark. Das
ganze Buch ist voll davon – diese tapferen und unerschrockenen
geistigen Riesen, die stets die richtige Antwort auf alles hatten und
immer genau wussten, was sie tun sollten. Und ich? Ich traue mich ja
nicht einmal, eine lächerliche SMS an Milo zu schicken, obwohl er
um die Probe gebeten hat und ich sie damit lediglich bestätige.
Irgendwie gelingt es mir, mich in eine halbwegs bequeme Position zu bringen und das Buch neben mir aufzuschlagen. Ich blättere
ein wenig durch den ersten Nephi. Es ist beeindruckend, wie es diesem Typen gelang, sich in jeder noch so aussichtslosen Lage derart
korrekt zu verhalten. Als wir Nephis Geschichte im Seminar durchgenommen haben, ist er mir auf den Keks gegangen, weil er immer
alles richtig gemacht hat und es mir sehr schwer gefallen ist, mich
mit ihm zu identifizieren – allein dass er seinen Brüdern stets so freimütig vergeben hat, obwohl die ihn umbringen wollten. Da fiel es mir
leichter, mich in Laman und Lemuel hineinzuversetzen, denn genau
wie denen Nephis oberheiliges Verhalten gegen den Strich gegangen
ist, geht es mir ja mit meiner lieblich-perfekten Schwester.
Papa änderte meine Sicht der Dinge ein wenig, als wir 1 Nephi 3:7
morgens in der Frühe besprachen und ich mich nach dem Bett herbeisehnte, während Sophie aufrecht und aufmerksam am Tisch saß
und ich allein deswegen schon wieder sauer auf sie war.
»Nephi wirkt immer so, als hätte er alles gewusst und wäre nie
unsicher gewesen«, meinte Papa. »Lesen wir mal Vers 6 in Kapitel 4
… Molly?«
»Und ich wurde vom Geist geführt; ich wusste nicht im Voraus,
was ich tun sollte«, las ich laut. Ich weiß noch, wie die Müdigkeit
plötzlich verflog und mir bewusst wurde, was ich da gerade gelesen
hatte: Nephi hatte nicht vorher gewusst, was er tun sollte. Trotzdem
vertraute er bedingungslos auf das Prinzip der Seminarschriftstelle,
122
dass der Herr einen Weg bereitet, wenn er etwas verlangt. »Nephi
hatte nicht nur bedingungsloses Vertrauen«, spann Papa diesen Gedanken weiter, »er handelte auch bedingungslos. Stellt euch vor, ihr
hört auf den Geist und lasst euch von ihm führen und dann verlangt
der Vater im Himmel etwas völlig Unvorstellbares von euch – wie
hier, dass Nephi Laban das Leben nimmt. Aber Nephi war bereit zu
gehorchen und zu handeln!«
Seitdem ist meine Genervtheit von Nephi in tiefen Respekt umgeschlagen. Als ich innerlich herumjammern möchte, warum es mir
einfach nicht gelingt, seinem Beispiel nachzueifern, erinnere ich mich
daran, wie Mama mir ja gerade erst vor wenigen Wochen die Lernschriftstelle in 1 Nephi 3:7 ans Herz gelegt hat und ich daraufhin beschlossen habe, mit Luisa zu reden. Und es hat funktioniert. Sogar ganz
ohne Köpfe abschlagen und so. Und jetzt schaffe ich es nicht, mich mit meiner Schwester zu vertragen und eine läppische SMS loszuwerden?
Ich pule mich aus der Decke und greife nach meinem Handy. Vater im Himmel, aus irgendeinem Grund soll ich diese Rolle spielen und
dazu gehört, dass ich mit ihm probe. Aber ich kann nicht vor jeder Probe
Panikattacken bekommen. Ich tippe kurz und bündig »Hab morgen
nach der Achten Zeit, geht das bei dir?« und lege das Handy beiseite.
Der erste Anflug von Mut wird von den nächsten Zweifeln gleich
wieder zunichte gemacht. Wahrscheinlich ist ihm morgen viel zu kurzfristig und es passt ihm überhaupt nicht … Aaah, Molly, MUT! Ich schüttele die neuen Ängste ab, so gut es geht, stehe auf und verlasse mein
Zimmer.
Sophies Zimmertür ist nur angelehnt, und ich klopfe sachte, ehe
ich eintrete. Mich erstaunt immer wieder, wie verschieden wir in
sämtlichen Belangen sind. Mein Zimmer ist (vielleicht abgesehen
von meinem chaotischen Schreibtisch) sehr vorzeigefähig und ordentlich, aber mit nur wenigen Bildern und Accessoires und den
eher neutralen Farben kein Blickfänger. Sophies Wände sind in einem zarten Rosé mit Blumenborte tapeziert, überall steht »Kram«
herum, kleine Döschen, kleine Blumenpötte, ihr Stummer Diener ist
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überhäuft mit Klamotten. Auf der Kommode steht eine flache Glasschale mit Potpourri, das mit ihrem blumigen Parfüm perfekt harmonisiert.
Sophie sitzt an ihrem Schreibtisch und schreibt etwas. »Was
denn?«, fragt sie, ohne sich umzudrehen.
»Ich … ich probe morgen wahrscheinlich mit Milo«, sage ich.
Ihr Stuhl dreht sich um 180 Grad. »Molly«, stellt sie verwundert
fest, als hätte sie eher damit gerechnet, dass Mama oder Papa hereinspaziert ist.
»Ich dachte, du könntest mir morgen früh vielleicht etwas helfen,
mich hübsch zu machen?« Ich kann kaum in Worte fassen, wie
schwer es mir fällt, diese Bitte über die Lippen zu bringen. Ständig
halte ich meiner Schwester vor, für wie oberflächlich ich ihr Getue
halte, dabei wünsche ich mir, ich hätte auch nur einen Hauch ihres
tollen Aussehens abbekommen. Sie wiederum lässt des Öfteren bissige Bemerkungen über meine Haare oder mein Outfit fallen (wenngleich es ihr auch schnell wieder gelingt, in den Heilig-Modus zurückzuschalten), und ich habe es mir bislang erspart, sie um
Ratschläge zu bitten, was ich anders machen könnte. Aber nachdem
Nephi sich auf Ebenen gewagt hat, die bestimmt entgegen aller seiner Vorstellungen waren, möchte ich es ihm gleichtun.
Sophie steht auf und lächelt; es ist kein eiskaltes Vicki-Lächeln,
sondern herzlich. »Okay«, sagt sie. »Morgen, sechs Uhr?«
Ich nicke. »Sechs Uhr.«
Es entsteht eine kurze, seltsame Pause. »Ich wollte dich nicht beleidigen«, bricht Sophie schließlich das Schweigen.
»Ich weiß. Ich war kindisch«, gestehe ich. Wir umarmen einander,
und zum ersten Mal bin ich ihr dankbar, wie vorbildlich sie sich verhält und dass sie nicht abblockt oder mich anzickt. Mit beschwingtem Gemüt kehre ich in mein Zimmer zurück, gerade als mein Handy aufleuchtet. Milo hat mir geantwortet.
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11
A
ls mein Handy um halb sechs klingelt, möchte ich laut aufschreien, schaffe es jedoch, mich aus dem Bett zu quälen und
unter die Dusche zu schleppen, die mir die Müdigkeit aus den Augen spült und mich stattdessen mit Aufregung über den heutigen
Tag erfüllt. Ich habe kaum ein Auge zugedrückt, denn als mir Milo
gestern Abend per SMS bestätigt hat, dass wir uns heute um 15 Uhr
an der Aula treffen, habe ich an nichts anderes mehr denken können
und war viel zu aufgeregt, um einzuschlafen. Irgendwann habe ich
mich in einem seltsamen Trancezustand zwischen Wachsein und
Schlaf befunden, der so ziemlich die ganze Nacht angedauert hat.
Ich klaue mir Mamas Tagescreme aus dem Spiegelschrank und
reibe sie mir intensiv auf die Augenringe, ehe ich in mein Zimmer
zurückkehre und das Bad an Sophie abtrete.
Meine Schwester ist meiner Bitte nachgekommen und hat bereits
eifrig in meinem Kleiderschrank gewühlt, denn er steht sperrangelweit offen und auf meinem Bett liegen ein paar Sachen. Sophie hat
auch zwei ihrer Shirts dazugelegt – als ob ich in die hineinpassen
würde, aber als Sophie aus dem Badezimmer kommt, ruft sie mir im
Befehlston zu, ich solle sie gefälligst anprobieren.
»Findest du das nicht zu eng?«, frage ich sie fünf Minuten später,
als ich mich im Spiegel betrachte. Das grauweiß-gestreifte Shirt sitzt
sehr straff und ist dafür ziemlich lang.
»Ein bisschen, aber das fällt keinem auf«, sagt sie und hält mir
eine schicke braune Jacke hin. »Die ziehst du drüber, aber lass sie ja
offen.« Ich tue wie geheißen und muss mir eingestehen, dass ich die
Knöpfe vermutlich nicht einmal mit Gewalt zubekommen würde.
Sophie lächelt mich an. »Sieht gut aus«, beschließt sie. Mit der recht
simplen dunkelblauen Jeans ist sie ebenfalls einverstanden.
Wir gehen zurück ins Bad und mit einem Glätteisen widmet sie
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sich nun meinem kaum zu bändigendem Haar, bevor sie mir noch
ein leichtes Make-up verpasst. Als ich in den Spiegel schaue, bin ich
skeptisch. »Das ist doch Vortäuschung falscher Tatsachen«, sage ich.
»Nein, das ist ›etwas aus sich machen‹«, entgegnet sie. »Du kleisterst dir sonntags die Wimpern immer förmlich zu – du siehst doch,
wie wenig ich aufgetragen habe. Aber deine Augen kommen so viel
besser zur Geltung und deine Haare … ich habe mich selbst übertroffen.« Sie lässt sie offen und kämmt mir den Pony schräg übers
Gesicht. »Molly, du siehst toll aus. Milo wird beeindruckt sein!«
Nervös umarme ich sie. »Danke, Sophie«, sage ich. Ich bin gespannt, wie lange das Kriegsbeil zwischen uns begraben bleibt.
Trotz Bauchkribbeln hat sich die Panik der vergangenen Tage gelegt
und ich fühle mich darin bestärkt, gehandelt zu haben, so wie ich es
gestern Abend im ersten Nephi gelesen habe. Nephine sollte man
mich nennen, so mutig und stark, wie ich mich verhalte.
Ich versuche mir, die tapferen Gedanken zu bewahren, aber je näher ich der Schule komme, desto stärker spüre ich, wie sich die
Schwarzmalerei zurück in meinen Verstand schleicht. Was, wenn es
Milo gar nicht auffällt, dass ich heute anders aussehe? Oder noch
schlimmer: Er bemerkt es, aber es lässt ihn völlig kalt. Immer wieder
hole ich mich selbst auf den Boden der Tatsachen zurück, dass es
sich für ihn um eine unbedeutende Probe handelt, die lediglich dazu
dient, das Zusammenspiel zwischen uns zu optimieren. Mit jeder anderen Jane wäre er genauso vorgegangen – vielleicht sogar mit Lillian, aber in einer Welt, in der untalentierte Mädchen wie Lillian eine
Hauptrolle im Schultheater ergattern, wäre es nicht einmal so undenkbar, dass ein Junge wie Milo unter die Fassade des hässlichen
Vogels schaut und eine Molly entdeckt, die ihm gut gefällt. Außerdem muss ich ihn ja nicht gleich zu meinem Geburtstag einladen.
Oder soll ich ihn etwa zu meinem Geburtstag einladen?! Schon wieder
schwanke ich zwischen Hoffnung und Selbstkasteiung und fürchte
erneut, alles falsch zu machen und falsch zu sagen.
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Aber Nephi wusste auch nicht im Voraus, was er tun soll – und hatte
einfach Vertrauen. Sei mutig und stark, Molly!
Die innere Stimme bringt mir etwas Ruhe zurück. Der Vater im
Himmel gibt mir meine Selbstzweifel ja nicht ein, ich weiß genau,
woher sie kommen. Ich spreche in Gedanken ein kurzes Gebet und
bitte um Kraft und Vertrauen, damit ich das Richtige tun kann.
Ich werde sogleich belohnt, denn Lizzy und ich erreichen zeitgleich die Schule, und sie begafft mich, als wäre ich ein Zootier.
»Deine Haare sehen aber toll aus!«, ruft sie aus. »Wie hast du das
denn in der Frühe hinbekommen?«
»Hab ich meiner Schwester zu verdanken«, erwidere ich. »An
manchen Tagen hat sie mich wohl doch lieb.«
Da Lizzy nicht weiß, dass ich mich nach dem Unterricht mit Milo
treffe, kann sie glücklicherweise auch keine Rückschlüsse ziehen; das
Letzte, was ich heute gebrauchen kann, ist Klassentratsch.
Gerade freunde ich mich mit dem Gedanken an, dass aus dem
heutigen Tag noch etwas werden kann, da rutscht mir das Herz erneut in die Hose: Am Schultor steht Vicki mit Samira. Wo Kathrin
wohl ist? Vermutlich war sie gestern beim Shopping unerfolgreich
und muss daher krank im Bett verweilen und neue Kraft tanken.
Ich beschließe, den Blickkontakt zu meiden und einfach an ihr
vorbeizugehen (auch wenn das Lizzy als treuer Vicki-Fan nicht
passt), aber Vicki versperrt mir den Weg. Ihr Lächeln ist fast zuckersüß. »Molly«, begrüßt sie mich, »wie praktisch, dass ich dich treffe.«
Wieso habe ich eher den Eindruck, sie habe mir aufgelauert? Die
schwarzen Augen unterziehen mich einem Ganzkörperscan von unten nach oben. »Wow, du hast ja … eine Frisur!«
Da sie nicht besonders geübt im Komplimente machen ist, sollte
ich ihr die ungünstige Formulierung verzeihen, allerdings bezweifle
ich, dass die vermeintliche Nettigkeit aufrichtig gemeint war. Komm
zur Sache, liegt es mir bereits auf der Zunge, aber ich unterdrücke die
spitze Bemerkung Lizzy zuliebe, die vermutlich außer sich ist vor
Freude, dass Vicki Greiser sich mit uns abgibt.
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Es kommt noch besser: Vicki begrüßt nämlich nun auch sie. »Und
Elisabeth«, sagt sie, »schön, dass ich euch gleich zusammen
antreffe.« Sie stemmt beide Hände an die Hüften. Ihr dunkelroter
Anorak hat die gleiche Farbe wie ihre vollen Lippen, und die Haare
sind heute straff in einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr vorne
über der Schulter liegt.
»Die Freude ist ganz unsererseits«, entgegne ich und ernte von
Lizzy einen leichten Ellenbogenstoß in die Seite.
»Meine Eltern sind nächstes Wochenende beide geschäftlich unterwegs«, berichtet Vicki, »und haben mir erlaubt, eine kleine Pyjamaparty zu veranstalten. Da wir ja über die Theater-AG viel miteinander zu tun haben werden, wollte ich euch auch dazu einladen.«
Mich wundert, dass Lizzy vor gellender Freude nicht aufkreischt.
»Du lädst uns zu einer Party ein? Du? Vicki Greiser?«, hake ich nach
und bemühe mich, halbwegs die Fassung zu wahren und die Situation irgendwie analysieren zu können, ohne dass sie zu lange auf eine
Reaktion warten muss.
Wie vor ein paar Wochen, als ich unschlüssig war, ob ich auf der
Bühne Bertha Mason präsentieren oder Luisas Anruf annehmen soll,
nimmt mir Lizzy die Entscheidung ab. »Natürlich kommen wir!«,
ruft sie begeistert und saugt die Aufmerksamkeit auf, die Vicki ihr
schenkt, wohingegen Samira gelangweilt ihre Nägel feilt.
Mir schwant Böses, und dass Vicki Lizzy und mich gemeinsam
eingeladen hat, zeigt doch nur, dass sie meine Anwesenheit absichern will. Ich brauche eine Ausrede, aber schnell!
»Ich wollte eventuell nächsten Freitagabend meinen Geburtstag
feiern«, sage ich. »Das ist jetzt ein kleiner Terminkonflikt.«
»Du hast gestern noch gesagt, dass du nicht weißt, ob du überhaupt was an deinem Geburtstag machen willst – geschweige denn
eine Party am Wochenende!«, hält mir Lizzy vor. Sie ist dem Lockruf
der Sirene in die Falle getappt und zieht mich gleich mit in den Tod,
wie herrlich.
»Luisa, Finn und Dominik haben mich gestern Abend dazu über-
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redet«, entgegne ich. »Und ich wollte nachher auch noch mit dir darüber sprechen.«
Vicki verzieht keine Miene. »Ihr könnt mir ja im Laufe der Tage
Bescheid geben«, schlägt sie schließlich vor. »Aber es wäre natürlich
bedauerlich, wenn ihr nicht kommen könntet.«
Ja, sehr bedauerlich … Ich traue ihr nicht über den Weg und weiß
nicht, ob der Vater im Himmel mich warnen und vor Unheil bewahren möchte oder mir eine Chance gibt, Frieden zu schließen und in
Vickis Kreis der Auserwählten aufgenommen zu werden, was übrigens nicht in meiner Liste mit Lebenszielen aufgeführt ist.
»Das tun wir«, erwidere ich und zwinge mich zu einem: »Danke
für die Einladung, Vicki.«
Wir gehen zu viert gemeinsam ins Gebäude, wo sich im Korridor
unsere Wege trennen. Kaum sind die beiden außer Sicht, erwarte ich,
dass Lizzy mich windelweich prügelt, stattdessen fährt sie eine völlig neue Schiene auf und beginnt zu betteln. »Bitte, Molly!«, fleht sie.
»Hast du überhaupt eine Ahnung, wie lange ich auf diese Einladung
warte?«
»Du wirst deinen feministischen Vorbildern nicht besonders gerecht«, sage ich. »Das ist eine so offensichtliche Todesfalle, dass es
mich schon ziemlich beleidigt, für wie blöd Vicki mich hält. Als ob
ich das nicht sofort durchschauen würde …«
»Es geht aber nicht nur um dich!«, trotzt Lizzy. »Mich hat sie auch
eingeladen!«
»Ja, damit ich gehe!« Die Worte entweichen mir kurz und brutal,
und erst als Lizzy leicht zurückweicht, als hätte ich ihr eine Ohrfeige
gegeben, wird mir bewusst, wie sehr ich mich in den Mittelpunkt
rücke. »Entschuldige, ich –«
»Ich verstehe schon«, spuckt Lizzy mir wütend entgegen, »der
neue Star aus Jane Eyre hält sich für wichtiger als alle anderen.« Sie
geht einen Schritt zu, und ich bemühe mich gar nicht, sie einzuholen.
Es tut mir leid, dass ich ihr weh getan habe, auch wenn ich nach wie
vor überzeugt bin, dass ich mit meiner Einschätzung richtig liege.
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Lizzy beachtet mich den restlichen Tag nicht mehr; Bengü bemüht
sich vergeblich zu vermitteln. Immerhin bekomme ich von ein paar
Mitschülerinnen Komplimente zu meinen – oder eher Sophies – Klamotten und wie ich die Haare trage, und die Aussicht, den Nachmittag mit Milo zu verbringen, erhebt mein Gemüt. Als wir in Biologie
über Mitose und Meiose unterwiesen werden und Herr Klippel genauso gut eine Dreiviertelstunde die Wörter »Bla bla bla« von sich
geben könnte, kritzele ich in mein Heft und versuche mir auszumalen, wie die Privatprobe mit Milo ablaufen wird und wie ich mich
ihm gegenüber verhalten soll. Bleibe ich schüchtern und zurückhaltend oder überrasche ich ihn mit einem selbstbewussten Auftritt?
Ach, mache ich mir nichts vor: Ich werde sowieso wieder knallrot
und stammele irgendeinen Unsinn zusammen. Ich kann froh sein,
wenn er die Rolle des Mr. Rochester nicht an den Nagel hängt, weil
er erkennt, dass ein kompetentes Zusammenspiel mit mir nicht möglich ist. Außerdem verwirrt es mich nach wie vor, dass ein so sympathischer Junge eng mit Vicki befreundet ist. Es lässt mich schier an
seinem Verstand zweifeln.
Vicki. Womit meine Gedanken wieder bei ihr wären. Ein beliebtes
Beispiel beim Seminarunterricht, uns Jugendlichen nahezubringen,
wie der Satan sich seine Opfer krallt, ist ja die Begebenheit im Buch
Mormon, wie Amalikkja sich bei dem Heerführer Lehonti zunächst
einschleimt, ihn aus seinem Lager lockt und dann nach und nach
vergiftet. Dass der Teufel einen unüberlegten und unkontrollierten
Frontalangriff ausübt, ist eher selten; stattdessen versucht er durch
Halblügen und Grauzonen in unseren Verstand einzudringen, uns
vom Wesentlichen abzulenken und uns nach und nach zu vergiften,
bis es zu spät ist und wir es gar nicht mitbekommen haben.
Vicki verhält sich doch genauso: Sie ist freundlich, um mich aus
dem Revier zu locken, und wird mir dann irgendwie Gift verabreichen – entweder gelingt es ihr, mein Leben zu zerstören, oder sie vergiftet mich buchstäblich, selbst das traue ich ihr zu. Vicki, dieser neuzeitliche Amalikkja, diese Schlange aus dem Schulgarten Eden! Hält
130
sie mich für so naiv, dass ich auf diesen Plan hereinfalle und mich
zuerst von ihr einlullen und dann vernichten lasse?
Dann kommt mir jedoch Lizzy in den Sinn. Sie sehnt sich nicht
nur nach allgemeiner Anerkennung, sondern Vickis Aufmerksamkeit
ist ihr wirklich wichtig. Lizzy strebt an, dass Frauen diese Welt regieren, weil Männer ihrer Meinung nach das Problem für einfach alles
sind, und gleichzeitig sieht sie zu Vicki auf wie zu einer Göttin – vermutlich, weil Vicki immer alles im Griff zu haben scheint und jeden
und alles beherrscht. Sie würde alles geben, um mit ihr befreundet
zu sein, und ich bin nach wie vor felsenfest überzeugt, dass es kein
Zufall sein kann, dass Vicki uns gemeinsam eingeladen hat.
Nur … was, wenn ich paranoid bin und völlig daneben liege? Was,
wenn Vicki es tatsächlich ernst meint und nett sein will? Ich verurteile
sie von vorn bis hinten, dabei hat sie, abgesehen von ihrem leicht
höhnischen Ton gestern Vormittag, mir noch nie direkt etwas Böses
getan. Ich füge mich dem Ruf, den sie an der Schule hat, ohne ihr
wirklich eine Chance gegeben zu haben. Und die ganze Zeit habe ich
gebetet und gehofft, dass ich mit ihr reinen Tisch schaffen kann, damit sie mich nicht hasst, weil Frau Ömsen und Frau Beinker mir die
Rolle der Jane zugedacht haben – ist das hier möglicherweise die
Antwort darauf?
Mit dem Urteilen ist das so eine Sache. Ich glaube, dass sogar jeder Nichtgläubige die Stelle aus der Bergpredigt zitieren kann, in der
Christus über das Richten spricht und sagt: »Richtet nicht, damit ihr
nicht gerichtet werdet!« Und zwei Verse später: »Warum siehst du
den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem
Auge bemerkst du nicht?«
Eigentlich kenne ich Vicki nicht, geht es mir immer wieder durch
den Kopf. Ich verurteile sie, obwohl ich sie nicht kenne. Welcher Richterspruch Gottes mich wohl eines Tages ereilen wird, weil ich ständig
so schlecht über Vicki denke? Und ein weiteres Problem mit der uns
ständig vorgehaltenen Nächstenliebe: Selbst wenn Vicki tatsächlich
gemein ist und böse Absichten hat, muss ich sie lieb haben, denn wir
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sollen ja auch unserer Feinde lieben. Wohin ich mich auch wende,
ein annehmbarer Fluchtweg aus dieser Zwickmühle bietet sich mir
nicht.
Angestrengt überlege ich, ob es in den heiligen Schriften eine Begebenheit gibt, bei der jemand völlig falsch verurteilt wurde. Es gab
zwar viele Böse, die umgekehrt sind, aber die waren ja trotzdem genau das – böse. Aber jemand, der nur so rüberkam und sich dann als
gut entpuppt hat? Mir fällt tatsächlich niemand ein.
Nachdem der Unterricht endlich vorbei ist, schicke ich Luisa eine
SMS und frage sie, was ich mit Vickis Einladung anfangen soll. »Die
fesseln mich bestimmt und flößen mir Alkohol ein«, schreibe ich verzweifelt. Ob Vicki eigentlich weiß, dass ich der Kirche angehöre? Einige meiner Mitschüler wissen es ja, aber an die große Glocke gehängt habe ich das eigentlich nie. Luisa antwortet mir, dass ich mir
keine Sorgen machen soll und wir alles nachher noch im Detail besprechen.
Ich verabschiede mich von Bengü, die mir verspricht, mit Lizzy
zu sprechen. »Die fängt sich«, ist sie überzeugt.
Ein letztes Mal schaue ich in der Mädchentoilette vorbei und starre minutenlang in den Spiegel. Ganz so schön wie am Morgen sind
meine Haare nicht mehr, aber ich sehe trotzdem besser aus als sonst.
Ich bin Milo den ganzen Tag nicht begegnet und habe den Pausenhof
bewusst gemieden. Vor seinen Freunden macht er mir bestimmt kein
Kompliment, und dass ich eines von ihm bekomme, weil ich so mutig und stark bin und mich mit ihm treffe, ist eine Hoffnung, die
mich über all den Stress mit Vicki und Lizzy halbwegs über Wasser
gehalten hat.
Ich verlasse die Toilette und mache mich auf den Weg zur Aula.
Jeder Schritt wird zur Qual, und als mir bewusst wird, dass ich nur
noch einmal um die Ecke gehen muss, ehe ich die Tür zur Aula im
Blickfeld habe, wird mir schlecht. Vielleicht erwartet mich Milo
schon? Ob er mir sogar in dieser ganzen Vicki-Geschichte helfen
kann? Er scheint eine Schlüsselfigur des Ganzen zu sein, und wo-
132
möglich gelingt es mir durch ihn, Vorurteile auszuräumen. Und
wenn er sich dabei ganz nebenbei unsterblich in mich verliebt, hätte
ich nichts dagegen.
In der Tat steht Milo bereits vor der Tür, aber er ist nicht allein.
Frau Ömsen ist bei ihm. Finger weg von meinem Rochester!, will ich
hysterisch kreischen und schelte mich dann selbst für so einen peinlichen und unreifen Gedanken. »Hallo!«, rufe ich und lenke die Aufmerksamkeit der beiden auf mich.
Ich werde langsamer, und als ich endlich bei ihnen angekommen
bin, habe ich das Gefühl, kaum noch atmen zu können.
»Molly …«, setzt Milo an.
Nun komm schon, sag mir, dass du mich hübsch findest!
Er mustert mich. »Du siehst aber schick aus«, sagt er lächelnd.
Ich möchte ihm um den Hals fallen und die Schmetterlinge, die
seit ein paar Schritten in der Magengegend ohnehin immer heftiger
mit den Flügeln schlagen, haben sich nun im ganzen Körper ausgebreitet. Ich bleibe mit aller Konzentration aufrecht stehen, damit ich
nicht umkippe. »Danke«, bringe ich irgendwie heraus.
»Milo hat mich gebeten, euch die Aula aufzuschließen«, erklärt
Frau Ömsen ihre Anwesenheit. »Ich habe noch eine Stunde und
schaue dann vorbei, wenn ihr dann noch hier seid.«
»Um 17 Uhr ist Handballtraining«, sagt Milo. »Wenn du bis dahin
Zeit hast, können wir das meinetwegen ausschöpfen.«
Das gibt uns knappe zwei Stunden, wovon wir eine allein wären.
Ich nicke (vielleicht ein bisschen zu heftig).
Frau Ömsen lässt uns in die Aula, und wir gehen schnurstracks
nach vorne zur Bühne, wo wir unsere Sachen ablegen. Der Nebenraum der Aula ist nicht besonders groß und war bei den Besprechungen fast überfüllt; die Aula selbst hingegen wirkte bei den Proben
nicht so groß und leer wie jetzt, wo wir nur zu zweit hier sind und
sich so viele komplett leere Stuhlreihen hinter uns befinden. Mir
schaudert es davor, überhaupt mit Milo zu sprechen, aus Angst, dass
unser Gespräch bis in alle Ecken und Winkel der Schule nachhallt,
133
denn irgendwo auf einem Dachbalken hocken bestimmt Vicki und
ihre Lakaien.
Milo öffnet seine Schultasche und holt sein Skript sowie ein paar
Unterlagen hervor. »Wir haben mehrere Möglichkeiten«, sagt er.
»Wir können erst einmal die Grundlagen besprechen und allgemein
erörtern, wie Jane und Rochester rüberkommen sollen, oder wir steigen direkt mit einer der Szenen ein und schauen, wie sich das Ganze
entwickelt.« Er sieht auf. Sehe ich den Anflug seines süßen, schiefen
Grinsens? »Wir können auch gerne den Heiratsantrag wiederholen
und diesmal zu Ende spielen«, fügt er hinzu.
Hat er das wirklich gerade vorgeschlagen?!
Milo prustet los. »Wieso lässt du dich nur so leicht in Verlegenheit bringen, Molly?«, fragt er. Gleich darauf streckt er die Arme
leicht aus und senkt nickend den Kopf, als hätte er die Antwort auf
seine Frage gefunden. »Das liegt sicher daran, dass wir uns nie offiziell miteinander bekanntgemacht haben.« Und ehe ich mich versehe, hat er meine rechte Hand gepackt und verbeugt sich leicht. »Ich
heiße Miljenko Falkenstein, bin 17 Jahre alt, gehe in die 11. Klasse
und wohne in Bornheim.«
»Miljenko?«, ist das einzige, was ich herausbringe. Er hält meine
Hand nach wie vor, und da sich der purpurrote Bühnenvorhang hinter mir befindet, hat sich mein Gesicht garantiert chamäleonartig angepasst und Milo sieht kaum noch etwas von mir.
»Meine Mutter ist Kroatin«, erklärt er. »Papa ist mit ihr den Kompromiss eingegangen, dass auf meinem Pass ein kroatischer Vorname stehen darf, wenn zumindest mein Rufname keinem Zungenbrecher gleicht. Also heiße ich eigentlich Miljenko, aber alle sagen seit
meiner Geburt Milo. Wenn Mama mich nicht gerade zusammenstaucht und mein voller Name durch den ganzen Hausflur ertönt.«
»Und ich bin Molly Bach«, stelle ich mich nun seufzend vor. »Fast
16. Leider ist Molly weder ein Spitzname noch eine Abkürzung, sondern genau das, was er ist.«
Wie eigenartig, dass wir uns einander vorstellen, nachdem wir be-
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reits auf dieser Bühne eine so dramatische Szene inklusive Kuss hingelegt haben; andererseits freue ich mich, dass er Interesse daran
zeigt, die Proben nicht nur kurz und bündig hinter sich zu bringen,
sondern auch Wert auf mich als Person legt.
»Wieso leider?«, entgegnet er. »Ich mag deinen Namen. Irgendwie strahlt er … eine gewisse Ruhe aus. Oder du machst das.« Er
lacht und kratzt sich am Hinterkopf. »Ach, ich labere vielleicht wieder einen Stuss.« Er greift nach seinen Unterlagen.
Das tue ich auch immer, wir sind also wie füreinander bestimmt!, will
ich ausrufen, aber ich bringe keinen Laut über die Lippen. Immerhin
lächele ich, wenngleich ich das Gefühl habe, inzwischen so rot zu
sein, dass eine spontane Selbstentzündung nur noch eine Frage von
wenigen Minuten ist.
Milo lässt sich nichts anmerken und gibt mir ein Blatt Papier, auf
dem er stichpunktartig festgehalten hat, wie er Mr. Rochester sieht.
Er erläutert mir seine Gedanken, und mit aller Macht konzentriere
ich mich auf das, was er sagt, anstatt in unrealistische Tagesträumereien zu verfallen. »Rochesters Herz ist wegen seiner Vergangenheit
und Bertha völlig vernarbt«, sagt er. »Er ist verbittert und das sollen
die Zuschauer gleich spüren können. Sie sollen aber auch merken,
dass Jane durch ihre unkonventionelle Art es schafft, ihn langsam zu
knacken.« Er hält kurz inne. »Was hat dich eigentlich dazu bewogen,
dass du die Rolle doch angenommen hast?«, fragt er. »Ich hatte den
Eindruck, du seist sehr zwiegespalten.«
Ich möchte ihm gern einen Vortrag halten, wie viele Faktoren und
Überlegungen dazu beigetragen haben: etwa wie ich mutiger sein
will und erreichen möchte, dass andere meinen Namen hören und
ihm etwas Positives abgewinnen, weil ich etwas gut gemacht habe.
»Weil es die richtige Entscheidung war«, sage ich jedoch lediglich,
um mich nicht in unnötigem Gebrabbel zu verlieren.
Mit großen Augen sieht er mich an, und ich will am liebsten den
Blick senken, zwinge mich aber, den Augenkontakt zu halten. »Ich
finde das gut von dir, Molly«, lautet sein Fazit. »Du hast Talent. Lass
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dir von niemandem etwas anderes einreden.«
Von Vicki, meinst du? Ich sträube mich davor, das Thema anzuschneiden, aber ich weiß genau, dass ich keinen besseren Zeitpunkt
finden werde. Außerdem geht es mir nicht darum, meine Neugier zu
befriedigen, sondern eventuell mein falsches Bild von Vicki zu korrigieren und nicht immer so herablassend über sie zu denken. »Das
versuche ich«, sage ich ruhig. »Ich weiß, dass es albern ist, dass alle
so einen ungeheuren Respekt vor Vickis Ruf haben, aber so ist es nun
einmal. Und mir war von Anfang an bewusst, dass sie die Rolle will,
und ich wollte mich einfach nicht mit ihr anlegen.«
Ich stelle mich darauf ein, dass er sich aufregt, doch er nickt nur.
»Vicki ist kompliziert«, sagt er, »aber sie wird es wegstecken.«
Ich fasse mir ein Herz und stelle die Frage, von der ich nie gedacht hätte, dass ich sie jemals aussprechen könnte. »Wie kommt es
nur, dass ihr euch so gut kennt?«
Milo hält kurz inne, aber er blockt nicht ab. »Wir waren früher
Nachbarn«, berichtet er dann. »Wir waren zusammen im Kindergarten, wir waren zusammen in der Grundschule und selbst hier sind
wir immer in der gleichen Klasse gewesen. Wir kennen uns so lange,
dass ein Leben ohne sie für mich kaum vorstellbar ist – ich bin einer
der wenigen, dem sie andere Seiten von sich zeigt. Würdest du ihre
Eltern kennen, wäre dir klar, warum sie ist, wie sie ist.«
»Dann ist das alles Fassade?«, frage ich. »Sie gibt sich nur so gehässig, obwohl sie eigentlich gar nicht so ist?«
Milo lacht schallend auf. »Oh doch, sie ist ein ganz schönes
Biest«, sagt er, »unberechenbar, intrigant und eiskalt. Aber sie hat
eine verletzliche Seite, die kaum jemand kennt … am schwersten
macht sie sich das eigene Leben.« Milo verliert den leicht verträumten Blick und wendet sich mir mit einer abrupten Kopfbewegung zu.
»Ich kann nicht glauben, dass ich dir das erzähle«, sagt er, nach wie
vor breit grinsend, »aber irgendwie strahlst du so eine Vertrauenswürdigkeit aus!« Er lacht wieder, wie schon vorhin, als er mir mitgeteilt hat, dass ich in seinen Augen Ruhe ausstrahle. »Keine Ahnung,
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was mit mir los ist!«, fügt er hinzu.
Das ist der Heilige Geist!, will ich sagen. Er bestätigt dir gerade, dass
du mich liebst! Stattdessen schlucke ich und wieder bringe ich kein
Wort heraus. Er vertraut mir! Vielleicht hat er mir auch nur Honig
ums Maul geschmiert, aber ich erlaube mir nicht, seine Komplimente
anzuzweifeln.
Er widmet sich wieder dem Skript und erörtert das tiefe freundschaftliche Band, das im Laufe der Zeit zwischen Jane und Rochester
entsteht. In der Romanvorlage wird die Beziehung der beiden ausgiebig erforscht, wozu wir auf der Bühne kaum eine Chance haben.
Nach der ersten Begegnung muss sich der Funke der Freundschaft,
der sich zur Liebe entwickelt, schnell und dennoch glaubhaft entzünden. »Das ist übrigens der Grund, warum Vicki den humorvollen
Dialog zwischen Jane und Rochester beim Vorsprechen gewählt
hat«, erzählt Milo. »Ihr ging es um das Verhältnis der beiden und die
intellektuelle, seelische und geistige Wellenlänge, die sie von Anfang
an zusammenführt. Sie sieht ihre Freundschaft zu mir ähnlich und
war überzeugt, dass kaum jemand auf der Bühne besser mit mir harmonisieren würde als sie.« Fast so, als hätte er einen Monolog geführt und erwarte keine Reaktion, fährt er schon wieder fort mit Jane
und Edward. Ich sehe das Feuer in seinen Augen, die gleiche Begeisterung für das Buch, die ich verspüre, und ich staune, dass sich überhaupt ein Junge so sehr für diese Art Literatur interessiert.
Als Frau Ömsen schließlich zu uns stößt und wir ihr erläutern,
was wir besprochen haben, zeigt sie sich angetan und ergänzt unsere
Ausführungen mit eigenen Ideen. »Egal, wie kitschig diese Geschichte auf die Zuschauer wirken mag«, sagt sie, »keiner darf anzweifeln,
dass Jane und Rochester bis an ihr Lebensende glücklich sein werden, weil ihre Zuneigung zueinander so groß ist!«
Das wäre ein guter Ansatz, den Erlösungsplan ins Spiel zu bringen und dass Jane und Rochester – und übrigens auch deren Darsteller – über den Tod hinaus miteinander glücklich sein können, aber
Milo packt bereits seine Sachen zusammen, weil es kurz vor fünf ist
137
und er gleich Training hat.
»In der ersten Hälfte morgen werde ich euch trennen«, sagt Frau
Ömsen. Sie erklärt, dass ich mich mit Samantha aus der 5. zusammensetzen soll, die die junge Jane spielen wird, und sie schlägt Milo
vor, mit Vicki einen Plan für Rochester und Blanche zu erarbeiten
und außerdem ein wenig mit Elea zu proben, ebenfalls aus dem 5.
Jahrgang, die Rochesters Mündel Adèle verkörpert.
Sie bedankt sich für unser eifriges Engagement, und nachdem sie
die Aula hinter uns zugeschlossen hat, laufe ich mit Milo noch ein
Stück zur Turnhalle, da sich der Ausgang zur U-Bahn-Haltestelle in
der gleichen Richtung befindet.
»Danke, dass du das so kurzfristig einrichten konntest!«, sagt er.
»Gerne.« Ich will etwas Kluges von mir geben – warum nur fällt
mir nie etwas ein? »Ich … ich freue mich auf die Zusammenarbeit.«
Na, ich habe schon Klügeres gesagt, aber besser als nichts.
»Milo, nun aber zackig!« Frau Horn, Milos Handballtrainerin, die
auch meine Sportlehrerin in der Unterstufe war, steht bereits im Trainingsanzug am Halleneingang und winkt ihn heran.
»Ich habe noch dreißig Sekunden!«, ruft er lachend. Er berührt
mich leicht am Oberarm, lächelt mich an und sprintet dann los.
Ich tue das, was wohl jedes Mädchen in meiner Lage tun würde:
Ich bleibe stehen und schmachte ihm hinterher, bis er aus meinem
Sichtfeld verschwunden ist. Ich lasse unser Treffen kurz gedanklich
Revue passieren und stelle fest, dass ich mich eigentlich nicht wie
eine komplette Vollidiotin benommen habe. Außerdem weiß ich nun,
dass wohl doch irgendwo tief versteckt in Vickis von Hass, Neid und
Intrigen zerfressener, schwarzer, säurespuckender Drachenseele ein
kleines Lichtlein leuchtet. Ich habe aber noch etwas anderes erfahren,
was ich viel wichtiger finde: Sie und Milo sind tatsächlich nur Freunde, kein Paar.
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N
ach der berühmten Ansprache von Schwester Dalton, der JDPräsidentin, in der sie berichtete, wie sie mit ihren Ratgeberinnen den Ensign Peak bestieg und dort ein goldenes Banner schwang,
um die Welt zur Tugend aufzurufen, nutzte meine JD-Leitung gleich
die Gunst der Stunde und plante eine Wandertour auf den Vogelsberg. Wir schwangen dort aber weder goldene Banner noch brüllten
wir den Leuten zu, sie mögen umkehren, sondern jeder sollte sich
für eine halbe Stunde ein ruhiges Plätzchen in der Natur suchen und
darüber nachdenken, was er tun könnte, um sein Leben auf den Fels
Christus zu bauen und so unerschütterlich zu sein wie ein Berg. Das
Symbol des Felsens und der Aufruf, standhaft und sicher zu sein,
tauchen im Evangelium immer wieder auf.
Ich bin ein sehr wankelmütiger Mensch. Wenn alles gut läuft,
habe ich stets das Gefühl, ein Fels in der Brandung zu sein – ich fühle mich bestärkt, das Richtige zu tun, und nichts wirft mich so leicht
aus der Bahn. Das kommt ungefähr alle sechs Monate mal vor. Dann
geschieht irgendetwas und ich komme ins Stolpern und rutsche vom
felsigen Gelände hinab auf den Sand – meistens ist es Treibsand; ich
stecke fest und kann mich nur langsam und mit äußerster Mühe befreien, kämpfe mich zurück auf den Felsen, genieße kurz die Aussicht und rutsche dann erneut hinunter.
Nach der Probe mit Milo komme ich auf Wolke Sieben schwebend nach Hause. Ich fühle mich heute äußerlich nicht so abstoßend
wie sonst und habe mich Milo gegenüber (relativ) souverän verhalten. So schön sich der seelische Überflug anfühlen mag, schellen jedoch irgendwo tief in mir Alarmglocken, dass schon bald der große
Knall kommt und sich die nächste Katastrophe einstellen wird. Mich
beschäftigt nach wie vor, wie ich mich Vicki gegenüber verhalten soll
und wie ich lernen kann, nicht nur ihre Existenz zu akzeptieren, son140
dern sie mit den Augen Gottes zu sehen. Hat schon seinen Grund,
warum ich kein Gott bin.
In Gedanken versunken öffne ich die Haustür und werde schlagartig aus meinen Überlegungen gerissen, als mir Schaumstoffmunition entgegenfliegt und ich nur durch ein Reaktionsvermögen, das ich
im Sportunterricht leider noch nie aufgebracht habe, die Hand schützend vors Gesicht halte und mir dadurch mein kostbares Augenlicht
bewahre. »Justus!«, rufe ich.
Mein Bruder lugt hinter einer Kommode hervor. »Sorry«, sagt er,
»ich dachte, du wärst der Feind.« Neben ihm taucht ein Klassenkamerad von ihm auf, Kenan, ebenfalls bewaffnet. »Dr. Grant, das Experiment ist fehlgeschlagen«, verkündet Justus und hält sein PlastikMaschinengewehr nach wie vor auf mich gerichtet.
Kenan spricht ihn in einer betont erwachsenen Tonlage an, die angesichts des Stimmbruchs eher lustig klingt. »Agent Drake, Sie waren die ganze Zeit nur eine Marionette und haben nichts geahnt –
nur haben wir im Nachhinein einen klitzekleinen Fehler festgestellt,
der behoben werden muss; wir dachten damals nicht daran, dass wir
das Experiment noch einmal wiederholen müssen, dachten nicht,
dass wir Sie noch einmal brauchen würden.«
»Dr. Grant, suchen wir das Zeitportal ein weiteres Mal auf«, beschließt Justus und gemeinsam drängeln sie sich an dem fassungslosen Mädchen im Hausflur vorbei, ehe Justus innehält. »Reisen wir
am besten in die Vergangenheit zu den Lamaniten und hacken ihnen
die Arme ab«, bestimmt er dann. »Die haben es gar nicht anders verdient.«
»Lamaniten?«, fragt Kenan verwirrt.
»Ich erklär’s dir oben.« Die beiden machen sich auf den Weg und
flitzen die Treppe hoch. Justus blickt einmal kurz zu mir zurück. »Du
siehst voll hübsch aus, Molly!« Und schon ist er verschwunden.
So werden also die Geschichten aus dem Buch Mormon lebendig
– mit Spielzeug-Maschinengewehren und Zeitreisen zu den bald
armlosen Lamaniten. Aber ich sollte mich nicht beklagen – zwar ist
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auch Justus ein eifriger Konsolenliebhaber geworden, aber oft reichen ihm und seinen Freunden ihre Nerfs und ihre lebhafte Fantasie
für ein Abenteuer im Wohnzimmer oder im Garten, und zum anderen nutzt er die Zeit auch noch für eine gewisse Art von Missionsarbeit. Interessanter könnte er seinen Freunden die Begebenheiten aus
dem Buch Mormon wahrscheinlich gar nicht vermitteln, auch wenn
ich nicht weiß, wie nachahmungswürdig das, was sich jetzt oben in
Justus’ Schlafzimmer abspielt, sein soll.
Weshalb sind die heiligen Schriften auch nur so angereichert mit
Kriegsgemetzeln? Für pubertierende Jungen macht es vom Blutgehalt her kaum einen Unterschied, ob es sich um einen reinen Verteidigungskrieg handelt oder um einen Angriff; wie Ammon den Lamaniten die Arme abschlägt, ist da halt einfach »cool«.
Als Mama mit ein paar Konservendosen aus dem Keller kommt,
stehe ich immer noch wie angewurzelt im Flur und sinniere über unerschütterliche Felsen, Milo, Vicki und Massaker im Buch Mormon.
»Wie war die Probe?«, erkundigt sie sich augenblicklich, und ich
geselle mich zu ihr in die Küche und berichte kurz und bündig von
dem Treffen mit Milo und von Vickis Einladung.
»Du wolltest doch ohnehin eher etwas an deinem Geburtstag unternehmen und nicht am Wochenende, oder?«, fragt Mama.
»Mama … es ist eine Party bei Vicki Greiser.« Verstehe meine Lage,
Mutter! »Ich hab Bammel davor, dass ich dort in irgendeinen Gewissenskonflikt gerate.«
»Dann gehst du nicht hin«, sagt Mama. »Wenn du meinst, dass
du dich nicht wohlfühlen wirst, hat das doch keinen Sinn.«
Ich versuche ihr zu erklären, wie viel es aber Lizzy bedeuten würde, wenn wir gemeinsam hingingen, und wie ich mich außerdem bemühen möchte, Vicki mit freundlicheren Augen zu sehen – dabei hat
Milo ihren Ruf auch noch bestätigt. »Warum kann mein Leben nicht
so unkompliziert sein wie das von Justus?«, stöhne ich. »Der macht
einfach eine Zeitreise, wird zu Ammon und massakriert Lamaniten.
Und nutzt das dann auch noch, um Kenan eine Geschichte aus dem
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Buch Mormon zu erzählen.«
»Die Begebenheit von Ammon ist gar nicht mal so unzutreffend
bei deiner Situation«, meint Mama nach kurzem Überlegen.
Hat mir meine eigene Mutter gerade die Erlaubnis gegeben, Vicki Greiser die Arme abzuschlagen? »Inwiefern?«, frage ich.
»Was hat Ammons Missionsdienst ausgezeichnet?« Typisch Eltern. Man bekommt keine Erklärung, sondern muss sich alle Antworten selber erarbeiten.
Allerdings wird mir sofort bewusst, worauf sie hinauswill. »Er
war bei seinen Feinden auf Mission«, schlussfolgere ich. »Er wusste,
in welche Gefahr er sich begab, aber ihm lag das feindliche Volk so
am Herzen, dass er trotzdem gegangen ist.« Liegt mir Vicki so am
Herzen? Davon bin ich eher weit entfernt.
»Genau«, bestätigt Mama. »Du kannst die Geschichte allerdings
auch umdrehen und aus der Sicht der Lamaniten betrachten. Denk
daran, dass ihnen beigebracht wurde, die Nephiten zu hassen. Das gehörte sozusagen zu ihrem kulturellen Erbe. Als sie Ammon gefangengenommen haben, hatten sie ein völlig falsches Bild von ihm. Sie
haben ihn für einen bösen und gefährlichen Mann gehalten, der ihnen nur Schlechtes will – dabei hatte er ausschließlich gute Intentionen. Und ob du es willst oder nicht, kann das bei Vicki ebenso der
Fall sein – dass du sie falsch einschätzt, weil sie einen gewissen Ruf
hat, der dir seit Jahren von deinen Mitschülern eingetrichtert wird.«
Ich erinnere mich, wie ich heute Vormittag zur Feststellung kam,
es gäbe keine Begebenheit in den Schriften, in denen jemand, der gut
war, völlig zu Unrecht verurteilt wurde … Christus hatte allen
Grund, uns aufzufordern, das Gute im Menschen zu sehen – wäre es
nur nicht so schwer! Ich soll Vicki also eine Chance geben und mich
auf die Suche nach ihren guten Charakterzügen begeben, und selbst
wenn sie sich als die Nemesis entpuppt, die mich seit Wochen in
meinen Albträumen verfolgt, wird von mir als Christin erwartet,
dass ich sie lieb habe.
Meine Eltern geben mir wahrhaft ein Beispiel dafür, das Leben
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auf einen Felsen zu bauen. Trotz ihrer Macken und seltsamen Entscheidungen wie ein Kind Molly zu nennen oder ein anderes im fortgeschrittenen Alter zu bekommen, weiß ich, dass sie Christus immer
an erste Stelle setzen. »Das ist wie ein Dreieck«, hat Papa beim Seminar mal erklärt. »Oben ist Christus, die beiden unteren Spitzen bilden eure Mutter und ich. Je näher wir uns auf Christus zubewegen,
desto näher kommen wir auch einander. Genau so funktioniert eine
gute Ehe!« Wäre ich nur imstande, ein solides, in Christus verankertes Leben zu führen wie Mama und Papa. Dann würde es mir bestimmt auch gelingen, Vicki zu mögen.
Ich seufze und schleppe mich aus der Küche. Einmal im Leben einfach nur hassen dürfen! Aber nein, immer diese Nächstenliebe …
Luisa, die mich anruft, kaum dass ich mein Zimmer betreten
habe, bemüht sich, mich aufzurichten. »Du bist viel zu hart zu dir
selbst«, sagt sie aufmunternd. »Denk doch nicht immer an alles, was
du nicht tust, sondern an das, was du tust. Du bist aktiv, kommst immer zur JD-Aktivität, machst beim Seminar mit, betest … und du
machst dir mehr Gedanken über Christus als viele andere.«
»Weshalb bin ich dann so unstet?«, erwidere ich. »Kaum war ich
mal mutig und stark, werde ich wieder zum Angsthasen. Propheten
wie Nephi und Ammon sind unerschütterlich gewesen.«
»Das glaube ich nicht«, behauptet Luisa. »Gerade von Nephi lesen wir doch, dass er sich seiner Schwächen bewusst war und sich
unzulänglich gefühlt hat. Und hätten die mit Milo proben müssen,
hätten sie auch Angst bekommen.« Womit sie das Thema zur heutigen Probe überleitet und mich über alles haargenau ausfragt, und
ich wiederhole brav im Detail, was ich bereits Mama erzählt habe.
Luisa kennt weder Milo noch Vicki, daher ist es schwieriger für sie,
mir das Verständnis entgegenzubringen, das ich für ihre Situation
mit Finn habe, aber ich weiß, dass sie es gut meint. Sie ruft mir eine
Idee in Erinnerung, die ich selbst schon kurz hatte, aber gleich wieder verworfen habe: Milo zu meinem Geburtstag einzuladen. Der
bloße Gedanke verursacht Herzrasen. Ich verspreche, darüber nach-
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zudenken, aber eigentlich weiß ich jetzt schon, wie die Sache ausgehen wird: Ich werde kneifen und es dann ewig bereuen. Schon wieder nähere ich mich der Felsenklippe und drohe, in den Treibsand
hinabzustürzen.
Ich stelle mir vor, wie ich an einem einzelnen Ast am Felsvorsprung hänge und kaum noch Kraft habe, daran festzuhalten. Christus beugt sich über die Klippe und reicht mir die Hand. »Handle,
Molly«, sagt er. »Vertrau mir doch.«
Um nichts in der Welt will ich zu Vickis Party. Wenn ich Christus dadurch jedoch zeige, dass ich bereit bin zu handeln, wird womöglich
alles nur halb so wild. Vielleicht beeindrucke ich sogar Milo, wenn er
mitbekommt, dass ich Vicki eine Chance geben möchte.
Ich greife nach meinem Handy und schreibe Lizzy eine lange
SMS. Ich entschuldige mich mehrfach für mein unfreundschaftliches
Verhalten und sage ihr, dass ich gerne mit ihr zu Vickis Party gehen
würde – wenn sie denn noch will. Ich schreibe ihr außerdem, dass
ich am Mittwochnachmittag meinen Geburtstag in kleiner Runde feiern möchte und mich freuen würde, wenn sie dabei ist (auch auf die
Gefahr hin, dass Finn einen Rückfall erleidet und erneutes Interesse
zeigt). Im Abendgebet bitte ich den Vater im Himmel um Kraft, das
Richtige zu tun. Als ich im Bett liege, fühle ich mich zum ersten Mal
am ganzen Tag ruhig.
Ich habe zwar nicht erwartet, dass mir Lizzy um den Hals fällt, aber
ich bin ein bisschen enttäuscht, als sie mich tags darauf weiterhin eisern ignoriert und mir die kalte Schulter zeigt. Selbst als ich in einer
der Pausen das Gespräch mit ihr suche, läuft sie mir davon. »Es tut
mir ja leid, was ich gesagt habe«, meine ich verzweifelt zu Bengü.
»Will sie, dass ich sie anbettle?«
»Sie braucht ein paar Tage, bis sie den gekränkten Stolz auskuriert hat«, erklärt Bengü. »Ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen machen, Molly. Das gibt sich von ganz alleine wieder.« Bengü
nimmt die Einladung zu meinem Geburtstag gern an. Immerhin eine
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Schulfreundin. Bengü ist auch diejenige, die nach dem Unterricht mit
mir zur Probe geht. Nach dem Läuten hat Lizzy ihre Sachen in die
Tasche gefegt und das Klassenzimmer schnurstracks verlassen, und
als Bengü und ich die Aula erreichen, ist Lizzy bereits dort. Sie sitzt
bei Vicki – oder sagen wir mal »in ihrer Nähe« (zwei leere Stühle
trennen sie voneinander und dichter rangetraut hat sich Lizzy ohne
Einladung vermutlich nicht).
Ich werde von hinten leicht angerempelt und will gerade losmotzen, als ich feststelle, dass es Milo ist. Er hat die Haare voller Gel und
sie straff zurückgekämmt, ich sehe nur den Anflug eines Lächelns
und eine Augenbraue ist leicht hochgezogen – ein treffenderer Mr.
Rochester könnte nicht vor mir stehen. »Bereit, Miss Eyre?«, fragt er.
Immer, Edward, immer! Meine eigentliche Antwort ist natürlich etwas abgespeckter: »Ähm … ja!«
Zu dritt gehen wir nach vorne und werden von Frau Ömsen, Frau
Beinker und einigen anderen begrüßt, ehe Frau Ömsen allen den
Plan für die heutige Probe kundtut, den sie Milo und mir gestern
schon erklärt hat. Frau Beinker bleibt mit mir, Samantha aus dem 5.
Jahrgang, die am Anfang des Stückes Jane als Kind spielt, und ein
paar anderen (darunter Lizzy) in der Aula, um die ersten Szenen
durchzunehmen. Jane ist die einzige Rolle mit Doppelbesetzung;
zwar sind ihre beiden Cousinen Eliza und Georgiana und ihr Cousin
John zu Beginn des Buches ebenfalls Kinder, jedoch hielten unsere
Lehrerinnen es für sinnvoller (da die Rollen nicht so umfassend
sind), diese von nur jeweils einer Person spielen zu lassen.
Der Anfang von Jane Eyre ist sehr grausam – ein junges, unschuldiges Mädchen wird von der eigenen Verwandtschaft körperlich und
seelisch misshandelt, ihre Tante (Mrs. Reed, verkörpert von Vickis
rechter Hand Samira) hasst und vernachlässigt sie ohne ersichtlichen
Grund.
Während der Probe gebe ich ab und zu Input, um Samantha zu
helfen, ein eingeschüchtertes, gebrandmarktes Mädchen zu spielen,
das sich dann dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – zu so ei-
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ner bemerkenswerten, selbstbewussten jungen Frau entwickelt. Waren es all die Grausamkeiten?, frage ich mich. Haben gerade diese Prüfungen dich zu einem Felsen gemacht, Jane? Die Bedingungen, ihr Leben in
den Griff zu bekommen, sind mehr als ungünstig. Dennoch gehört
Jane nicht zu der Sorte Mensch, die das, was sie selbst durchgemacht
hat, später anderen mit der Erklärung antut: »Aber meine Kindheit
war so schrecklich!« Nein, sie kehrt ihr Leben komplett um. Später
im Buch, und das ist eine Szene, auf die ich mich schon sehr freue,
tut sie sogar das Undenkbare: Sie vergibt ihrer bösen Tante freimütig
und liebevoll. Sie war nie wankelmütig. Sie hatte ein Ziel vor Augen und
es entgegen jeglicher Wahrscheinlichkeit geschafft, über ihre Feinde zu triumphieren – und zwar nicht durch Rache, sondern durch ein tadelloses,
sittlich reines Leben.
Als die Gruppe nach der Hälfte der Zeit zusammenkommt, sehe
ich Milo und Vicki miteinander schäkern, ehe er zu Frau Ömsen
läuft und ihr ein paar Notizen auf seinem Skript zeigt. Ich nutze den
Augenblick und gehe zu Vicki, die auf einem der Stühle niedergesunken ist, die Beine übereinandergeschlagen hat, die Arme verschränkt und die Umgebung beobachtet. Als sie sieht, dass ich auf
sie zukomme, weicht ihr Blick nicht von mir. Das Schicksal will es so,
dass Samira und Kathrin gerade nicht bei ihr sind, und ungebeten
setze ich mich neben sie. Roboterhaft bewegt sie ihr Haupt um 90
Grad zur Seite, damit ihre Augen mich auch nicht eine Sekunde aus
ihrem Fangstrahl verlieren. »Molly«, begrüßt sie mich in einem erheiternd nüchternen Ton, etwa einer Mischung aus »Hallo, Molly!«,
»Sieh mal einer an. Molly Bach.« und »Molly! Würg!«
»Ich wollte mich nochmals für deine Einladung bedanken«, sage
ich frei heraus. »Und ich nehme sie gerne an.«
»Doch keine Geburtstagsparty?« Doch ein spöttischer Kommentar?
»Nicht am Wochenende, nein.« Moment mal – Vater im Himmel,
du erwartest nicht, dass ich sie einlade, oder? Und dennoch spreche
ich es aus: »Du kannst natürlich dazustoßen, wenn du Lust hast …
am Mittwochnachmittag.« Was habe ich mir dabei gedacht? Was,
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wenn sie tatsächlich kommt?
»Das ist nett, aber ich habe keine Zeit«, erfolgt ihre Antwort jedoch schnell und unumwunden, und ich kann kaum abstreiten, dass
ich erleichtert bin – und zwar so sehr, dass meine Einladung in den
Büchern des Himmels wohl kaum als Akt der Nächstenliebe aufgezeichnet werden kann, sondern eher als aufgezwungenes Pflichtbewusstsein. »Was ist mit deiner Freundin?«, fragt Vicki und lässt meinen Geburtstag damit unter den Tisch fallen. Mit einem Kopfnicken
deutet sie auf Lizzy, die mit Bengü in ein Gespräch vertieft ist.
»Ich gehe davon aus, dass sie ebenfalls erscheinen wird«, erwidere ich. »Du kannst sie ja noch mal daran erinnern. Sie freut sich bestimmt, wenn sie das Gefühl hat, willkommen zu sein.« Ich verbeiße
mir einen zynischen Unterton und klinge so aufrichtig wie möglich.
»Die Details lässt du mich sicher noch wissen?«
»Aber ja.« Mit diesen Worten erhebt sie sich. Irgendwie muss sie
aus dem Augenwinkel gesehen haben, dass Milo auf uns zugekommen ist. Kaum ist er bei uns angelangt, steht sie dicht bei ihm und
ihre rechte Hand verharrt auf seiner Schulter. »Proben wir weiter?«
»Ich probe jetzt mit Molly«, verkündet er. »Oder störe ich euch
beide gerade bei einem tiefsinnigen Gespräch über die geplante
Weltherrschaft?«
»Ganz im Gegenteil«, mische ich mich ein und springe ebenfalls
auf. »Ich habe gerade Vickis Einladung zu ihrer Party am nächsten
Wochenende angenommen«, erkläre ich ihm. Da Vicki von einer Pyjama-Party sprach, bin ich ohnehin davon ausgegangen, dass es nur
Mädchen sein würden. Milos überraschtem Gesichtsausdruck entnehme ich nun, dass er noch gar nichts davon gewusst hat.
»Girls only«, fügt Vicki gleich hinzu. »Obwohl die Versuchung
groß wäre, dich als Überraschungsgast dabeizuhaben. Du könntest ja
… für uns tanzen oder so.«
Man kann über Vicki sagen, was man will, irgendwie finde ich
diese Idee hervorragend.
»Leider muss ich passen«, schlägt Milo den Vorschlag aus und
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schaut aufgesetzt leidig. »Da habe ich schon was vor … Hausaufgaben oder irgendetwas anderes Wichtigeres.« Er geht einen Schritt auf
mich zu und löst sich damit von Vickis klammernder Hand. »Bereit,
Molly?«, fragt er mich.
Ich nicke, und als wir gemeinsam in den hinteren Bereich der
Aula gehen, spüre ich, wie Vickis Blick auf uns lastet, aber ich drehe
mich nicht zu ihr um. Erst als ich meine Unterlagen auf einem der
leeren Stühle abgelegt habe, schaue ich unverfänglich nach vorn und
sehe, wie Vicki bei Lizzy und Bengü steht. Lizzy sieht begeistert aus,
woraus ich schließe, dass Vicki sie tatsächlich an die Party erinnert
hat. Bengü beobachtet das Ganze skeptisch und wird von Vicki überhaupt nicht beachtet.
»Welche Szene proben wir?«, frage ich Milo schließlich, doch als
ich mich ihm zuwende, stelle ich erschrocken fest, dass er mich etwas missbilligend ansieht. Er scheint mitbekommen zu haben, dass
ich wiederum Vicki und Lizzy beobachtet habe. Ich werde rot.
»Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache«, sagt er.
Sein Leben? Jane und Mr. Rochester? Ich? »Was meinst du?«
»Dass Vicki dich eingeladen hat … und dass du hingehst … irgendwas stimmt da nicht.« Ich kann nicht glauben, dass er so offen
ausspricht, was mir schon die ganze Zeit durch den Kopf geht.
»Mag sein«, erwidere ich, »aber gerade du hast mir doch gesagt,
dass es da eine nette Seite an Vicki gibt. Ich erwarte nicht, dass wir
Freundinnen werden, aber ich möchte ihr zumindest das Gefühl geben, dass ich nicht mit ihr verfeindet sein will … verstehst du, was
ich meine?«
Die sorgenvolle Miene entschwindet langsam aus Milos Gesicht.
»Du bist ein guter Mensch, Molly«, sagt er. »Du verdienst es nicht,
dass sie …« Er schaut zu Vicki. »Aber lassen wir das, ich kläre das
nachher mit ihr persönlich.« Er blättert durch sein Skript. »Lass uns
einfach weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben, oder?«
Ich nicke. Mein Herz klopft, aber nicht so sehr wegen Milo – ja,
ein bisschen auch wegen ihm –, doch vielmehr weil er mich als guter
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Mensch bezeichnet hat. Fasst das nicht im Prinzip genau das zusammen, worum ich mich die ganze Zeit bemühe? Ein gutes, rechtschaffenes Herz zu haben? Mein Leben nach Jesus Christus auszurichten
und mich zu bemühen, ihm nachzufolgen?
Auch wenn es eben danach klang, als wolle mich Milo vor Vicki
warnen, habe ich den Eindruck, dass es richtig war, Vickis Einladung
anzunehmen – auch um ihr damit etwas zu verdeutlichen. Ich fühle
mich gut bei dieser Entscheidung und mit beiden Füßen fest am Boden – am felsigen Boden. Habe ich wirklich etwas zu verlieren, wenn
ich sogar noch ein bisschen mehr Mut oben draufsetze?
»Milo«, sage ich, »ich feiere am Mittwoch mit ein paar Freunden
meinen Geburtstag … und … ich habe mich gefragt, ob du vielleicht
Lust hättest, auch dabei zu sein?«
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13
D
ieser Tag ist zum Scheitern verurteilt. Ich liege im Bett und bin
seit gut anderthalb Stunden wach – nicht, weil ich zu aufgeregt
bin, um weiterzuschlafen, und es kaum abwarten kann, meinen Geburtstagstisch aufzusuchen und die Geschenke auszupacken, sondern weil ich keine Lust habe, dass man mir zu meiner elenden Existenz gratuliert. Ein weiteres Jahr voller Niederschläge steht mir bevor. Erst gestern musste ich eine Mathearbeit schreiben, die ein kompletter Reinfall war, und da Herr Rank für die Korrektur grundsätzlich nur einen Tag braucht, wird das wohl das erste große Highlight
meiner heutigen Misere. Lizzy redet immer noch nicht mit mir, und
meinetwegen soll sie sich Zeit lassen, bis sie sich endlich wieder eingekriegt hat, aber da wir in der Schule ja quasi beieinander sitzen,
macht das die Situation mehr als lächerlich – vor allem wenn wir,
wie es am Montag und auch vergangenen Freitag vorkam, Gruppenarbeit machen sollen, und Lizzy meine Beiträge ignoriert und so tut,
als wäre ich nicht anwesend. Ich ärgere mich mehr darüber, als dass
ich darunter leide, aber es hat trotzdem dazu beigetragen, dass mir
die letzten paar Tage gehörig auf den Senkel gegangen sind. Ein Gutes hat es: Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, dass Finn und
sie bei meiner kleinen Geburtstagsrunde am Nachmittag flirten und
Luisa das Herz brechen. Ein gebrochenes Herz reicht mir – und das
wäre mein eigenes.
Ach Milo …
Als ich am vergangenen Donnerstag bei der Probe all meinen
Mut zusammennahm und ihn fragte, ob er auch zu meinem Geburtstag kommen wolle, schaute er mich mit großen Augen an. Ich wusste
augenblicklich, dass ich eine Grenze überschritten hatte und einen
Schritt zu weit gegangen war. »Molly«, sagte er, »das ist echt nett
von dir, aber du weißt doch, ich hab mittwochs Training … und die
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Kreismeisterschaft steht an, da kann ich echt nicht schwänzen, sonst
versohlt mir Frau Horn den Hintern.«
Es entstand eine unangenehme Pause, ich wurde rot, und sofort
bereute ich, dass ich überhaupt etwas gesagt hatte. Wir kennen uns
kaum … wir sind keine Freunde … wir sind nur Partner in einem Theaterstück. »Stimmt ja, das habe ich ganz vergessen«, winkte ich das Ganze mit einem aufgesetzten Lachen ab. »Es war auch nur so ein Gedanke. Entschuldige.«
Milo runzelte die Stirn. »Du brauchst dich doch deswegen nicht
zu entschuldigen«, meinte er. »Danke, dass du an mich gedacht
hast.«
Wir widmeten uns Jane und Mr. Rochester und Milo war professionell wie immer, aber er merkte bestimmt, dass ich unkonzentriert
war, auch wenn er nichts dazu sagte. Der Abschied nach der Probe
war kurz, ehe er mit Vicki davonzog. Irgendwo tief im Herzen hatte
ich gehofft, er würde vielleicht fragen, wann wir das nächste Mal zu
zweit proben können, aber die Frage blieb aus. Und seitdem habe ich
nichts mehr von ihm gehört.
Luisa meinte, ich solle ihm doch einfach schreiben. Nie und nimmer! Es ist schon schlimm genug, dass ich ihm durch meine Einladung durch die Blume mitgeteilt habe, wie toll ich ihn finde, ich will
ihn doch nicht gänzlich vergraulen. Ich traue mich nicht einmal, ihn
auf Facebook als Freund hinzuzufügen, auch wenn ich abends ab
und zu durch die Fotos auf seinem Profil klicke und mich dann schäme, weil ich mir wie so eine widerliche Stalkerin vorkomme.
Das Wochenende habe ich also mehr oder weniger heulend zugebracht, ungewiss, wie es mit Milo und überhaupt mit meinem armseligen Leben weitergeht, aber Luisa und die Jungs aus der Gemeinde pochen darauf, dass wir heute etwas gemeinsam machen, und
Bengü habe ich ja auch schon eingeladen. Vielleicht bringt mich das
sogar auf andere Gedanken, aber während ich im Bett liege und an
die Decke starre, gewinne ich nicht den Eindruck, dass sich dieser
Tag viel versprechend entwickeln wird.
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Sophie stürmt ohne anzuklopfen in mein Zimmer und ich fahre
hoch. »Molly, ich mach dir heute wieder deine Haare, okay?« Sie formuliert es als Frage, aber ich weiß, dass sie keine Widerrede dulden
würde. »Happy Birthday, kleine Schwester!«, fügt sie zwinkernd hinzu und verschwindet dann im Bad. Ich schaue auf meinen Wecker.
Sophie und ich werden nicht pünktlich zum Seminarunterricht erscheinen, befürchte ich, aber vielleicht hat Papa heute ausnahmsweise Nachsehen.
Gute vierzig Minuten später komme ich frisch gestylt ins Wohnzimmer. Es ist kurz nach sieben, und ich erwarte, dass Papa ungeduldig am Esstisch sitzt – stattdessen begrüßt mich die ganze Familie
mit einem Geburtstagsständchen. Sogar Justus, der heute erst zur
Zweiten muss, hat sich im Pyjama dazugesellt und brummt mit.
Nacheinander werde ich von meinen Eltern und Geschwistern umarmt. Kleine Schälchen mit Süßkram umrunden ein paar Geschenke
und Karten, die Mama auf dem flachen Sideboard zwischen Wohnund Essbereich drapiert hat.
Der Tag, den ich vor knapp einer Stunde noch verflucht habe,
bessert sich schlagartig ein bisschen. Zwar kenne ich das Gefühl, am
Geburtstag den wunderschön vorbereiteten Geburtstagstisch zu entdecken und mich an den Präsenten zu weiden, aber ich kann mich
nicht daran erinnern, dass Eltern und Geschwister anwesend waren
und mich besungen haben, als ich runterkam.
»Du darfst dich gleich gern ans Auspacken machen«, verkündet
Papa, »aber zuerst haben wir eine besondere Überraschung. Sophie
und Justus wissen bereits davon, daher konnten wir sie auch leicht
überzeugen, dabei zu sein.« Er überreicht mir einen Briefumschlag.
Sophie hat die Hände gefaltet und bebt vor Aufregung, Justus gähnt,
wirkt aber ebenfalls erheitert.
»Was hat das zu bedeuten?«, frage ich.
Nun grinst Mama breit. »Papa und ich waren gestern beim Arzt«,
erklärt sie. »In dem Umschlag ist eine Karte – wenn sie rosa ist, be kommt ihr eine Schwester, wenn sie blau ist, bekommt ihr einen Bru-
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der. Sophie und Justus haben sich einverstanden erklärt, dass du das
Geheimnis lüften darfst.«
Augenblicklich wird mir ganz anders zumute und meine Hände
fangen an zu zittern, aber ich halte den Umschlag eisern fest. Vielleicht sollte ich mich ärgern, dass die Aufmerksamkeit, die mir gebührt und auf die ich vorhin noch gut verzichten konnte, jetzt aber
doch insgeheim genieße, an den Wurm in Mamas Bauch übergeht,
ich bin jedoch gerührt, dass meine Eltern mich damit überraschen.
Nachdem die Liste der potenziellen Vornamen am Kühlschrank inzwischen auf zwei A4-Blätter herangewachsen ist, wird es auch Zeit,
zumindest die Hälfte der Namen zu streichen.
»Nun mach schon auf!«, ruft Sophie ungeduldig.
Ich möchte meine hibbeligen Geschwister – und mich selbst –
nicht länger auf die Folter spannen. »Ich hoffe, es wird ein Junge«,
sagt Justus noch, bevor ich das Couvert öffne, dessen Lasche gnädigerweise nicht zugeklebt, sondern nur reingesteckt ist.
Blau.
Ich ziehe das farbige, blanke Kärtchen heraus und halte es hoch.
Justus’ Müdigkeit verfliegt und er macht einen Freudenschrei, gefolgt von einem Sprung, auch Sophie klatscht aufgeregt in die Hände
und presst sich augenblicklich an Mama und Papa.
Ein Junge! Ich bekomme einen Bruder!
Die Schwangerschaft überhaupt zu akzeptieren, war ein Akt für
sich, und auch wenn ich mich schließlich damit abfinden konnte,
blieb es doch irgendwie ein namenloser Embryo. Nun ist daraus ein
Bruder geworden, den ich in ein paar Monaten im Arm halten werde. Ich könnte mich darüber aufregen, dass der wunderschöne
Name Emma nun flachfällt, aber seltsamerweise möchte ich mich
den Freudensprüngen meines Bruders anschließen. Was ist denn nur
los mit mir?
»Und wir haben noch etwas zu sagen«, unterbricht Papa den Jubel und Trubel. »Wir haben überlegt, wie wir das mit den Zimmern
regeln, um es allen rechtzumachen. Sogar in dem Fall, dass Sophie
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doch nicht hier in Frankfurt studieren sollte und auszieht, möchten
wir den Keller komplett renovieren und ein bisschen ausbauen. Das
Arbeitszimmer wird dann nach unten verlegt und wir haben oben
ein weiteres Schlafzimmer. Es braucht sich also niemand Sorgen zu
machen!«
»Ich will in den Keller!«, ruft Justus. »Kann da nicht bitte mein
neues Zimmer werden? Och bitte!«
»Eine gute Idee«, unterstütze ich seinen Wunsch und fahre mit
völlig ernster Stimme fort, »das bringt die Erinnerungen zurück an
deine ersten drei Lebensjahre, in denen wir dich sowieso auf einen
Stuhl gefesselt im Keller gehalten haben. Und sieh an, was aus dir
geworden ist!«
Justus schaut verdutzt.
»Molly …« Papa schüttelt den Kopf. »Wir werden darüber reden,
in Ordnung?«, sagt er an Justus gewandt. Mein Bruder gibt sich damit zufrieden.
Ich packe ein paar Geschenke aus, die vorrangig aus neuen Klamotten bestehen, die Mama (mit Sophies Hilfe, errate ich) besorgt
hat, sowie aus einem neuen mp3-Spieler, auf den viermal so viele
Lieder passen wie auf meinen letzten, der vor ein paar Wochen den
Geist aufgegeben hat. Justus hat mir einen Ring geschenkt. »Sophie
meinte, der würde dir vielleicht gefallen«, erklärt er, als er mein
überraschtes Gesicht sieht. Der Stein ist bernsteinfarben, und er gefällt mir tatsächlich sehr gut, auch wenn ich mir kaum vorstellen
kann, dass sich Justus bereit erklärt hat, so viel Taschengeld für seine
Schwester auszugeben und vermutlich einen Zuschuss bekommen
hat. Ich belohne ihn trotzdem mit einem dicken Kuss auf die Wange,
den er sich angewidert mit dem Handrücken fortstreicht und dann
wieder in sein Zimmer hochläuft.
Papa presst den Seminarunterricht in sieben Minuten, gibt Sophie
und mir aber mit auf den Weg, dass dies eine Ausnahme war, zu der
er jedoch mehr als liebend gern bereit war.
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Sophie und ich fahren gemeinsam zur Schule, aber im U-Bahn-Abteil
erspäht meine Schwester augenblicklich drei ihrer Freundinnen,
wünscht mir einen schönen Tag und gesellt sich zu ihnen. Ich fühle
mich weder verraten noch allein gelassen; ich habe es gern, ein paar
Minuten in meinen Gedanken zu versinken, ehe der lästige Schulalltag seinen Lauf nimmt, und Sophie weiß das.
Ostern steht vor der Tür, und auch wenn die Läden das vor allem
durch schicke Deko in Frühlingsfarben verraten (und die Lebensmittelgeschäfte seit Januar durch Ostersüßigkeiten), vergeht kaum ein
Unterricht in der Kirche, in dem nicht die wahre Bedeutung dieses
Festes hervorgehoben wird, und dieses Jahr fällt zudem die Generalkonferenz auf Ostern. Sicherlich wird das Thema dort ebenfalls eifrig
diskutiert werden.
Auch wenn wir Ostern des Sühnopfers und der Auferstehung gedenken, verfalle ich in nahezu weihnachtliche Gedanken, weil mir
wieder einmal bewusst wird, wie der Erlöser der Welt, der alle unsere Sünden und all unser Leiden auf sich genommen hat – wie auch
immer das funktioniert haben soll –, einmal ein kleines Baby in einer
unauffälligen Krippe war. Ich frage mich, wie sich das Leben meines
ungeborenen Bruders entwickeln und welche Aufgaben er einmal
haben wird. Wie wird er wohl seinen 16. Geburtstag begehen? Ich
mag gar nicht daran denken, wie alt ich sein werde, wenn das einmal
so weit ist.
Über das Leben Christi wurde durch den Mund der alten Propheten bereits vor seiner Geburt so viel verkündet. Ich frage mich, ob es
irgendwo im Himmel Vorabskizzen über unseren Lebenslauf gibt.
Ob wir uns als Geistkinder zusammengehockt und ausgemalt haben,
wie unser Erdenleben ablaufen würde – oder vielleicht das eines
Geistfreundes? Ob ich den Geist meines Bruders kannte? Ob ich
wusste, dass wir einmal hier auf der Erde eine Familie sein würden?
Ich verlasse die U-Bahn und nehme wie üblich den längeren Weg,
um der Masse zu entfliehen, aber ich bleibe ruckartig stehen, als ich
ein paar Meter vor mir Milo sehe, der mit einem Kumpel lachend
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Richtung Seiteneingang geht. (Immerhin zur Abwechslung nicht mit
Vicki.) Mein Herz rutscht mir wieder in die Hose. Ob wir uns bewusst
waren, wie verzwickt es ist, wenn man jemanden mag, der diese Gefühle
nicht erwidert?, frage ich mein ungeborenes Brüderchen in Gedanken.
Und es war uns trotzdem wert, diesen Weg anzutreten? Wahrscheinlich
wird mein Bruder gutaussehend, sportlich und intelligent wie Sophie, und die Mädchen werden ihm scharenweise hinterherlaufen.
Von seiner Schwester Molly lernt er lediglich, wie man sein Leben
lang demütig bleibt, weil alles stets anders kommt, als man es sich
wünscht, und man sich dem Plan Gottes anpassen muss.
Bengü empfängt mich mit offenen Armen und auch meine übrigen Klassenkameraden gratulieren mir, außer natürlich Lizzy, der
beleidigten Leberwurst. Weil ich meinem Bruder ein gutes Beispiel
geben will, schreibe ich ihr gleich in der ersten Stunde ein kleines
Briefchen, dass ich mich wirklich freuen würde, wenn sie heute
Nachmittag vorbeischaute. Es erfolgt keine Reaktion.
Stattdessen gratuliert mir in der großen Pause Vicki, auch wenn
»gratulieren« es vermutlich nicht ganz trifft. Sie stolziert heute ausnahmsweise nicht wie eine Königin auf mich zu, sondern hat ihren
Raubtiermodus eingeschaltet; und als sie mich und Bengü entdeckt
hat, pirscht sie sich von hinten heran und steht plötzlich direkt vor
uns, sodass jegliches Entkommen ausgeschlossen ist. Sie verkündet,
dass sie mir nur kurz die Details zu Freitagabend durchgeben möchte, ihrer großen Pyjamaparty, die ich heute ganz bewusst aus meinem Verstand verdrängt habe. Die »Details« entpuppen sich jedoch
lediglich als Uhrzeit und Packliste (Pyjama und Schlafsack. Welch
Überraschung!). Ich teile ihr mit, dass ich ihre Adresse brauche, und
sie rattert sie kurz runter, als gehe sie davon aus, dass sie nun in
mein Gehirn gebrannt ist, denn etwas zum Notieren trage ich wie
andere normalsterbliche Schüler für gewöhnlich in der Pause nicht
bei mir. »Für Snacks und Getränke ist selbstverständlich gesorgt«,
fügt sie hinzu. »Das wird eine Party, die du bestimmt nicht vergessen
wirst!« Das könnte ja auch wie eine Drohung klingen. Ehe sie von
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dannen zieht, wendet sie sich mir ein letztes Mal zu. »Alles Gute übrigens«, sagt sie, wendet sich ab und wird von einer Raubkatze zur
Filmdiva, die über einen ausgerollten roten Teppich davonschreitet.
»Warum gehe ich da nur hin?«, frage ich Bengü.
»Weil du nicht ganz dicht bist«, erwidert diese, und ich kann ihr
keinen Vorwurf machen, weil das die reine Wahrheit ist.
Mein nächstes Geburtstagsgeschenk erhalte ich in Mathe. Wie erwartet bekommen wir die Arbeit zurück, wobei Herr Rank damit leider bis zum Ende der Stunde wartet und vor der Rückgabe die Besprechung der Aufgaben erfolgt – was ich hasse. Man kennt seine
Note nicht, aber mit jeder Lösung, die an der Tafel präsentiert wird,
schwindet die Hoffnung, dass das Ergebnis vernünftig geworden ist.
Glücklicherweise verstehe ich so wenig von dem Stoff, dass ich mich
nicht einmal erinnern kann, was ich nun richtig und was ich falsch
gemacht habe, und außerdem erscheint mir das, was an der Tafel
steht, nicht viel plausibler als irgendetwas, was ich geschrieben haben könnte. Ein Tafelbild nach dem anderen wird gehorsam ins Heft
geschrieben, und mehrmals muss mein Lehrer die Tafel komplett abwischen, um neuen Platz zu schaffen, wobei er nur den oberen Teil
mit dem Schwamm abwischt – die untere Hälfte säubert er unfreiwillig mit seinem mächtigen Bauch, und so wird die Kombi von seinem roten Hemd und der schwarzen Jeans zur Nationalflagge vom
Jemen. (Was ich nur weiß, weil wir über diesen Staat gerade in Erdkunde gesprochen haben.)
Bengü schreibt immer blendende Noten in Mathe, aber sie ist deswegen keineswegs in Arroganz verfallen und freut sich immer noch
über eine gute Arbeit, weswegen ich ihr die glatte 1 auch nicht verübeln kann. Als ich meine 3- wiederbekomme, möchte ich allerdings
am liebsten laut aufkreischen vor Freude. Das Lernen hat sich ausnahmsweise ausgezahlt! Ich bin das ganze Schuljahr noch nicht über
eine 4 gekommen.
Auf diese Weise lässt sich Lizzys ignorantes Verhalten gut ertragen, und selbst Milo blende ich nach und nach aus. Nach der Schule
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nehme ich Bengü direkt mit nach Hause. Sie zeigt sich frustriert über
Lizzy und kann nicht verstehen, warum unsere gemeinsame Freundin so auf stur schaltet. »Ich habe ihre Sprüche, dass sie uns gegen
Vickis Clique austauschen würde, immer als Witz abgetan«, sagt sie.
»Sie hat uns ihre Freundschaft doch nicht nur vorgespielt … ich war
immer der Meinung, dass wir ihr wirklich wichtig sind. Aber so wie
sie sich momentan verhält …« Es stimmt – Lizzy redet mit Bengü
auch immer weniger und straft sie ebenfalls für meinen unüberlegten Spruch von vergangener Woche, was ich als unfair empfinde,
denn Bengü hat ihr ja nichts getan. Sie nimmt ihr offensichtlich übel,
dass sie sich weiterhin mit der abgehobenen Jane Eyre abgibt.
»Lassen wir uns davon nicht die Stimmung verderben.« Ich zeige
ihr meine neuen Klamotten und den Umschlag mit der blauen Karte,
von der ich ihr heute Vormittag schon berichtet habe und die ich keineswegs wegzuschmeißen gedenke.
Bengü kündigt an, dass ihr Geschenk »noch kommt«. Hat sie mit
Luisa zusammengelegt? Es würde mich wundern, wenn die beiden
Kontakt haben, von dem ich nichts weiß, aber meinen Freunden
traue ich mittlerweile so ziemlich alles zu.
Gegen 16 Uhr trudeln Luisa, Finn und Dominik gemeinsam ein.
Ich nehme ihre Gratulation freudig entgegen und berichte gleich begeistert, wovon ich heute Morgen in aller Frühe erfahren habe. »Ich
habe die Jungennamen am Kühlschrank gesehen«, sagt Luisa, »und
ich fürchte, da müsst ihr noch ein bisschen dran herumfeilen!«
»Mir sind auch mehr schöne Mädchennamen in den Sinn gekommen«, gestehe ich. »Wenn die Fotos vom Fötus nur etwas deutlicher
wären, würde ich vielleicht bessere Inspiration empfangen … Ist es
inzwischen eigentlich ein Fötus?« Wieso weiß ich das nicht?
»Wie wäre es mit Fötus als Namen«, schlägt Dominik vor. »Das ist
originell, musst du zugeben!«
Die Absurdität bringt mich zum Lachen, und Mama, die den Vorschlag mitbekommen hat, verspricht, ihn im Hinterkopf zu behalten.
Sie schickt uns an den Esstisch, wo bereits die leckere Schokocreme-
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torte aufgedeckt ist, die sie im Laufe des Vormittags vorbereitet haben muss, und sie hat sich selbst übertroffen.
Ehe man mich zwingt, die Kerzen auszupusten und wir uns der
Schoko-Orgie hingeben, gibt es jedoch noch Geschenke zu öffnen.
Luisa hat wieder einmal viel zu viel Geld ausgegeben und mir nebst
der 1. Staffel einer unserer Lieblingsserien noch Pralinen und eine bezaubernde Halskette geschenkt, die optisch sogar hervorragend zu
dem Ring von Justus passt. Dazu reicht sie mir einen Brief, den ich
aber lesen möchte, wenn ich allein bin. Ich weiß ja, wie nahe mir diese freundschaftlichen Liebesbriefe gehen.
Die Jungs holen aus einer Plastiktüte etwas hervor, was zweifelsohne schon im Geschenkpapier aussieht wie ein gerahmtes Bild.
»Das ist von Bengü und von uns beiden«, erklärt Finn.
Ich bin überrascht und stelle keine Fragen, aber als ich das Geschenk auspacke, stockt mein Atem und mir kommen unweigerlich
die Tränen. Ich sehe auf den ersten Blick, dass Bengü die Künstlerin
sein muss. Von ihrem Talent war ich eh und je überzeugt, aber sie hat
sich wirklich selbst übertroffen. Die Bleistiftzeichnung zeigt mich –
als Jane Eyre. Ich sitze auf einem Stuhl in einem Zimmer, das vermutlich Janes Schlafzimmer auf Thornfield Hall darstellen soll, und
blicke verträumt aus dem Fenster. Auf meinem Schoß ruht ein Buch.
»Ich … ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll«, flüstere ich.
»Dann sage ich etwas«, entgegnet Bengü grinsend. »Du solltest
wissen, dass das Ganze Dominiks Idee war!«
Ich reiße die Augen auf und schaue zu Dominik, der rot angelaufen ist und den Blick senkt. »Na ja«, setzt er an, doch Bengü fährt unbeirrt fort.
»Er hat mich angemailt, ob das eine gute Idee wäre – und ich
fand sie hervorragend, und so hab ich mich an die Arbeit gemacht,
und er und Finn haben es rahmen lassen.«
»Molly, das ist ja wunderschön!« Mama nimmt mir das Bild ab.
Ich weiß, wie sehr sie den Roman liebt, und nachdem ich die
Hauptrolle in dem Theaterstück übernehme, muss diese bildliche
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Darstellung wohl die Erfüllung ihrer mütterlichen Träume sein.
Ich erinnere mich, wie ich vor ein paar Wochen, als wir den Spieleabend bei Dominik hatten, den Gedanken hegte, er könne mich
vielleicht mögen. In der Zeit, die seitdem vergangen ist, kam das
Thema nie wieder auf – wir haben uns in der Gemeinde gesehen und
bei den Aktivitäten am Dienstag, aber dieses Geschenk kann nicht
nur ein spontaner Einfall gewesen sein, sondern wirkt wohl überlegt
und gut vorbereitet. Es tut mir leid, dass mein Herz so von Milo besessen ist, aber ich gehe sofort auf Dominik zu und umarme ihn.
Finn und Bengü und Luisa natürlich auch, aber als ich sage: »Das ist
das Schönste, was ich jemals bekommen habe!«, sehe ich Dominik
dabei an. Mir ist klar, dass ich vermutlich Gefühle in ihm schüre,
aber die Dankbarkeit ist echt und ich bin wahrhaft geplättet.
Während wir uns an Mamas vorzüglicher Schokoladencremetorte
laben, kommt mir mein kleiner Bruder wieder in den Sinn, der noch
viele Geburtstage vor sich hat. Ich hoffe, dass er einmal so gute
Freunde haben wird wie ich – denn auch wenn es Tiefschläge gibt
wie mit Lizzy, zeigen mir solche Gesten und Geschenke wie die meiner Freunde, mit denen ich vergnügt zusammensitze und feiere, was
eine wahre, tiefgreifende Freundschaft wirklich ausmacht. Und ich
hoffe, mit Lizzy wird sich auch alles wieder einrenken, denn nach
wie vor liegt mir ja sehr viel an unserer Freundschaft, und ich weiß
genau, dass es ihr auch so geht. So einfach kann sie mich und Bengü
nicht gegen Vicki austauschen!
Ich schaue in die Runde und mir wird warm ums Herz, als ich in
die fröhlichen Gesichter meiner Freunde blicke. Mir fällt ein, dass ich
nun zu den Lorbeermädchen gehöre und damit Luisa für einen Monat als einziges Rosenmädchen zurücklassen muss, bis sie in vier
Wochen ebenfalls 16 wird. Jeden Sonntag sagen wir mit den Jungen
Damen gemeinsam den Leitgedanken auf und geloben, »von ganzem Herzen nach den Idealen der Jungen Damen« zu leben, wie es
dort heißt. Ich bin froh, dass ich diese Wertvorstellungen – Glaube,
göttliches Wesen, Selbstwertgefühl, Wissenserwerb, Eigenverantwor-
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tung, gute Werke, Redlichkeit und Tugendhaftigkeit – in meinen
Freunden sehe, ob Junge oder Mädchen, ob Mitglied oder Nichtmitglied. Ich wünschte, ich hätte diese Ideale nur halb so gut verinnerlicht wie Luisa, Bengü, Finn und Dominik.
Papa macht heute sehr pünktlich Feierabend; er hat eine Bowlingbahn reserviert und die beiden Zusatzsitze hinten im Auto bereits
montiert, und so fahren wir in gut gelaunter Runde in einen anderen
Stadtteil und kegeln uns die Seele aus dem Leib. Luisa und Finn sitzen nebeneinander und reden überhaupt auffällig viel, was den Tag
noch schöner macht, und ich vergesse die negative Einstellung von
heute Morgen komplett und freue mich über unser ausgelassenes
Beisammensein. Als Bengü, die wohl immer in allem die Beste sein
muss, ihren dritten Strike in Folge wirft, piept mein Handy. »Happy
Birthday, Molly!«, schreibt Milo. »Party schon vorbei oder kann ich noch
dazustoßen?«
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M
an kann schlecht abstreiten, dass es in den heiligen Schriften
viele Kriegsgeschichten gibt, Stammtafeln, lange Predigten
und Ratschläge und teilweise auch recht verwirrende Prophezeiungen, die sich mir noch nicht vollständig erschlossen haben (oder, wie
Luisa ab und zu meint: »Ach, schon wieder ein Prophet, der am Jesaja-Syndrom leidet …«). Ganz außer Acht lassen darf man aber nicht,
dass es auch eine Fülle an schönen Liebesgeschichten gibt, die jedes
Herz schmelzen lassen: Rebekka ist nicht nur die Antwort auf Isaaks
Gebet, die richtige Frau zu finden, sondern voller Glauben geht sie
die Ehe mit ihm ein und steht ihm treu zur Seite. Ihr Sohn Jakob
schuftet viele Jahre, damit er seine angebetete Rahel ehelichen darf.
Rut gewinnt im Nu das Herz von Boas und wird immerhin eine
Stammmutter Jesu Christi. Meine Lieblingsliebesgeschichte in den
Schriften bleibt wohl die von Maria und Josef. Leider erfahren wir
nicht so viel über Josef, aber wenn man bedenkt, welche Schande
eine uneheliche Schwangerschaft damals darstellte und wie treu er
Maria zur Seite stand und für sie gesorgt hat, so zeigt das doch nicht
nur bloßen Gehorsam, sondern dass er sie von ganzem Herzen geliebt haben muss.
Natürlich gibt es auch die Schattenseiten der Liebe – David machte sich des Mordes schuldig, weil er scharf auf Batseba war, Samson
verlor seine Kräfte, weil er sich von Delila verführen ließ. König
Ahab ehelichte die gottlose Isebel und brachte das ganze Volk vom
rechten Glauben ab (falls das Evangelium wider Erwarten doch nicht
stimmen sollte und wir nach dem Tod alle wiedergeboren werden,
besteht übrigens kein Zweifel daran, dass Vicki Greiser die Reinkarnation von Königin Isebel ist). Die Leidenschaft, die Liebe mit sich
bringt, kann zu einer Glut führen, an der sich Mann und Frau gemeinsam wärmen und die beide miteinander genießen können, sie
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kann aber auch zu einem Feuer werden, die alles verzehrt.
Ich wünsche mir die Glut. Natürlich auch ein gewisses Feuer,
aber eines im Rahmen des Evangeliums, an dem sich niemand verbrennt und verletzt, das niemandem Schaden zufügt.
Als ich Milos SMS betrachte, macht mein Herz einen regelrechten
Sprung. Das Training muss schon früher als sonst zu Ende gewesen
sein, denn es ist erst kurz nach sechs. Wir haben die Bowlingbahn
noch eine halbe Stunde, ehe wir uns auf den Rückweg machen und
es bei uns daheim Abendessen für alle gibt. Ich reiche Luisa mein
Handy und sehe, wie Dominik nach vorn zur Bahn schlendert, sich
eine Kugel schnappt und galant acht Pins versenkt. Dominik hatte
die vielleicht kreativste und romantischste Idee für mein schönstes
Geburtstagsgeschenk aller Zeiten. Wenn das Geschenk doch nicht von
ihm, sondern von Milo stammen würde … Ich schäme mich für diesen
Wunsch. Ich schäme mich, dass mein Herz für Milo brennt und sich
Dominik vermutlich die Finger daran verbrennen wird, sollte er jemals in die Offensive gehen und sich aktiv um mich bemühen. Oder
interpretiere ich zu viel hinein?
»Nun antworte ihm schon!« Luisa gibt mir das Handy zurück.
»Sind fast fertig mit Bowlen, magst du zum Abendessen kommen?«,
schreibe ich. Unruhig rutsche ich in der unbequemen Plastikschale,
die einen Sitz darstellen soll, hin und her.
»Du bist dran, Molly!«, ruft Dominik.
Juhu, ich darf mein Untalent wieder zeigen! Aber auch wenn ich
weit hinter allen liege, macht mir das Bowlen Spaß, und meine Gäste
sind höflich genug, dass sie mich nicht auslachen. Ich werfe einen
Pudel, welch Überraschung, und warte gar nicht darauf, dass die
Bowlingkugel zurückrollt, sondern schnappe mir die nächstbeste
von ähnlichem Gewicht.
»Du musst den Ball beim Abwurf andrehen«, erklärt mir Dominik und gesellt sich zu mir. »Du wirfst so zielstrebig daneben, dass es
leider nichts werden kann.« Er positioniert sich hinter mir. Steif vor
Schreck lasse ich mich von ihm zurechtrücken, wobei er sehr behut-
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sam ist und ich nicht das Gefühl habe, begrabbelt zu werden. Er will
ja nur nett sein und helfen. Als ich immerhin sechs Pins abwerfe und er
mich dafür lobt, bin ich fast gerührt. »Danke, du bist lieb«, sage ich.
Leider überhaupt nicht mein Typ.
Dominiks Ohren erröten leicht, er kratzt sich an der Schirmmütze, als wollte er den Hinterkopf erwischen und hätte vergessen, dass
er eine Kopfbedeckung trägt.
Ich lasse mich in meinen Sitz fallen, schlürfe an meiner Limonade
und überprüfe meine Nachrichten. »Klingt gut! Adresse?« Mein Herz
schlägt immer lauter und wird nur vom Lärm um mich herum übertönt. Ich gebe sie Milo durch. »Meinst du, meine Sorge war unbegründet?«, frage ich Luisa, weil sich Milo ja immerhin tagelang nicht
gemeldet hat. Andererseits: Wieso sollte er? Vielleicht hatte er für
eine Probe ja auch keine Zeit.
»Du fragst mich, ob es unbegründet war, dass du dich völlig verrückt gemacht hast, weil du deinen Schwarm zu deinem Geburtstag
eingeladen hast und er dir höflich abgesagt hat, weil er wirklich
nicht konnte und sich dann nicht stündlich per SMS dafür entschuldigt hat?«, entgegnet Luisa mit gerunzelter Stirn.
»Könntest du mir netterweise vorheucheln, du wärst auf meiner
Seite?«, verlange ich prompt.
Luisas Tonfall wird weich. »Molly, du weißt doch, wie sehr ich
mir für dich wünsche, dass er dich mag. Es ist nur schwierig, die
Lage zu beurteilen, wenn ich ihn nicht kenne.«
Na, auch wenn sie recht hat, ändert sich das hoffentlich in einer
halben Stunde. Ich beuge mich dichter zu ihr herüber. »Und Dominik?«, frage ich. »Das war ein ganz schön krasses Geschenk …«
Ehe Luisa darauf antworten kann, setzt sich Finn neben sie und
streckt erschöpft die Arme, als hätten ihn die beiden souveränen
Würfe eben die letzten Kräfte gekostet. »Ihr sollt nicht die ganze Zeit
tratschen, ihr Schnatterliesen«, bemerkt er.
Mein Handy leuchtet auf. »Cool, bis gleich!«
Ich will laut aufschreien – und tue dies auch, allerdings aus ei-
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nem anderen Grund: Finn hat mir das Handy aus der Hand gerissen
und sieht fasziniert auf das Display. »Aha, und wer gesellt sich noch
zu uns?«, fragt er neugierig.
»Ein Schulfreund«, erwidere ich zähneknirschend und nehme
mein elektronisches Suchtmittel wieder an mich.
»Ihr Edward Rochester«, haucht Luisa Finn zu, und ich weiß nicht,
ob sie mich damit ärgern will oder ob sie die Gelegenheit nutzt, um
Finn mit einem lasziven Augenklimpern den Kopf zu verdrehen.
Dominik unterhält sich gerade mit Bengü und bekommt von alldem glücklicherweise nichts mit. Ein paar Minuten später sitzen wir
im Auto und fahren guter Dinge zurück zum Hause Bach. Zwar bin
ich beim Bowling Letzte geworden, aber Milos Entschluss, doch
noch zu uns zu stoßen, nimmt mir jeden Hang, geknickt zu sein und
mich als Versagerin zu sehen, und ich fühle mich einfach großartig.
Kaum wühlt die Meute im Hausflur, um sich der Schuhe zu entledigen, kommt Mama aus der Küche. »Es ist noch ein Gast dazugekommen«, verkündet sie mit einem viel zu breiten Grinsen. Lautlos formt
sie mit den Lippen ein enthusiastisches »Wow!« und hält beide Daumen nach oben. Geht es noch ein bisschen weniger subtil, Mutter?
»Mich wundert, dass er noch nicht schreiend weggelaufen ist«,
grunze ich und stelle eifersüchtig fest, dass Milo mit Sophie in der
Küche steht und ihr beim Kochen hilft.
»Die beiden haben mich gezwungen, am Tisch zu sitzen, damit
ich mich nicht belaste, und ihnen Anweisungen zu geben«, redet sich
Mama heraus. »Wie hätte ich da widerstehen können?«
Meine Gäste verschwinden nach und nach im Wohnzimmer, ich
hingegen gehe geradewegs in die Küche. Milo wischt sich die Hände
an einer (ganz bezaubernden dunkelroten) Schürze ab, kommt einen
Schritt auf mich zu und gibt mir eine feste Umarmung. »Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag, Molly!«, sagt er.
»Da-danke«, stammele ich und traue mich nicht einmal, die Umarmung gebührend zu erwidern, sondern hänge widerstandslos in
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seinen Armen und muss mich halten, als er mich loslässt, damit ich
nicht zu Boden stürze.
»Er spielt nicht nur exzellent Theater, er kocht sogar«, sagt Sophie. »Vielleicht solltet ihr eure Proben hierher verlegen?« Meine
Schwester wagt es tatsächlich, Milo zuzuzwinkern, und es ist kein
Zufall, dass mein Blick unweigerlich auf den Messerblock fällt.
»Das ist eine nette Lüge«, erwidert Milo, »und soweit ich mich
entsinne, haben wir gar nicht gekocht, sondern nur Gemüse und
Fleisch klein geschnitten und in Schälchen gefüllt.«
»Kartoffeln schälen gibt sogar einen Extrabonus!«, setzt Sophie
ihre schamlose Flirterei fort. Ein weiteres Wort und ich stecke dich in
den Standmixer, du Biest! Außerdem kann Milo doch erst seit ein
paar Minuten hier sein. Warum muss sie so übertreiben?
Ich zeige meine Entrüstung, indem ich zwei Servierschalen an
mich reiße und mit beleidigt erhobenem Kopf ins Wohnzimmer stolziere, wo ich die Gurken und Tomaten auf den Tisch stelle. Die beiden Raclette-Geräte stehen dort ebenfalls schon und Papa stellt sie
gerade an. Meine Gäste unterhalten sich angeregt, aber das Gespräch
verstummt automatisch, als Milo das Wohnzimmer betritt. Besonders Bengü starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an und ihr
klappt buchstäblich die Kinnlade hinunter.
»Das ist Milo …«, stelle ich ihn vor. »Er geht auch mit mir zur
Schule. Und wir spielen zusammen in dem Theaterstück.« Ich zeige
auf die anderen. »Luisa, Finn und Dominik … und mein Papa. Bengü kennst du ja.«
Luisa hat ihn ja schon mal gesehen, wird aber trotzdem rot, als er
ihr lächelnd die Hand reicht. Die Jungs beäugen sich mit Milo nur
kurz, als sie die Hand zum Gruß heben. Weder Finn noch Dominik
erwecken den Eindruck, als würde sie Milos Gegenwart stören.
Milo reicht mir einen Umschlag. »Das ist für dich«, sagt er.
Mit einem Geschenk habe ich noch weniger gerechnet als mit seinem Auftauchen, und ich stelle peinlich berührt fest, dass meine
schwitzigen Finger ein wenig zittern, als ich die Lasche hochklappe.
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Eine Eintrittskarte.
»Im Filmmuseum ist momentan eine Sonderausstellung zum
Thema Jane Austen«, erklärt Milo. »Ich dachte, wir könnten in den
Ferien zusammen hingehen … wenn du möchtest.«
»Ja, ich will!«, quieke ich entzückt und hoffe sogleich, dass er die
ungünstige Formulierung meines Ausrufs nicht falsch deutet.
Inzwischen haben Mama, Sophie und Justus das übrige Essen
hereingebracht, und nach und nach setzen wir uns an den Esstisch.
Milo bleibt vor dem Sideboard mit meinen Geschenken stehen und
bewundert das Bild, das Bengü gezeichnet hat. »Das sieht ja fantastisch aus«, staunt er.
»Bengü ist ein Naturtalent«, erkläre ich. »Auch wenn es Dominiks
Idee war.« Das muss ich ihm einfach zugestehen.
»Du hast das gezeichnet?«, fragt Milo Bengü nicht ungläubig,
sondern zutiefst beeindruckt. »Kein Wunder, dass die ersten Kulissenentwürfe für das Stück so grandios aussehen, wenn du da mitmischst … Hut ab!« Bengü strahlt.
Da Milo und ich die letzten am Tisch sind, gibt es glücklicherweise noch zwei freie Plätze direkt nebeneinander. Ich sitze zwar nicht
neben Luisa, sondern habe Justus auf der anderen Seite, aber Luisa
sitzt dafür neben Finn und das halte ich für wichtiger. Bengü hat bereits erwartungsvoll die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet, weil
sie weiß, was vor dem Essen kommt. Ach ja. Beten.
»Ich freue mich, dass ihr alle hier seid«, sage ich zunächst. »Ihr
bin wirklich froh, dass ihr mich zum Feiern überredet habt … es war
ein schöner Nachmittag. Und wegen der Geschenke hat es sich natürlich auch gelohnt.« Ich erröte leicht und wende mich an Milo.
»Wir … wir sind eine gläubige Familie«, erkläre ich. »Wir sprechen
vor dem Essen ein Tischgebet …«
Milo platziert die Hände auf dem Schoß und nickt. Er wirkt überrascht und zugleich gespannt.
Sophie spricht ein kurzes Gebet, dankt für den Tag, dankt für
mich, dankt für das Essen und bittet um den Segen des himmlischen
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Vaters. Ich vernehme von Milo ein verzögertes »Amen« und sehe,
dass sein Blick nach dem Gebet automatisch auf die eingerahmte Bildergalerie auf der gegenüberliegenden Wand fällt. Es gibt ein Familienfoto, Einzelporträts von uns Kindern, ein Foto von beiden Großeltern und von ein paar weiteren Angehörigen, und in der Mitte hängt
ein Bild von Jesus Christus und daneben eines vom Washington-D.C.-Tempel (dem Lieblingstempel meiner Eltern). Milos Blick
verharrt dort kurz, ehe ihm Dominik die Schüssel mit den Kartoffeln
reicht.
Rebekka und Isaak. Rahel und Jakob. Rut und Boas. Maria und Josef.
Emma und Joseph … ich möchte gar nicht zu weit in die Zukunft blicken, aber muss ich mich denn schämen, dass ich das Feuer verspüren möchte, das diese großartigen Menschen zusammengeführt hat?
Auch die Endorphinausschüttung in meinem Körper, die mich ein
bisschen benebelt, kann nicht verhindern, dass mir eines klar wird:
Im Mittelpunkt stehen Jesus Christus und der Tempel. Das, was diese Paare verbunden hat, waren nicht nur Liebe und Leidenschaft – es
war vor allem ein tiefer Gottesglaube.
Ich kann mir vormachen, was ich will. Ich kann den ganzen Tag
von Milo träumen und mir einreden, dass auch nur eine klitzekleine
Chance besteht, dass er Gefühle für mich entwickelt – selbst wenn
dem so ist, kann ich das Evangelium nicht ausblenden. Mama hat gesagt, dass es völlig in Ordnung ist, für ein Nichtmitglied zu schwärmen und nicht jeden zu verteufeln, der der Kirche nicht angehört.
Das sehe ich auch so – aber falls ich mir nicht völlig unbegründet
Hoffnungen mache (was wahrscheinlich der Fall ist), wird der Punkt
kommen, an dem ich wissen muss, was er von der Kirche hält.
Milo stellt keine Fragen zum Gebet. Vielleicht lässt er es auf sich
wirken, vielleicht ist es ihm unangenehm, vielleicht ist es ihm egal,
vielleicht möchte er warten, bis wir unter vier Augen sind, um mich
nicht in Verlegenheit zu bringen. Er weiß mittlerweile, wie leicht das
geschieht. Und schon beansprucht ihn Sophie auch wieder für sich
und fragt ihn munter aus, und da es mir nicht gelingt, den Kreuzver-
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hör-Flirt zu unterbrechen, bemühe ich mich, stillschweigend mein
Essen zu genießen, und freue mich darüber, dass sich Luisa und Finn
die ganze Zeit unterhalten. Die beiden scheinen sich immer besser zu
verstehen – nun könnte Finn doch auch mal den nächsten Schritt wagen, aber vielleicht wartet er bis zu Luisas 16. Geburtstag, der ja nur
noch wenige Wochen entfernt ist.
Ferien sind erst übernächste Woche und da alle außer Sophie
morgen zur ersten Stunde fit sein müssen, verabschieden sich meine
Gäste nach dem gemütlichen Abendessen. Finn wird von seinem Vater abgeholt, die anderen nehmen die Öffentlichen, Milo ist mit dem
Fahrrad gekommen.
Mama erhält von der restlichen Familie den Befehl, sich auf der
Couch auszuruhen, während Papa, Sophie, Justus und ich den Tisch
ab- und das Wohnzimmer aufräumen. Ich bringe meine Geschenke
in mein Zimmer und überlege, wo ich das Bild von Bengü, Dominik
und Finn hinhängen kann, aber meine Gedanken wandern sofort zu
Milo – hat er Lust, etwas als Freunde zu unternehmen? Sieht er darin
tatsächlich eine Art Date? Mir wird anders bei dem Gedanken, aber
kotzig-positiv anders, nicht ausschließlich mulmig.
Ich weiß nicht, was die 16 bewirkt hat, aber als ich am nächsten Tag
in den Spiegel schaue, bin ich überrascht, dass ein Lächeln meine
Lippen ziert und ich nicht griesgrämig meinem Selbsthass freien
Lauf lasse. Ich probiere die neuen Klamotten aus, die ich gestern bekommen habe, und versuche mich selbst an meinen Haaren. Es gelingt mir nicht so gut wie meiner Profischwester, aber ich bin trotzdem nicht unzufrieden und mache auch beim Seminar besser mit als
sonst. Sophie lobt mich sogar für meine Frisur, und im Gegenzug
vergebe ich ihr das unverfrorene Flirten mit Milo, aber nur, wenn
sich das bis ans Ende ihrer Tage niemals wiederholen wird.
Der Unterricht ist anstrengend und ich sehne mich nach den Ferien, und zumindest die Theaterprobe am Nachmittag bildet einen
kleinen Lichtblick. Lizzy redet noch immer nicht mit mir, und so
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langsam graut es mir immer mehr vor Vickis Party, die ich am gestrigen Tag erfolgreich aus meinen Gedanken verbannt habe – ich dachte, dass ich wenigstens eine Verbündete dort haben werde, aber
wenn Lizzy mich im Stich lässt, bin ich wohl völlig auf mich alleine
gestellt. Noch kannst du absagen. Vielleicht sollte ich das. Lizzy hat erreicht, was sie wollte, und ich will gar nicht hingehen. Oder verpatzt
du so die Gelegenheit, dich mit Vicki anzufreunden? Ich hätte intensiver
darum beten sollen, fürchte ich. Ich fühle mich mal wieder so gar
nicht vom Geist geführt.
Zu allem Überfluss proben wir heute die Szene mit Bertha Mason. Frau Beinker macht sich bereit, die Rolle zu spielen, die ich mir
sehnlichst gewünscht hatte – es ist erst ein paar Wochen her, und
doch scheint eine Ewigkeit vergangen zu sein, dass ich mich mit der
Verrückten auf dem Dachboden so intensiv auseinandergesetzt habe.
Als ich die Szene vorgespielt hatte, war Milo ebenfalls auf der Bühne
gewesen, um Mr. Rochester zu übernehmen, und nun bin ich die
Jane an seiner Seite, die mit blankem Entsetzen erfüllte Jane, die an
ihrem Hochzeitstag, der doch der schönste Tag ihres Lebens sein
sollte, mit einer schrecklichen Wahrheit konfrontiert wird.
Frau Beinker hat recht kurzes, sehr dünnes Haar, und als sie sich
die Perücke aufsetzt, die einer wahren Löwenmähne gleicht, sieht sie
aus wie ein anderer Mensch. Mir tut Milo jetzt schon leid, zumal unsere Lehrerin alles andere als zierlich ist, und ich fürchte, wenn sie
ihn anfällt, kippt er um und sie begräbt ihn unter sich. Milo hält sich
wacker, und ich bewundere ihn um so mehr, weil er in Frau Beinker
nur noch Bertha Mason sieht und nicht eine Lehrerin an unserer
Schule. Insofern wirkt er völlig locker und alles andere als eingeschüchtert. Er ist nicht unfreundlich zu Bertha, greift aber sofort ein,
als sie mich attackiert, und reißt sie von mir.
Wir legen nach einer Dreiviertelstunde eine kurze Pause ein, und
Vicki trabt gleich heran, um mich an die Party zu erinnern, als hätte
ich diese schon wieder vergessen. Da Frau Ömsen sie zu sich ruft,
muss sie uns (schneller als vermutlich geplant) zurücklassen, und so
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stehen Milo und ich allein am einen Ende des Bühnenaufgangs, beobachten das Gewusel um uns herum und warten auf die nächsten
Instruktionen unserer Lehrerinnen. »Das war sehr nett bei euch gestern«, sagt er.
Augenblicklich kommen mir tausend Fragen in den Sinn. Was hat
dich dazu getrieben, dass du doch noch aufgetaucht bist? Wann gehen wir
gemeinsam ins Museum? Wann proben wir wieder separat? Fandest du es
seltsam, dass wir vor dem Essen gebetet haben? Bist du selbst gläubig?
Könntest du dir vorstellen, die Religion zu wechseln? Wusstest du, dass die
Familie für immer bestehen kann? Was assoziierst du mit dem Begriff
»Tempelehe«? Natürlich bringe ich nichts davon über die Lippen. »Es
war schön, dass du es doch noch geschafft hast«, erwidere ich.
»Eigentlich hast du das Frau Horn zu verdanken«, lacht Milo.
»Sie hatte selbst irgendeinen Termin und musste uns weitaus früher
als sonst aus dem Training entlassen, war allerdings auch so mit uns
zufrieden.«
Wann beginnt die Kreismeisterschaft? Wann spielt ihr? Würde es dich
stören, wenn ich mir das Spiel ansehe und dich anfeuere? Wollen wir danach noch in die Stadt und Eis essen oder so? Möchtest du ein Exemplar
des Buches Mormon?
»Cool.« Ich senke den Kopf, ärgere mich über vertane Chancen
und konzentriere mich auf den weiteren Verlauf der Probe, der in
diesem Moment von Frau Ömsen angekündigt wird.
Wir verabschieden uns, ohne eine weitere Probe festzulegen, und
meine Euphorie schwindet ein bisschen. Ich habe viel erreicht in den
letzten Wochen, und dennoch bin ich nach wie vor gehemmt und
traue mich zu selten, über meinen Schatten zu springen, dabei ist es
mir doch schon ein paar Mal gut gelungen, mutiger und stärker zu
sein! Ehe ich mir neue Ziele diesbezüglich setzen kann, muss ich allerdings erst einmal den morgigen Abend überstehen: Vicki Greisers
Party des Grauens.
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15
A
mmon und seine Brüder riskierten ihr Leben, als sie sich zu ihren
Feinden begaben, um ihnen das Evangelium zu predigen.
Samuel der Lamanit riskierte sein Leben, als er sich bei seinen Feinden auf
eine Mauer wagte und die Wahrheit verkündete.
David riskierte sein Leben, als er sich einem übermächtigen Gegner im
Kampf gegenüberstellte.
Ich habe einen kleinen Rucksack mit Schlafanzug und Kulturbeutel
gepackt und Mama hat mir eine kleine Schachtel Pralinen in die
Hand gedrückt, die ich Vicki gefälligst als Gastgeschenk mitbringen
soll. Als ob die ein Geschenk von mir will. Daneben liegt ein Schlafsack,
der noch eine leicht geräucherte Duftnote vom letzten JD-Lager hat.
Ich bin unruhig und laufe in meinem Zimmer auf und ab; ständig
schaue ich zur Uhr in der Hoffnung, dass die Zeit stehengeblieben
ist, stattdessen wird jede weitere Minute zur Marter. Als ich Vickis
Einladung angenommen habe, war ich mir sicher, das Richtige gewählt zu haben – ein Neuanfang, eine Chance, ein freundliches
(nicht freundschaftliches) Verhältnis zu ihr aufzubauen. Alles, was
ich will, ist Frieden und dass sich mir nicht der Magen umdreht,
wenn ich sie auf dem Pausenhof oder im Gang treffe. Alles, was ich
will, ist ein Ende dieser Panik, sie hasse mich, weil ich ihr Jane geklaut habe und mich obendrein mit Milo anfreunde. Außerdem will
ich Lizzy zurück. Nur … was will Vicki?
In vielen Begebenheiten in den heiligen Schriften wagten sich
Helden in Feindesland, schoben ihre Ängste beiseite und übten stattdessen Vertrauen auf Gott aus. Und was geschah? Ammon und seine
Brüder bekehrten Massen – Ammon selbst schrieb von Tausenden.
Diesen Erfolg teilte Samuel der Lamanit nicht unbedingt, aber die
Hand des Herrn bewahrte ihn, und kein Pfeil, der auf ihn geschossen
wurde, traf ihn. David wiederum, ein junger, schmächtiger Viehhirt,
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tötete einen Riesen, der als unbesiegbar galt. Beschützt du mich, Vater
im Himmel? Wird alles gut mit Vicki und ihren Freundinnen – oder lenkst
du wenigstens deren Pfeile an mir vorbei?
Leider kommt mir Abinadi in den Sinn, der arme Abinadi, der
lange predigte und einen furchtbaren Tod erleiden musste, nicht ahnend, dass seine Missionsarbeit bei zumindest einer Seele gefruchtet
hatte und Alma wiederum viele weitere zum Evangelium bekehrte.
Hoffentlich ergeht es mir nicht wie Abinadi.
Ich lasse mich zwischendurch auf mein Bett fallen und lese zum
hundertsten Mal den Brief, den mir Luisa zum Geburtstag geschrieben hat. Sie hat eine wahre Lobeshymne auf unsere Freundschaft
verfasst und rückt mich in ein positives Licht, das ich gar nicht verdiene, aber jetzt gerade brauche ich diesen Zuspruch und die Gewissheit, ein guter Mensch zu sein und anderen etwas zu bedeuten.
Luisa hat mir auch gerade erst vor ein paar Minuten eine SMS geschickt und mir »viel Spaß« gewünscht, weswegen ich überhaupt an
sie denken musste und daran, wie viel lieber ich den Abend mit ihr
verbringen würde. So habe ich den Brief das x-te Mal hervorgekramt
und mich in ihren Worten gesuhlt.
»Sicher, dass ich dich nicht fahren soll?«, fragt Mama, bevor ich
aufbreche.
Ich schüttele den Kopf. »Du ruhst dich aus und studierst die Namensliste«, befehle ich. »Es könnte nicht schaden, dass Justus’ Vorschläge mal wieder herausgefiltert werden.« Mit Lexus, Odysseus und
Saunsceneyouray hat er sich gestern Abend wieder einmal selbst übertroffen.
Ich verabschiede mich von Mama mit einem Kuss. Kann es nicht
einen Notfall geben und ich muss zu Hause bleiben? Mir sind schon
verschiedene Ideen gekommen, aber das Ergebnis ist trotzdem immer gleich geblieben: Egal, wie der Grund aussähe, Vicki würde
denken, dass ich kneife. Es gibt kein Zurück mehr.
Als ich nach fünf Minuten Fußweg die Bushaltestelle erreiche,
sehe ich die 34 bereits an der Kreuzung stehen und sitze nur Augen-
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blicke später in dem vollen Bus, ergattere wie durch ein Wunder
trotzdem einen Sitz und lege Rucksack und Schlafsack auf meinen
Schoß. Trotz regem Abendverkehr geht die Fahrt schneller als erwartet, und ein paar Stadtteile später steige ich in die U-Bahn um und
fahre zwei Haltestellen, ehe ich den restlichen Weg zu Fuß hinter
mich bringe. Ich habe mir aus dem Internet eine Wegbeschreibung
ausgedruckt, aber auch wenn mir das Viertel recht unbekannt ist, genügen die Straßenschilder und ich brauche den Zettel nicht hervorkramen. Mit den Öffentlichen braucht Vicki vermutlich nicht übermäßig lange zur Schule, aber da die Einwohner in dieser Gegend
schon allein den Häusern nach zu urteilen ziemlich betucht sein
müssen, wundert es mich, dass sie auf eine öffentliche Schule geht.
Ob das der Wunsch ihrer Eltern war oder ihr eigener? Ich erinnere
mich, dass Milo und sie mal Nachbarn waren. War das wohl hier
oder in einem anderen Stadtteil?
Vicki hat mir 18:30 Uhr als Partybeginn genannt und ich habe
mich bewusst entschieden, etwas später aufzutauchen, damit ich
nicht die Erste bin und mich womöglich lange mit ihr unterhalten
muss. Das mehrstöckige Haus aus schönem weißen Backstein ist
groß, wirkt allerdings viel weniger pompös als ich erwartet habe.
Außerdem steht es fest am Boden und nicht – womit ich irgendwie
gerechnet hatte – in der Luft wie das große, geräumige Gebäude aus
Lehis Traum. Ich drücke die Klingel am schwarzen Eisenzaun, der
das Grundstück vom Gehweg abtrennt, und ohne Nachfrage über
die Sprechanlage summt der Buzzer und ich drücke das relativ
schwere Tor auf. Mein Blick schweift über den schön angelegten Vorgarten, der in voller Blüte steht. Jeder Busch ist perfekt in Form gestutzt, und auch wenn ich Vickis Eltern nicht kenne, hege ich irgendwie Zweifel, dass die beiden selbst im Garten herumwurschteln. Hat
Vicki eigentlich Geschwister? Vielleicht eine ungewollte Stiefschwester, die in einer verdreckten Kammer hausen muss und als Hausmädchen missbraucht wird?
Die massive Eichentür ist angelehnt und ich stoße sie vorsichtig
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auf. Niemand kommt, um mich zu begrüßen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als langsam einzutreten, und so stehe ich allein in dem
Vorraum eines hellen Foyers, das lediglich mit ein paar großen Topfpflanzen und einem weinroten Diwan verziert ist, der seitlich der
Treppe steht. Im Vorraum sind mehrere Schränke zu sehen, und dass
einige Schuhpaare unordentlich über den Boden verteilt sind und
zudem Taschen und Schlafsäcke herumliegen, passt zwar nicht ins
Bild der peniblen Ordnung, gibt mir aber ein wenig innere Ruhe,
weil ich wirklich nicht der erste Gast bin. Ich vernehme dumpfes Geschnatter aus anderen Räumen.
In diesem Augenblick kommt Vicki um die Ecke; wie immer ist
sie perfekt gestylt und graziös wie ein Laufstegmodel und es fehlt eigentlich nur noch ein großer Ventilator, dessen Gebläse ihre offenen
Haare nach hinten weht. »Ah, Molly!«, stellt sie fest. »Ich habe mich
gerade gefragt, wann du auftauchst.«
Ich bin kurz versucht, meine Verspätung auf den Verkehr zu
schieben, sehe aber eigentlich nicht ein, warum ich es nötig habe,
eine Ausrede vorzubringen. »Hier bin ich«, erwidere ich also und
zwänge mir ein Lächeln auf. Ich greife in meinen Rucksack und hole
die Pralinen hervor. »Danke … für die Einladung.«
»Das wäre doch nicht nötig gewesen …« Vicki nimmt die Schachtel entgegen, ohne sie näher anzuschauen. »Du kannst deine Sachen
erst einmal hier im Flur lassen«, sagt sie und deutet mit einer saloppen Handbewegung auf den Haufen Schlafsäcke, den ich schon gesichtet habe, ehe sie kehrtmacht und mich auffordert, ihr zu folgen.
Ich habe keine Möglichkeit, das schicke Foyer näher in Augenschein
zu nehmen, denn wir durchqueren es zügig und gelangen in einen
großen, sehr hellen Wohnraum. Fast alle Möbel sind perlweiß, ein
paar weiße, musterlose Teppiche liegen auf dem edlen Sternparkett
aus. Zwischen zwei großen Couchgarnituren steht ein dunkler Kaffeetisch, an dessen Kopf wiederum ein hoher Ohrensessel gerückt
ist. Der Stoffbezug des Sessels trägt als einziges Möbelstück eine Verzierung in Form von unzähligen schwarzen Schriftzügen in verschie-
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denen Sprachen und wirkt damit sehr modern, wenngleich keineswegs weniger stilvoll. Fast die komplette Rückwand des Wohnzimmers besteht aus hohen Fenstern, die bis zum Boden reichen, nur in
der Mitte befindet sich ein breiter Kamin, auf dessen Sims ein paar
wenige Fotos stehen. Die wenigen Kommoden und tiefen Regale
sind aus dem gleichen dunklen Holz angefertigt wie der Kaffeetisch
zwischen den Sofas, und obwohl es draußen noch nicht dunkel ist,
sind alle Stehlampen und der Leuchter in der Mitte des Raumes eingeschaltet. Das Wohnzimmer grenzt an ein Esszimmer mit einer langen Tafel, die mit Getränken und Snacks gedeckt ist; mehr kann ich
von meiner Position im Türrahmen aus nicht erkennen, und noch
habe ich mich keinen Millimeter weitergetraut. Die Gespräche sind
verstummt und ich zähle sieben Mädchen, die im Raum verteilt sind
und mich allesamt angaffen. Samira ist unter ihnen, Kathrin nicht.
Lizzy sitzt auf einer Couch und unterhält sich mit einem Mädchen,
das ebenfalls in Vickis Jahrgangsstufe geht. Die übrigen habe ich
noch nie gesehen.
»Das ist Molly«, stellt Vicki mich vor.
Lizzy wendet sogleich den Blick ab und setzt ihr Gespräch fort.
Vicki rattert die Namen der Anwesenden kurz herunter und ich
bin von der ganzen Situation noch so überfordert, dass ich mir keinen einzigen merke. Es klingelt an der Tür. »Und die Nächste«, ruft
Vicki einigermaßen vergnügt, pfeffert die Pralinenschachtel auf ein
Regal und lässt mich in dem Raum voller Fremder zurück.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Alle Mädchen haben sich wieder
ihren Gesprächen oder Smartphones gewidmet, und ich war noch
nie gut bei gesellschaftlichen Anlässen, wo ich niemanden kenne.
Auf Tanzabenden habe ich ja wenigstens Luisa und die paar Jugendlichen aus meiner Gemeinde, mit anderen aus dem Pfahl tue ich
mich eher schwer – über meinen Schatten springen und mit Leuten
sprechen, die ich überhaupt nicht kenne, hat nie zu meinen Stärken
gehört. Ich mag meinen kleinen Freundeskreis, aber es hat schon seinen Grund, warum ich nicht mit allen aus meiner Klasse ein inniges
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Verhältnis pflege. Tapfer bewahre ich mir mein Lächeln, streife ein
bisschen durch das Wohnzimmer und bleibe vor dem Kamin stehen,
um die drei eingerahmten Fotos auf dem Sims zu bewundern. Auf
zweien davon ist Vicki allein zu sehen; eines kann nicht besonders
alt sein, das andere muss aus ihrer Kindheit stammen. Auf dem dritten ist sie mit ihren Eltern abgebildet – es ist ein Urlaubsfoto und
braun gebrannt strahlen die drei in kurzer Sommerkleidung in die
Kamera. Die Bräune steht Vicki – sie sieht fast menschlich aus. Ihr
schwarzes Haar hat sie offensichtlich von ihrem Vater geerbt, der
Ehefrau und Tochter um einiges überragt, sehr durchtrainiert aussieht und sympathisch grinst; die Mutter trägt die langen blonden
Haare genauso offen wie Vicki und – siehe da – hat das gleiche undurchschaubare Eislächeln.
»Du spielst mit Vicki Theater?«
Ich zucke ein wenig zusammen, weil ich so gedankenverloren
war und nicht damit gerechnet habe, überhaupt angesprochen zu
werden. Das Mädchen ist ein paar Zentimeter kürzer als ich, es hat
einen sehr dunklen Teint und eine fesche schwarze Kurzhaarfrisur.
An dem rechten Ohr baumelt ein überdimensional großer türkiser
Ohrring und trotz der Cappuccinohaut zieren Nase und Wangen viele Sommersprossen, was ich ungewöhnlich finde.
»Ja«, bringe ich heraus, »wir spielen zusammen Theater.« Ich
weiß mir nicht anders zu helfen und strecke die Hand aus. In der
Kirche geben wir nun mal jedem die Hand. »Ich bin Molly«, sage ich.
Sie lacht. »Ja, das hat Vicki eben verkündet. Ich bin Kira.« Sie erwidert den kurzen Handschlag. »Vicki und ich gehen gemeinsam
zur Tanzschule«, erklärt sie.
Natürlich geht Vicki zur Tanzschule. Wahrscheinlich bekommt sie auch
privaten Schauspielunterricht.
»Tanzen ist toll«, sage ich. »Wenn ich es jetzt noch könnte …«
Kira zuckt mit den Schultern. Ihr Ohrring wippt auf und nieder
und hat irgendwie eine leicht hypnotische Wirkung auf mich. »Es ist
gar nicht so schwer«, meint sie. »Möchtest du was trinken?«
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Dankbar nicke ich und spüre, wie ich mich ein bisschen entspanne. Jemand redet mit mir. Freiwillig. Vicki kommt gerade mit Kathrin
und noch einem Mädchen aus der Schule herein (Noelle, glaube ich),
und ich bin froh, kurz im Nebenzimmer verschwinden zu können.
Auf dem riesigen Esstisch (hier dinieren drei Personen?!) stehen in
Schalen und Schälchen kleingeschnittenes Obst und allerhand Süßigkeiten sowie zwei Tabletts mit Gläsern und Getränken. Alles alkoholfrei, soweit ich es sehen kann und was mich beruhigt, auch wenn das
nicht heißt, dass nicht noch etwas kommen kann. Ans Esszimmer
wiederum schließt die Küche an und ich nehme den Duft von Pizza
wahr. Prompt brummelt mein Magen, dabei hätte ich nicht gedacht,
dass ich bei meiner Aufregung auch nur an Essen denken kann.
Kira schenkt mir Saft ein und plaudert ein wenig über den Tanzunterricht. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mich dieses
Thema eigentlich überhaupt nicht interessiert, aber ich bin so dankbar, dass ich einen Gesprächspartner gefunden habe, dass ich ihr
Frage um Frage entgegenfeuere, damit die Unterhaltung bloß nicht
gleich wieder einschläft.
Während Kira munter erzählt, trudeln noch ein paar weitere
Mädchen ein, bis Vicki bekanntgibt, alle seien angekommen. Mit diesen Worten nimmt sie auf dem interessant gemusterten Ohrensessel
Platz und wie ein Haufen Küken scharen sich ihre Gäste um sie –
entweder auf den Sofas oder auf dem Boden zu ihren Füßen. Kira
nimmt ihr Glas mit, ich stelle meines auf dem Tisch ab, denn das
letzte, was ich gebrauchen kann, ist ein Kirschsaftfleck auf dem weißen Teppichboden.
Die Königin saugt die Aufmerksamkeit des Hofstaats in sich auf.
Ob sie uns gerade Lebensenergie entzieht? Wahrscheinlich ist sie
schon zweihundert Jahre alt und bleibt nur jung, indem sie arglose
Mädchen opfert. Oder auffrisst.
»Schön, dass ihr hier seid«, sagt sie. »Fühlt euch wie zu Hause
und amüsiert euch. Die Minipizzas sind gleich fertig, aber ich
schlage vor, wie nehmen sie mit und machen es uns im Keller be-
179
quem. Dort findet die richtige Party statt.« Alle kichern, mir ist ganz
und gar nicht nach Lachen zumute.
Die Küken werden zu aufgescheuchten Hennen und ein paar
greifen nach dem Essen und den Getränken, und gemeinsam geht es
in den Keller, der nicht über die Treppe im Foyer zu erreichen ist,
sondern über eine fast versteckte Tür neben der Küche (die wiederum von der anderen Seite des Foyers abgeht). Was uns hier erwartet,
ist, muss ich ja zugeben, schon fast paradiesisch. Es gibt mehrere
Kellerräume, und im größten davon ist die freie Fläche des Bodens
mit Matratzen bedeckt. Ich vermute, dass hier das Privatkino der
Greisers ist, denn es gibt ein paar Sofas, die allerdings an die Wand
geschoben sind, und eine große Leinwand. Die Getränke und Snacks
werden nach und nach auf ein Regal an der Seite gestellt, und als alles unten ist und sich die ersten Gäste über die delikaten Pizzas hermachen, frage ich mich, wann wohl der »Pyjama«-Teil der Party startet. Alle Rucksäcke und Taschen sind jedoch noch oben und niemand
macht Anstalten, sich umziehen zu wollen – und ich werde ganz bestimmt nicht die Erste sein! Also geht im Prinzip das, was oben angefangen hat, ohne nennenswerte Änderung weiter. Kira unterhält sich
inzwischen mit zwei anderen Mädchen, und da gerade niemand bei
Lizzy ist, setze ich mich ungebeten neben meine Schulfreundin, von
der ich dachte, dass zwischen uns ein tieferes Band bestehen würde.
Wie soll ich vorgehen – freundliche Masche oder Vorwurf? »Ich kann
nicht glauben, dass du mir immer noch böse bist«, finde ich einen
Mittelweg. »Es tut mir leid, Lizzy … Strafst du mich jetzt bis in alle
Ewigkeit mit Schweigen?«
Lizzy sieht mich nicht an und ich frage mich kurz, ob sie es tatsächlich wagt, mich auch jetzt zu ignorieren. Ich behaupte gar nicht,
dass sie sich wegen einer Lappalie aufregt – ich habe ihr wirklich unrecht getan. Aber sie sollte mich gut genug kennen, um zu wissen,
dass ich ihr niemals weh tun wollte. »Passt schon«, sagt sie schließlich und spielt mit dem Strohhalm ihres Glases, ohne mich eines
Blickes zu würdigen. Mehr habe ich scheinbar nicht von ihr zu er-
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warten.
Wut und Unverständnis brodeln in mir auf. »Fein«, zische ich.
»Dann lab dich halt hieran!« Ich breite die Arme aus, aber nicht zu
ausschweifend, denn ich möchte keineswegs die Aufmerksamkeit
auf mich lenken. »Wir werden ja sehen, wie lange deine neuen
Freunde zu dir stehen. Und es ist total gemein, wie du dich von Bengü distanziert hast, sie hat dir nämlich überhaupt nichts getan.« Ich
springe auf und weiß gar nicht, wohin ich einen dramatischen Abgang starten kann, aber Vicki kommt mir ohnehin in die Quere, als
sie laut in die Hände klatscht.
»Spielen wir doch etwas!«, schlägt sie vor und legt ihre Pizza beiseite, von der sie einen einzigen niedlichen Bissen genommen hat.
Nach einem Spiel ist mir wahrhaft nicht zumute, aber was bleibt
mir schon anderes übrig? Ich möchte natürlich standhaft bleiben und
die Gebote halten, aber irgendwie verspüre ich den Wunsch nach einem Trinkspiel, denn ich werde diesen Abend nur überstehen, wenn
ich mir das Hirn wegsaufe, fürchte ich … Molly, nun bleib mal locker
und krieg dich ein, mahne ich mich sofort selbst.
Außerdem bin ich – positiv – überrascht, dass es bislang weder
Alkohol gab noch habe ich bemerkt, dass auch nur eines der Mädchen nach Zigarettenrauch stinkt. Kommt noch ein großer Knall oder
bleibt es so gesittet?
Wir setzen uns im Kreis auf die Matratzen und Vicki holt eine leere Flasche hervor. »Flaschendrehen, anderes Prinzip. Jemand stellt
eine Frage und dreht die Flasche. Wenn die Person, auf die die Flasche zeigt, die Frage nicht beantworten möchte, muss sie ein volles
Glas Wasser trinken. Wer auf Toilette geht, scheidet aus. Wer gefragt
wurde, stellt die nächste Frage.« Ein paar kichern. »Und bitte keine
langweiligen Fragen.« Unsere Blicke treffen sich kurz. »Molly, fang
du doch an!«, schlägt sie vor. »Dann haben wir endlich mal die Möglichkeit, die schräge Seite von dir kennenzulernen!« Vicki rollt mir
die Flasche zu.
Habe ich sie richtig verstanden? Will sie, dass ich irgendeine ver-
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saute oder provokative Frage stelle? Welche Methode würdest du wählen, um Vicki Greiser zu foltern?, kommt es mir in den Sinn und ich beiße mir auf die Zunge. Ich greife die Flasche und presse sie mir wie
eine Trophäe an die Brust. »Vielen Dank für diese Ehre«, sage ich
und merke gleich, dass der Sarkasmus bei den übrigen Gästen nicht
so richtig ankommt. Wem hier im Raum würdest du am liebsten mit einem Presslufthammer den Schädel einschlagen? Ich lasse diese kreativen
Ideen unausgesprochen, spreche stattdessen ein Stoßgebet, dass die
Flasche nie wieder auf mich zeigen wird und frage: »In wen warst
du schon mal verschossen?« und drehe. (Ich frage lieber etwas, worauf die Antwort nicht ganz so peinlich ausfällt, falls mein Gebet nicht
erhört wird und mir später die gleiche Frage gestellt wird.) Die Flasche zeigt auf Samira und ich höre ihr nicht einmal zu, als sie antwortet. Mein Blick schweift durch die Runde, und wieder einmal
wird mir bewusst, wie fehl am Platze ich bin. Ich verurteile all diese
Mädchen keineswegs als dumme Lästermäuler, aber sie haben sich
eine eigene Welt geschaffen, so wie ich in meiner lebe. Was verbindet
uns denn schon? Was tue ich nur hier?
»Entspann dich doch, Molly.« Kira sitzt rechts neben mir und
stößt mich an. »Wir sind hier, um Spaß zu haben. Was ist dabei?«
Das ist nett von ihr und sie hat ja recht, aber sie kennt die Leute
eben auch. Ich finde nicht einmal eine bequeme Sitzposition, wechsle
stetig vom Schneidersitz auf die Knie und rutsche hin und her. Nach
ein paar harmloseren Fragen und Antworten kommt die erste Frage
unter der Gürtellinie, und allein wie schamlos das Mädchen darauf
antwortet, lässt mich erröten. Es geht munter weiter und in mir zieht
sich alles zusammen. Wäre es jetzt richtig, einfach aufzustehen und
zu gehen? Ist es nicht das, was uns immer gepredigt wird? Warum
traue ich mich nicht?
Die ersten Gläser werden geleert und Kathrin verkündet bereits
nach ein paar Schlucken, dass sie dringend auf Toilette muss. »Aber
ich halte durch!«, ruft sie affektiert.
Als Vicki ausführlich von ihrem »ersten Mal« berichtet, schaue
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ich beschämt zur Seite. Sie lässt kein auch noch so pikantes Detail
aus, und ich bin erschüttert, wie spontan das Ganze war und dass sie
sich überhaupt nichts dabei gedacht hat. Zwei Mädchen nehmen das
zum Anlass, eigene Erfahrungen hinzuzufügen, und ich frage mich,
ob ich die einzige Jungfrau im Raum bin. Ich schaue zu Lizzy. Hoffentlich meint sie nicht, sie müsse mit dem nächstbesten Typen schlafen,
um von den anderen akzeptiert zu werden.
Ich möchte »Ich bin ein Kind von Gott« in Gedanken trällern,
aber selbst bei einem Lied, das ich mein ganzes Leben lang ständig
gesungen habe, fällt mir nun in all der Aufregung nicht einmal der
Text der ersten Strophe ein. Immerhin bin ich damit so beschäftigt,
mich der Worte zu besinnen, dass ich alles um mich herum erfolgreich ausblende.
»Molly!« O nein. Ich habe überhaupt nicht aufgepasst.
Vicki hat es tatsächlich geschafft, dass die Flasche auf mich zeigt.
Das war doch Hexerei!
»Wie war die Frage?«, entfährt es mir, woraufhin schallendes Gelächter ertönt.
»Hast du sie nicht gehört oder wolltest du sie nicht hören?«, hakt
Vicki nach. »Aber noch mal extra für dich: Wo würdest du am liebsten
Sex haben?«
Ich erlaube mir nicht, lange darüber nachzudenken. »Hauptsache
mit meinem Ehemann«, schieße ich mit fester Stimme los und starre
in einen Haufen ungläubiger Gesichter. »Nennt mich bieder oder
spießig oder langweilig, aber so ist es.« Demonstrativ greife ich nach
meinem Glas Wasser und leere es in einem Zug, denn auf das »Wo«
habe ich ja nicht geantwortet und habe dies auch nicht vor.
»Ob Milo das gefällt?«, fragt Vicki selbstgefällig und ich verschlucke mich beinahe und unterdrücke einen Hustenanfall.
Bleib souverän, Molly. Lass dich nicht einschüchtern. »Eine zweite
Frage ist nicht zulässig, Vicki«, entgegne ich und nehme die Flasche
an mich. »Ich bin dran.«
»Ich bin dafür, dass Molly antworten muss«, schlägt Kathrin vor.
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Und ich bin dafür, dass du deine Klappe hältst.
»Du willst wirklich bis zur Ehe warten?«, fragt Kira neben mir.
Ammon. Samuel. David. Abinadi. Molly. Nun gut, mögen die Flammen mich verzehren, aber ich weiß, was recht ist, und wenn mich
der Vater im Himmel nur auf diese Party geschickt hat, damit ich
von diesem Grundsatz Zeugnis gebe, dann sei es so. »Ja«, antworte
ich. »Ich glaube daran, dass Intimität etwas ganz Besonderes ist und
das möchte ich nur mit einer einzigen Person teilen, nämlich dem
Mann, mit dem ich für immer zusammen sein werde.«
»Intimität?« Vickis spöttischer Ton ist so arrogant, dass ich richtig
wütend werde. Soll sie mich doch hassen, aber ich lasse mir meine
Werte nicht untergraben.
»Was ist Sex denn für dich?«, halte ich ihr entgegen. »Spaß? Befriedigung irgendwelcher Gelüste? Ich werde mich bestimmt nicht
dafür entschuldigen oder mich schlecht fühlen, weil ich mehr darin
sehe. Außerdem behaupte ich nicht, dass es ausschließlich ums Kinderkriegen geht oder so – natürlich sollen Mann und Frau sich dadurch näherkommen. Aber ich bin eben auch überzeugt, dass dies
ein Geschenk ist, das wir von Gott bekommen haben und mit dem
man nicht einfach so herumspielt!«
»Jane Eyre, wie sie leibt und lebt …« Verspielt zwirbelt Vicki eine
Haarsträhne und hält den Kopf leicht schräg.
Also gut, Abinadi, ich folge dir ins Feuer! Mir bleibt die Hoffnung,
dass meine Worte bei irgendeinem Partygast fruchten – dass es irgendeinen neuzeitlichen Alma gibt, der sich das zu Herzen nimmt,
was ich gesagt habe, und versteht, dass ich nicht predigen oder verurteilen wollte. Wer hätte gedacht, dass ich dem Namen Molly Mormon doch einmal alle Ehre mache? Ich springe auf. »Leider ist meine
Blase so voll, dass ich es nicht mehr aushalte«, sage ich leicht gehässig. »Es tut mir zwar in der Seele weh, dass ich aus dem Spiel ausscheiden muss, aber so ist das nun einmal.«
»Vermutlich auch der Wille Gottes«, witzelt Kathrin leise, aber
doch hörbar genug für alle.
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»Die Toilette ist im Erdgeschoss. Neben der Haustür«, erklärt
Vicki, und sofort drehe ich mich um, verlasse den Raum und renne
die Treppe hoch. Ich bin froh, Vicki und dieser erniedrigenden Situation (fürs Erste) zu entkommen, und als ich den Partylärm hinter mir
lasse, finde ich Zeit, um tief durchzuatmen, und merke jetzt erst, wie
sehr ich am ganzen Körper zittere.
Mit letzter Kraft schleppe ich mich auf die Gästetoilette, drehe
den Schlüssel zweimal, und überlege kurz, was ich eigentlich hier
soll. Mir ist übel und ich klappe den Klodeckel hoch, aber Vicki jetzt
noch die Toilette vollzukotzen … diesen Triumph werde ich ihr bestimmt nicht zuspielen. Ein Blick in den Spiegel verrät, dass ich leichenblass geworden bin. Vater im Himmel, was hat das alles zu bedeuten? Mir steigen die Tränen in die Augen, weil ich nicht zurück in
den Keller will, weil ich nach Hause möchte und weil ich mich gänzlich allein gelassen fühle. Frieden mit Vicki schließen? Selten wurde ich
dermaßen verhöhnt … ist das wirklich der Preis, der damit einhergeht, dass man für das Rechte einsteht? Muss es notwendigerweise
so sein, dass man für seine Werte eintritt und dafür verspottet wird?
Das Glas Wasser und der Kirschsaft machen sich nun doch bemerkbar und mit einem peinlich lauten Seufzer sinke ich auf der
Kloschüssel nieder und möchte laut über mein Leben lamentieren,
als mit einem Mal die Tür auffliegt und ich nur zwei grelle Blitze
wahrnehme. Kira senkt grinsend ihr Handy, mit dem sie die Fotos
geschossen hat. Neben ihr stehen Vicki und ein paar andere. Ich hatte
doch abgeschlossen! Was geht hier vor sich?!
»Ich bin gespannt, wie viele dich nächste Woche noch für bieder
halten, nachdem sie das hier gesehen haben«, faucht Vicki, und nur
Sekunden darauf sind alle wieder im Keller verschwunden und das
laute Lachen hallt in meinem Kopf wider, während mir das Herz
auszusetzen droht.
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A
us dem Keller vernehme ich gedämpft das Gelächter der anderen Mädchen. Wie in Zeitlupe erhebe ich mich, ziehe mir die
Jeans hoch und halte mich mit einer Hand am Waschbecken fest. Die
leichte Übelkeit, die sich nach diesem albernen Spiel entwickelt hat,
ist schlimmer geworden; ich verspüre sogar einen richtigen Würgreiz.
Ist das wirklich gerade geschehen? Haben die es tatsächlich gewagt,
mich so zu erniedrigen?
Langsam schreite ich auf die Badezimmertür zu. Ich hatte doch abgeschlossen … Ein Blick jedoch reicht, um zu sehen, dass in der Innenseite des Türlochs völlig umsonst ein Schlüssel steckt: Es gibt nämlich gar kein Schloss, es wurde herausmontiert. Als ich dies sehe,
werden mir die Knie weich und ich gleite mit dem Rücken an der
beigen Kachelwand hinunter. Sie hat es von Anfang an geplant. Es ist
kein Zufall, dass sie mich auf diese Toilette geschickt hat. Sie hat es geplant
und die anderen waren eingeweiht. Und niemand hat etwas unternommen,
um mir zu helfen … Kira hat sogar nett getan und dann die Fotos geschossen. Womit habe ich nun zu rechnen? Wird Vicki mich erpressen?
Wird sie mir damit das Leben zur Hölle machen? Vater im Himmel,
wenn dir irgendetwas an mir liegt, mach bitte, dass die Fotos nichts gewor den sind …
Erneut vernehme ich den Lärm aus dem Keller. Rechnen sie damit, dass ich mich wieder zu ihnen geselle? Ich weiß nicht mehr, was
richtig und was falsch ist, ich weiß nur noch eines: Ich muss hier weg
und zwar sofort. Ich sammle meine letzten Kräfte und stehe auf. Als
ich in den Vorraum komme, greife ich meine Jacke, meinen Rucksack
und meinen Schlafsack, schlüpfe schnell in meine Schuhe und öffne
die Haustür, die glücklicherweise nicht abgeschlossen ist. Aber selbst
wenn, wäre ich lieber durchs Klofenster verschwunden, als ein wei187
teres Mal den Keller zu betreten. Ich schließe die Tür sehr leise hinter
mir, passiere das Tor und laufe los, als wäre der Teufel hinter mir her
– als ob Vicki oder eine der anderen die Verfolgung aufnehmen würde. Es ist dunkel draußen und wenn Mama und Papa wüssten, dass
ich um diese Uhrzeit alleine über menschenleere Straßen laufe, würden sie ausrasten. Ich renne, bis mir die Lunge brennt und ich stehenbleiben muss, weil ich sonst umkippen würde. Bis zur UBahn-Haltestelle sind es nur noch wenige Meter, und ich habe bereits
eine befahrene Straße erreicht und bin damit hoffentlich der Gefahr
entronnen, von hinten aus dem Gebüsch angefallen zu werden. Die
Buslinie fährt um diese Uhrzeit nicht mehr häufig und ich entscheide
mich für den etwas längeren Rückweg mit der U-Bahn durch die
Stadtmitte. Ich bin aber so gedankenverloren, dass ich aus Versehen
eine Haltestelle zu früh aussteige, dabei fährt die Linie, in die ich
umsteigen muss, gar nicht von hier aus weiter. Frustriert schleppe
ich mich aus der Tiefebene nach oben, halte kurz inne und wähle
Luisas Nummer. Es klingelt ein paar Mal und ich will gerade auflegen, als sie schließlich abnimmt. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie mit
ruhiger, aber hörbar besorgter Stimme. Sicher hat sie nicht mit einem
Anruf gerechnet.
Ich kann mich nicht mehr zurückhalten und trotz der Blicke der
Passanten um mich breche ich in Tränen aus. Ich setze mich auf die
schmutzigen Stufen einer breiten Treppe, die aus der Station herausführt, und beginne hemmungslos zu schluchzen. »Nein«, bringe ich
schließlich heraus, »nichts ist in Ordnung.«
»Wo bist du?«, fragt Luisa alarmiert.
»An der Hauptwache«, erkläre ich. »Kann ich … kann ich zu dir
kommen? Ich kann nicht nach Hause. Ich will nicht, dass meine Eltern etwas davon mitbekommen.« Was utopisch ist, denn wenn Luisas Eltern sehen, dass ich so spät bei ihnen auftauche, werden auch
sie sich fragen, was passiert ist, und bei meinen Eltern nachhaken.
Trotzdem bringe ich es nicht übers Herz, nach Hause zu fahren. Aus
irgendeinem unerfindlichen Grund fühle ich mich schuldig an dem,
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was bei Vicki geschehen ist, und die Vorstellung, meinen Eltern in
die Augen blicken und ihnen erzählen zu müssen, warum ich die
Party verlassen habe, versetzt mich in Panik.
Luisa überlegt kurz. »Klar. Warte oben an der Haltestelle, okay?«
»Mach ich.« Ich lege auf und bemühe mich, meine Fassung wiederzuerlangen. Gerade als ich aufstehen will, tauchen vor mir zwei
uniformierte Mitarbeiter des Verkehrsbundes auf.
»Können wir dir helfen?«, fragt der eine.
Mein Glauben an die grausame Menschheit wird bruchstückhaft
wiederhergestellt, auch wenn ich dankbar verneinen muss. Die beiden denken womöglich, dass ich von zu Hause ausgebüchst bin, weil
ich mit Rucksack und Schlafsack verheult in einer S- und U-BahnStation hocke. »Meine Eltern holen mich gleich ab«, lüge ich, bedanke mich erneut und gehe dann zwei Ebenen weiter nach unten, wo
ich nur kurz auf die U-Bahn warten muss, die mich unter dem Main
in den Süden der Stadt bringt. Nach wenigen Minuten bin ich angekommen, und als ich die beiden langen Rolltreppen nach oben fahre,
bin ich überrascht, Luisa dort zu sehen, denn ein Fußmarsch zu dem
Haus der Flemmings dauert eine gute Viertelstunde. Die letzten paar
Stufen laufe ich ihr entgegen, und als mich meine beste Freundin in
die Arme schließt, lasse ich meinen Tränen erneut freien Lauf und
fühle mich augenblicklich geborgen. Luisa sagt nichts, sondern hält
mich einfach fest und weint mit mir, obwohl sie noch gar nicht weiß,
was vorgefallen ist.
Ich löse mich von ihr und sehe nun ihren Bruder Luka wenige
Meter von uns stehen. Er lehnt sich an den Zweitwagen seiner Eltern, den er sich nun ab und zu ausleihen darf. Er hat schon seit etlichen Monaten den Führerschein, ist aber erst vor Kurzem achtzehn
geworden und darf nun ohne Begleitung fahren. »Meine Eltern sind
auf einer Geburtstagsfeier von Bekannten«, sagt Luisa. »Luka hat
versprochen, nichts zu sagen.«
Ich habe kein besonders inniges Verhältnis zu Luisas Bruder, bei
dem ich ja immer davon ausgegangen bin, dass er eines Tages meine
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Schwester ehelichen wird, aber ich umarme ihn kurz. Er sieht nicht
weniger besorgt aus als Luisa. »Was ist denn passiert?«, fragt er.
»Lass das mal unsere Sorge sein!«, lenkt Luisa gleich ein.
»Hey, immerhin habe ich gerade zwei Freunde bei uns allein gelassen, um dich herzufahren!«, argumentiert er, belässt es jedoch dabei und steigt ins Auto. Luisa und ich nehmen auf der Rückbank
Platz und ich schmiege mich an sie; die Autofahrt ist von kurzer
Dauer und verläuft schweigend.
Luka gesellt sich nach der Ankunft sofort wieder zu seinen beiden Freunden ins Wohnzimmer, wo sie an einer Spielkonsole zocken, Luisa nimmt mich mit auf ihr Zimmer im Obergeschoss,
schließt die Tür hinter uns und braucht gar nicht groß nachzufragen
– alles sprudelt förmlich aus mir heraus: das eindrucksvolle Haus
der Greisers, der Beginn der Party, das stupide Spiel mit all den widerlichen Fragen und meinem leuchtenden Zeugnis vom Gesetz der
Keuschheit und der Showdown auf der Gästetoilette, der für mich
noch unbekannte Zwecke fotografisch festgehalten wurde. Luisa ist
nicht minder entsetzt und teilt meine Wut und Demütigung.
Nachdem ich meinen Bericht beendet habe, wird sie ruhig, ehe sie
ihre Hand auf meine legt und mir fest in die Augen schaut. »Molly,
du musst mit deinen Eltern sprechen!«, sagt sie bestimmt.
»Nein!«, entgegne ich sofort. »Das macht alles nur schlimmer!«
»Deine Eltern müssen mit ihren Eltern reden! Oder am besten mit
der Schulleitung! Das kann nicht angehen, dass Vicki sich so etwas
herausnimmt … wie viele andere Schüler hat sie schon gequält? Und
niemand setzt sich zur Wehr?«
»Milo hat anklingen lassen, dass ihre Eltern nicht besser sind«, erwidere ich. »Ich will nicht, dass meine Eltern etwas davon erfahren
… am liebsten möchte ich das alles so schnell wie möglich vergessen
und nie wieder darüber reden …«
»Und das lässt Vicki zu?«, fragt Luisa zweifelnd. »Wenn es
stimmt, was du sagst, und die ganze Sache ist genauso gelaufen, wie
sie es von Anfang an geplant hat, wird es dir nichts nutzen, einfach
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Gras darüber wachsen zu lassen. Sie will Krieg? Schön, den bekommt sie. Vergiss nicht, auf wessen Seite du kämpfst, Molly! Der
Vater im Himmel ist bei dir und das macht dich zu Hauptmann Moroni und Vicki leider zu dem leidseligen Lamaniten, dessen Skalp
Moroni abgeschlagen hat. Zerahemnach? Oder wie hieß der?«
Luisa will mir Mut machen und dennoch habe ich eher den Eindruck, dass ich in einem Krieg wie diesem keine Chance habe. Irgendwie hat sich Vicki einen gewaltigen Einfluss angeeignet, und ich
befürchte, wenn ich mich gegen sie wehre, verschlimmere ich alles.
Ich mache es mir in meinem Schlafsack im Bett neben Luisa bequem. Normalerweise verbringen wir solche Abende quatschend bis
in die tiefe Nacht, aber sie spürt, dass ich Ruhe brauche. Für den Moment reicht es zu wissen, dass sie in meiner Nähe ist. Es dauert nicht
allzu lange, bis ihr Atmen schwerer wird und sie eingeschlafen ist.
Ab und zu höre ich Luka und seine Freunde unten im Wohnzimmer
lachen und jubeln, und augenblicklich werden ihre Stimmen in meinen Gedanken zu denen Vickis und ihrer Freundinnen, wie sie im
Kellerraum über mich lachen und spotten und lästern.
Man sollte meinen, ich hätte keine Tränen mehr übrig, nachdem
ich mich bei Luisa ausgeheult habe, aber ich spüre, wie mir dieses
Gefühl der völligen Erniedrigung erneut welche in die Augen treibt,
und schnell schließe ich sie und hoffe, dass ich bald einschlafe. Fehlanzeige. Ich bin zwar todmüde von dem schrecklichen Abend, aber
viel zu aufgewühlt, um schlafen zu können.
Was habe ich getan?, kommt es mir immer wieder in den Kopf.
Warum muss ich leiden? Welche Schuld habe ich auf mich geladen? Es will
mir einfach nicht gelingen, einen tieferen Sinn in das Ganze zu bringen. War ich vielleicht doch nicht aufrichtig genug? Habe ich nach
wie vor zu schlecht über Vicki gedacht? Irgendetwas muss ich dem
Vater im Himmel angetan haben, dass er mich so bestraft.
Ich verkrieche mich weiter in den Schlafsack und presse mir den
Stoff an den Mund, damit Luisa von meinem Wimmern nicht wieder
wach wird, und flehe den Vater im Himmel in Gedanken an, mir zu
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vergeben, obwohl ich nicht einmal weiß, wofür.
Ich habe wohl ein paar wenige Stunden geschlafen, bin aber immer
wieder aufgewacht und fühle mich schrecklich. Ich habe Luisas Eltern heimkommen hören, ich habe Lukas Freunde wegfahren hören,
und selbst als alles im Hause Flemming mucksmäuschenstill wurde,
lag ich immer noch wach neben meiner besten Freundin.
Luisas Wecker verrät mir, dass es erst kurz nach sieben ist. Ich
weiß noch, wie ich mich als Kind samstags um diese Uhrzeit nach
unten an den Fernseher schlich, weil dann die besten Trickserien liefen, und meine Eltern ganz und gar nicht begeistert waren, als sie
das bemerkten. In den letzten Jahren hingegen ist es undenkbar geworden, dass ich an einem Samstag so früh aufstehe, es sei denn, es
gibt einen triftigen Grund.
Ich versuche, so leise wie möglich zu sein, und ziehe mich ohne
das Badezimmer aufzusuchen an. Ich möchte nach Hause, ehe mich
Luisas Eltern entdecken und Fragen stellen. Luisas Papa hat als mein
Bischof bestimmt einen besonderen Radar und erkennt sofort, dass
etwas nicht stimmt, und ruft dann meine Eltern an oder fordert morgen in der Versammlung alle Mitglieder auf, für mich zu fasten, weil
mein Leben großer Murks ist.
Luisa dreht sich einmal, wacht jedoch nicht auf. Ich schreibe ihr
eine kurze Notiz, bedanke mich mit zehn Herzen für ihren Beistand
und verspreche, dass ich mich im Laufe des Tages bei ihr melde.
Die Haustür ist abgeschlossen, aber der Schlüssel steckt, und hoffentlich wundert sich niemand später darüber, dass sie unverschlossen ist. Ich ziehe sie so sacht wie möglich zu und mache mich auf
den Weg zur U-Bahn. Das Wetter ist herrlich – es ist sehr kühl, aber
der Himmel ist wolkenlos und die frische Luft tut mir gut.
Fast die ganze Stadt schläft noch, aber die Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte haben bereits auf, und ich steige beim Hauptfriedhof aus und setze mich in ein Café, denn wenn ich daheim zu
früh erscheine, werde ich mich vermutlich ebenfalls rechtfertigen
müssen, und das schlechte Gewissen, das ich jetzt schon habe, weil
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ich auf die Frage, wie die Party war, lügen werde, stresst mich bereits
genug. Ich gebe mein letztes Taschengeld für diesen Monat für ein
trockenes Brötchen und eine Tasse frischen Pfefferminztee aus und
gehe gedanklich durch, wie ich mir ein Lächeln aufzwinge und behaupte, die Party sei passabel gewesen, ohne zu ausführlich davon
berichten zu müssen.
Als ich nach Hause komme, ist es nicht einmal halb neun – immer
noch viel zu früh. So wie ich meine Geschwister kenne, schlafen diese noch, aber ich lege meine Jacke gerade ab, als Papa völlig verschwitzt aus dem Keller kommt. Er hat neulich ein Extrem-Fitnessprogramm für zu Hause entdeckt und hampelt nun jeden Tag wie
ein Bekloppter im kühlen Keller vor seinem Laptop herum. Sophie
und ich haben uns vergeblich bemüht, ihn zu überzeugen, er sei zu
alt dafür – das hat ihn eher noch angespornt. Er hat uns feierlich
Zeugnis abgelegt und ermuntert, mitzumachen, was wir dankbar abgelehnt haben.
»Keine Umarmung!«, begrüße ich ihn, während ihm die Schweißtropfen wasserfallartig über das Gesicht laufen, woraufhin er lacht
und sich mit einem Handtuch abtrocknet.
»So früh haben wir gar nicht mit dir gerechnet«, sagt er. »Hat
euch eure Freundin nicht mit Frühstück versorgt?«
»Freundin«?! Der war gut, Vater. »Ich … bin nicht zum Frühstück
geblieben«, erwidere ich und bin stolz, dass das technisch gesehen ja
nicht einmal gelogen war. Ich zwänge mich an ihm vorbei, ehe er
weitere Fragen stellt, und laufe nach oben, wo ich mich schnell meiner Sachen entledige und unter die Dusche springe. Ich drehe das
Wasser so heiß auf, dass es mich beinahe verbrüht, aber ich habe das
Gefühl, den ganzen Unrat des gestrigen Abends fortspülen zu müssen, als reinige mir das siedende Wasser auch die Seele.
Mechanisch öffne ich das Badezimmerfenster und die Tür, damit
der Dampf herauszieht, und keine Minute später lugt Mama herein,
während ich mir mit aller Gewalt die Haare bürste. »Du bist schon
zurück?«, wundert sie sich.
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»Ich bin nicht zum Frühstück geblieben«, wiederhole ich, was ich
zu Papa gesagt habe, und beschließe, dass ich diesen Satz als Antwort auf jede weitere Frage zur Party erneut sagen werde.
»Und wie war es?«
Ich bin nicht zum Frühstück geblieben. »Vicki hat sich selbst übertroffen«, antworte ich und werfe damit meinen Vorsatz von vor einer
Sekunde über Bord. Wie schön, dass ich einen weiteren Satz entdeckt
habe, der der Wahrheit entspricht und dennoch über die wahren Ereignisse hinwegtäuscht.
Mama spürt, dass ich mich vor einem ausgiebigeren Bericht
sträube, und nickt nur. »Ich hoffe, du hattest eine schöne Zeit dort«,
sagt sie schließlich und geht dann gerade rechtzeitig, bevor sie sehen
kann, dass mir die Augen wieder feucht werden.
Ich entziehe mich dem Familienfrühstück mit der Begründung, ich
hätte keinen Hunger, was ebenfalls nicht gelogen ist, auch wenn es
angesichts dessen, dass ich ja offiziell noch nichts gegessen habe, wenig Sinn ergibt. Irgendwie respektieren meine Eltern meine Entscheidung, nicht über Vickis Party zu sprechen. Luisa fragt mich per SMS,
ob wir uns treffen wollen, aber ich antworte ihr, dass ich Zeit für
mich brauche, und so verbringe ich fast den ganzen Tag siechend
und leidend und grübelnd in meinem Zimmer, ohne etwas Sinnvolles zustande zu bringen.
Da wir samstags in der Regel sehr spät frühstücken, gibt es selten
Mittagessen, und ich schleiche mich am frühen Nachmittag aus meinem Zimmer, weil mir nun doch der Magen grummelt, und hole mir
aus der Küche ein bisschen Obst. Sophie und Justus sind jeweils mit
Freunden unterwegs, Mama brät im Garten in der Frühlingssonne,
und so ist es sehr ruhig im Haus. Auf dem Rückweg nach oben sehe
ich Papa im Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch sitzen und konzentriert die Stirn runzeln.
»Ansprache?«, frage ich und weiß selbst nicht, wieso ich das Gespräch suche.
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»Nee, Thema«, brummt er. »Der Lehrer in der HP-Gruppe fällt
aus und es ist praktisch unmöglich, samstags einen Ersatzlehrer zu
finden … und das, obwohl gut 90 Prozent der Lehrer ihren Unterricht ohnehin nicht früher vorbereiten.«
»Das schaffst du schon«, spreche ich ihm aufmunternd zu.
»Braucht man in der HP-Gruppe nicht nur irgendeine Frage stellen
und die Diskussion entwickelt sich dann wie von selbst?«
Papa schmunzelt. »Da hast du nicht ganz unrecht.« Er sieht auf
und legt seine Brille beiseite. »Und was wäre dein Vorschlag für eine
interessante Einstiegsfrage?« Er reicht mir den Ausdruck einer Ansprache. »Morgen nehmen wir eine Ansprache der letzten Generalkonferenz durch.«
»Dass eure Lasten leicht seien«, lese ich. Eine Ansprache von einem
Bruder aus der Präsidentschaft der Siebziger. Na, was für ein Zufall.
Sofort schnürt sich mir die Kehle zu.
»Es geht um Prüfungen«, erklärt Papa, »die Bürden, die wir zu
tragen haben, und was wir tun können, damit wir unter der Last
nicht zerbrechen, sondern stark werden. Irgendeine Idee?«
Ich überlege kurz. »Wie erkennt man, was man falsch gemacht
hat und warum Gott einen dann leiden lässt?«, frage ich dann.
Papa hält kurz inne und ist sich vermutlich nicht sicher, ob ich
einen Vorschlag gemacht habe oder ob mir die Frage selbst auf dem
Herzen brennt. »Molly … ich hoffe, du bist dir bewusst, dass Leid
nicht immer eine Folge davon ist, dass man etwas falsch gemacht
hat, oder?«
»Ja, natürlich«, erwidere ich. »Aber wenn man ein schlechtes Gewissen hat, ist das doch ein Zeichen dafür, dass man einen Fehler begangen hat … auch wenn man nicht weiß, welchen.«
Ich ahne schon, dass die Wahrheit über Vickis Party ans Licht
kommen wird, und trotzdem hält sich Papa zurück und bemüht sich,
meinem Gedankengang zu folgen und nicht nachzubohren. »Glaubst
du, dass wir uns solche Schuldgefühle manchmal einreden?«, fragt
er schließlich. »Dass wir der Meinung sind, als unvollkommene
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Menschen automatisch leiden zu müssen, weil wir etwas Dummes
begangen haben?« Er sieht mich eindringlich an. »Molly … das ist
genau das, was der Widersacher möchte: dass wir uns unzulänglich
fühlen, dass wir uns schuldig fühlen, dass wir uns unwürdig fühlen,
als wären wir nichts wert.«
Ich presse die Lippen aufeinander und bemühe mich nach Kräften, nicht loszuflennen.
»Manchmal frage ich mich, wie sich Josef gefühlt haben muss«,
fährt Papa fort. »Vielleicht war es ein wenig naiv von ihm, seinen
Brüdern so großkotzig von seinem Traum zu erzählen und dass er
mal über sie herrschen würde.« Das bringt mich zum Grinsen. »Aber
er war ein guter Junge und hatte den Wunsch, das Rechte zu tun. Er
hat das Beste aus der schwierigen Situation gemacht, nachdem er
nach Ägypten verkauft wurde, und blieb trotz alldem immer seinen
Grundsätzen treu. Als Potifars Frau ihn verführen wollte, tat er das
einzig Richtige: Er lief davon. Was war sein Lohn? Zwei Jahre Gefängnis. Ich will überhaupt nicht wissen, wie furchtbar die Zustände
dort gewesen sein müssen. Bestimmt hat er gelitten und gehungert –
und vielleicht hat er sich immer wieder gefragt, was er falsch gemacht habe, dass er so bestraft wurde. Möglicherweise hat ihm der
Satan Zweifel eingegeben und dass er nichts wert sei, weil nur jemand, der schlecht ist, derart bestraft wird.« Nun lächelt Papa breit.
»Was geschieht? Nachdem er endlich entlassen wird, steigt er auf
zum mächtigsten Mann unter dem Pharao. Molly, wenn wir geprüft
werden, wendet sich letzten Endes alles zum Guten. Rechtschaffenheit wird immer belohnt.«
»Und warum funktioniert das nicht ohne den zweijährigen Aufenthalt im Knast?«, frage ich mit bebender Stimme.
»Damit wir zeigen, aus welchem Holz wir geschnitzt sind«, entgegnet Papa. »Damit wir wachsen und weiser werden. Damit wir anderen helfen können, die einmal in einer ähnlichen Situation sind.
Damit wir ein noch engeres Verhältnis zu Jesus Christus aufbauen
können, der das alles für uns getragen hat und genau weiß, wie wir
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uns fühlen.«
Christus war wohl nie auf einer Party mit gackernden Hühnern,
die ihn auf der Toilette fotografiert haben – aber ich möchte mir nicht
ausmalen, wie schlimm der Spott und Hohn waren, die er erdulden
musste, als er von den Römern gegeißelt, angespuckt und mit einer
Dornenkrone versehen dem Gelächter preisgegeben wurde. Dies ertrug er, damit er mich in die Arme nehmen und mir sagen kann: »Ich
verstehe dich und ich bin bei dir.«
»Danke, Papa«, flüstere ich.
»Ich danke dir«, erwidert er. »Ich habe ein paar gute Anregungen
für die Lektion morgen bekommen.«
Er fragt nicht, was mich beschäftigt und warum ich mich mit diesen Fragen auseinandersetze, und deswegen liebe ich ihn umso
mehr. Genau wie Mama gibt er mir die Zeit, die ich brauche, um bestimmte Geschehnisse zu verarbeiten.
Rechtschaffenheit wird immer belohnt …
Dieser Satz verschafft mir ein friedliches Gefühl im Herzen, doch
wenn ich an gestern Abend denke, befürchte ich, dass mein zweijähriger Aufenthalt im Gefängnis gerade erst begonnen hat. Und ob ich
der Treue und dem Glauben von Josef nacheifern kann, wird sich
wohl erst noch zeigen müssen.
Mama tut es Papa gleich und überlässt mich meinen Gedanken, nur
Sophie beginnt, mich ausgerechnet beim Abendessen über die Party
auszufragen, aber als sie merkt, wie kurz angebunden meine Antworten sind (und die Schärfe in meiner Stimme ist nicht zu überhören), lässt sie mich in Ruhe und jammert stattdessen über die schriftlichen Abiturprüfungen nächste Woche und wie sie viiiel zu wenig
dafür gelernt hat (nämlich nur zwanzig Stunden am Tag, wie ich sie
kenne). Ich lasse sie plärren, das lenkt immerhin von mir ab.
Auch der Sonntag zieht unspektakulär an mir vorbei. Luisa
kommt nach der Gemeinde mit zu uns, und als wir nachmittags im
Garten sitzen, berichtet sie, dass ihre Eltern tatsächlich überhaupt
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nichts von meiner Spontanübernachtung mitbekommen haben. »Ich
bin überrascht, dass mich Luka noch nicht erpresst hat«, fügt sie hinzu, aber ich weiß, dass sie das nicht ernst meint. Auf der Skala der
anständigen Jungen nimmt er mit Finn, Dominik und Milo den oberen Bereich ein. Luisa erinnert mich außerdem daran, dass nächstes
Wochenende Generalkonferenz samt JD-Versammlung stattfindet,
was mir garantiert einen Höhenflug verpasst, und dass daraufhin
endlich Ferien sind und ich Vicki zwei Wochen lang nicht sehen
muss. »Und da keine Proben stattfinden, verabredet sich Milo bestimmt doppelt so oft mir dir, damit ihr die Texte nicht verlernt«, sinniert sie. »Wann löst du eigentlich deinen Gutschein für das Date im
Museum bei ihm ein?«
Alles zu seiner Zeit. Milo hat mir zwar abgeraten, zur Party zu gehen, aber er sieht ja trotzdem das Gute in Vicki, und allein das wird
für ein zusätzliches Drama sorgen.
Ich schlafe unruhig, weil mich die Ungewissheit, was auf mich zukommt, innerlich zerreißt. Ich stelle mich darauf ein, dass Vicki vor
der Schule auf mich wartet und 10.000 Euro von mir fordert, damit
sie Milo die Fotos nicht zeigt, aber wie soll ich so viel Geld zusammenbekommen? Ich könnte vielleicht bei den Greisers einbrechen,
Wertgegenstände klauen und verkaufen und damit erhält Vicki,
ohne dass sie es ahnt, ihr eigenes Geld zurück. Oder ich mache Fotos
von ihr. Aber der ist bestimmt gar nichts peinlich, so schamlos, wie
sie bei der Party über ihr Liebesleben geplaudert hat, obwohl ich ihr
zutraue, dass das alles frei erfunden war oder sie es zumindest sensationell übertrieben hat.
Wenn ich mich an manchen Tagen ganz besonders ätzend finde,
habe ich immer dieses seltsame Gefühl als Begleiterscheinung, dass
mich jeder – aber auch wirklich jeder –, dem ich begegne, anstarrt
und sich über mich lustig macht. Ich rede mir dann immer ein, dass
das völliger Schwachsinn ist und ich in eine Klapse eingewiesen werden sollte. Leider stellt sich dieses Gefühl heute ebenfalls ein, kaum
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dass ich die Schule betreten habe. Aber es ist extremer – weil ich mir
sicher bin, dass mich tatsächlich jeder anstarrt. Eine Gruppe aus der
Unterstufe gafft mich zuerst an und läuft dann lachend davon. Mein
Blick fällt auf den Boden, wo die Schüler eben noch gestanden haben. Überall liegen Flyer.
»Molly!« Bengü stürmt auf mich zu; ihr steht die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Ich will überhaupt nicht nachfragen,
was hier vor sich geht, also bücke ich mich und hebe einen Flyer auf.
Kira hat ein richtiges Talent für Schnappschüsse.
Ich erblicke mich selbst in A5-Größe. Mein Gesichtsausdruck ist
mehr als lächerlich und gleicht einem erstaunten Glotzen, während
ich mit heruntergelassener Jeans auf der Toilette sitze; das Blitzlicht
ist auf meinen bleichen Oberschenkeln als helle weiße Fläche erkennbar. Das Foto ist zwar schwarz-weiß, aber mein Gesicht ist so klar zu
erkennen, dass selbst jeder, dem ich noch nie aufgefallen bin, mich
im Schulgang augenblicklich identifizieren würde, nachdem er den
Zettel etwas gründlicher betrachtet hat.
Ich höre mich selbst nach Luft schnappen. »Wer … wo … wo liegen die aus?«, frage ich, obwohl ich die Antwort nicht wissen will.
Bengü ist bleich, und bei ihrem Hautton ist das eher eine Ausnahme. »Überall«, sagt sie leise. »Ich habe sie überall herumliegen sehen
… in den Gängen, auf den Treppen … Maren hat mir einen in die
Hand gedrückt und ich bin gleich losgerannt, um dich zu finden.«
Die Schulklingel ertönt, was bedeutet, dass Herr Rank bereits im
Klassenzimmer ist und ich vor versammelter Mannschaft zu spät
kommen werde. Wenn ich es überhaupt bis dorthin schaffe.
Ein weiteres Mal zwinge ich mich, auf das schändliche Stück Papier zu schauen. Jetzt erst nehme ich wahr, dass ein Schriftzug in fetten Großbuchstaben das untere Ende des Flyers ziert: »Intime Geständnisse einer Schülerin: Molly Bach, 10a.«
Herzlichen Glückwunsch, Molly, sage ich mir. Hiermit beginnt dein
Gefängnisaufenthalt von unbestimmter Dauer …
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W
as verkündet der Herr doch so schön im Buch Lehre und
Bündnisse: »Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will,
aber von euch wird verlangt, dass ihr allen Menschen vergebt.« Unfair! Okay, er ist ein Gott und darf wohl wirklich machen, was er
will, aber warum wird von mir verlangt, dass ich allen Menschen
vergebe? Nach allem, was geschehen ist – den ersten Theaterproben,
dem ersten Herumgezicke, der Verteilung der Rollen, meinen kläglichen Versuchen, mit Vicki Frieden zu schließen, und ihrer schrecklichen Party samt Nachspiel –, bin ich mir einer Sache gerade hundertprozentig sicher: Diesem Miststück werde ich nie, niemals vergeben!
Ich habe den Flyer inzwischen in meiner bebenden Faust zerknüllt und stehe noch immer regungslos im Gang. Die meisten Schüler sind bereits in ihrem Klassenzimmer verschwunden und ich bin
keinen erheiterten, hämischen Gaffern mehr ausgesetzt.
»Herr Rank wartet auf uns«, sage ich antriebslos und lasse die Papierkugel auf den Boden fallen.
»Herr Rank kann auch noch länger warten!« Bengü ist völlig aufgebracht. »Molly, wir gehen jetzt sofort zum Schulleiter! Das lässt du
nicht auf dir sitzen!« Um mir zu demonstrieren, dass sie keine Widerrede duldet, packt sie mich am Arm und schleift mich hinter sich
her. Dabei schimpft sie über Vicki in einer ordinären Ausdrucksweise, wie ich sie bei Bengü noch nie erlebt habe.
Ein paar Lehrer kommen uns entgegen und begrüßen uns freundlich – scheint so, als seien wenigstens im Lehrerzimmer keine Fotos
von mir ausgelegt worden. Und selbst das hätte ich Vicki zugetraut.
Aber was soll ich dem Schulleiter eigentlich sagen? Er wird meine
Eltern umgehend informieren, und das ist doch genau das, was ich
von Anfang an habe verhindern wollen. Ich habe Zweifel, dass irgendjemand etwas gegen Vicki ausrichten kann, der nicht die Mäch200
te der schwarzen Magie ausgiebig studiert hat, und jedes Gespräch,
das ich führen werde, wird die Lage verkomplizieren und letzten
Endes auf mich zurückprallen und mich noch mehr bluten lassen.
»Guten Morgen, Molly!«
Schon früher hat mir Vickis Stimme einen Schauer über den
Rücken gejagt, aber heute erstarre ich am ganzen Körper.
Vicki steht mit Kathrin und Samira vor den dunkelblauen Spinden der Unterstufe, die seit zwei Jahren eine Seite des langen Ganges
im Erdgeschoss einnehmen und als Stauraum für Fachbücher dienen, damit die Kleinen nicht ständig überschwere Ranzen herumschleppen müssen. (Musste ich auch und mein Rücken hat es überlebt, also was soll das?) Warum sind die drei nicht im Unterricht?
»Du bist am Freitag schon so früh verschwunden«, fährt Vicki
fort und geht zwei Schritte nach vorne, um mir und Bengü direkt
den Weg zu versperren. »Und das, bevor ich den Wodka herausgeholt habe. Äußerst bedauerlich! Ich hatte noch so viel mit dir vor!« In
ihrer Hand hält sie einen Flyer. »Ein gelungenes Bild von dir, findest
du nicht auch? Einer hochbegabten Schauspielerin wie dir hätte ich
zwar ein besseres Pokerface in einer brenzligen Situation zugetraut,
aber da habe ich dich wohl überschätzt.«
Bengü zerrt an meinem Arm und möchte sich gewiss nicht auf
eine Diskussion einlassen – vor allem nicht auf einem menschenleeren Flur ohne ein Anzeichen von Lehrern. Mir brennt jedoch eine
Frage auf der Zunge, und obwohl ich mir die Antwort denken kann,
muss ich sie loswerden: »Warum?« Wie meiner staubtrockenen Kehle
überhaupt ein Ton entweichen konnte, ist mir ein Rätsel.
»Warum?«, wiederholt Vicki beinahe ungläubig. Sie geht auf
mich zu und ist nur wenige Zentimeter von mir entfernt, aber ich
weiche nicht zurück, sondern verharre eisern auf der Stelle. »Du
klaust mir die Rolle, die mir zugedacht ist, du willst dir den Jungen
krallen, der mir zugedacht ist, du schleimst dich bei allen Lehrern ein
und wagst es, mir gegenüber irgendwelche dreisten Kommentare zu
machen, und nun fragst du mich ernsthaft nach dem Warum?« Sie
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schafft es, ihr eiskaltes Lächeln zu bewahren, auch wenn ihre
dunklen Augen vor Rage glühen.
Ich spüre ebenfalls, wie der Zorn über ihre Respektlosigkeit in
mir brodelt. Mir ist bewusst, wie naiv meine Schwärmerei für Milo
ist und dass er sich niemals in mich verlieben wird, aber dass sie ihn
wie ein Objekt für sich beansprucht – damit treibt sie es zu weit. Hat
er da kein Wörtchen mitzureden?!
Vicki setzt ihren Diskurs zu Hass und Rache unbeirrt fort. »Du
hast überhaupt keine Ahnung, mit wem du dich anlegen willst, Molly Bach«, spuckt sie mir entgegen, »und es ist Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Du weißt nicht einmal ansatzweise, wozu ich imstande bin, und glaube mir, wenn du deine Lektion nicht gelernt
hast, war das hier erst der Anfang!«
»Damit kommst du niemals durch!«, mischt sich nun Bengü ein.
»Das ist Mobbing übelster Sorte und du fängst dir glatt einen Verweis ein!«
»Halt den Mund, Kanake«, faucht Vicki, ohne den Blick auch nur
eine Sekunde von mir abzuwenden. »Dann weist mir das Mobbing
doch bitte nach. Seid ihr wirklich der Meinung, auch nur ein Partygast von mir würde aussagen, das Foto sei bei mir zu Hause geschossen worden? Wie wollt ihr eure klägliche Anschuldigung denn beweisen? Na?«
»Komm, Molly, es hat keinen Sinn«, drängt Bengü und geht nicht
auf Vickis gemeine Beleidigung ein.
Vicki ist jedoch noch nicht fertig. »Du hast gar nichts gegen mich
in der Hand, Molly, verstehst du?«
»Und was willst du?«, frage ich nun. »Soll ich die Hauptrolle an
dich abtreten und nie wieder mit Milo reden? Geht es dir darum?«
»Das klingt zumindest nach einem guten Anfang«, entgegnet sie.
»Es wäre äußerst großzügig, wenn du das machen würdest.«
Gewalt ist die Sprache der Dummen. Nur leider setzt mein Intellekt –
sofern vorhanden – völlig aus, und ich weiß mir nicht anders zu helfen. »Ich würde aber viel lieber das hier machen!«, höre ich mich nur
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noch murmeln, ehe ich die rechte Hand zu einer Faust balle und ihr
kompromisslos ins Gesicht schlage.
Ein beißender Schmerz durchzuckt mein Handgelenk und ich bereue augenblicklich meine hitzige Tat. Vicki taumelt mit einem kleinen Aufschrei zurück und hält sich die Hand ans Auge. Als sie loslässt, ist ihr rechter Wangenknochen gerötet. Ich gehe selbst einen
Schritt zurück, da ich erwarte, dass sie sich wie eine Irre auf mich
stürzt, während Samira und Kathrin beide fassungslos zusehen müssen, aber stattdessen beginnt sie allen Ernstes zu lachen und schenkt
mir ihr fiesestes Lächeln. »Oh Molly«, seufzt sie. »Du machst es mir
aber auch denkbar einfach! Und ich dachte, ich müsste noch einen
oben draufsetzen, ehe ich dich dazu bekomme!« Sie wendet sich an
ihre beiden Freundinnen, die ausnahmsweise mal geschockt und
nicht gelangweilt dreinschauen. »Gehen wir, ich muss mein Auge
kühlen«, sagt sie im Befehlston und marschiert ab. Ob sie gegen körperlichen Schmerz immun ist oder ihr dieser sogar Freude bereitet?
»Ich glaube, das war ziemlich dumm von mir«, wimmere ich.
»Ja«, meint Bengü, »aber ich könnte dich trotzdem gerade vor Bewunderung anbeten … « Mit diesen Worten zerrt sie mich weiter
Richtung Lehrerzimmer.
Wenig später sitze ich in der kleinen Krankenstation neben dem Sekretariat und halte mir eine Kältekompresse an meine rechte Hand.
Meine Knöchel sind nach dem Aufprall gegen Vickis harten Wangenknochen angeschwollen und mein Handgelenk ebenfalls. Frau Ömsen ist bei uns und rennt wutentbrannt auf und ab. Eigentlich hat sie
gerade Unterricht, aber nachdem sie auf dem Weg zum Klassenzimmer einige Flyer auf dem Boden entdeckt hat, ist sie zurück ins Lehrerzimmer gestürmt und hat (verbotenerweise) einen der Praktikanten mit ein paar Arbeitsblättern zu ihren Schülern geschickt. Frau
Ömsen zeigt keinerlei Zweifel an meiner Version der Geschichte, was
mich beruhigt, aber sie weist mich darauf hin, dass mein körperlicher Angriff auf Vicki voreilig und unklug war. Leider hat sie darauf
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bestanden, meine Eltern zu informieren, und ich habe ihr Papas
Nummer gegeben, damit bei Mama vor Schreck keine frühzeitigen
Wehen einsetzen. Papa ist bereits auf dem Weg hierher. Was ihn
wohl am meisten schockieren wird? Was mir auf der Party zugestoßen ist, dass ich dort abgehauen und spätabends allein in Frankfurt
unterwegs war, dass Vicki von den schändlichen Fotos Flyer gedruckt und in der ganzen Schule verteilt hat oder dass ich ihr dafür
eine verpasst habe?
»Es kann mir doch keiner weismachen, dass niemand gesehen
hat, wie sie die Dinger verteilt hat!«, meint Frau Ömsen entrüstet.
»Das war keine spontane Aktion«, entgegne ich mit einem dicken
Seufzer. »Sie hat alles akribisch geplant, weil sie genau weiß, was ihr
blüht, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.«
»Ich nehme jedes einzelne Mädchen, das auf der Party war, ins
Kreuzverhör!«, verkündet Frau Ömsen. »Selbst wenn die das Ganze
abstreiten,
verwickelt
sich
garantiert
irgendjemand
in
Widersprüche!«
Ich bin gerührt, wie aufmerksam Detective Ömsen sich um mich
kümmert und es bestärkt meinen Eindruck, dass Vicki ihr schon lange ein Dorn im Auge ist und sie endlich die Chance wittert, ihr den
Garaus zu machen. Nur sehe ich wenig Hoffnung.
Bengü springt von ihrem Stuhl auf. »Ich werde mit Lizzy sprechen«, schlägt sie vor. »Es muss einen Weg geben, ihr klarzumachen,
dass Vicki sie nur ausnutzt und wer ihre wahren Freunde sind.«
Frau Ömsen nickt zustimmend, doch ehe sie etwas darauf erwidern kann, vernehmen wir aufgebrachte Stimmen. Die Tür fliegt auf
und der Schuldirektor Dr. Hilmberger betritt mit hochroter Halbglatze den Raum. Ihm folgen Vicki, die ebenfalls mit einer Kompresse
versorgt ist, und ihre Mutter, die ich von dem Familienfoto auf dem
Kaminsims der Greisers wiedererkenne. Ich brauche sie nur anzusehen und weiß, dass ich mir großen Ärger eingehandelt habe. Frau
Greiser könnte Vickis ältere Schwester sein; sie ist äußerst attraktiv,
aber dadurch, dass sie die blonden Haare straff hochgesteckt hat und
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einen sehr figurbetonten, aber recht biederen Hosenanzug trägt,
wirkt sie wie eine strenge Lehrerin, die nur darauf wartet, ihre Schüler mit der Rute zu verprügeln. Ihr wütender Blick verheißt nichts
Gutes, aber kein Wort kommt über ihre Lippen. Vicki nimmt die
Kompresse vom Gesicht. Ich halte meine heile Hand vor den Mund
und unterdrücke ein Lachen – ja, ich weiß, es gibt in dieser schwierigen Situation nichts Unpassenderes, was ich tun könnte, aber der
Bluterguss ist bereits so angeschwollen und dunkel geworden, dass
ich tatsächlich ein bisschen Stolz verspüre. Meine Damen und Herren,
das war ich!
Frau Greiser bemerkt meine Reaktion und setzt zum Protest an,
als mein Vater hereinkommt. Ihm sind sämtliche Züge entgleist; seine Augen sind glasig, und ich merke, dass er zu viele Informationen
in zu kurzer Zeit erhalten hat. Ich springe auf und laufe ihm in die
Arme. Der Stolz und das unterdrückte Lachen verfliegen augenblicklich und ich finde mich schluchzend an seiner Schulter wieder.
»Ich schlage vor, wir gehen in mein Büro«, sagt Dr. Hilmberger.
»Frau Ömsen, würden Sie dazukommen? Ich denke –«
»Ich sehe nicht ein, warum wir eine weitere Lehrkraft brauchen«,
fährt Frau Greiser dazwischen. »Brauchen Sie seelischen Beistand
oder was?«
Dr. Hilmberger schluckt. »Ich bringe Bengü in den Unterricht«,
sagt Frau Ömsen. Sie ist bereit, für mich zu kämpfen, aber sie weiß
vermutlich, dass es keinen Sinn hat, in dem Gespräch mitzumischen,
zumal sie leider keine Zeugin der Geschehnisse ist. Bengü klopft mir
auf die Schulter und verlässt mit Frau Ömsen den Raum, ohne dass
unser lieber Rektor ein weiteres Wort darüber verliert. Wenn Vickis
Mutter den Schulleiter so in der Hand hat, wie um alles in der Welt soll
diese Sache enden?
Dr. Hilmberger nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz, Vicki und
ihre Mutter und ich und mein Vater setzen uns jeweils nebeneinander auf die Stühle davor, die für uns bereitgestellt wurden. Ich spüre
Papas Hand auf meinem Rücken, was mich ruhiger stimmt. Vicki hat
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eine Leidensmiene aufgesetzt, bekommt von ihrer Mutter jedoch keinerlei körperliche Zuwendung.
»Molly, warum erzählst du uns nicht erst einmal deine Sicht der
Geschichte«, fordert der Direktor mich in einem sachlichen, aber einfühlsamen Ton auf und rückt seine Brille zurecht.
Es belastet mich, mir den Freitagabend noch einmal detailliert in
Erinnerung zu rufen, aber ich weiß, dass ich nichts Wichtiges auslassen darf, auch wenn es für mich die reinste Tortur ist, darüber zu
sprechen. Ich traue mich nicht, auch nur einmal zu Papa zu blicken,
weil ich weiß, wie nahe ihm das alles geht. Vicki verharrt regungslos
auf ihrem Platz, ihre Mutter hingegen verschränkt sowohl Arme als
auch Beine, schnaubt ab und zu oder gibt ein »Tss!« von sich. Ich versuche, relativ nüchtern zu bleiben, auch wenn mir hin und wieder
die Stimme stockt. Ich bleibe bei dem, was sich zugetragen hat, und
beschönige auch nicht meinen Angriff auf Vicki.
Dr. Hilmberger nickt in regelmäßigen Abständen und hat seine
Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet, und ich fühle mich fast so, als
säße ich beim Bischof und müsste ihm eine Sünde beichten. Als ich
fertig bin, bleibt ihm keine Zeit, sich dazu zu äußern, denn Frau
Greiser schreitet sofort ein. »Das war ja ein hübsches kleines Märchen«, sagt sie. »Ich finde es völlig inakzeptabel, dass meiner Tochter
ein so ungeheuerlicher Verdacht unterstellt wird!«
»Welchen Grund hätte meine Tochter, sich das auszudenken?«
Papa bleibt freundlich.
»Vielleicht ist sie das Dasein als Mauerblümchen leid? Vicki ist
engagiert, beliebt, sie ist Schulsprecherin … und sie kommt ihr sogar
noch entgegen und lädt sie auf eine Party ein, obwohl sie sie gar
nicht so gut kennt! Ich denke, das allein zeigt schon, wie gerne sie
auf andere Menschen zugeht!«
»Meine Tochter hat gerade erst die Hauptrolle in dem Schultheaterstück ergattert. Dass sie es nicht nötig hat, sich von irgendeinem
Image zu befreien, steht wohl außer Frage, Frau Greiser.«
Vickis Mutter wendet sich direkt an Dr. Hilmberger. »Meiner
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Tochter wurde brutal mit der Faust ins Gesicht geschlagen!«, sagt sie
anklagend. »Die Schulordnung ist klipp und klar, was ein solches
Verhalten angeht: Wer sich prügelt, wird vom Unterricht suspendiert!«
Auch Papa lässt den Rektor nicht zu Wort kommen. »Verstehe ich
das richtig?«, fragt er, und ich merke, dass er innerlich aufbraust.
»Meine Tochter wird Opfer des übelsten Mobbings überhaupt, setzt
sich zur Wehr und sie ist dann diejenige, die einen Verweis bekommen soll? Das ist ja wohl die Höhe!«
»Ich lasse an meine Familie keine leeren Anschuldigungen!«,
zickt Frau Greiser. »Sie haben keinerlei Beweise, dass Vicki irgendetwas damit zu tun hat! Auf dem Foto sind keine Hinweise zu erkennen, in welchem Badezimmer es geschossen wurde, und Vicki hat
mir versichert, dass alle übrigen Partygäste – immerhin 12 – bereit
sind auszusagen, dass nichts dergleichen bei uns vorgefallen ist!«
»Frau Greiser, ich muss Herrn Bach recht geben. Diese Art Mobbing hat an keiner Schule dieser Welt etwas zu suchen, und ich kann
ein Mädchen nicht dafür bestrafen, dass es sich verteidigt!« Endlich
meldet sich mein viel zu schweigsamer Schuldirektor auch mal zu
Wort. Das wurde auch Zeit!
»Sie meinen wohl eher, dass sie Selbstjustiz übt! Und zwar gegen
eine Unschuldige!« Vickis Mutter stiert kurz an die Decke und legt
ihre beringte Hand theatralisch auf die Brust. »Wenn ich daran denke, was wir für diese Schule alles getan haben! All die Veranstaltungen, die wir organisiert haben, die vielen Spenden …« Sie wendet
sich pikiert an Vicki. »Mir ist unbegreiflich, warum du auf diesen
Saftladen hier bestanden hast bei all den Möglichkeiten, die dir offenstanden …«
Welch oscarreife Leistung! Ich würde laut applaudieren, wäre ich
nicht empört, was sich diese Frau dreisterweise herausnimmt. Ich
frage mich, ob sie wirklich an Vickis Unschuld glaubt oder ob sie den
Ruf ihrer Familie um jeden Preis wahren will.
»Ihnen ist also egal, was mir angetan wurde?«, frage ich nun mu-
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tig und sorge dafür, dass alle verstummen.
»Um Himmels Willen, Kind, nein!«, ruft Frau Greiser dann aus.
»Es ist schrecklich, dass dich jemand so behandelt! Aber du hast
nicht das Recht, grundlose Lügen hinauszuposaunen – im Grunde
begehst du damit selbst eine Art Mobbing!«
Papa ist aufgesprungen. »Sie bezeichnen meine Tochter nicht als Lügnerin!« So bedrohlich habe ich ihn noch nie erlebt.
»Herr Bach, bitte! Frau Greiser!« Dr. Hilmberger hebt beschwichtigend die Hände, und Papa setzt sich tatsächlich wieder. Sein Gesicht ist ein bisschen fleckig. »Gegenseitige Schuldzuweisungen bringen uns jedenfalls nicht weiter«, stellt der Schulleiter fest. »Frau
Greiser, selbstverständlich stehen Sie hinter Ihrer Tochter, und wenn
sich Vicki nichts hat zuschulden kommen lassen, hat sie auch nichts
zu befürchten. Dennoch muss ich darauf bestehen, dass ich eine Liste
von allen Mädchen bekomme, die bei besagter Party waren, und auf
welche Schule sie gehen, damit entsprechend Gespräche geführt
werden können.« Er wendet sich an mich. »Molly, wer auch immer
dir das angetan hat, wird zur Rechenschaft gezogen und es gibt keine Entschuldigung für so ein Verhalten! Dennoch muss ich bekräftigen, dass Gewalt niemals eine Lösung ist. Angesichts der Umstände
werde ich auf einen Verweis verzichten, aber ich schlage dir trotzdem vor, dass du diese Woche nicht zur Schule kommst. Mit den Ferien hast du dann erst einmal drei Wochen Zeit, um innerlich zur
Ruhe zu kommen.«
Ich weiß nicht, ob die paar Wochen reichen, dass Gras über die
Sache wächst, aber ich sehe ein, dass es eine vernünftige Lösung ist.
»Außerdem solltest du dich bei Vicki für den Angriff entschuldigen«, fügt er hinzu.
Ich erhebe mich aus meinem Stuhl. Vicki ist eine so grandiose
Lügnerin, warum sollte mir das nicht ebenfalls gelingen? Dass die
Entschuldigung nicht von Herzen kommt, wird hier im Raum ohnehin allen klar sein. »Vicki …«, setze ich an. Sie grinst. Sie grinst mich
tatsächlich an. Wie kann sie es wagen? »Fahr zur Hölle!«, fauche ich.
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Frau Greiser springt bestürzt auf. »Dr. Hilmberger!«, schimpft sie.
Papa hat mich sachte am Arm gepackt. »Wir gehen«, sagt er und
zieht mich hinter sich her. »Ich nehme an, wir bleiben in Kontakt!«,
kündigt er noch Dr. Hilmberger und Frau Greiser an, die mit Vicki
das Büro des Schuldirektors ebenfalls verlässt und nur in geringem
Abstand hinter uns herläuft. Sie regt sich über Papa und mich auf,
obwohl wir sie selbstverständlich mehr als deutlich hören können.
Kaum sind wir auf dem Flur angekommen, überholen die beiden
uns, und mir scheint fast, als kichere mir Vicki im Vorbeigehen ins
Ohr. Leider muss es auch zur Pause geläutet haben, denn die Türen
zu den Klassenzimmern stehen offen und überall wimmeln Schüler.
Ich werde knallrot bei den vielen Blicken, mit denen ich beehrt werde; eigentlich könnte ich mir auch alle Klamotten vom Leibe reißen,
das würde die Situation nicht unangenehmer machen. Ich möchte
lossprinten, um hier rauszukommen, bleibe jedoch wie angewurzelt
stehen, als ich Milo erblicke, der wenige Meter vor uns mitten im
Gang steht. Leider bin nicht ich diejenige, die er ansieht.
»Vicki!« Völlig entgeistert geht er auf Vicki zu, die Sorge ist ihm
ins Gesicht geschrieben. Einen Augenblick lang sagt er gar nichts
und schaut sie einfach mitleidig an, dann schiebt er sanft ihre Hand,
mit der sie ihre geschwollene Gesichtshälfte kühlt, beiseite. »Das war
wirklich Molly?«, fragt er liebevoll. Vickis Mutter beäugt das Ganze
zufrieden, wenn auch mit zusammengepressten Lippen.
Mir werden die Knie weich. Tut er das gerade wirklich? Kümmert
er sich so aufrichtig um meine Erzfeindin? Soll Vicki doch mein Leben zerstören und mich überall lächerlich machen – aber Milo glaubt
ihr? Es fühlt sich buchstäblich so an, als ramme mir jemand einen
Dolch in die Brust. Ich möchte am liebsten tot umfallen.
Vicki nickt nur. »Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist«, sagt sie
und presst sich ein paar Tränchen aus den Augen.
Milo lässt sie los und schlagartig verfinstert sich sein Gesichtsausdruck. Alle Wärme ist geflohen. »Sei lieber froh, dass es Molly war«,
raunt er dann. »Ich hätte dir nämlich die Nase gebrochen, du falsches
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Luder!«
Ich weiß nicht, ob ich Vicki jemals derart perplex erlebt habe. Sie
schnappt hörbar nach Luft, und Mutter und Tochter Greiser wirken
gleichermaßen entsetzt. »Was … was meinst du?«, fragt Vicki und
ein ungläubiger Ton schwingt in ihrer Stimme mit.
»Ich habe dich ausdrücklich davor gewarnt, gemein zu ihr zu
sein! Sie hat dir nichts getan! Ich weiß, dass ich jahrelang die Augen
vor all deinen gehässigen Aktionen verschlossen habe, weil du mir
wichtig bist, Vicki, aber diesmal bist du zu weit gegangen. Ich bin
echt enttäuscht von dir!«
»Du glaubst ihr?«, schreit Vicki.
Milo fährt sich durchs Haar und schüttelt den Kopf. »Du bist so
ein verlogenes Miststück«, sagt er trocken.
»Was fällt dir eigentlich ein, Milo?«, wirft Frau Greiser ein. »Was
ist in dich gefahren? So kenne ich dich gar nicht!«
»Erstaunlich, wie man sich in Menschen täuschen kann, nicht
wahr?«, schlägt Milo zurück.
»Milo!« Vicki streckt die Hand nach ihm aus, aber er stößt sie von
sich, wendet sich von ihr ab und kommt dann auf mich zu. Der
Dolch in meinem Herzen hat sich auf einmal in eine sanfte Sommerbrise verwandelt, die mich von Kopf bis Fuß durchströmt.
»Es gibt keine Worte für das, was sie getan hat, Molly«, sagt er.
»Aber vergiss nicht, dass deine Freunde hinter dir stehen, okay?«
Ich schluchze los und kann mich nicht zurückhalten: Ich falle ihm
um den Hals. Ich verweile nur für den Bruchteil einer Sekunde, flüstere ein »Danke« und löse mich dann von ihm, weil ich merke, dass
Papa unruhig wird. »Wir sollten wirklich gehen, Molly«, drängt er.
Frau Greiser zerrt eine leichenblasse Vicki hinter sich her, die sich
ständig zurückdreht und vor Wut schäumt. Aber das ist mir egal.
Jetzt gerade habe ich keine Angst mehr, für einen kurzen Moment
sind die seelischen Schmerzen nicht mehr zu spüren.
Milo lächelt mich an. »Mach dir keine Sorgen. Die kriegen wir
schon dran!«
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Papa legt den Arm um meine Schulter, und während er mich aus
der Schule führt, achte ich nicht darauf, ob mich die Schüler anstarren oder noch irgendwo Flyer herumliegen. Ich wiege mich in Geborgenheit und habe das Gefühl, dass ich den Kampf irgendwie bestehen kann.
Papa startet den Wagen und fährt ein paar Meter, hält dann jedoch
unverhofft am Straßenrand an. Ich glaube nicht, dass er hier überhaupt halten darf, aber ich sehe, wie zittrig seine Hände sind, und
seinem Blick entnehme ich tiefe Betroffenheit und Sorge. »Molly …«
Er atmet tief durch. »Warum hast du denn nichts zu Mama und mir
gesagt?«
Ich möchte nicht schon wieder weinen und kämpfe mit aller
Macht gegen die Tränen an. Vor uns an der Ecke blüht der Straßenverkauf eines Eiscafés und für die Morgenstunde ist es recht voll. Ich
würde mich am liebsten auch mit Eiscreme vollstopfen und damit
die erneut aufkeimende Wut und Verzweiflung einfrieren.
»Ich habe mich so geschämt«, gestehe ich dann. »Ich habe die Party früher verlassen und bin zu Luisa gefahren. Und ich weiß, dass
ich euch das hätte sagen sollen, aber ich war völlig überfordert und
hatte das Gefühl, dass Gott mich aus irgendwelchen Gründen bestrafen will und –«
»Molly …« Papa breitet die Arme aus und ich vergrabe mein Gesicht in seiner Brust. Er streichelt mir über die Haare und weint mit
mir. »Verstehst du denn nicht?« Er nimmt mein Gesicht in die Hände
und streicht mir die Tränen fort. »Als Jesus Christus so gelitten hat,
musste sich der Vater im Himmel von ihm zurückziehen, damit er
völlig auf sich alleine gestellt ist … aber genau aus diesem Grund
musst du das nicht! Mama und ich sind immer für dich da! Du bist
nie allein! Dich leiden zu sehen und von dieser hysterischen Kuh beleidigen lassen müssen …«
Er bringt mich zum Lachen. »Der Apfel fällt nicht weit vom
Stamm«, erwidere ich.
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Papa stimmt ein und gibt mir dann einen Kuss auf die Stirn.
»Aber hast du gesehen, wie sie sich Vicki gegenüber verhalten hat?
Da war keine Wärme oder Zuneigung, nichts dergleichen. Sie nimmt
ihre Tochter in Schutz, um den Ruf der Familie zu wahren, und
bringt es nicht einmal imstande, ihr Kind in den Arm zu nehmen.
Und vielleicht ist das der Grund, warum Vicki dich nicht ertragen
kann – weil du im Gegensatz zu ihr eigentlich alles hast. Im Grunde
können wir sie nur bemitleiden.«
»Ich weiß nicht, wie ich ihr jemals vergeben kann«, beichte ich.
»Es ist ein Gebot, das ist mir bewusst, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das möglich sein soll.«
»Ein Schritt nach dem anderen.« Papa und ich lösen uns wieder
voneinander und er startet den Wagen. »Erinnerst du dich, worüber
wir am Samstag gesprochen haben, als du mir bei der Vorbereitung
für meinen Unterricht in der HP-Gruppe geholfen hast?«
»Rechtschaffenheit wird immer belohnt?«, erinnere ich mich.
»Rechtschaffenheit wird immer belohnt!«, bekräftigt Papa. »Und
überleg mal – Josef hatte niemanden im Gefängnis. Du hast uns alle.
Wir stehen das gemeinsam durch. Und deine Freunde sehen das ja
offensichtlich auch so!«
Es ist keine lange Autofahrt nach Hause und trotz Papas aufmunternder Worte sträube ich mich davor, alle Emotionen erneut hochkommen zu lassen, wenn Mama von der ganzen Sache erfährt. Aber
Papa hat recht und er und Milo – und eigentlich auch Bengü und
Frau Ömsen – haben mir heute das Leben gerettet. Es ist nur der Beginn eines Kampfes, und wenn Vicki ihre Drohungen wahr macht,
erwarten mich noch finsterere Zeiten. Mein weiser Vater hat mir allerdings etwas auf den Weg gegeben, was ich niemals vergessen
darf: Vicki mag gerissen sein, aber sie bestreitet den Kampf alleine.
Und ich nicht.
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D
as eigentlich hektische Geschehen um mich herum spielt sich
in meiner Wahrnehmung wie in Zeitlupe ab. Ich sitze regungslos auf der Couch, völlig steif und ohne mich anzulehnen. Alles
klingt dumpf und wirkt verschwommen und nur das regelmäßige
laute Pochen meines Herzens bestätigt mir, dass ich noch am Leben
bin. Meine linke Hand ist mit einer Kühlkompresse versehen und
leicht auf die rechte gepresst. Die Knöchel sind nach wie vor angeschwollen, aber ich ignoriere den Schmerz.
Links neben mir sitzt Luisa. Sie hat den Arm um mich gelegt (wovon ich aber irgendwie nichts spüre) und redet mir aufmunternd zu.
Zu meiner Rechten sitzt Bengü, die nach dem Unterricht direkt zu
mir gefahren ist, auch sie redet auf mich ein. Oder vielleicht reden
die beiden miteinander? Ich weiß es nicht.
Mama sitzt mit glasigem Blick auf dem Sessel. Immer wieder
schüttelt sie den Kopf und fasst sich an die Stirn. Papa geht unruhig
auf und ab. Ich habe ihm gesagt, er könne ruhig zurück auf die Arbeit, aber er meinte, das stehe außer Frage. Vor ein paar Minuten
schließlich ist Sophie heimgekommen, die morgen ihre erste schriftliche Abiturprüfung hat und mehr wegen sich selbst aufgebracht zu
sein scheint.
»Ich kann es nicht glauben! Ich kann es einfach nicht glauben!«
»Die wird sich wünschen, nie geboren worden zu sein!«
»Frau Ömsen bittet um Rückruf!«
»Wie kann man nur so herzlos sein?«
»Alle reden von nix anderem!«
»Es tut mir alles so leid für dich!«
Ab und zu vernehme ich einen dieser Sätze, aber welcher von
wem stammt, kann ich nicht sagen, und es spielt auch keine Rolle.
Ich spüre, wie mir ab und zu eine Träne über das Gesicht kullert,
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dann wieder muss ich mir auf die Zunge beißen, um nicht loszulachen. Alles ist unwirklich.
Mein Wachkoma nimmt erst ein Ende, als ich Milo im Türrahmen
des Wohnzimmers stehen sehe. Ein Teil von mir hat befürchtet, ich
habe nur geträumt, wie er Vicki zusammengestaucht und sich für
mich eingesetzt hat, und wie heute Vormittag möchte ich aufspringen und ihm um den Hals fallen, aber ich halte mich zurück.
»Vicki leugnet standhaft, irgendetwas damit zu tun zu haben«,
bestätigt er das, was wir alle ohnehin schon wissen, aber der bloße
Klang seiner Stimme ist Musik in meinen Ohren und erfüllt meine
abgestorbene Seele mit neuem Leben.
»Lizzy nicht«, entgegnet Bengü, woraufhin sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sie konzentriert. »Trotzdem will sie nichts
sagen«, fügt sie schnell hinzu, um uns erst gar keine Hoffnung zu
machen. »Ihr exakter Wortlaut war: ›Dann macht sie doch genau das
Gleiche mit mir!‹ Ich glaube, sie schnallt so langsam, dass sie nur
Mittel zum Zweck war und Vicki keinen großen Wert auf eine
Freundschaft mit ihr legt, aber jetzt steckt sie mit drin und kommt da
nicht so einfach wieder heraus.«
»Soll sie auch nicht«, melde ich mich nun zu Wort und lasse meiner Verbitterung ihren Lauf. Natürlich ist mir bewusst, dass es mir
zugute käme, wenn Lizzy sich besinnen und der Schulleitung die
Wahrheit sagen würde – aber sie hat sich da reingeritten, weil sie unbedingt zu Vickis Clique gehören wollte, nun soll sie auch den Preis
dafür zahlen. Mein Mitleid für sie hält sich in Grenzen – mir gegenüber hat sie ja auch keines gezeigt. Auge um Auge … ja ja, miserable
Einstellung, ich weiß.
»Ich werde nichts unversucht lassen, um Molly zu helfen«, kündigt Milo an.
Mama hebt das rotgeweinte Gesicht, wird vermutlich von ihren
Hormonen überrumpelt und presst den wehrlosen Jungen an sich.
»Du bist ein echt feiner Kerl«, sagt sie. »Ein richtiger Gentleman!«
Milos sonst blasses Gesicht ist errötet. »Das ist doch das einzig
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Richtige«, meint er, als müsse er seinen noblen Standpunkt verteidigen. Nachdem Mama ihn losgelassen hat, setzt er sich neben Luisa.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie das getan hat. Ein Unschuldslamm ist sie keineswegs, das wusste ich immer … und ihre
Intrigenspiele habe ich über die Jahre hinweg immer wieder mitbekommen, aber diesmal hat sie sich selbst übertroffen.«
»Und du hast nie etwas gesagt?«, fragt Luisa neugierig. »Ich meine – tut mir leid, wenn ich das so ehrlich sagen muss, aber wenn du
der anständige Junge bist, der du vorzugeben scheinst, finde ich es
seltsam, dass du Vicki jahrelang in Schutz genommen hast und mit
ihr befreundet warst …«
»Es ist kompliziert.« Er senkt den Kopf. »Ihre Mutter ist ein Drache. Ihr Vater ist sehr nett und höflich, interessiert sich aber in Wirklichkeit genauso wenig für seine Tochter. Ich will nicht rechtfertigen,
was Vicki tut, aber … wenn man sie kennt, wirklich kennt, tut sie einem leid … und sie hat sich früher mir gegenüber auch anders gegeben und sich mir geöffnet.« Nun sieht er mich an. Seine dunklen Augen sind wie zwei Schwarze Löcher, die meinen Körper und Geist
aufsaugen. Dieser Dummkopf! Er hat sich heute wie ein Held verhalten und meine Gefühle zerreißen mich. Ist er denn so blind, dass er
nicht begreift, was solche ehrenhaften Taten in jemandem auslösen,
der ihn ohnehin schon anhimmelt?
»Aber hast du denn nichts von ihren Plänen mitbekommen?«,
wirft nun Bengü ein. »Ihr hockt doch ständig aufeinander!«
»Na ja, als Molly die Hauptrolle bekommen hat, habe ich Vickis
Gehabe einfach nur für Neid gehalten«, rechtfertigt er sich (als würde ich seine edlen Motive je in Frage stellen). »Ich war ehrlich gesagt
selbst geplättet, wie sehr sie sich da reingesteigert hat, aber es war
sinnlos, mit ihr zu diskutieren, auch wenn ihre Kommentare durchaus gehässig waren.«
»Und warum hast du nichts unternommen?«, bohrt Bengü weiter.
»Hab ich doch!«, entgegnet Milo gefrustet. »Als sie Molly zur Party eingeladen hat, habe ich sie eindringlich gebeten, sie in Ruhe zu
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lassen. Vielleicht war es supernaiv von mir, zu glauben, dass sie auf
mich hört, aber dass sie so weit geht, hätte ich niemals gedacht!« Er
wirkt verzweifelt. »Ich weiß nicht, was in ihr vorgeht. Ich weiß nicht,
was sie antreibt, so böse gegen Molly zu wettern. Ich kapier’s einfach
nicht.«
»Bist du blind? Sie ist total in dich verliebt!«, lautet meine Antwort. Die beiden Schwarzen Löcher vergrößern sich, was sie noch
schöner macht, und die Röte, die ihm nach Mamas Umarmung ins
Gesicht gestiegen war, verschwindet schlagartig. Ich habe die Stimme erhoben und fürchte, ihm zu nahegetreten zu sein. »Und sie
denkt, dass ich … mich an dich heranmache«, füge ich daher noch
sanft hinzu. Ich höre Luisa schlucken.
»Das hat sie dir gesagt?«, fragt Milo ungläubig.
»Nein«, wirft Bengü zu meiner Linken ein, ehe ich etwas darauf
erwidern kann. »Sie hat es sogar noch krasser formuliert, nämlich
dass sich Molly an den Jungen heranmacht, der – ich zitiere – ihr zugedacht ist. Ich war dabei, als sie das gesagt hat.«
Milo wendet den Blick ab und starrt ins Leere. Im Wohnzimmer
herrscht Totenstille; Papa steht bei Mama und hat eine Hand auf ihre
Schulter gelegt, Sophie wippt unruhig von einem Bein aufs andere,
wir übrigen starren Milo an und warten auf seine Reaktion.
Der Gedanke dringt ihm schließlich ins Bewusstsein. »Sie mag
mich«, murmelt er. Er wiederholt das noch zweimal, einmal eher fragend, das zweite Mal seufzend. »Klar haben wir als Kinder davon
gesprochen, dass wir heiraten wollen, wenn wir groß sind … aber
damals waren wir fünf oder sechs Jahre alt …« Er bemerkt, wie aufmerksam ihn alle anschauen, was ihn zum Lachen bringt. »Ich
Vollidiot … ist das überhaupt möglich so blind zu sein und nicht zu
schnallen, dass man gemocht wird?«
Tja, Milo, das würde ich tatsächlich nicht ganz ausschließen.
»Aber gut.« Er reibt sich die Hände. »Das erklärt nicht nur einiges, sondern wir können das vielleicht zu unserem Vorteil nutzen.«
Enthusiastisch springt er auf. »Molly, überleg dir mal, ob du nicht
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zur Theaterprobe am Donnerstag kommen möchtest. Ich weiß, sie
wird dort sein, aber ich glaube, sie rechnet damit am allerwenigsten
… lass es mich aber vorher wissen. Wir zeigen ihr gemeinsam, wer
die Oberhand hat.« Er grinst über beide Ohren. »Eines kann sie nämlich nicht ignorieren – auch ich bin in der Schule beliebt.«
»Und was genau hast du vor?«, frage ich, aber Milo verabschiedet
sich frecherweise, ohne jemanden in seine Pläne einzuweihen. Da er
mich innig umarmt, kann ich ihm leider nicht böse sein, auch wenn
ich keine Ahnung habe, was ihm vorschwebt.
Milos Auftauchen hat außerdem dafür gesorgt, dass sich die Anspannung im Raum spürbar gelöst hat, vor allem Mama sitzt nicht
mehr so gelähmt da. Das Leben ist stückweise zurückgekehrt.
Nachdem Papa ihn zur Tür gebracht hat, raunt Mama mir zu:
»Du bringst den zur Kirche und heiratest ihn, verstanden?«
Ehe ich auf irgendeine Weise genervt reagieren kann, verlangt Sophie nun ebenfalls nach etwas Mitleid, immerhin ist sie meine
Schwester und muss sich auf wichtige Klausuren konzentrieren. Wie
soll sie ihr Abitur bravourös bestehen, wenn der Ruf ihrer Familie so
in den Dreck gezogen wird?
Papa klopft ihr auf den Rücken. »Du hast dich doch so gut darauf
vorbereitet, du schaffst das schon.« Sophie geht auf ihr Zimmer, jedoch nicht, ohne mir aufmunternd zuzulächeln.
Auch Luisa und Bengü verabschieden sich, und ich ziehe mich
auf mein Zimmer zurück, etwas angespannt, was die weitere Woche
bringen wird, und erleichtert, dass meine Familie und meine Freunde – vor allem Milo – so konsequent hinter mir stehen. Wenig später
erhalte ich einen Anruf von Julia, die die Neuigkeiten von Luisa erfahren hat und außer sich ist vor Wut. Sie bietet mir an, die geplante
JD-Aktivität morgen Abend abzusagen und stattdessen ein gemeinsames Mordkomplott zu schmieden. »Gib mir ihre Adresse! Ich versohle der so richtig den Hintern!«, ruft sie. Dass sie letztlich die
Evangeliumsgrundsätze nicht über Bord werfen würde, wissen wir
zwar beide, aber ich bin ihr dankbar, dass sie Dampf ablässt und mir
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zur Seite steht.
Auch mein kleiner Bruder lässt es sich nicht nehmen, mir seinen
Beschützerinstinkt vorzuhalten. Justus schleicht sich unbemerkt in
mein Zimmer, als ich auf dem Bett liege, und zeigt mir seine Nerf.
»Ich kann die Schaumstoff-Munition durch Holzpfeile ersetzen«, bietet er mir an. »Kenan und ich könnten ihr nach der Schule auflauern.«
Ich gebe ihm einen Kuss auf die Stirn und drücke ihn an mich,
ohne etwas darauf zu sagen.
Beim Familienabend spricht Papa über ein ganz anderes Thema,
nämlich das Gebet und wie wir uns bemühen können, inständiger zu
beten und uns Gott dadurch näher zu fühlen. Er schlägt uns vor,
beim Beten zu überlegen, was wohl Christus an unserer Stelle sagen
würde – immerhin schließen wir das Gebet ja auch in seinem Namen. Ich weiß nicht, ob er damit indirekt auf Vicki anspielt, damit
ich nicht für ihr Verderben bete, aber tatsächlich überlege ich später,
bevor ich ins Bett gehe, intensiver, was ich wohl sagen soll. Ich beschließe, gar nichts von Vicki zu sagen. »Hilf mir, das alles durchzustehen«, bete ich lediglich. »Gib mir Kraft und hilf mir, das Richtige
zu tun.« Obwohl ich aufgewühlt bin und ein Gedanke den nächsten
jagt, schlafe ich schnell und erschöpft ein.
Mama fährt mich am nächsten Morgen zum Arzt, damit mein Handgelenk untersucht wird, aber es erweist sich als eine relativ harmlose
Prellung und glücklicherweise stellt Doktor Loth nicht zu viele Fragen. Als wir nach Hause kommen, stelle ich mich darauf ein, dass ich
alle Schulfächer pauken muss, die ich heute hätte, aber Mama teilt
mir mit, dass ihr und Papa meine schulischen Leistungen zwar nicht
unwichtig, sie aber trotzdem der Meinung seien, ich müsse nicht den
ganzen Vormittag die Schulbücher wälzen. »Tu etwas, was dich
glücklich macht!«, hält sie mich an. »Dass du frei bekommen hast, ist
keine Strafe, sondern Dr. Hilmberger möchte, dass du dich von dem
Schrecken erholst, also lenk dich mit etwas ab, was dir Freude berei-
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tet.« Nachdem ihr Vorschlag darin ausufert, dass ich drei Stunden
lang Fernsehen schaue und mich an den Schönen und Reichen Hollywoods ergötze, die letzten Endes immer den Partner ihrer Träume
abbekommen, schaltet Mama das Gerät jedoch aus und schlägt mir
vor, mich auf die Generalkonferenz am Wochenende vorzubereiten.
»In deinem Leben geschieht momentan so viel«, sagt sie. »Was hältst
du davon, wenn du dir ein paar Fragen aufschreibst, auf die du bei
der Konferenz Antworten finden möchtest? Schreib einfach alles auf,
was dir in den Kopf kommt!«
Ich stöhne auf, weil ich keine Lust habe, muss ihr jedoch Recht
geben, dass ich meine Zeit ein wenig ergiebiger verbringen könnte.
Doch als ich mich aufraffe und an meinen Schreibtisch setze, überkommen mich wieder einmal die Tränen, denn unweigerlich denke
ich als Erstes an Fragen wie etwa: »Wie kann ich das Gespött in der
Schule jemals überstehen?« und »Wann nimmt diese furchtbare Prüfung ein Ende?« Ich will nicht wie Josef zwei ganze Jahre im Gefängnis hocken … die vergangenen paar Tage haben mich schon völlig
überfordert. Wie soll das denn in einem Monat aussehen? Oder in einem halben Jahr?
Aber Mama hat mir vorgeschlagen, alles aufzuschreiben, was mir
einfällt, also bin ich rigoros und notiere diese Fragen.
Wie bringe ich die Wahrheit ans Licht?
Wie kann ich erhobenen Hauptes die Schule betreten?
Ist es möglich, dass Vicki irgendwann ein Herz zeigt?
Wie werde ich ihr jemals verzeihen können?
Ich setze den Stift regelmäßig ab, weil der Schmerz zurückkehrt,
und begutachte die Fragen immer wieder. Die Liste wird länger und
länger, und ich halte es für unwahrscheinlich, dass ich bei der Generalkonferenz eine Antwort auf jede einzelne davon erhalte, also konzentriere ich mich auf die wesentliche: Wie erlange ich die Kraft, dies
durchzustehen?
Präsident Monson erzählt immer so eifrig von den Witwen, denen er zur Seite stand, vielleicht gab es da ja auch mal eine, die ge-
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mobbt wurde, woraufhin er die Übeltäter zusammengeschlagen hat,
aber ich rechne nicht damit, das zu hören. Was ich an dem Propheten
vor allem bewundere, ist die Sanftmut und Nächstenliebe, die er
ausstrahlt. Ich bin mir sicher, dass es ihm sein Leben lang gelungen
ist, Konflikte ohne Gewalt zu lösen, und augenblicklich keimt in mir
der Wunsch auf, diesem Beispiel nachzueifern und nie wieder die
Selbstbeherrschung zu verlieren wie gestern Vormittag. Andererseits
kann ich leider auch nicht abstreiten, dass mich mein Angriff mit einer gewissen Genugtuung erfüllt hat.
Als Sophie nach Hause kommt, stöhnt sie herum, wie furchtbar
alles gewesen sei, dabei hat sie die 15 Punkte doch garantiert sicher –
aber selbst an der bestmöglichen Note findet sie bestimmt etwas zum
Herumnörgeln. Zum Glück steht ein paar Minuten, nachdem sie
heimgekommen ist, Bengü vor der Tür. Sie schildert mir kurz, was
im Unterricht besprochen wurde, aber viel brennender interessiert
mich, wie die Lage in der Schule ist.
»Es wurde über kaum etwas anderes gesprochen«, berichtet sie.
»Frau Ömsen hat Kleist Kleist sein lassen und über Mobbing gesprochen. Sie hat uns ein paar Beispiele mitgebracht von Teenagern, die
sich umgebracht haben … und uns eindringlich aufgefordert, dir zur
Seite zu stehen und dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichen gefunden und entlarvt werden. Du kannst dir denken, dass Lizzy immer tiefer in ihrem Stuhl versunken ist. Außerdem musste ich zu Dr.
Hilmberger, weil ich ja gestern Zeugin von dem ganzen Vorfall war
… leider hält er sich bedeckt. Er hat nur gesagt, dass die ersten Gespräche mit den Mädels von der Party stattgefunden haben.«
»Mit Lizzy auch schon?«
»Keine Ahnung. Ich habe allerdings heute auch kaum ein Wort
mit ihr gewechselt.« Bengü ist tough und lässt ihren Gefühlen nur
selten freien Lauf, aber in diesem Augenblick spüre ich, dass sie sich
von ihrer ehemals besten Freundin verraten fühlt und enttäuscht ist,
dass Lizzy uns so rigoros ausgetauscht hat, um in der Schule beliebter zu sein. »Der Schuss wird sowas von nach hinten losgehen«,
220
seufzt sie und errät damit meine Gedanken. »Lizzy wird noch spüren, worauf sie sich eingelassen hat.«
»Hast du … Milo gesehen?« Ich stelle die Frage so beiläufig wie
möglich, aber ich kann ihr nichts vormachen.
»In der Tat«, erwidert sie. »Er hat mir aufgetragen, dir erneut auszurichten, dass du am Donnerstag zur Probe kommen sollst … aber
falls ja, sollst du ihm unbedingt vorher Bescheid sagen. Frau Ömsen
meinte, du seist natürlich herzlich willkommen, aber sie könne verstehen, wenn du Vicki nicht wiedersehen willst. Obwohl es sich
lohnt – ihr blaues Auge ist eine Pracht.«
Ich werde unverhofft sentimental. »Danke, dass du für mich da
bist, Bengü«, sage ich bewegt. »Ich hab Angst, dass sie dir ebenfalls
droht, weil du gegen sie ausgesagt hast …«
»Pff, die kann mich mal«, entgegnet meine Freundin selbstsicher.
»Die kann mich beleidigen, wie sie will, ich lasse mich bestimmt
nicht einschüchtern.«
Ich bewundere ihre Einstellung, frage mich aber, ob ihre Tapferkeit doch nur eine Fassade ist, die bröckeln würde, falls Vicki ihr etwas ähnlich Gemeines antäte wie mir.
Ich wage mich aus dem Haus und bringe Bengü zur U-Bahn-Haltestelle, ehe ich in die Gemeinde zur JD-Aktivität rüberlaufe, die
mich hoffentlich ebenfalls von meiner Misere ablenkt. Passend dazu,
wie ich meinen Nachmittag verbracht habe, steht auch der heutige
Abend unter dem Stern der nahenden Generalkonferenz. Julia bemüht sich zwar grundsätzlich, den geistigen Schwerpunkt sonntags
zu setzen und die Aktivität für Beschäftigungen und Projekte aller
Art zu nutzen, aber ihr liegt es am Herzen, dass wir alle zur Übertragung der Allgemeinen JD-Versammlung erscheinen, die bereits am
vergangenen Wochenende stattgefunden hat, und Julia hat sie live
übers Internet mitverfolgt. »Es wird super!«, verspricht sie uns.
Kurz darauf sitzen wir am Tisch und arbeiten an einer großen
Collage, auf der wir Bilder von Propheten aus alter und neuer Zeit
kleben und dazu schreiben, wie die neuzeitlichen Führer der Kirche
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das bekräftigen, was bereits vor vielen Jahrhunderten verkündigt
wurde. Es soll uns darauf einstimmen, dass sich das Evangelium
Jesu Christi nicht geändert hat, auch wenn die Worte, die wir heutzutage aus dem Konferenzzentrum vernehmen, natürlich auf spezifische Probleme der heutigen Zeit zugeschnitten sind – es ist jedoch
immer wieder erstaunlich, wie sich im Kern die Herausforderungen
nicht verändert haben.
Ich habe ein paar Aussagen zur Pornografie rausgesucht und
mein Blick ist an einem Bild von David hängengeblieben. Ich bin etwas enttäuscht, dass er sich nicht beherrschen konnte und Batseba
bespannert hat – ein schwacher Augenblick, der quasi zu einem Auftragsmord führte. Ich finde in dem riesigen Stapel alter Leitfadenbilder, die die JD-Leitung mitgebracht hat, auch weitere Darstellungen
von David, allen voran natürlich sein Kampf gegen Goliat, und beschließe, dass ich auch das Gute, das er vollbracht hat, hervorheben
und mit aktuellen Aussagen unterstreichen möchte, zumal ja die Begebenheit, wie er als geistiger Gigant einen buchstäblichen Giganten
besiegt, zu den beliebtesten biblischen Geschichten gehört und viele
Parallelen birgt.
Das Bild, das ich festhalte, ist in der Kirche relativ bekannt – es
zeigt als schraffierte Bleistiftzeichnung einen riesigen Goliat, vor
dem ein deutlich kleiner David mit dem Rücken zum Betrachter
steht und die Steinschleuder schwingt. Ich finde Davids Rückenpartie fast zu muskulös, ich persönlich habe ihn mir immer viel
schmächtiger vorgestellt, aber gegen den riesigen Bizeps seines Gegenübers kann selbst dieser gut gebaute David nichts ausrichten. Mit
der rechten Hand umklammert Goliat einen Speer, sein Blick zwischen den langen schwarzen Haaren und dem dichten Bart ist eine
Mischung aus Spott, Skepsis und Überraschung.
Urplötzlich verschwindet sein Gesicht und statt Goliat sehe ich
Vicki auf dem Bild. In der rechten Hand hält sie einen der Flyer. Ihr
Blick ist voller Hohn.
Julia lugt mir über die Schulter. »Ich habe das perfekte Zitat für
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dich!«, ruft sie und entreißt mich damit gerade noch dem geistigen
Szenario, in dem ich Vicki mit der Steinschleuder niedermetzele.
»Hier, guck mal, das war mal in einem Artikel von Präsident Monson im New Era. Mein Institutslehrer in Berlin hat uns das mal übersetzt.«
Ich nehme den Zettel an mich und lese das Zitat leise für mich.
»Schauen wir doch einmal das eigene Leben an und wägen unseren Mut,
unseren Glauben ab. Habt ihr einen Goliat in eurem Leben? Habe ich
einen? Steht er direkt zwischen euch und eurem ersehnten Glück?« Ich
schlucke und lasse das Stück Papier sinken.
Ich spüre Julias Hand auf meinem Rücken. »Lass dich nicht von
deinem Goliat unterkriegen, Molly«, spricht sie mir tröstend zu.
Sie hat recht. Mir graut es vor einem Wiedersehen mit Vicki, und
zu den Gründen, warum ich diese Woche nicht zur Schule gehe, gehört sicherlich auch, dass ich sie somit nicht so schnell wiedersehen
muss. Aber letzten Endes muss ich mich ihr stellen – es wird ein Wiedersehen geben. Komme ich mit gesenktem Haupt angekrochen und
meide jeden Blickkontakt oder bin ich imstande, wie David tapfer
und unerschrocken meinem Goliat gegenüberzutreten? Meine Eltern
stehen hinter mir. Frau Ömsen steht hinter mir. Milo steht hinter mir,
Bengü ebenfalls. Gibt es überhaupt einen berechtigten Grund zur
Furcht?
Ich klebe das Bild auf die Collage und daneben ein Foto von Präsident Monson samt Zitat. Anschließend hole ich mein Handy hervor
und schicke Milo eine SMS: »Bin bei der Probe dabei.«
223
19
I
ch fühle mich, als wäre ich aus dem Winterschlaf erwacht. Zwar
war ich am Dienstagvormittag kurz beim Arzt und abends bei der
JD-Aktivität, ansonsten jedoch ein wahrer Stubenhocker, und gestern
sah es nicht anders aus. Luisa und Bengü haben mich auf dem Laufenden gehalten, was »draußen in der Welt« so los ist, womit selbstverständlich nur mein direktes Umfeld gemeint ist, denn was wirklich in der Welt los ist, habe ich bei all den Boulevardsendungen der
letzten Tage, die ich mir aus purer Langeweile angetan habe, zu Genüge erfahren.
Die Gespräche mit Vicki, ihren Eltern und ihren Partygästen laufen nach wie vor auf Hochtouren. Auch Papa musste gestern erneut
in die Schule. Irgendjemand hat die Presse informiert und eine lokale
Zeitung möchte das Thema »Mobbing in der Schule« aufgreifen und
hat um Erlaubnis gebeten, in einem Artikel den furchtbaren Flyer
verwenden zu dürfen – mein Gesicht soll zwar mit einem schwarzen
Balken zensiert werden, aber ich möchte das trotzdem nicht. Inzwischen wissen auch etliche Bescheid, die das Foto niemals zu Gesicht
bekommen haben, und das soll auch weiterhin so bleiben. Papa hat
ein paar Fragen beantwortet und ist, wie er berichtet hat, leider auch
Frau Greiser begegnet, die es sich ebenfalls nicht hat nehmen lassen,
sich interviewen zu lassen. »Zuckersüß war sie«, hat Papa beim
Abendessen erzählt. »Meinte zu mir, sie möchte auf jeden Fall, dass
alles friedlich ausgeht, kann die Vorwürfe gegen Vicki jedoch nicht
im Raum stehen lassen. Und falls ihre lieblichen Worte den Journalisten nicht überzeugt haben, dann auf jeden Fall ihre weiße Bluse
mit dem unverschämt tiefen Ausschnitt.«
»Den du natürlich auch wahrgenommen hast«, grummelte Mama.
»Schatz, sie hätte mir auch ein menschengroßes knallrotes Warnschild mit dem Schriftzug ›Guck mal!‹ direkt vor die Nase setzen
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können. Die ist zu allem bereit.«
Sophie hat ihre zweite Abiturprüfung ebenfalls hinter sich gebracht und kam genauso unzufrieden nach Hause wie nach der ersten. Vor dem Schlafengehen ist sie jedoch zu mir gekommen und hat
sich entschuldigt, dass sie nach Vickis Aktion nicht so tatkräftig an
meiner Seite stand. »Ich weiß, dass ich für dich da sein muss«, meinte sie. »Aber ich muss mich auf diese Klausuren konzentrieren, Molly.
Du weißt, dass ich verabscheue, was sie getan hat, und wenn ich tatsächlich etwas tun kann, lass es mich wissen!«
Ich freute mich über ihre Worte und nahm sie in den Arm.
Wenn ich meine Zeit nicht vor der Glotze oder mit etwaigen kleinen geistigen Einstimmungen zur Generalkonferenz verbracht habe,
lag mein Jane-Eyre-Skript vor mir und ich habe tatkräftig geübt und
mich so von allem befreit, was mein Leben belastet. Besonders die
Szene, in der Mr. Rochester Jane den Antrag macht (und die ich unbedingt ein zweites und drittes und viertes Mal mit Milo proben
möchte), bewegt mich immer wieder aufs Neue – vielleicht auch wegen der Gewissheit, dass Mr. Rochester Blanche Ingram – Vicki – zurückweist und sich für das Mädchen entscheidet, das sich ihr Leben
lang unnütz und hässlich gefühlt hat.
Gleich trete ich Vicki, meinem Goliat, zum ersten Mal seit der
scheußlichen Konfrontation am Montagmorgen gegenüber. Ich habe
nicht die U-Bahn zur Schule genommen, sondern bin über ein paar
Schleichwege zu Fuß gegangen in der Hoffnung, so wenigen aus
meiner Schule wie möglich zu begegnen, und immerhin hatte ich
nicht das Gefühl, angestarrt und ausgelacht zu werden. Gleichzeitig
hat mir die frische Luft nach dem Gefaulenze sehr gut getan, auch
wenn das Wetter drückend ist und ich spüre, dass sich auf meiner
Stirn ein paar Schweißperlen gebildet haben. Außer der Theater-AG
und einigen wenigen Oberstufenkursen ist die Schule um diese Uhrzeit leer, und auch das beruhigt mich. Trotzdem hat Milo darauf bestanden, dass ich ihm per SMS durchgebe, wann ich ankomme, damit er mich vom Schultor abholen kann.
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Als ich um die Kurve einer Seitenstraße gehe und der Nebeneingang der Schule langsam in mein Sichtfeld kommt, sehe ich, dass
Milo bereits auf mich wartet. Ich möchte losrennen und von ihm aufgefangen und durch die Luft geschleudert werden (ohne ihm das
Rückgrat brechen zu wollen), aber er ist nicht allein. Er winkt mir
breit grinsend zu und kommt die Stufen herunter, dicht gefolgt von
seinen Freunden. Die drei sind aus Milos Jahrgang; Rik kenne ich
flüchtig, da er beim Theaterstück ebenfalls mitmacht, die anderen
beiden, Chris und Timon, spielen mit Milo Handball.
Fassungslos bedecke ich mit meinen Händen mein halbes Gesicht
und starre die vier an. Sie alle tragen über einem grauen langärmligen Shirt ein dunkelblaues T-Shirt, auf dem in weißer Schrift und in
dicken Blockbuchstaben steht: »TEAM MOLLY«.
»Darf ich uns vorstellen, Mylady?«, fragt Milo in einem gekünstelt hochgestochenen Ton. »Wir sind ab jetzt Ihre persönliche Leibgarde.«
Ich bin wie angewurzelt stehengeblieben und kann mein Glück
nicht begreifen.
»Feuer muss man mit Feuer bekämpfen«, fährt Milo näselnd fort.
»Und wenn Vicki tatsächlich meint, sie könne Ihren Ruf, Gnädigste,
ruinieren, dann werden wir mal sehen, wie die übrigen Schüler reagieren, wenn sie Sie nach den Ferien jeden Tag von Ihren Bodyguards umringt sehen.« Er streckt mir den Arm entgegen. »Dürfen
wir Sie jetzt zur Probe geleiten?«
»Du Spinner«, entfährt es mir nun, obwohl er sich mir gegenüber
nicht schmeichelhafter verhalten könnte. Ich hake mich bei ihm ein.
»Wie geht es deiner Hand?«, fragt er höflich und nicht mehr mit
verstellter Stimme.
»Alles halb so wild«, erwidere ich, »ich bin aber ein bisschen enttäuscht, dass ich keine Narbe als Erinnerung davontragen werde.«
Die vier grinsen. Rik läuft ein paar Schritte voraus, Chris und Timon hinter uns. Wie ich von Milo erfahre, stammen meine Beschützer aus den verschiedensten Winkeln der Welt – Milo ist ja zur Hälfte
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Kroate, Riks Mutter ist Japanerin, Timons Mutter ist Amerikanerin
und Chris’ Vater, wenngleich in Deutschland aufgewachsen, ein gebürtiger Ire.
Ich bedaure es direkt, dass die Gänge menschenleer sind, denn
wie meine vier Helden um mich herumstolzieren und mit herausgestreckter Brust ihr Shirt präsentieren, müsste eigentlich jeder zu Gesicht bekommen, der sich das Toilettenfoto von mir zu Gemüte geführt hat.
Rik öffnet die Tür zur Aula, und als wir fünf nach vorne schreiten, erwarten mich viele neugierige und lächelnde Gesichter, und
meine Leibwächter ernten sogar einen kleinen Applaus. Ich sehe
Frau Ömsen an, dass sie mich am liebsten an sich drücken möchte,
aber sie verhält sich professionell, fasst mich an die Schulter und ruft
lediglich aus: »Schön, dass du zur Probe gekommen bist!«
Ein paar Skeptiker gibt es durchaus – ihr Lächeln wirkt weniger
herzlich als spöttisch, allen voran natürlich Samira und Kathrin, und
da entdecke ich nun auch Vicki, die etwas abseits steht und gerade in
dem Augenblick, als ich sie ansehe, die übergroße Designer-Sonnenbrille abnimmt, die ihr Matschauge bedeckt.
Wow. Ich habe ganze Arbeit geleistet. Ihr rechtes Auge ist zwar
nicht mehr so stark angeschwollen, aber die dunkelrote Farbe ist teilweise ins Grün-Gelbliche übergegangen und zieht sich quer über Lider und Wangenknochen. Vielleicht wirkt es besonders eindrucksvoll, weil die Farben mit ihrer blassen Haut kontrastieren, oder ich
bin ganz einfach von mir selbst beeindruckt, dass ich überhaupt zu
so etwas imstande bin. Dennoch bin ich überrascht, dass sie nicht
krank zu Hause steckt (aber sie nutzt wahrscheinlich meine Abwesenheit für weitere Lügen und Intrigen und um ihr Image zu wahren) oder wenigstens versucht hat, das Veilchen mit Puder abzudecken. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass es für sie eine Art
Siegestrophäe darstellt, denn immerhin hatte sie es auf den Angriff
meinerseits angelegt und möchte dies dazu nutzen, mir zu schaden.
Oder ob sie es inzwischen bereut? Denn einen Verweis habe ich ja
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nicht bekommen.
Wie dem auch sei, keine Schminke dieser Welt könnte den unverfälschten Hass abdecken, den sie mir mit ihrem Blick entgegenfeuert.
Milo bemerkt, dass wir uns ansehen, und stellt sich zwischen uns.
»Beachte sie überhaupt nicht, verstanden?«, ordnet er im Flüsterton
an. »Meine Aktion wird sie genug wurmen, darauf kannst du dich
verlassen.«
Bei Vicki und ihren Freundinnen steht auch Lizzy. Wie einstudiert
beugt sich Vicki zu ihr herüber und murmelt etwas, während sie in
meine Richtung nickt, und lacht dann gehässig. Programmiert
stimmt Lizzy ein. Es ist aufgezwungen, aber ihr bleibt keine andere
Wahl. Auch wenn ich mich von Lizzy verraten fühle und ihr den
Schlamassel ein bisschen gönne, tut sie mir leid, denn nun gehört sie
zu Vickis engem Kreis der Verbündeten und weiß, dass sie dort echte
Freundschaft niemals finden wird.
Frau Beinker und Frau Ömsen teilen uns Darsteller in zwei Gruppen, wobei die eine nur aus Milo und mir besteht. Frau Ömsen
möchte mit Edward und Jane arbeiten und Milo ist bereits an ihrer
Seite, um den Probenplan durchzugehen, während Frau Beinker die
anderen zusammentrommelt. Ich möchte mich zu Milo und Frau
Ömsen gesellen, als ich sehe, dass Vicki es tatsächlich wagt, auf mich
zuzukommen. In mir verkrampft sich alles, obwohl Rik, Timon und
Chris bei mir stehen und sich auch Bengü zu uns gestellt hat. Ich
habe also eigentlich nichts zu befürchten.
Milo ist uns mit dem Rücken zugewandt, aber Frau Ömsen sieht,
dass sich Vicki auf mich zubewegt, und wirft mir einen alarmierenden Blick zu. »Molly, meine Mutter meint, dass sich unsere Familien
vielleicht noch mal zusammensetzen sollten«, sagt Vicki ohne Begrüßung. Ich erinnere mich, wie Papa von Frau Greisers Tonfall als
»zuckersüß« gesprochen hat, und finde für Vicki keine zutreffendere
Beschreibung.
»Lass sie in Ruhe«, sagt Timon, ehe ich mich äußern kann.
»Mach dich nicht lächerlich«, entgegnet Vicki, doch Timon – im-
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merhin anderthalb Köpfe größer als sie – geht einen Schritt auf sie zu
und baut sich direkt vor ihr auf. Ich sehe Vicki ein Gefühl an, das
ganz und gar untypisch für sie ist: Unsicherheit.
»Ich sagte, du sollst sie in Ruhe lassen«, wiederholt Timon.
Baff lasse ich die Situation auf mich wirken, halte die Luft an, und
erst nachdem Vicki nach einem kurzen Zögern kehrtmacht und zu
ihren Freundinnen zurückgeht, hole ich einen tiefen Atemzug. Ob
Milo etwas davon mitbekommen hat, weiß ich nicht, er lässt sich
nichts anmerken. Timon wendet sich mir zu. »Du hast nichts mehr
zu befürchten, okay?«, sagt er.
Wie es Milo gelungen ist, aus seinen Freunden – die mich ja im
Prinzip gar nicht kennen! – ferngesteuerte Kampfroboter zu machen,
will ich mir nicht ausmalen. Sie gehorchen ihm anscheinend genauso
willenlos wie Samira und Kathrin Vicki untergeben sind – ist das gut
oder ebenso verwerflich? Da ich zu ergriffen bin, wie schnell Vicki
klein beigegeben hat, genieße ich den Augenblick des Triumphs, ehe
mich Milo auf die Bühne pfeift.
»Molly, ihr probt den Antrag«, verkündet mir Frau Ömsen, was
sie wohl gerade mit Milo besprochen hat, und mein Puls erhöht sich
in einer Sekunde von 80 auf 220. Frau Beinker verlässt nun auch endlich mit Vicki und den anderen die Aula; Chris und Timon hingegen
nehmen in der ersten Reihe neben Frau Ömsen Platz.
Milo überfliegt seine Notizen und ich sehe ihm direkt an, wie sein
Gehirn auf Hochtouren arbeitet und er von sich selbst zu Mr. Rochester umschaltet. Er ist so ein Profi und scheint sein eigenes Leben
komplett ausblenden zu können, während ich mich zwar in meine
Rolle gut einfinde, aber trotzdem nach Parallelen zu Molly suche.
Das bewirkt wiederum, dass ich meine Nervosität nicht einfach abschalten kann. Mr. Rochester macht Jane einen Antrag, versuche ich mir
einzutrichtern, es geht um Edward und Jane, nicht um Milo und Molly.
Oder doch? Sieht er, wenn er Jane in die Augen schaut, auch einen
klitzekleinen Teil von Molly?
»Ich möchte, dass ihr die Probe nachher den anderen vorspielt«,
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teilt Frau Ömsen uns von unten mit, lehnt sich genüsslich zurück
und genießt offensichtlich die Gegenwart meiner beiden gutaussehenden Bodyguards.
Habe ich mich gerade verhört? Ja, letzten Endes wird die ganze
Schule und deren Eltern die Szene sehen, aber das ist noch so weit
weg, dass ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, dass
Milo mich vor so vielen Leuten zum Schmelzen bringen wird.
Dieser blickt von seinen Unterlagen hoch, und ein kleines, freches, schiefes Grinsen ziert sein stattliches Gesicht, woraus ich schließe, dass er das alles mit Frau Ömsen klammheimlich abgesprochen
hat – vermutlich gehört es zu seinem Racheplan gegen Vicki, bei
dem unsere Lehrerin nur zu gern mitwirkt. Ignorieren die beiden,
dass das mein sicherer Tod sein wird?
Wahrscheinlich ist mir wieder einmal die schiere Panik ins Gesicht geschrieben, denn Milo lacht auf. »Und Molly ist beschämt«,
stellt er fest. »Wie untypisch.«
»Mach dich nicht über mich lustig«, erwidere ich mit gespielter
Entrüstung.
In diesem Augenblick kommt Emre aus der anderen Arbeitsgruppe in die Aula, gibt Frau Ömsen ein paar Blätter Papier und fragt sie
irgendetwas, was ich nicht verstehen kann. Milo nutzt die Gelegenheit, da unsere Lehrerin abgelenkt ist, und beugt sich vor. »Bist du
wirklich überrascht?«, fragt er. »Was meinst du denn, wie wir Vicki
am ehesten zur Weißglut treiben können? Die wird völlig ausrasten,
wenn wir ein leidenschaftliches Liebespaar spielen.«
Mir wäre aber lieber, wenn wir das nicht nur vorspielen.
»Und du glaubst, das lässt sie auf sich sitzen?« Ich zweifle daran.
»Sie hat mir gesagt, der Flyer wäre erst der Anfang. Irgendwie habe
ich das nicht für einen Bluff gehalten.«
»Das war sicherlich auch keiner. Aber als Vicki das zu dir gesagt
hat, hatte sie nicht auf der Rechnung, dass sie sich mit mir anlegen
muss, wenn sie dir schaden will. Und leider werde ich sie zerquetschen wie eine Fliege.« Er klatscht laut in die Hände.
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»Das sind harte Worte, wenn man bedenkt, wie nahe ihr euch
standet«, entfährt es mir.
Milo wird ernst. »Du hast recht, Molly.« Er ergreift tatsächlich
meine Hand und mein Herz dröhnt inzwischen so laut, dass er es
unmöglich nicht hören kann. »Mein größter Wunsch ist, dass sie sich
besinnt und alles wird wie früher … außer dass sie vielleicht netter
wird. Aber … hmm …« Er lacht unsicher. »Ich weiß auch nicht, was
das mit dir ist. Diese unschuldige und doch tiefgründige Art … Jedenfalls kann ich nicht zulassen, dass sie dir schadet. Basta.« Er lässt
mich los, wirft das Skript, das er in der anderen Hand hat, auf den
Boden und geht dann zwei Schritte rückwärts. »Bereit, Jane?«
Ganz und gar nicht. Doch ich nicke und hole tief Luft. Ich rufe
mir in Erinnerung, wie wir vor ein paar Wochen diese Szene gespielt
haben, wie nahe sie mir gegangen ist, und wie mein Auftritt letztlich
dafür gesorgt hat, dass ich mir unfreiwillig die Hauptrolle in diesem
Stück geangelt habe – wie viel leichter sich doch alles entwickelt hätte, wenn es bei Bertha Mason geblieben wäre … den ganzen Stress
mit Vicki hätte ich mir erspart.
»Ich bin gleich wieder da«, ruft Frau Ömsen uns zu und macht
sich mit Emre auf den Weg zur anderen Gruppe. »Fangt ruhig an!«
Das lässt sich Milo nicht zweimal sagen und beginnt den Dialog.
»Thornfield ist wunderschön im Sommer, nicht wahr?« Wie damals
hat er die Hände hinter dem Rücken verschränkt und beäugt mich
mit strenger Miene.
Er erwartet meine Antwort, aber ich bin immer noch in meine
Überlegungen vertieft, was wohl geschehen wäre, hätte ich diese
Rolle niemals zugeteilt bekommen … Ja, mit Vicki wäre ich nie aneinander geraten … aber mit Milo hätte ich mich auch nie angefreundet. Ist diese Freundschaft und das, was ich für ihn empfinde, die
Qual wert, die ich durchmachen muss? Und: Möchte ich auf ihn verzichten? »Nein, Sir!«, antworte ich bestimmt, und mir wird sofort bewusst, dass ich meine eigenen Gedanken zwar richtig, Mr. Rochesters Frage jedoch falsch beantwortet habe. »Ich meine Ja, Sir …«, kor-
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rigiere ich mich.
Amüsiert ist Milo nicht – er nimmt das Theaterspiel sehr ernst
und duldet keine unprofessionellen Ausbrüche. Das führt dazu, dass
meine Nervosität steigt, und es bleibt nicht nur bei dem einen Verhaspler, ganz im Gegenteil. Es gelingt mir nicht, mich von Molly zu
lösen und voll und ganz in Jane hineinzuschlüpfen, und nachdem ich
prompt den Text vergesse und ins Manuskript schauen muss, stoppt
Milo das Ganze.
»Molly, du bist überhaupt nicht bei der Sache«, meckert er.
Ich könnte zwar vorbringen, dass ich doch zu sehr von der ganzen Vicki-Geschichte belastet bin und mich nicht ordentlich konzentrieren kann, aber da ich nun schon mal hier bin, kann und muss ich
mich auch anstrengen, und das weiß er. Eine akzeptable Ausrede
habe ich nicht. »Es tut mir leid«, entschuldige ich mich. »Fangen wir
noch mal von vorne an.«
Beim zweiten Versuch bin ich besser, wenn auch nicht herausragend. Als mir jedoch bewusst wird, dass gleich der Kuss erfolgen
soll, mit dem mich Milo das letzte Mal so überrascht hat, verkrampfe
ich mich erneut. Milo reißt mich schwungvoll an sich und spürt sofort, dass etwas nicht stimmt. Er lässt mich augenblicklich los. »Also
so wird das nichts mit Vicki in den Wahnsinn treiben«, bemerkt er.
»Die Chemie zwischen uns ist heute so erotisch geladen wie die zwischen einem Stock und einem Stein.« Er tritt zurück, stemmt die
Hände an die Hüften und mustert mich. »Und das ist natürlich auch
gar nicht der wesentliche Aspekt. Es wäre ein schöner Nebeneffekt,
Vicki ein bisschen zu quälen, aber unabhängig davon müssen wir
diese Beziehung zwischen den beiden beherrschen.«
Soll ich die Karten einfach offen auf den Tisch legen? Ich kann
mich mit der Wahrheit ja ein bisschen zurückhalten. »Ich bin halt gehemmt«, gestehe ich also. »Als du mich – Jane – damals geküsst hast,
war ich total perplex, deshalb hat das so gut funktioniert … ich bin
nicht sonderlich erfahren mit diesem … romantischen Kram.«
Ja ja, lächele nur, Milo. Du hast bestimmt schon mit der halben
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Schule geknutscht, du Meisterküsser! »Das macht es doch so
perfekt«, sagt er. »Das zeichnet Jane aus – und auch dich. Darin besteht eure Verbindung. Ein gewisser Grad an Unerfahrenheit und ein
ehrliches, reines Herz. Das musst du dem Publikum zeigen.« Das Lächeln wird breiter. »Außerdem, Molly, darfst du eines nicht vergessen!« Er kommt wieder auf mich zu und sieht mich mit seinen
großen schwarzen Augen an, und ich möchte wehrlos in seinen Armen niedersinken.
»Nämlich?«, frage ich heiser.
»Die ganze Schule hat dich auf Klo gesehen!«
Das eben noch pochende Herz setzt einen Schlag aus. Wieso will
er mich denn nun plötzlich verletzen, indem er mir das in Erinnerung
ruft?
»Versteh mich nicht falsch!«, fügt er gleich hinzu. »Ich will das
nicht runterspielen oder mich darüber lustig machen, aber es ist und
bleibt Fakt – was hast du zu verlieren, Molly? Egal wie erniedrigend
es war, meinst du nicht, du kannst dich davon lösen, indem du es
mit Humor betrachtest? Wenn die Schule dich so gesehen hat, hast
du es doch nicht nötig, dich davor zu fürchten, auf der Bühne jemanden zu küssen und die Figur, die du verkörperst, seelisch zu entblättern … oder?«
Ich muss die vielen Informationen kurz verarbeiten und mir leider eingestehen, dass dieser dreiste Kerl nicht unrecht hat. Würde
ich in Unterwäsche über die Bühne hüpfen müssen – was ich selbstverständlich niemals täte!! –, würde das Publikum nichts sehen, was es
nicht schon gesehen hat. Ich habe tatsächlich keinen Grund, verkrampft und gehemmt zu sein.
Milo, du Zauberkünstler … Ich weiß nicht, wie er das immer
schafft, mich zu verhexen. Er hat größere magische Kräfte als Vicki,
scheint es mir, er ist wie Gandalf aus dem Meisterwerk »Herr der
Ringe« und Vicki wie sein Gegenspieler Saruman. Und wir wissen ja,
wer den Kampf letztlich gewinnt.
»Wie weit seid ihr?« Frau Ömsen ist wieder zurück und lässt sich
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neben Timon und Chris fallen. »Gegen solche Bodyguards hätte ich
übrigens auch nichts einzuwenden.« Die beiden Jungs schenken ihr
ein charmantes Lächeln, Timon zwinkert ihr sogar zu.
Oh weh, Milos Seelendoktorei hat uns viel zu viel Zeit gekostet.
Die andere Gruppe kommt aus dem Nebenraum dazu. Vicki, Kathrin, Samira und Lizzy setzen sich gemeinsam in die erste Reihe,
aber auf die andere Seite des Mittelganges, weg von Frau Ömsen, Timon und Chris. Vicki hat ihre Sonnenbrille wieder aufgesetzt und
die Lippen fest aufeinandergepresst. Wie sie die Beine übereinandergeschlagen und die Haare hochgesteckt hat, gleicht sie ihrer Mutter
mehr denn je.
»Jetzt geht es um die Wurst«, flüstert mir Milo zu, und ehe ich
protestieren kann, wendet er sich nach vorn. »Wir sind bereit!«, ruft
er, streckt beide Daumen in die Höhe und entblößt grinsend fast sein
komplettes Gebiss.
»Denk einfach an das, was ich dir gerade gesagt habe«, rät er mir
nuschelnd durch die geschlossenen Zähne.
»Also gut!« Frau Ömsen entfernt sich schweren Herzens von meinen beiden gutaussehenden Leibwächtern und ruft dann, an alle gewandt: »Molly und Milo werden uns heute eine der wichtigsten und
aufregendsten Szenen vorspielen und uns einen kleinen Einblick in
ihre Interpretation von Jane und Mr. Rochester gewähren.«
Bengü pfeift laut und jubelt uns zu, woraufhin gleich ein paar andere einstimmen – nicht alle, und wer nicht mitmacht, braucht wohl
kaum näher benannt zu werden.
Ich blicke in die erwartungsvollen Gesichter. Sie haben dich eh alle
schon in Unterwäsche gesehen … vor denen brauche ich keine Angst haben.
Aber was ist mit mir selber? Fürchte ich mich vor Milos Kuss?
Milo beginnt wie schon vorhin den Dialog zwischen Mr. Rochester und Jane, bei dem er sie zunächst ganz schön hängen lässt. Wie
Milo mich. Also natürlich steht er voll und ganz zu mir – als Freund –
aber ich bin doch ständig innerlich zerrissen und frage mich, ob er jemals meine Gefühle erwidern wird oder nicht.
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Ich bin Jane ähnlicher, als mir lieb ist.
Und so feuere ich zurück – ich lasse mich nicht wie das naive
Dummchen behandeln, für das Rochester mich offenbar hält. Er will
Blanche Ingram heiraten? Diese piekfeine, hochnäsige, gehässige
Tussi, die sich über alle lustig macht, die von niederer Herkunft
sind? Die gut aussieht, aber das, was in seinem Herzen vorgeht, niemals erfassen wird? Fein. Aber ich werde nicht hierbleiben und mir
das antun – ich werde gehen und mein Schicksal schlucken und ihn
niemals wiedersehen, wenn es denn sein muss.
Ich spüre, wie die Anspannung fällt und es für mich keine Rolle
mehr spielt, wer mir zuschaut. Ich möchte mir selbst beweisen, dass
ich dazu imstande bin, ich möchte es Milo beweisen, und ich möchte
es Mr. Rochester beweisen, dem ich nun vorhalte, dass ich keine seelenlose Maschine bin, sondern ein Mensch mit Gefühlen, ihm ebenbürtig und gleich.
Ich weiß, was kommt – und dennoch erschrecke ich mich, als ich
Milos Hände spüre und wie er sich an mich drückt und seine Lippen
auf meinen liegen. Kleine Explosionen jagen von oben bis unten
durch meinen Körper, aber ich verharre nur einen Augenblick in
dem Traum, ehe ich mich von ihm losreiße. »Sie sind ein verheirateter Mann, Sir«, hauche ich und gestatte es mir nicht, ihn anzusehen.
»Und dann noch mit einer, für die Sie keine Sympathie hegen.« Mein
Blick fällt direkt auf Blanche Ingram, die ihre Sonnenbrille (ich ignoriere den Anachronismus) abgenommen hat und Rochester und
mich eindringlich beobachtet. »Ich habe mich von Ihnen losgerissen
und kehre nimmermehr zurück.« Ich senke den Blick und sinke auf
die Knie.
»Aber Jane!« Er kniet vor mir und nimmt meine Hände. »Ich begehre, dass Sie meine Frau werden! Nur Sie beabsichtige ich zu heiraten!«
Verspottet er mich? »Ihre Braut steht zwischen uns!«
Seine Hände sind nun an meinen Oberarmen und fahren sachte
rauf und runter. »Meine Braut … ist hier!«, sagt er. Ich lese seinen
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Blick und sein Gesicht – meint er es tatsächlich ernst? Er hat Gefühle
… für mich? »Jane, so quälen Sie mich nicht!«, drängt er. »Schnell! Sagen Sie: ›Edward, ich werde Sie heiraten!‹«
»Ist es Ihr Ernst?«, traue ich mich nun. »Lieben Sie mich wahrhaftig? Wünschen Sie von Herzen, dass ich Sie heirate?«
Er nickt und mir scheint, als seien seine Augen feucht geworden,
und ich finde meine Hände auf seinen Wangen wieder und streiche
eine imaginäre Träne fort. »Dann will ich Sie heiraten!«, bricht es aus
mir heraus, und keine Sekunde später spüre ich erneut seine Lippen
auf meinen und diesmal löse ich mich nicht von ihm, sondern erwidere den Kuss und fahre mit der einen Hand in sein dickes Haar,
und erst, als ich laute Jubelrufe und Applaus vernehme, fahre ich erschrocken auf, sehe in die Aula und erblicke meine vor Begeisterung
tobenden Mitschüler.
Milo und ich erheben uns und verbeugen uns Hand in Hand.
»Milo, ich will ein Kind von dir!«, ruft jemand (ich glaube, es ist
Chris).
Kathrin, Samira und Lizzy klatschen mechanisch mit, Vicki hingegen hat sich nicht gerührt.
»Das sind wahrhaft Jane und Mr. Rochester!« Frau Ömsen zeigt
mit ausgestreckten Armen auf uns.
Nach der Verbeugung erlaube ich mir einen weiteren Knicks. Als
sich der Applaus beruhigt hat, fühle ich mich gedrängt, etwas zu sagen. »Vielen Dank«, sage ich, »aber der Beifall gebührt mir tatsächlich nicht allein.« Ich sollte ruhig sein. Ich sollte mich nicht auf dünnes Eis begeben, aber ich kann nicht anders. Ich fühle mich wie David, der in der rechten Hand die Steinschleuder festhält und langsam
und zielstrebig auf Goliat zuschreitet. »Das Foto, das ihr von mir gesehen habt, hat mich nicht unbedingt von meiner besten Seite gezeigt, und ich brauche euch wohl kaum zu sagen, dass die Sache
mich und meine Familie etwas aus der Bahn geworfen hat … aber …«
Ich spanne die Schleuder. »Mir ist vorhin klar geworden, dass ich
mich als Jane vollends geistig entblößen kann, da mich hier ohnehin
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schon jeder körperlich entblößt gesehen hat.« Ich sehe Vicki in die Augen und feuere den Stein ab. »Die Jane, die ihr gerade gesehen habt,
war also nur möglich wegen dieser blöden Mobbing-Sache – eigentlich sollte ich der Person, die dahintersteckt, dankbar sein.«
Ein paar applaudieren erneut, aber ich bin fest auf Vicki konzentriert, die den Blick nicht von mir abwendet. Auch ich bin entschlossen, den Kontakt nicht abzubrechen, doch ein paar hüpfen auf die
Bühne, unter anderem Bengü, und gratulieren Milo und mir zu unserer Leistung.
»Du warst grandios!«, lobt Bengü mich. »Und ihr beide zusammen … kein Kommentar!« Sie grinst von einem Ohr zum anderen.
Als ich die Bühne verlasse, bin ich von mir selbst überrascht – vor
ein paar Minuten noch war ich völlig gehemmt und wusste nicht,
wie ich mich in die Rolle einfinden soll, nun bin ich ein Star? Vicki
hat die Aula mit ihren Freundinnen unbemerkt verlassen. Der habe
ich es so richtig gegeben … warum denn um alles in der Welt habe ich
ein schlechtes Gewissen? War es nicht gerechtfertigt, was ich gesagt
habe? Hat sie es nicht verdient?
Doch ein schales Gefühl tief unter der Euphorie sagt mir, dass sie
sich nicht so von mir bloßstellen lässt und ich vermutlich einen neuen Racheakt heraufbeschworen habe.
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238
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I
ch schäme mich. Mehr als deutlich erinnere ich mich, wie ich mich
seit Wochen darüber mokiere, wie Vicki stets als Königin der
Schule daherstolziert kommt, ihr zwei seelenlose Hofdamen nicht
von der Seite weichen, die ihr jeden Wunsch ablesen, und sie die
ganze Welt wie ihr unwürdiges Fußvolk behandelt.
Bin ich besser? Am Donnerstag bin ich wie eine Königin von der
Bühne stolziert, wurde sofort von meinen vier Leibwächtern umringt
und habe mich in dem tosenden Applaus meiner Mitschüler gesuhlt.
Sicher ist es überhaupt nicht negativ zu bewerten, wenn man sich
über einen Erfolg freut – oder wenn man, weil man schlimm gemobbt wurde, von seinen Freunden beschützt wird. Aber die Genugtuung, die ich verspürt habe, Vicki vor versammelter Mannschaft erniedrigt zu haben (obwohl ich ihren Namen ja nicht genannt habe,
aber es wusste sowieso jeder, dass sie gemeint war), war so ausgeprägt, dass ich mir nun wie eine arrogante Kuh vorkomme. Ich habe
ja nichts dagegen, eine Königin zu sein (natürlich mit Milo als rechtschaffenem Regenten an meiner Seite) – aber nicht so eine wie Vicki.
Keine, die einflussreich ist, weil sie jeden, der ihr im Wege steht, mit
der Ferse zermalmt wie eine lästige Ameise.
Oder übertreibe ich? Hat Vicki nicht das bekommen, was sie verdient hat? Milo hat mir nach der Probe mehrfach versichert, dass wir
sie eingeschüchtert haben, aber ich bin nicht davon überzeugt. Ich
rechne damit, dass sie bald zum nächsten Schlag ausholen wird.
Nun aber beginnen die langersehnten Frühjahrsferien mit dem
Osterwochenende, und da keine Proben stattfinden, werde ich Vicki
zwei ganze Wochen nicht wiedersehen müssen und kann mich von
ihrer gemeinen Aktion halbwegs erholen, auch wenn sie jeden Tag
bei uns daheim auf die eine oder andere Weise thematisiert wird.
Papa telefoniert täglich mit Dr. Hilmberger. Dieser beteuert, dass alle
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Mädchen von Vickis Party haargenau das Gleiche erzählt haben –
nach dem Flaschendrehen sei ich auf Toilette gegangen und nicht
wiedergekommen. Warum ich abgehauen sei, könne sich niemand
erklären. Vicki hat das geschickt eingefädelt, denn im Grunde ist es
gar nicht möglich, dass die Mädchen sich da irgendwie widersprechen können, schließlich waren ja alle den ganzen Abend über nett
zu mir und brauchen nur das beschreiben, was sie bei der Party erlebt haben – eben ohne das kleine Detail, dass sie hochgestürmt sind
und mich fotografiert haben.
Als mich Milo gestern nach der Probe heimgebracht hat, wollte er
noch einmal die Namen aller Partygäste wissen. Ich habe nur ein
paar mit Müh und Not zusammenbekommen, die meisten kannte
ich ja auch gar nicht. Ich war überrascht, wie sehr er das Gesicht verzog, als ich Kira erwähnte. »Die ist auf ihrer Schule genau das, was
Vicki auf unserer ist«, berichtete er. »Das ist auch der einzige Grund,
warum sie und Vicki miteinander auskommen – würden die auf die
gleiche Schule gehen, hätten sie sich bereits gegenseitig vernichtet.«
Kira hat mich besonders verletzt – eben weil sie anfangs ja die
einzige war, die sich mit mir unterhalten hat, und dann diejenige, die
das Foto geschossen hat. Als ich Milo davon erzählte, wirkte er alles
andere als erstaunt. »Jetzt kennst du das Geheimnis ihrer
Beliebtheit«, meinte er. »Vicki macht das genauso. Sie kann nett und
aufmerksam und zuvorkommend sein und einem das Gefühl geben,
dass sie aufrichtig um einen besorgt ist, und kaum hat man sich abgewendet, hat man ein Fleischmesser im Rücken.«
Mir ist unbegreiflich, wie man Nettigkeit derart vortäuschen und
überhaupt so gemein und hinterhältig sein kann.
Milo brachte mich bis zur Haustür, und am liebsten hätte ich ihn
hereingebeten, traute mich dann aber nicht und bestimmt hatte er
auch noch Wichtigeres zu tun. Er erinnerte mich jedoch an sein Geburtstagsgeschenk und dass sich die Ferien für einen Besuch im Museum bestimmt gut eignen. »Wir können davor oder danach ja proben!«, schlug er vor.
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Ich schloss die Tür und sah ihm durch das kleine Glasfenster hinterher, bis er außer Sichtweite war. Er hatte mich für meine Darstellung bei der Probe gelobt, wenn auch über den feurigen Kuss nach
Mr. Rochesters Antrag kein Wort mehr verloren. Wahrscheinlich
denkt er inzwischen gar nicht mehr daran … ich hingegen kann
mich auf kaum etwas konzentrieren, weil mich die Gefühle, die wie
ein Feuer aufgelodert sind, einfach nicht loslassen. Während der Szene war ich voll und ganz in Jane vertieft und irgendwie ist es mir gelungen, nicht an Milo und mich zu denken, aber ich kann es mir zurechtbiegen, wie ich will: Ich habe noch nie etwas so Aufregendes
und Leidenschaftliches erlebt. Nach dem Spontankuss bei der ersten
Probe dieser Szene war ich schon völlig beflügelt, aber das war vergleichsweise eine kleine Eiskugel im Gegensatz zum Riesenbecher
Eiscreme mit Schokoladensoße, frischem Obst und Schlagsahne, den
ich am gestrigen Nachmittag verschlingen durfte.
Es ist der perfekte Frühlingstag. Die vereinzelten Wolken beeinträchtigen nicht den strahlenden Sonnenschein, und die Luft ist angenehm, nicht drückend. Luisa hat mich überredet, das Haus zu verlassen und sie am Mainufer zu treffen. Mit Sonnenbrille und Picknickdecke ausgerüstet haben wir ein kleines sonniges Plätzchen inmitten der Scharen Jugendlicher gefunden, die den Beginn der Ferien ebenfalls ausgelassen am Fluss zelebrieren. Mein arrogantes
Selbstbewusstsein als neue Schulkönigin nimmt rapide ab, und unruhig beobachte ich die Leute aus Angst, Vicki irgendwo zu entdecken. Luisa findet nicht, dass ich mich hochmütig verhalten habe,
aber ausschalten kann ich das schlechte Gewissen trotzdem nicht.
»Konzentriere dich lieber auf Milo«, rät sie mir, während sie mit geschlossenen Augen in der Sonne brät. Sie liegt auf dem Rücken, ich
sitze im Schneidersitz neben ihr und starre auf die Menschenmassen,
die auf dem Gehweg an uns vorbeiziehen. Mit meiner rechten Hand,
die kaum noch schmerzt, rupfe ich ein bisschen im Gras herum.
»Ich löse den Geburtstagsgutschein doch nächste Woche ein«, beteuere ich.
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»Du solltest ihn zur Generalkonferenz einladen«, schlägt Luisa
vor. »Falls er sich in dich verliebt, kannst du dem Thema nicht ewig
aus dem Weg gehen.« Sie richtet sich auf und stützt sich auf die Ellenbogen. »Er war jahrelang mit einer falschen Schlange befreundet,
auch wenn er überzeugt ist, dass sie sich ihm gegenüber anders verhalten hat. Aber ich halte es für keinen Zufall, dass er gerade dich
anziehend findet – weil du eben ein ehrlicher, herzensguter Mensch
bist und das Licht Christi ausstrahlst. Und das nimmt er wahr.«
»Das glaube ich nicht«, bestreite ich Luisas wirre Gedanken. Andererseits hat mir Milo ja nun mehrere Male direkt ins Gesicht gesagt, dass ihn irgendetwas an meiner Art fasziniert. Kann es sein,
dass das tatsächlich mit dem Evangelium zusammenhängt? Spricht
ihn die »mormonische« Ausstrahlung an? Und ist das für mich ein
Kompliment oder möchte ich lieber, dass ich als Mädchen ihn anspreche? Dass er mich ganz einfach hübsch findet? »Und gleich Generalkonferenz … ist das nicht zu viel?«
»Quatsch. Ganz im Gegenteil. Du weißt doch selbst, was für seltsame Ansprachen es ständig in der Abendmahlsversammlung gibt.
Bei der Generalkonferenz bist du auf der sicheren Seite – das pure
Evangelium auch noch interessant verpackt.« Luisa legt sich wieder
flach auf den Rücken und lächelt siegessicher, als erwarte sie gar
nicht, dass ich ihre grandiose Argumentation zerschlagen kann.
Wäre mir auch nicht möglich. Bengü und Lizzy habe ich auch schon zur
Kirche mitgebracht … es hat ein bisschen Überwindung gekostet, aber ich
habe es nie bereut. Könnte mir das mit Milo nicht auch gelingen?
Luisa übernachtet bei mir und anders als vor einer Woche, als ich sie
nach Vickis Party verzweifelt aufgesucht habe, plaudern wir munter
bis in die späte Nacht. Sophie, die mit dem schriftlichen Abitur fertig
ist, war mit Freunden unterwegs und lugt um kurz nach zwei Uhr
morgens in mein Zimmer, weil sie nach dem Heimkommen Stimmen
gehört hat. »Ihr zwei seid auch nicht ruhig zu bekommen, oder?«,
sagt sie amüsiert im Flüsterton.
242
Ich erkundige mich, wie ihre Party war – zumal sie an sich nicht
der Typ ist, der erst mitten in der Nacht nach Hause kommt –, und
sie kommt kurz ins Zimmer und schließt die Tür hinter sich. »Es fragen ziemlich viele nach dir«, berichtet sie. »Der ganze Jahrgang ist
gespalten … zwar sind irgendwie alle empört, dass es sowas an der
Schule gegeben hat, andererseits gibt es aus unerklärlichen Gründen
etliche, die total viel von Vicki halten und nicht glauben, dass sie dahinterstecken könnte.«
»Machen sich welche … über dich lustig, weil du meine Schwester bist?«, frage ich zaghaft.
»Ein paar«, gesteht sie. »Aber das sind eh Vollidioten.« Sophie
gähnt, wünscht uns eine Gute Nacht und einen baldigen Schlaf und
geht dann auf ihr Zimmer.
Luisa regt sich auf. »Wie kann man denn nicht glauben, dass Vicki
hinterhältig ist?«, überlegt sie fassungslos.
Ich denke an mein Gespräch mit Milo und wie er von Kira erzählt
hat, auf die ja auch ich blindlings hereingefallen bin. »Das ist eben
das Gefährliche an ihr«, erwidere ich. »Sie ist gemein und gerissen.
Wäre sie einfach zu durchschauen, würde ihr Beliebtheitsgrad sinken und sie hätte nicht mehr das Sagen.«
»Es muss einen Weg geben, die Wahrheit ans Licht zu bringen«,
beharrt Luisa. »Hatte Milo noch keine Ideen? Der Gedanke mit der
Leibgarde kam ihm doch auch so schnell.«
»Setz ihn nicht so unter Druck!«, verteidige ich ihn.
»Lad ihn zur Kirche ein!«, wiederholt sie ihre Idee von heute
Nachmittag, auch wenn sie nicht in den Zusammenhang passt. Sie
nimmt mein Handy, das auf dem Nachttisch liegt, an sich, und beginnt zu tippen. »Hi Milo, habe mich gerade gefragt, ob du am Sonntagabend schon etwas vorhast?«, sagt sie laut und tippt dabei.
Ich lache und nehme sie überhaupt nicht ernst, bis sie das Handy
umdreht und mir zeigt, dass sie den Text tatsächlich eingegeben hat
und Milo als Empfänger eingetragen ist. Sofort vergeht mir das Lachen. »Wehe, du schickst das ab!«, warne ich sie. Ich lange nach dem
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Handy, aber Luisa bewegt ihren Arm zu schnell. »Möchtest du, dass
ich Finn so eine SMS schicke?«, drohe ich.
Meine beste Freundin lässt sich nicht beirren und führt den rechten Zeigefinger langsam zum Handy-Display. »Hast du Angst?«,
neckt sie mich.
Blitzschnell schießen meine beiden Hände nach vorn und ich entreiße ihr das Gerät. Luisa lässt sich kichernd nach hinten auf die Matratze fallen, die neben meinem Bett liegt, und vergräbt lachend das
Gesicht im Kopfkissen.
»Scherzkeks. Stell dir vor, er würde –« Ich schnappe nach Luft
und ein halb erstickter Schrei entweicht meiner Kehle. Die Nachricht
ist gesendet. Bin ich etwa auf die falsche Taste gekommen, als ich ihr
das Handy abgenommen habe? »Abgeschickt«, teile ich ihr mit.
Luisa wird ruhig. »Quaaark …«, sagt sie vorsichtig – es klingt
eher wie eine Frage. Sie blickt mich entgeistert an. »Ehrlich jetzt? Ich
hab wirklich nicht auf Senden gedrückt, Molly, ich schwör’s!«
»Muss mir passiert sein, als ich es mir zurückerkämpft habe …
aber hättest du das niemals eingetippt, wäre –«
Das Display leuchtet auf. »Hab nachmittags ein Spiel, bin danach
frei. Was steht an? Keine Osterpläne? Und warum bist du noch wach?«
Dahinter ist ein zwinkerndes Smiley abgebildet.
Luisa luschert mir über die Schulter. »Worauf wartest du noch?
Antworte ihm gefälligst!«, drängt sie mich und setzt sich auf die
Bettkante. »Ha, bist du jetzt immer noch sauer auf mich? Ich war inspiriert, ich sage es dir. Als deine beste Freundin steht es mir ohnehin zu, Offenbarung für dich zu empfangen.«
»Sicher …«, erwidere ich. Was soll ich ihm denn nur schreiben?
Mein Gehirn wird plötzlich von einer ungewöhnlichen Mischung
aus Aufregung und Müdigkeit überrumpelt, und die einfachste Lösung besteht wohl darin, mich hinzulegen und aus diesem Leben zu
scheiden. Vielleicht lässt mich Gott ja Milos Schutzengel werden!
Oder der Satan verfrachtet mich in die Vicki-Fraktion der äußersten
Finsternis, je nachdem.
244
Bevor mir Luisa das Handy erneut abnimmt und etwas schreibt,
raffe ich mich jedoch selbst dazu auf. »Luisa ist hier«, erkläre ich
mein Wachsein. »Wir haben Sonntagabend eine besondere Veranstaltung in der Kirche und ich habe mich gefragt, ob du hinkommen
möchtest.« Warum muss der Arme überhaupt an Ostern Handball
spielen? Gelten da keine Feiertage?
Ich schicke die Nachricht ab und verstecke das Smartphone unter
meinem Kissen. Ich will gar nicht wissen, ob er jemals antwortet. Das
Vibrieren ist jedoch nicht zu überhören. »Lies du«, bitte ich Luisa
und vergrabe das Gesicht in den Händen, wobei ich überlege, ob ich
sie mir nicht lieber auf die Ohren pressen sollte.
»Kirche Punkt-Punkt-Punkt-Fragezeichen«, liest Luisa. »Was für
eine Veranstaltung? Wie viel Uhr genau?« Sie erdreistet sich und
tippt ohne meine Erlaubnis eine Antwort.
»Was schreibst du denn?«
»Dass eine Massenhochzeit stattfindet und du ihn ehelichen
wirst«, spaßt sie. »Weltweite Übertragung aus Amerika mit Beiträgen
zu aktuellen Themen. 18 Uhr. Hochgradig interessant. Und warum
bist du noch wach?«
Ich muss ihr zugestehen, dass sie weiß, wie man jemandem einen
Besuch in der Kirche schmackhaft machen kann.
Milos Antwort lässt nicht lange auf sich warten. »Wird knapp mit
dem Spiel – ich sage dir noch Bescheid, okay? Und wer sagt, dass ich
wach bin?« Er wünscht eine gute Nacht und fügt als PS hinzu, dass
es Neuigkeiten von Vicki gibt, die er mir aber persönlich berichten
will. »Er kann mich doch nicht so vertrösten!«, schimpfe ich.
»Du hast eine Semi-Zusage, dass er zur Kirche kommt, und ihm
ist es wichtig, mit dir von Angesicht zu Angesicht zu reden«, beruhigt Luisa mich. »Sieh doch mal die Sonnenseiten des Lebens und
meckere nicht immer gleich herum.«
»Wollen wir doch mal sehen, was Finn so sagt, wenn ich ihn anschreibe«, ignoriere ich sie und versuche, ihr Handy zu krallen, aber
sie ist schneller als ich.
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»Nie und nimmer!«, ruft sie.
Ich gebe auf, denn ich bin ihr ja dankbar, dass sie mir einen Stoß
in die richtige Richtung gegeben hat. Allein hätte ich mich bestimmt
nicht getraut, Milo einzuladen.
Ich kann ein herzhaftes Gähnen nicht unterdrücken. Luisa und
ich unterhalten uns noch kurze Zeit, bis uns letzten Endes dann doch
die Müdigkeit übermannt und ich nach vielen Nächten, in denen
Vicki mich in meinen Träumen heimgesucht hat, endlich einmal wieder fest und ruhig schlafen kann.
Mama und Papa freuen sich, dass ich so sichtlich vergnügt bin. Wir
frühstücken ohne Sophie, die zwar bestimmt vor Luisa und mir eingeschlafen ist, sich aber noch nicht hat blicken lassen. Sowohl Luisa
und ich als auch Justus sind noch im Pyjama, Papa trieft mal wieder
von seinen masochistischen Fitnessübungen und Mama ist die einzige, die bereits für den Tag fertig ist. Sie sitzt allerdings mehr aus gesellschaftlichen Gründen mit uns am Tisch; ihr geht es heute nicht so
gut und sie verspürt keinen großen Appetit. »All die Monate war
nichts«, klagt sie. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum das so plötzlich angefangen hat.«
Ich hoffe nicht, dass meine Situation ihr aufs Gemüt geschlagen
ist und sich nun körperlich bei ihr auswirkt, weil sie durch die
Schwangerschaft ohnehin ein wenig beeinträchtigt ist. Sie bittet Luisa und mich, allein mit Sophie zur Übertragung der JD-Versammlung zu gehen, weil sie sich ausruhen möchte und momentan nicht
so lang auf einem Stuhl sitzen kann.
Wir verschieben das Duschen auf weit nach dem Frühstück und
ziehen uns gleich Sonntagskleidung an. Inzwischen wandelt auch
Sophie unter den Lebenden und hat sich dick Creme unter die Augen gerieben, damit die Ringe abschwellen und sie, wie sie selbst
sagt, nicht so »zombiehaft« aussieht. Auf dem Weg zur Kirche trägt
sie eine Sonnenbrille (dabei ist es heute etwas bedeckter), und ich
muss prompt an Vicki denken, was unweigerlich dazu führt, dass
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zum einen Zorn, zum anderen Gewissensbisse in mir aufkommen.
Die Versammlungen der Generalkonferenz werden inzwischen in
fast allen Gemeindehäusern im Pfahl übertragen, daher ist es nicht
verwunderlich, wie leer es ist – wir sind ja ohnehin nur sechs Junge
Damen an der Zahl. Unsere JD-Leitung ist bereits komplett anwesend, obwohl sie alle die Allgemeine JD-Versammlung bereits angeschaut haben. Sophie setzt sich zu Fiona, und Mona und Lisa, unsere
beiden Bienenkorbmädchen, trudeln ein paar Minuten nach uns ein.
Julia erinnert uns, an Fragen zu denken, die uns beschäftigen, und
ich nehme meinen Notizblock, auf den ich im Laufe der Woche einige Gedanken und Fragen notiert habe, aus der Tasche.
Wie erlange ich die Kraft, dies durchzustehen? ist nach wie vor der
rote Faden, der mich im Innersten beschäftigt. Es hat mir gut getan,
am Donnerstag an der Probe teilzunehmen und unter Leute zu kommen und Milo wiederzusehen; es hat mir auch gut getan, Zeit mit
Luisa zu verbringen und mich abzulenken. Ich bin viel ausgeglichener als zu Beginn der Woche, und so frage ich mich, ob meine Gebete
bereits erhört wurden – habe ich bereits die Kraft erlangt, dies alles
durchzustehen? Ist das möglich, dass das so schnell geschieht? Nach
nicht einmal einer Woche? Das glaube ich nicht, sage ich mir. So schnell
lernt man nicht eine Lektion wie diese … irgendetwas kommt da noch auf
mich zu. Ob gut oder schlecht, sei mal dahingestellt.
Kaum beginnt der JD-Chor zu singen, verschwinden all diese Gedanken und die wunderschöne Musik erfüllt mein Herz. Es ist erstaunlich, wie unruhig ich oft in der Abendmahlsversammlung auf
meinem Platz hin- und herrutsche und mir die Konzentration fehlt –
bei der Konferenz könnte ich getrost noch zwei Stunden länger zuhören. Diesmal ist es jedoch noch intensiver als sonst. Ich kann kaum
aufhören zu schreiben und spüre schnell, wie mein noch leicht angeschlagenes Handgelenk schlappmacht. Schwester Dibb redet über
das Jahresmotto »Sei mutig und stark«, das mich die letzten Wochen
immer wieder begleitet hat. Ich schreibe ihre vier Vorschläge auf,
nämlich Beten, Gottes Geboten gehorsam sein, tägliches Schriftstudi-
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um und der feste Vorsatz, dem lebenden Propheten zu folgen. Tue
ich das nicht schon alles? Warum verzage ich trotzdem?
Keine Ahnung, ob ich laut geseufzt oder gestöhnt habe oder mir
die Verzweiflung sonstwie anzumerken ist, aber Luisa legt ihren
Arm um mich und beugt sich zu mir herüber. »Du bist mutig und
stark, Molly«, sagt sie.
»Was meinst du?« Ich wende mich ihr zu.
»Wie du die Sache mit Vicki durchstehst und nicht das Handtuch
wirfst … gestehe dir das ruhig zu.«
Mich berühren Luisas Worte und ich lege den Stift kurz hin und
genieße den Augenblick.
Schwester Cooks Ansprache baut direkt darauf auf, denn sie
spricht darüber, dass man nicht aufgeben soll, aber schließlich ist es
die JD-Präsidentin Schwester Dalton, deren Worte mir auf besondere
Weise ins Herz dringen. Sie berichtet davon, wie sie als Studentin
den damaligen Präsidenten der Kirche, David O. McKay, traf, und
wie er ihr seine Frau mit den Worten vorstellte: »Nun möchte ich
euch jungen Frauen meine Königin vorstellen.« Schwester Dalton
führt aus, was eine wahre Königin ausmacht – und was wahre Schönheit ausmacht: Optimismus, Gottesvertrauen, Treue, Stärke und das
Ausschöpfen des göttlichen Potenzials.
Erst als eine Träne die Kugelschreibertinte in meinem Notizblock
verwischt, wird mir bewusst, dass ich weine. Ich denke an Vicki, die
Königin meiner Schule, an ihre Art von »Regentschaft«. Ich denke an
mich selbst, wie ich Vicki nach der Probe bloßgestellt und mich wie
ein Königin gefühlt habe – dabei möchte ich gar nicht so eine Königin sein. Ich möchte so sein wie Schwester McKay von ihrem Mann
beschrieben wurde.
Und ich möchte so einen König an meiner Seite …
Lustigerweise spricht Präsident Uchtdorf, der der Schlusssprecher ist, über Happy Ends und wie wir uns das Ende unseres ganz
persönlichen Märchens erarbeiten können, und Julia ruft gleich lautstark aus, dass er ihre Gedanken von der Sonntagslektion vor eini-
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gen Wochen gestohlen hat, was uns alle zum Lachen bringt.
Als die Versammlung schließlich zu Ende ist, bin ich fest entschlossener denn je. Ich möchte ein Happy End. Oder was hatten wir
in Julias Unterricht damals erarbeitet? Ein Happy Beginning – denn
das Glück im Evangelium hat ja kein Ende.
»Alles in Ordnung, Molly?«, fragt Luisa neugierig. »Dein Blick ist
so … durchtrieben.«
»Ich plane gerade mein Leben«, erläutere ich ihr. Zu dieser Planung gehört, dass Milo morgen zur Kirche mitkommt. Und mir ist
gerade eine Idee gekommen, wie ich es bewerkstelligen kann, dass
dies tatsächlich geschehen wird.
249
21
M
ama liegt auf der Couch, ihr deutlich gewölbter Bauch hebt
und senkt sich mit jedem Atemzug. Ich frage mich, wann der
kleine Wicht zu so einem Monstrum herangewachsen sein soll. Noch
immer ist er namenlos – vielleicht war die Idee, dass wir Kinder mitentscheiden, doch nicht so sinnvoll? Sophie möchte unbedingt etwas
Exotisches; ein Vorschlag, den Justus tatkräftig unterstützt, aber seine Vorschläge sind so absurd, dass sie nicht einmal mehr in die Liste
am Kühlschrank aufgenommen werden. Nachdem wir ihm alles aus
dem Marvel-Universum verboten haben, kam er zuletzt mit Cougar,
Eko und Linus an. Letzteren fand ich gar nicht schlecht, aber Mama
und Papa haben die Nase gerümpft.
Eigentlich bin ich ja inzwischen für Milo. So habe ich ein bisschen
was von ihm in meiner Familie.
Mamas linker Unterarm ruht auf ihrer Stirn und sie hat die Augen geschlossen, aber sie schläft nicht, sondern denkt nach. »Ich
weiß nicht, Molly«, sagt sie. »Es ist doch Sonntag …«
Papa und Justus sind in der Gemeinde bei der Übertragung der
Allgemeinen Priestertumsversammlung, und das, obwohl Papa diese
sogar heute Nacht live gedolmetscht hat und nur wenige Stunden
Schlaf hatte, aber es ist ihm wichtig, sie gemeinsam mit seinem Sohn
anzuschauen. Eigentlich wollte ich Papa um Erlaubnis für mein Vorhaben bitten, aber ich dachte, Mama ist bei all den Schwangerschaftshormonen leichter weichzukriegen. Es ist immer einfacher,
den jeweils anderen zu überzeugen, wenn ich schon ein Ja eingeheimst habe.
»Aber stell dir vor, ich würde ihn dann zur Gemeinde mitbringen«, erwidere ich. »Und dann spürt er den Geist, empfängt ein
Zeugnis und lässt sich taufen.« Ich finde, das klingt nach einem Plan,
der ganz in Gottes Sinne ist.
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Mir ist die Idee gekommen, dass ich zu Milos Spiel fahre, ihn anfeuere und anschließend zur Generalkonferenz mitnehme. Ich habe
im Internet auf der Vereinsseite nachgeschaut und gesehen, dass es
ein Auswärtsspiel an einer anderen Schule ist, was mich wundert:
Immerhin ist es doch Ostersonntag, aber davor machen Turniere
wohl keinen Halt. Auch handelt es sich um keine Schulmeisterschaft,
sondern Milos Verein tritt gegen die A-Jugend eines anderen Vereins
an, und ich rechne damit, dass eher Eltern als Mitschüler zugegen
sein werden. Das wiederum bedeutet, dass ich bestimmt niemandem
von meiner Schule begegnen muss (und selbst das würde ich inzwischen ganz gut wuppen). Ich bin mir bewusst, dass eine Sportveranstaltung nicht gerade die ideale Beschäftigung für einen Sonntag ist –
zumal ich die Übertragung der Konferenzversammlung vom Samstagnachmittag verpassen würde –, aber es geht mir ja nicht um den
Sport (von Handball habe ich sowieso keinen blassen Schimmer),
sondern um das als Missionsarbeit zu nutzen. Ich breche somit ein
geringeres Gebot, um ein höheres zu erfüllen – oder erfinde ich gerade unnütze Ausreden?
Sophie kommt ins Wohnzimmer. Sie kümmert sich heute ums
Mittagessen und wischt sich die feuchten Hände an der Schürze ab.
»Der Hackbraten ist im Ofen«, verkündet sie. »Ich hab noch eine Packung Feta im Kühlschrank gefunden und mitverarbeitet.«
Mama regt sich immer noch nicht, geschweige denn hat die Augen geöffnet. »Warum erzählst du deiner Schwester nicht von deinem Plan?«, schlägt sie allen Ernstes vor.
»Rache an Vicki, Akt I?«, fragt Sophie.
»Milo zur Taufe, Akt I«, entgegnet Mama. Sie lacht und ihr
Bauchberg erleidet ein kleines Erdbeben.
»Mama …«, rufe ich erbost, aber Sophie ist bereits ganz Ohr. Ich
seufze und umreiße kurz, was ich vorhabe.
Vielleicht ist es die Gelassenheit nach den gemeisterten Klausuren
oder der gute Geist der Generalkonferenz oder meine Schwester hat
gerade Opium geschnüffelt, denn sie ist völlig begeistert. »Mach
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das!«, spornt sie mich an, woraufhin Mama zumindest ein Auge
einen Spalt öffnet und Sophie skeptisch beäugt. »Was denn?«, meint
diese, nachdem sie es bemerkt hat. »Wenn Papa seine dämlichen
Fußballspiele sonntags im Fernsehen anschaut, sagst du auch nichts.
Und Molly nutzt das wenigstens zur Missionsarbeit. Ich finde, es ist
nichts dagegen einzuwenden.«
Mit Mama und Sophie auf meiner Seite habe ich nichts mehr zu
befürchten, sage ich mir, und trotzdem sage ich zu Papa gar nichts
beim Essen. Sollte er nicht so begeistert sein, ist es vielleicht doch
einfacher, ihn später um Verzeihung zu bitten als vorher um Erlaubnis. Außerdem legt er sich nach dem Mittagessen hin, weil er so
müde ist von der Nachtschicht, und als Sophie und Mama den Laptop aufstellen, um die Samstagnachmittagsversammlung anzuschauen, schleiche ich mich mehr oder weniger aus dem Haus. Ich habe
mich für Milo hübsch gemacht, die Haare geglättet und nur ganz dezent Make-up aufgetragen, wie Sophie es mir gezeigt hat, und werde
in meinem Sonntagsoutfit trotzdem völlig overdressed sein und
wahrscheinlich eher einen peinlichen Eindruck erwecken – aber peinlicher als Vickis Flyer? Eh nicht möglich.
Bis zur Innenstadt ist die U-Bahn voll, und ich nehme an, dass
viele Leute an diesem schönen Ostersonntag entweder in der Innenstadt herumschlendern oder am Fluss spazierengehen, so wie Luisa
und ich das sonntagnachmittags ja auch ganz gern tun. Ich steige um
und bleibe die restlichen paar Stationen an der Tür stehen, obwohl
der Waggon ziemlich leer ist. Ich weiß, wo sich die Schule befindet,
in dessen Turnhalle das Spiel stattfindet – sie steht ganz in der Nähe
des Schweizer Platzes auf der Südseite des Flusses, wo ich immer
aussteige, wenn ich zu Luisa möchte, und ich bin schon öfters an ihr
vorbeigekommen, wenn ich von der U-Bahn-Station zu den Flemmings gelaufen bin.
Mein Schritt verlangsamt sich, je näher ich der Schule komme. Ich
habe überhaupt keine Ahnung von Handball, durchfährt es mich. Wir haben zwar – vermehrt in der Unterstufe – im Sportunterricht Hand-
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ball gespielt, aber ich habe nicht viel mehr getan als am Spielfeldrand auf und ab zu laufen, während meine Mitschüler sich den Ball
gekrallt und gepunktet haben. Wenn ich so darüber nachdenke, hat
sich diese Art von Spiel eigentlich durch alle Sportarten gezogen:
Fußball, Basketball … selbst beim Volleyball bin ich nur von Position
zu Position weitergegangen, ohne groß was zu leisten oder den Ball
überhaupt zu berühren (wenn er mir nicht mal an den Kopf gepfeffert wurde). Herr Paulsen, mein derzeitiger Sportlehrer, scheint Noten zu würfeln, anders kann ich mir meine 2 nicht erklären. Ich bin
froh, dass ich Frau Horn nicht mehr habe – die hat mir schon in der
Unterstufe immer gnadenlos eine 4 hereingedrückt, und beim Handballtraining scheint sie ähnlich unbarmherzig zu sein, auch wenn
Milo bislang immer begeistert davon gesprochen hat, was für eine
kompetente Trainerin sie ist.
Gedankenverloren bin ich nun doch angekommen. Obwohl ich
noch nie vorher auf diesem Schulgelände war, kommt es mir doch
gar nicht fremd vor – fast routiniert bin ich über den Schulhof gelaufen und bei der Turnhalle angelangt. Sie ist viel größer als die unserer Schule, und da sie an drei Schulen grenzt, vermute ich, dass sie
von allen genutzt wird. Die Doppelschwingtür steht sperrangelweit
offen und ich höre bereits von draußen Rufe und die Trillerpfeife des
Schiedsrichters. Ich passiere den schmalen Eingangsbereich, der sowohl nach links als auch nach rechts zu den Umkleiden abgeht und
geradeaus in die Halle führt. Auch diese Türen stehen alle offen, und
so breit sie auch ist, ich presse mich rechts an den Türrahmen und
luge vorsichtig in das gigantische Innenleben.
Es ist laut in der Halle, wenngleich ich mehr Leute erwartet hätte.
Ich sehe zwei Spielfelder; das linke ist leer, auf dem rechten tummeln
sich die Jungen am Tor und rings um das Feld sind Bänke aufgestellt. Auf der einen Seite sitzen etliche Erwachsene (die Eltern der
Spieler, nehme ich an), auf der anderen Seite die übrigen Spieler
samt Trainer. Vereinzelt entdecke ich auch Jugendliche in meinem
Alter, aber ich erkenne keinen von ihnen. Ob Vicki Milo regelmäßig bei
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Spielen zugeschaut und ihn angefeuert hat?
»Auf die Ballseite schieben!«, brüllt Frau Horn, und Milos Mannschaft, die gerade in der Abwehr steht, formiert sich um. Nun sehe
ich auch ihn in seinem triefenden blauen Trikot, obwohl das Spiel
erst eine Viertelstunde laufen kann. Seine Mannschaft wehrt den Angriff ab und ist binnen Sekunden auf der anderen Seite des Feldes.
Der gegnerische Trainer ruft seinen Spielern gerade noch etwas zu,
aber Timon hat sich durch ein geschicktes Manöver freigekämpft,
fängt Milos Ball und versenkt ihn im Tor. Ein Teil der Menge jubelt,
wenn auch der deutlich geringere. Es steht 5:3 für den TSV Nordend,
Milos Mannschaft.
Ich hocke mich an das Ende einer Bank, auf der kaum Leute sitzen; ich blicke nun auf das gegnerische Tor in der Hoffnung, dass
sich hier mehr abspielen wird als auf der anderen Seite des Feldes.
Ich streiche mir den Rock glatt. Der Mann mit Baseballmütze, der
zwei Meter links neben mir sitzt, nickt mir freundlich zu und konzentriert sich dann weiter auf das Spiel. Er scheint genau zu wissen,
worum es geht, und ruft den Spielern ständig Anweisungen zu, als
wäre er ihr Trainer. Zweimal flucht er. Hat schon seinen Grund, warum
man sonntags solche Plätze meiden soll, kommt es mir in den Sinn.
Die erste Halbzeit ist nach etwa zehn Minuten vorbei, und es
steht 10:7 für Milos Mannschaft. Von den sechs Punkten, die seit meinem Eintreffen erzielt wurden, hat die Mannschaft Milo vier zu verdanken, was mich mit besonderem Stolz erfüllt. Als er und sein
Team sich um Frau Horn scharen und er eine halbe Wasserflasche in
sich hineinschüttet und den Schweiß aus dem Gesicht wischt, schaut
er kurz in meine Richtung, und ich winke ihm zu. Er verschluckt
sich beinahe am Wasser, wirft die Flasche dann beiseite, streicht das
nasse Haar zurück und joggt zu mir herüber. »Was machst du denn
hier?«, fragt er verdutzt. Er mustert mich. »Sag bloß, du schwänzt
gerade deinen Gottesdienst?«
Technisch gesehen schon. Aber die Versammlung ist über das Internet ja glücklicherweise jederzeit abrufbar. Also verneine ich es.
254
»Ich dachte, ich schau dir zu, wie du einen Sieg einheimst, und dann
begleitest du mich zu der Konferenz heute Abend, von der ich dir
geschrieben habe«, teile ich ihm unverblümt mit.
»Milo, Besprechung, aber zackig!«, ruft Frau Horn.
Er lächelt. Ich schmelze. »Drück mir die Daumen!«, sagt er und
joggt zurück, ohne auf meinen Vorschlag einzugehen, aber irgendetwas sagt mir, dass das kein Nein war, sondern er auf diese Weise
meine kleine Überrumpelungsattacke kontert.
Die Pause dauert zehn Minuten, und ich beobachte die meiste
Zeit Milos Team und wie sie hitzig diskutieren, Anweisungen erhalten und sich auf die zweite Halbzeit vorbereiten. Nebenbei spiele ich
mit meinem Smartphone und erfahre von Luisa, welche phänomenalen Ansprachen ich gerade verpasse und welche ich mir unbedingt
so bald wie möglich im Internetarchiv anschauen müsse.
Ich bin im weiteren Verlauf nicht weniger verloren als in der ersten Halbzeit. Zwar finde ich es spannend, wie sich die Mannschaften
taktisch austricksen, um Punkte zu erzielen, aber ich schweife öfters
mit den Gedanken ab und male mir aus, wie ich mit Milo in der Konferenzversammlung sitze, er den Geist verspürt und im Anschluss
die Missionare förmlich anfleht, einen Tauftermin mit ihm zu vereinbaren. »Göörrrn«, sagen die Elders mit breitem amerikanischen Akzent. »Das wärrre wuhnderrrbarrr.«
Der TSV Nordend schlägt den TSG Frankfurt Süd 25:20. Die meisten anwesenden Eltern sind enttäuscht, klopfen ihren Söhnen jedoch
auf die Schulter und loben deren Leistung. Auch von Milos Mannschaftskameraden sind einige Eltern und Freunde anwesend, aber
Milo selbst steht nach dem Spiel alleine herum, trocknet sich erneut
das schweißnasse Gesicht und erntet Lob von seiner zufriedenen
Trainerin. Als er auf mich zukommt, erhebe ich mich trotz zitternder
Knie und falte die Hände, die vermutlich genauso triefen wie seine
Haare. Es ist halb fünf – falls er wirklich mitkommt, bleibt ihm genug Zeit zum Duschen und Umziehen, aber ich habe mich auf alles
eingestellt. Wenn er nicht möchte, habe ich meinen Teil getan und
255
ihm gezeigt, dass ich Interesse an seinem Hobby zeige. Möglicherweise fühlt er sich ja geschmeichelt und ist nicht genervt davon.
»Ihr habt gewonnen«, stelle ich das Offensichtliche fest.
»Es war keine Meisterleistung, aber ein solides Spiel«, entgegnet
er achselzuckend, als ob ich imstande wäre, einen Unterschied festzustellen. »Hör mal, Molly … ich kann gern mitkommen. Aber ich
habe nur meine normalen Klamotten dabei.« Er sieht auf meine Bluse und meinen Rock.
»Das ist doch perfekt«, meine ich sogleich. »Ich war in Kirchenkleidung bei deinem Handballspiel und du kommst in Jeans zur Kirche. So ist das Gleichgewicht wiederhergestellt.«
»Okay.« Sein Lächeln ist etwas unsicher, was er genauso selten
zeigt wie Vicki, und als er seine Sachen holt und in der Umkleide
verschwindet, setze ich mich wieder auf die Bank, beuge mich vor,
stütze meine Arme auf die Knie und lege das Gesicht auf die Hände.
Einige der Anwesenden verlassen die Halle bereits, ein Junge in Milos Alter fegt das Spielfeld mit einem breiten Besen.
Wieder versinke ich in Tagesträumereien, und als Milo mich anstupst, fahre ich so erschrocken auf, dass er zu lachen anfängt. »Bereit?«, fragt er. Die Haare sind noch nass – diesmal von der Dusche –
und zurückgekämmt und er riecht gut und sauber. Er hat die Sporttasche lässig über den Rücken geworfen und hält den Kopf leicht
schräg. Mit der Trainingsjacke und den leicht ausgeblichenen Jeans
sieht er wirklich alles andere als sonntäglich gekleidet aus, aber das
spielt für mich überhaupt keine Rolle. Für mich könnte er nicht besser aussehen.
Mein Plan ist aufgegangen und ich stelle fest, dass ich mir nur bis
hierhin überlegt habe, wie ich vorgehen muss. Wir gehen die ersten
Meter schweigend, er schiebt sein Fahrrad neben sich her, hat die
Sporttasche auf dem Sitz abgelegt und hält sie mit einer Hand fest,
die andere hält den Lenker. »Habt ihr denn morgen etwas Besonderes vor?«, fragt er dann. »Großes Osteressen?«
»Meine Großeltern kommen zu Besuch. Und ihr?«
256
Er schüttelt den Kopf. »Meine Tante ist eventuell da, aber ansonsten … ein Tag wie jeder andere. Meine Mutter hält nicht so viel von
Fressgelagen.« Er lässt die Tasche kurz los und klopft sich auf den
Bauch. »Deswegen habe ich so eine tolle Figur«, protzt er. Obwohl
ich es mir nicht vorstellen kann, frage ich mich, ob er sich gerade
über mein Gewicht lustig gemacht hat und werfe ihm einen skeptischen Blick zu. »Womit ich nicht etwa sagen will …«, fügt er schnell
hinzu und wird rot. »Na ja, du weißt schon.«
»Du hattest Neuigkeiten über Vicki?«, frage ich und schneide ein
anderes Thema an, damit es ihm nicht unangenehmer wird. Gerade
ist mir eingefallen, dass er mir das ja per SMS angekündigt hatte.
»Ja!«, ruft er. »Stimmt! Ganz vergessen.« Er hebt das Rad an und
trägt es die Treppen nach unten in die U-Bahn-Station. Ich biete ihm
an, seine Tasche zu tragen, aber er besteht darauf, dass er stark genug ist. Alter Angeber.
»Frau Ömsen kommt über Vickis Machenschaften einfach nicht
hinweg«, berichtet er mir, als wir am Gleis angekommen sind. »Als
wir nach der Probe noch kurz zusammengesessen haben, hat sie mir
erzählt, dass sie Dr. Hilmberger ans Herz gelegt hat, eine Schulkonferenz zum Thema Mobbing abzuhalten und Vicki als Schulsprecherin einen Vortrag halten zu lassen.«
»Das macht sie doch mit links«, entgegne ich. »Lügen fällt ihr ja
wohl alles andere als schwer.«
»Nicht, wenn sie öffentlich bekunden muss, wie leid es ihr tut,
was dir angetan wurde, und dich dann vor der ganzen Schule lobt,
wie toll du damit umgehst, und alle Schüler auffordert, auf deiner
Seite zu sein.«
Das würde in der Tat ziemlich an ihrem Ego kratzen. »Warum erzählt dir Frau Ömsen so etwas?«, frage ich neugierig.
Nun senkt er den Blick ein wenig. »Sie hat mir vorgeschlagen,
nächstes Schuljahr als Schulsprecher zu kandidieren … oder im besten Fall Vicki vorzeitig abzulösen, sobald rauskommt, dass sie hinter
der ganzen Sache steckt.« Die U-Bahn trudelt ein und er schaut zu
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mir herüber. »Ich bin aber dafür, dass du kandidierst.«
Ich kann gar nichts darauf sagen, denn die Türen gehen auf, ein
paar Leute kommen heraus, und wir gesellen uns in den Abschnitt
zwischen den Waggons, wo Platz für Milos Fahrrad ist. So eine idiotische Idee … ich und Schulsprecherin! Was denkt er sich nur immer
bei so unüberlegten Vorschlägen? Und warum geht es mir trotzdem
nahe, dass er ein solches Vertrauen in mich hegt?
Ich äußere mich nicht dazu und starre stattdessen aus dem Fenster in den dunklen Tunnel. »Falls die Wahrheit jemals ans Licht
kommt«, sage ich irgendwann, »wärst du ein super Schulsprecher,
Milo. Ich passe in diese Rolle nicht herein.«
Sein Blick ist fest und überzeugt. »Sie wird ans Licht kommen«,
verspricht er mir. Wir schauen uns für einige Sekunden in die Augen
und nie war mein Wunsch größer, mich an ihn zu schmiegen oder
seine Hand auf meiner zu spüren oder seinen Arm um meine Schultern oder mein Gesicht an seinem. Stattdessen tätschelt er mir kumpelhaft den Handrücken und lehnt sich gegen die Wand, und meine
Freude darüber, dass er mich gerade zur Kirche begleitet, wird getrübt durch das Gefühl, niemals das für ihn zu sein, wonach sich
mein Herz sehnt.
Ich versuche mir, den übrigen Weg nichts anmerken zu lassen und
stelle Milo stattdessen einige Fragen übers Handballspielen, wobei
ich nur mit halbem Ohr hinhöre und nicke. Bestimmt merkt er, dass irgendetwas los ist … aber falls ja, geht er nicht darauf ein. Als wir die
U-Bahn verlassen und nur noch ein kurzer Fußmarsch vor uns liegt,
wendet er das Gesprächsthema der Kirche zu. Ich erkläre ihm, was
die Generalkonferenz ist und wie der normale Ablauf der Versammlungen sonntags aussieht.
»Puh, drei Stunden Kirche? Jede Woche?« Er klingt nicht begeistert.
»Ich bin es halt gewöhnt«, erkläre ich. »Und da es eben auch drei
verschiedene Abschnitte sind, kommt einem das auch gar nicht so
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lang vor … na ja, jedenfalls nicht immer.« Ich lache, weil mir sofort
Bruder Gepperts Unterricht einfällt und wie sich die Sonntagsschule,
die ja die kürzeste Versammlung von allen darstellt, gefühlt am
längsten hinzieht. »Die Hauptversammlung ist nur knapp über eine
Stunde lang. Das kann nicht so viel länger sein als eine reguläre Messe in der katholischen oder evangelischen Kirche, oder?«
»Da überfragst du mich …« Ich bemerke gerade, dass ich eigentlich nicht viel über seine religiöse Einstellung weiß. Er schien unser
Tischgebet an meinem Geburtstag ganz interessiert aufzufassen, aber
ich weiß nicht einmal, ob er an Gott glaubt.
Das Gemeindehaus ist nun in Sicht und ein Blick auf meine Uhr
verrät mir, dass Music and the Spoken Word bereits im Gange ist.
»Milo … mir bedeutet das wirklich viel, dass du mitkommst …« Es
fällt mir schwer, die Worte auszusprechen, weil ich natürlich auch
nicht will, dass er sich gedrängt fühlt. »Du hast in der letzten Woche
so viel für mich getan … und … na ja, du sagst halt, da wäre immer
etwas Außergewöhnliches an mir, und vielleicht erklärt dir das heute
Abend, warum ich anders bin als die anderen Mädchen.«
Milo bleibt kurz stehen. »Dir bedeutet dein Glaube sehr viel,
oder?«, fragt er.
Ich nicke. »Ohne ihn bin ich nichts«, erwidere ich.
Er möchte noch etwas hinzufügen, stoppt dann aber und schließt
den Mund wieder. Er schiebt das Fahrrad zu den Fahrradständern,
schließt es an und betritt gemeinsam mit mir das Foyer des Gemeindehauses. Zwei Missionare und ein Bruder aus meiner Gemeinde
stehen dort und begrüßen uns, und ich stelle Milo als einen Freund
aus der Schule vor, worüber sich besonders die Elders zutiefst freuen. Milo schaut sich um und stellt seine Tasche bei den Jackenständern ab; vielleicht hat er insgesamt doch ein etwas spektakuläreres
Gebäude erwartet, und besonders schön ist unser Gemeindehaus
wirklich nicht, aber die Musik des Tabernakelchors, die gleichzeitig
aus Kapelle und Kulturhalle erklingt, beschwingt mein Herz und
stimmt mich ruhig.
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Ich nehme Milo kurz mit zur Kapelle, wo die Übertragung auf
Englisch stattfindet, damit er sieht, wo wir unseren Gottesdienst abhalten. Sophie und Fiona sitzen dort, sehen uns und winken uns
freundlich zu. Milo erwidert es (obwohl er zumindest Fiona noch nie
vorher gesehen hat), dann nehme ich ihn mit zur Kulturhalle, wo
Mama, Papa (der muss dieses Mal die beiden Sonntagsversammlungen nicht dolmetschen) und Justus zwei Plätze für uns freigehalten
haben, und auch Luisa und ihre Eltern sind dort. Wir setzen uns zu
ihnen und Julia, die eine Reihe hinter uns sitzt, begrüßt uns ebenfalls; Luisa drückt mich kurz an sich. Ich erkläre Milo kurz, wer Julia
ist, und sie gibt ihm einen kräftigen Handschlag. Ein paar weitere
Mitglieder sind vereinzelt zugegen, aber insgesamt sind die Stühle
sehr leer. Viele schauen die Konferenz wohl daheim über das Internet (behaupten sie jedenfalls), und ich habe das Gefühl, dass es von
Mal zu Mal weniger Anwesende im Gemeindehaus sind, wenn wir
eine solche Übertragung haben. Wir schauen einige Versammlungen
ja auch zu Hause – aber ich bevorzuge es, hierher zu gehen, weil es
sich für mich persönlich »sonntäglicher« anfühlt und ich mich nicht
so leicht durch irgendetwas anderes ablenken lasse.
Der Mann mit der roten Welle im Haar, der bei Music and the Spoken Word glaube ich seit 60 Jahren durch das Programm führt und
sich dabei kein bisschen verändert hat, spricht gerade lächelnd in die
Kamera und wird von einem jüngeren Arbeitskollegen von Papa gedolmetscht, der mir irgendwie eine etwas zu hohe und weibliche
Stimme hat, aber wenigstens deutlich spricht. Nach ihm stimmt der
Chor mit einem wunderschönen Lied ein, das ich noch nie zuvor gehört habe. Ich möchte mich zu Milo herüberlehnen und ihm erklären, was es mit dem Chor auf sich hat, aber er schaut so aufmerksam
auf die Leinwand, hat die Hände brav auf dem Schoß gefaltet und
scheint die Musik zu genießen, und ich möchte die Atmosphäre, die
er auf sich wirken lässt, nicht stören.
In der kurzen Pause vor der Versammlung, die ja im direkten Anschluss stattfindet, bringen Mama und Papa noch einmal zum Aus-
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druck, wie sehr sie sich über Milos Besuch freuen. Er äußert sich
nicht groß dazu und ist sich trotz meiner Ausführungen auf dem
Weg hierher bestimmt selbst nicht im Klaren, was da nun auf ihn zukommt. Die ganze Zeit schon flehe ich den Vater im Himmel im Stillen an, dass irgendeine Botschaft Milo berührt und er sich wohlfühlt
und etwas verspürt, was er vorher noch nicht kannte, aber meine
ganzen Gebete, dass er sich gefälligst in mich verlieben soll, sind bislang ja auch unerhört geblieben.
»Wenn du etwas wissen willst, einfach raus damit«, hält mein Vater Milo an, als die ersten Klänge des Tabernakelchor-Präludiums erklingen. »Manchmal kann einem bei der Informationsflut der Schädel qualmen, also zögere nicht.«
Milo bedankt sich. Ich stoße ihn an. »Mein Vater ist eine der deutschen Stimmen«, protze ich.
Sogleich schaut er beeindruckt zu ihm. »Wirklich?«
Papa lacht. »Ja … allerdings nicht bei der Versammlung, die wir
jetzt anschauen. Das wird ja live eingelesen.«
»Cool.« Dabei belässt er es.
Präsident Eyring ist inzwischen ans Pult getreten und hat die Versammlung eröffnet. Mir gefällt seine liebevolle, sanftmütige Art sehr,
die mich ein bisschen an Opa erinnert, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass Präsident Eyring so einen zynischen Humor hat
wie mein Großvater – andererseits weiß man ja nie, wie die Führer
der Kirche privat eigentlich so drauf sind.
Ich weiß gar nicht, ob die Versammlung am Sonntagvormittag
grundsätzlich immer ein bisschen auf Besucher abgestimmt ist, die
der Kirche nicht angehören. Ich kann mich nicht erinnern, dass so
richtig heikle Themen angesprochen werden, die in den anderen
Versammlungen ja durchaus vorkommen, aber vielleicht bilde ich
mir das auch nur ein. Jedenfalls mache ich mir keine Sorgen, dass
Milo irgendetwas hören wird, was ihm ein komisches Bild von den
Mormonen vermittelt, und dem ist auch so. Es mag an dem Ostersonntag liegen, aber die Botschaften heute sind tatsächlich größten-
261
teils auf Jesus Christus ausgelegt und seine Rolle im Erlösungsplan.
Sollte Milo Zweifel haben, dass wir eine christliche Kirche sind,
müssten diese spätestens jetzt zerschlagen sein, denn die machtvollen Zeugnisse von Jesus Christus sind unmissverständlich und
gleichzeitig tiefsinnig. Die PV-Präsidentin, die gestern entlassen
wurde, spricht heute ein letztes Mal, und auch wenn ihre Botschaft
sich, wie es so oft bei der PV-Präsidentschaft der Fall ist, auf die Kinder bezieht, schlägt sie einen klaren Bogen zu Jesus Christus und
dass es bei jeglicher Erziehung vor allem darum geht, die Kinder
zum Heiland zu führen.
Ich wünschte, ich könnte Milos Gedanken lesen. Er schaut fasziniert nach vorn und wirkt konzentriert, nicht gelangweilt, was ja
schon mal gut ist, aber natürlich habe ich keine Ahnung, was in ihm
vor sich geht und was er über die Botschaften denkt, die er gerade
hört. Am Ende jeder Ansprache höre ich ihn ein leicht verspätetes
»Amen« murmeln, auch wenn er sicher nicht versteht, warum wir
eine Ansprache so schließen und warum alle Anwesenden dieses
Wort wiederholen. Beim Zwischenlied ist er brav mit aufgestanden,
auch wenn ich ihn nicht habe mitsingen hören, aber ich glaube, er
hat die Lippen bewegt (es ist so schlecht, das alles aus dem Augenwinkel zu erkennen, und ich will mich ja auch nicht ständig zu ihm
umdrehen, da fühlt er sich nur beobachtet).
Ich merke, dass mir die Ansprachen gefallen, ich aber doch ein
bisschen abgelenkt bin, weil ich mich ständig frage, was Milo wohl
von dem Ganzen hält. Erst als der Prophet eine waschechte Osterbotschaft gibt und ein berührendes Zeugnis vom Erlöser ablegt, spüre
ich, wie mich Wärme durchdringt, sich sämtliche Anspannung legt
und mir wieder einmal bewusst wird, wie dankbar ich dafür bin,
dass wir einen lebenden Propheten in der heutigen Zeit haben, der
uns führt und leitet und Weisung gibt. »Unser Erlöser lebte wieder«,
verkündet er. »Das herrlichste, tröstlichste und beruhigendste Ereignis der Menschheitsgeschichte hatte stattgefunden: der Sieg über den
Tod. Der Schmerz und die Pein von Getsemani und Golgota waren
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wie weggewischt. Die Errettung der Menschheit war sichergestellt.
Der Fall Adams war wettgemacht.«
Milo schaut zu mir herüber. Wieder einmal versinke ich für einen
kurzen Augenblick in den großen dunklen Augen, während er mich
zunächst schweigend ansieht, ehe er mich fragt: »Du glaubst das
wirklich, was er da sagt, oder?«
Ich wende den Blick nicht ab. »Von ganzem Herzen!«, sage ich
leise. Er verschwimmt ein bisschen vor meinen Augen und ich habe
keinen Zweifel an dem, was ich gesagt habe. Wie heißt es doch so
schön? Ein Zeugnis wächst, wenn man es anderen gibt. Das spüre
ich gerade am eigenen Leibe, und ich wünsche mir für Milo, dass der
Funke überspringt – und zwar nicht, dass er plötzlich romantische
Gefühle für mich hat oder so, sondern jetzt gerade wünsche ich mir
einfach, dass er die Liebe des Heilands spürt und weiß, dass er einen
Vater im Himmel hat, der für ihn sorgt.
Nach Ende der Versammlung äußert sich Milo nicht großartig
und ich durchlöchere ihn nicht mit Fragen. Wahrscheinlich muss er
das alles auf sich wirken lassen und sich ein eigenes Bild formen. Er
bedankt sich bei mir, dass ich ihn bei dem Handballspiel unterstützt
habe und verabschiedet sich dann. Ich sehe ihm hinterher, nachdem
er sich auf sein Fahrrad geschwungen hat und abgedüst ist. Papa
steht neben mir und hat seinen Arm um mich gelegt. »Ich finde es
toll, dass du ihn eingeladen hast«, sagt er. Er äußert sich gar nicht
dazu, dass ich bei einer Sportveranstaltung war, sondern gibt mir
das Gefühl, eine gute Entscheidung getroffen zu haben.
»Ob es ihm gefallen hat?«, frage ich mehr mich selbst als ihn.
»Einen Samen hast du gelegt«, meint Papa. »Sei weiterhin beispielhaft und für ihn da, so wie er ja auch für dich da ist. Wie er den
Samen letztlich pflegt und nährt, ist seine eigene Entscheidung.«
Er hat recht, auch wenn es mein Herzenswunsch ist, dass er sich
für das Richtige entscheidet – aber abnehmen kann ich ihm die Wahl
wohl nicht. Und so bleibt mir nichts anderes übrig, als abzuwarten
und zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln.
263
22
G
ewitter liegt in der Luft. Ausgerechnet heute. Die ganze letzte
Woche war traumhaftes Wetter, heute hingegen ist es sehr bedeckt und düster und immer wieder vernehme ich in der Ferne ein
Grummeln, auch wenn noch kein Regen eingesetzt hat. Ich packe
einen kleinen Schirm ein und klaue Sophie eine schicke, dünne Jacke
aus dem Kleiderschrank. »Ich bin weg!«, rufe ich. Keine Reaktion.
Ich schaue ins Wohnzimmer, aber da sitzt nur Justus im Pyjama auf
der Couch und schaut irgendeinen Anime, auf seinem Schoß liegt
ein Teller mit ein paar gestapelten Scheiben Toast. »Wo ist Mama?«,
frage ich. »Du hast überall Marmelade.«
Er wischt sich die Mundwinkel mit dem Handrücken ab. »Einkaufen, glaub ich«, erwidert er.
Ob Sophie sie begleitet hat? Ich beschließe, mir keine näheren Gedanken darüber zu machen, laufe aus dem Haus und sitze wenig
später in der U-Bahn Richtung Innenstadt.
Ein Date … oder doch eine Verabredung unter Freunden? Diese
Ungewissheit raubt mir den Verstand. Seit Sonntag haben Milo und
ich uns nur sporadisch geschrieben, aber immerhin ist sein Gutschein, den er mir zum Geburtstag geschenkt hat, als Thema aufgekommen und wir haben den heutigen Vormittag dafür festgesetzt,
gemeinsam ins Museum zu gehen und dann noch in der Stadt einen
kleinen Happen zu essen. Allerdings hat er mir verheißen, dass er
sich zurückhalten muss, weil er am Nachmittag noch ein Trainingsspiel hat. Je nachdem, wie unser Treffen läuft, treffe ich mich noch
mit Luisa, vielleicht will ich aber auch allein sein und Trübsal blasen.
Milo hat die Generalkonferenz nicht mehr erwähnt. Wie es ihm
gefallen hat, welche Gedanken er hatte und ob er irgendetwas verspürt hat, weiß ich also nicht. Ich bin gehemmt, ihn danach zu fragen, weil ich ihm nicht auf den Senkel gehen und ihm zu nahe treten
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will – Glaube und Religion sind ja auch etwas sehr Persönliches. Und
auch, wenn ich mir wünsche, dass er mehr über das Evangelium erfahren möchte und ich mich nicht davor verschließen will, Missionsarbeit zu leisten, mag ich mich ihm nicht aufdrängen.
Bei der letzten Pfahlkonferenz hat ein Gebietssiebziger berichtet,
wie er in Begleitung im Restaurant saß und den Kellner prompt fragte, ob er mitbeten würde, woraufhin sich ein wunderbares Gespräch
über die Kirche entwickelte. Bei einem Supersamstag im vergangenen Jahr erzählte die Pfahl-Seminarbeauftragte, dass sie die Infokärtchen der Kirche stets dabei hat und oft unterwegs in Bus und Bahn
Gelegenheiten ergreift und diese verteilt. Wenn ich solche Geschichten höre, fühle ich mich ganz schuldig. Dazu hätte ich niemals den
Mut. Wenn sich das Thema mit Schulfreunden wie Bengü (und bis
vor Kurzem auch Lizzy) ergeben hat, war das bislang nie ein Problem für mich, aber selbst hier war ich immer vorsichtig – bin ich
deswegen eine schlechte Missionarin? Müsste ich kühner sein, was
das betrifft? Die Propheten und Missionare aus alter Zeit hatten ja
ebenfalls keine Scheu und haben nie ein Blatt vor den Mund genommen. Und ich traue mich nicht einmal, Milo zu fragen, wie er die Generalkonferenz fand. Ich fürchte, ich würde keine gute Vollzeitmissionarin werden … glücklicherweise ist das eine Entscheidung, die
noch ein paar Jahre in der Zukunft liegt (auch wenn Luisa beispielsweise bereits beschlossen hat, dass sie auf Mission gehen will).
Ich bin fast eine Viertelstunde zu früh am vereinbarten Treffpunkt, muss aber keine fünf Minuten warten, ehe Milo auftaucht.
Nach einer kurzen Begrüßung schlendern wir langsam in Richtung
Flussufer. Wie immer fragt er mich höflich nach meinem Wohlbefinden. »Wie war es mit deinen Großeltern?«, erkundigt er sich.
Es erfolgt ein Bericht von meinem Ostermontag, der unspektakulär verlief. Natürlich war es nett mit Oma und Opa, und zur Abwechselung war Vicki Greiser nicht das Hauptthema, was mir ein
wenig Ruhe verschafft hat. Langsam wird es mir nämlich lästig, über
diese leidige Sache zu sprechen und alle Gefühle, die damit verbun-
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den sind, neu aufzurollen. »Sophie ist neue Chefköchin«, erkläre ich.
»Mama geht es momentan irgendwie nicht so gut, und sie ruht sich
viel aus, und da wir Ferien haben und meine Schwester dem Wahn
verfallen ist und beschlossen hat, eine komplette Woche nichts für die
Schule zu tun und erst ab nächster Woche für die mündlichen Prüfungen zu pauken …«
»Cool.«
Milo schaut verträumt nach vorn, und ich gewinne plötzlich den
Eindruck, dass er mir gar nicht zugehört hat.
»… hat sie also entschieden, mit dem Fleischmesser in der Nachbarschaft Amok zu laufen«, beende ich meinen Satz.
»Hmm-mm.« Milo nickt.
Entgeistert sehe ich ihn an. Erst nach ein paar Sekunden schaut er
zu mir herüber, fühlt sich offensichtlich ertappt und seine Wangen
erröten leicht. »Nicht wahr?«, frage ich.
»Errm – ja«, entgegnet er. Er gibt nicht mal zu, nicht zuzuhören.
Wir laufen eine geschlagene Minute schweigend nebeneinander
her, und ich bin völlig verwirrt – so kenne ich ihn gar nicht … habe
ich irgendetwas Falsches gesagt? Oder hat es mit Sonntag zu tun –
versucht er gerade, einen Weg zu finden, um mir mitzuteilen, dass er
die Kirche nie wieder besuchen möchte?
»Gegen wen spielt ihr denn heute?«, raffe ich mich schließlich zu
einer Frage auf, um die unerträgliche Stille zwischen uns zu beenden. Wir laufen gerade über die Untermainbrücke, an deren Ende
sich das Filmmuseum befindet.
»Im Herbst findet die Schulmeisterschaft statt«, erklärt er. »Wir
haben ein Trainingsspiel gegen das Kopernikus-Gymnasium.«
»Und wo?«, bohre ich.
»In unserer Halle.« Dabei belässt er es. Gut, keine Antwort, die
man groß ausschmücken könnte, aber wenn er sich wenigstens
Mühe geben würde … Seit meinem Geburtstag träume und fantasiere ich von dieser Verabredung, und sehr vielversprechend ist es bis
jetzt nicht. Und das nach all den Heldentaten, die Milo für mich voll-
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bracht hat. Heißt das, das Maß ist nun voll?
Ich habe die Hoffnung, dass die Ausstellung die Atmosphäre ein
bisschen auflockert. Brav bezahlt Milo für uns beide den Eintritt, und
wir begeben uns direkt zu der Sonderausstellung über Jane Austen,
von der ich fast so ein großer Fan bin wie von den Brontë-Schwestern. Ich habe einen historischen Umriss von dem Leben der berühmten Autorin erwartet, aber tatsächlich handelt der Großteil der
Ausstellung von den verschiedenen Verfilmungen ihrer Bücher. Milo
und ich finden Original-Kostüme vor, detaillierte Drehberichte, über
Monitore laufen Dokumentationen und Interviews mit Filmemachern und Darstellern. In einem kleinen Kinosaal werden die gesammelten Verfilmungen szenenhaft vorgeführt und verschiedene Adaptionen eines Werkes verglichen. Von »Stolz und Vorurteil« gab es vor
einigen Jahren sogar mal eine »mormonische« Version, die in Utah
spielt und in die heutige Zeit versetzt wurde, aber einmal abgesehen
davon, dass mein Englisch nicht sehr fortgeschritten war und ich
kaum etwas verstand, war ich eher angeödet als amüsiert. Daher bin
ich erleichtert, dass diese Verfilmung hier keine Erwähnung findet.
Entzückt erfreue ich mich an den Erinnerungen an diese wunderbaren Filme, die mir mit jeder Szene kommen, und ich bekomme
spontan Lust, sie alle erneut anzuschauen. Vielleicht könnte ich mit
Luisa und Bengü einen DVD-Abend planen? Finn und Dominik
überreden wir bestimmt auch und Milo …
Er schaut nicht mal nach vorn, sondern starrt auf die Rückenlehne des leeren Sitzes vor ihm. Nun verliere ich die Geduld. Ganz egal,
ob er das Ganze hier für ein Date hält oder nicht, ich habe mich so
sehr darauf gefreut, dass ich es eine Frechheit finde, wie miesepetrig
er drauf ist. Wenn er mir das wenigstens erklären würde! »Ist alles in
Ordnung?«, frage ich vorsichtig, aber bestimmt. »Du bist ein bisschen schweigsam heute …«
Milo hat offensichtlich geträumt und fährt erschrocken hoch. Sind
seine Augen glasig? »Doch, ich, also ich …« Es scheint, als finde er es
nicht mehr notwendig, die (ohnehin durchschaubare) Farce aufrecht-
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zuerhalten, und seine Miene wirkt nun vollends betrübt. »Es tut mir
leid, Molly. Ich habe mich wirklich darauf gefreut, die Ausstellung
mit dir anzuschauen, aber …«
Aber … ?
Er beendet den Satz nicht. »Es hat nichts mit dir zu tun, das
musst du mir glauben.«
Das erleichtert mich, verschafft mir aber nicht die Genugtuung,
die ich meiner Meinung nach verdiene. »Ist es … wegen Sonntag?«
»Nein!«, wehrt er sofort ab. Zwei ältere Herren, die in der ersten
Reihe des kleinen Saals sitzen und die einzigen weiteren Museumsbesucher in diesem Raum sind, drehen sich pikiert um. Einer hält
den Zeigefinger an die Lippen.
Milo nickt gen Ausgang und wir verlassen den Saal. Vor einer imposanten Vitrine mit einer lebensgroßen Keira-Knightley-Pappfigur
im Elizabeth-Bennet-Outfit bleiben wir stehen. Sie hat mir in dieser
Rolle nie gefallen, durchfährt es mich. Sie war blass, Mr. Darcy war
noch blasser und die Chemie zwischen den beiden stimmte überhaupt nicht. Trotzdem war der Film ein großer Erfolg. Wie passend,
dass Milo und ich hier stehen … zwei Darsteller in einem epischen
Liebesdrama, das mit Sicherheit beim Publikum gut ankommt, obwohl die Chemie der beiden Schauspieler auf tragische Weise verloren gegangen ist.
Milo ringt nach Worten. »Ich fand es sehr nett von dir, mich zur
Kirche mitzunehmen«, bringt er schließlich heraus. »Es war anders,
als ich es erwartet hatte. Aber ich fand es sehr interessant. Und es tut
mir leid, dass ich mich nicht mehr groß dazu geäußert habe.« Er
sieht auf das Glas, und ich weiß nicht, ob er Keira Knightley betrachtet oder sein eigenes Spiegelbild. »Ich ziehe den Hut vor dir, Molly,
wie du für deine Religion einstehst. Nach allem, was man so hört
und liest, habt ihr schon ganz schön viele Regeln, an die ihr euch halten müsst.«
»Ich halte die Regeln, weil ich sie halten will«, entgegne ich.
Er schaut mich an. »Ich weiß nicht einmal, ob ich an Gott glaube«,
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sagt er. »Klar habe ich mir schon mal Gedanken darüber gemacht,
aber … ich weiß es einfach nicht.«
Dann bete!, will ich sagen. Frag ihn, ob es ihn gibt! Er wird dir das
kundtun! Und dann küss mich!
»Die letzten paar Tage waren schwierig für mich«, fährt er fort,
ehe ich darauf eingehen kann. »Verschiedene Gründe. Aber nach allem, was ich am Sonntag gehört habe über einen liebevollen, gerechten Gott, fällt mir die Vorstellung schwer, dass das Realität sein soll.«
»Möchtest du darüber sprechen?«, frage ich zaghaft.
Er lächelt – zum ersten Mal heute, kommt es mir vor. »Ach Molly.
Wie immer denkst du an das Wohl der anderen …« Wenn der wüsste. Ganz so selbstlos bin ich keineswegs, am allerwenigsten bei ihm.
»Die Situation ist kompliziert und ich will dich gar nicht damit belasten. Und dann nachher dieses blöde Spiel, bei dem meine Leistung
unterirdisch sein wird, weil ich mich heute auf nichts richtig konzentrieren kann …«
Ich bin mir sicher, dass es ihm guttun würde, mit jemandem zu
reden, aber warum fällt das den meisten Jungen denn nur so schwer,
ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen? Wenn die wüssten, wie das bei
uns ankommt, würden sie mal ein wenig Schwäche zeigen … jedoch
möchte ich mich Milo nicht aufzwingen. Die Gefahr, dass er sich in
die Ecke gedrängt fühlt, sich gänzlich verschließt und womöglich
wütend auf mich wird, ist mir zu groß.
»Wie du meinst«, erwidere ich. »Ich hoffe nur, dir ist bewusst,
dass ich für dich da bin, wenn du jemanden zum Reden brauchst.
Nach allem, was du für mich getan hast, ist das das Mindeste.« Ich
wage es, einen Schritt weiterzugehen. »Ich könnte dich heute Nachmittag anfeuern kommen, vielleicht motiviert dich das, besser zu
spielen?«, schlage ich vor.
»Lieber nicht!«, ruft er allerdings sofort (und ein bisschen zu
schnell für meinen Geschmack). »Das wäre mir nur peinlich … ich
bin daran gewöhnt, gut zu spielen.« Sein Lachen klingt erzwungen.
Wir widmen uns der übrigen Ausstellung, und Milo bemüht sich,
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gesprächiger zu sein. Er muss sich ein bisschen dazu überwinden,
habe ich den Eindruck, aber ich rechne es ihm an, und ich bin froh,
dass ich seinen seltsamen Gemütszustand angesprochen habe. Zum
allerersten Mal ist er von der Siegerempore der Unfehlbaren herabgetreten und zeigt, dass auch er seine Probleme hat, und eigentlich
sollte ich dafür dankbar sein, dass er so unvollkommen ist wie der
Rest der Menschheit. Trotzdem wünschte ich mir, er würde sich mir
anvertrauen, aber das bleibt wohl vorerst Wunschdenken, und als
wir uns beim nächsten Burgerladen ein kleines Mittagessen gönnen,
bleibt er ähnlich schweigsam wie schon die ganze Zeit.
Als wir uns schließlich voneinander verabschieden, regnet es in
Strömen. Ich spanne den Schirm auf und stelle mir vor, wie das kühle Nass die drückende Hitze fortspült und die Luft angenehm und
frisch macht. Stattdessen dringt mir das Wasser in die Schuhe und
mir ist kalt.
Ich finde Zuflucht bei Luisa, die ich anfunke, nachdem Milo verschwunden ist. Sie gebietet mir, sofort zu ihr zu kommen und ihr alles zu berichten. »Ich habe allerdings nicht so viel Zeit«, warnt sie
mich vor. »Du wirst niemals erraten, weshalb …«
Da mein Milo-Blues die Stimmung gedrückt und das Wetter sein
Übriges dazugetan hat, bemühe ich mich auch gar nicht, mir mögliche Gründe zu überlegen, und erst als Luisa mir die Tür öffnet und
mich so enthusiastisch an sich reißt, dass mir der nasse Schirm aus
der Hand fällt und eine Pfütze auf dem Kachelboden hinterlässt, beschleicht mich plötzlich ein Verdacht. »Sag bloß, es gibt Neuigkeiten
mit Finn?«, spreche ich das Thema an, das eigentlich seit Wochen
stagniert, obwohl Luisas Gefühle einfach nicht abschwächen wollen.
»Wir gehen nachher ins Kino!«, quietscht sie. »Nur er und ich!«
Na hoffentlich läuft deine Verabredung besser als meine, liegt es mir
unausgesprochen auf den Lippen. »Wie kommt das denn?«, frage ich
stattdessen und entledige mich meiner inzwischen völlig durchnässten Schuhe.
270
Luisa hat meinen Schirm aufgehoben, erneut aufgespannt und in
die Ecke gestellt. »Er war gestern Abend online und ich hab ihn angeschrieben und wir haben total lange gechattet und über alles Mögliche gequatscht und was wir in den Ferien so machen und was wir
heute so machen und dass Ferien cool sind, aber man manchmal
nicht weiß, was man eigentlich die ganze Zeit anstellen soll, und ich
hab ihm einen Wink gegeben, dass ich Lust hätte, was zu unternehmen, und er hat gefragt, ob wir nicht zusammen ins Kino wollen,
und nachher treffen wir uns.« Sie rattert die ganze Erklärung in wenigen Sekunden herunter und ich muss kurz innehalten, um das Gehörte zu verarbeiten.
»Na endlich!« ist alles, was mir dazu einfällt, und Luisa und ich
fassen uns an den Händen und hüpfen im Kreis wie zwei alberne
Grundschülerinnen. Sie ist allein zuhause und wir gesellen uns ins
Wohnzimmer. Luisa ist völlig aus dem Häuschen, und dank der modernen Technik braucht sie mir die elektronische Unterhaltung mit
Finn gar nicht aus dem Gedächtnis zu rezitieren, sondern ruft das
Gespräch auf dem Laptop hervor und geht mit mir nahezu jede Zeile
durch. »Wie könnte er das meinen?« »Ist das nicht süß?« »Er ist sooo
lustig!« »War das zu frech von mir?«
Ich freue mich für sie. Wirklich. Umso befremdlicher finde ich es,
dass mir die Vorstellung, die beiden würden heute Nachmittag im
Kino Händchen halten, gar nicht gefällt – ich will das auch. Mein Date
hingegen war eher ein Griff ins Klo. Aber Luisa fragt auch überhaupt
nicht danach, sondern sprudelt fröhlich weiter, bis sie mich fragt,
was ich eigentlich noch vorhabe, und ich ihr berichte, dass ich Milo
vorgeschlagen habe, sein Spiel anzuschauen, und er das nicht wollte.
»Euer Museumsbesuch!«, entfährt es ihr. »Wie war es?!«
Ich hasse es, die Spaßbremse zu sein, doch weil es bei ihr heute
gut läuft und bei mir nicht, beschließe ich, meinen Bericht ein wenig
abzuschwächen. Ich äußere mich positiv über die Ausstellung und
erzähle, dass Milo und ich viel Spaß hatten, dass er aber momentan
irgendwelche Probleme hat, über die er nicht reden will. »Ich weiß
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auch nicht, wie ich an ihn herankomme«, schließe ich.
»Fahr zum Spiel!«, meint Luisa. »Ich glaub nicht, dass er das blöd
finden würde. Er freut sich bestimmt, dass du ihm seelischen Beistand leistest, und vielleicht knackst du ihn so und er öffnet sich dir.«
Sie faltet die Hände und blickt zur Zimmerdecke. »Hach, und dann
erkennt er endlich, dass du genauso für ihn da bist wie er für dich,
und dann –»
»Hör auf!«, unterbreche ich sie. Mach mir keine falschen Hoffnungen. Ich kann ihren Vorschlag aber auch nicht völlig von der Hand
weisen. Am Sonntag hatte er ja auch sonst niemanden im Publikum,
der ihm zugejubelt hat, während von vielen anderen Spielern die Eltern anwesend waren. Ob da die Schwierigkeiten liegen? Hängt der
Haussegen schief? Hatte er Streit mit seinen Eltern? Ich kenne die
beiden ja nicht, und auch wenn er nie negativ über sie gesprochen
hat, bestand zwischen seiner und Vickis Familie ja mal näherer Kontakt (oder sogar immer noch?) – vielleicht sind seine Eltern so schräg
drauf wie die Greisers. Dann wäre es auch nicht verwunderlich, dass
ihn das belastet. Armer Milo! Seine Eltern sind nicht für ihn da und
er weiß nicht, an wen er sich wenden soll. Ich werde die Schulter
sein, an der er sich ausheulen kann!
»Er mag dich«, beharrt Luisa. »Vielleicht ist er sich seiner Gefühle
noch nicht ganz sicher, aber kein Junge setzt sich so für ein Mädchen
ein, an dem ihm nicht viel liegt.«
»Also gut«, fälle ich die Entscheidung. »Ich fahre hin.«
»Juhu!« Luisa streckt die Arme in einer Siegerpose in die Höhe.
»Finn und ich gehen ins Kino, du gehst zu Milos Spiel, und heute
Abend telefonieren wir noch mal und tauschen ausführlich alle Einzelheiten aus!«
»Falls du nicht noch mit Finn in der Stadt was isst und ihr knutschend in einer einsamen Hintergasse landet!«
»Falls du und Milo nach dem Spiel nicht händchenhaltend durch
den Regen lauft!«, kontert sie. Der Regen, der eben noch kräftig an
die Fensterscheiben geprasselt hat, hat aufgehört, und gerade hat
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sich ein leichter Sonnenstrahl durch die Wolken gekämpft und
scheint ins Wohnzimmer. Seltsam, wie sehr das Wetter heute mein
Seelenleben widerspiegelt.
Luisa und ich diskutieren eifrig, was sie nachher anziehen soll,
und veranstalten eine regelrechte Modenschau, ehe sie sich für ein
Outfit entschieden hat und es anbehält. Wir verlassen das Haus gemeinsam und fahren in die Innenstadt. Luisa wird immer hibbeliger,
ich hingegen bin erstaunlich ruhig, und nachdem ich sie beim Kino
abgesetzt habe, laufe ich von dort zu Fuß in Richtung Schule. Meinen
inzwischen trocken gewordenen Schirm habe ich zusammengeklappt und im Gegensatz zu vorhin fröstelt es mich nicht mehr, sondern ich genieße die abgekühlte Luft tatsächlich.
Vom Kinokomplex zu meiner Schule sind es nur ein paar Minuten Fußweg, und die Nervosität packt mich erst, als ich das Hauptgebäude sichte. Das Mädchen auf Klo ist zurück, rufe ich in Gedanken.
Bei der Theaterprobe am Donnerstag habe ich in den Gängen niemanden getroffen – wer wird wohl bei einem Trainingsspiel zugegen
sein? Ich kann mir kaum vorstellen, dass es viele Besucher geben
wird. Ich gehe einfach mal stark davon aus, dass ich Vicki nicht begegnen muss.
Ich schaue auf die Uhr und meine mich zu erinnern, dass das
Spiel erst in einer Viertelstunde losgeht. Bestimmt wärmen sich gerade alle Spieler auf.
Anders als an anderen Schulen ist unsere Turnhalle ins Hauptgebäude integriert; es gibt sowohl einen Außeneingang, der vom Schulhof zu erreichen ist, als auch einen Inneneingang. Da ich damit rechne, die Schulpforten verschlossen vorzufinden, nehme ich direkt den
Weg über den Hof und betrete die Halle so am hinteren Ende. Ein
paar Spieler, die gerade nichts tun, stehen mit dem Rücken zu mir.
Milos Trainerin unterhält sich mit einem Mann, der die gleichen Farben trägt, die auf den Trikots des Kopernikus-Gymnasiums zu sehen
sind, und blitzschnell schließe ich daraus, dass es sich um den Trainer der gegnerischen Mannschaft handelt. Ein paar Spieler joggen
273
wie erwartet um das Feld, aber Milo kann ich überhaupt nicht entdecken. Nun komme ich mir etwas blöd und fehl am Platze vor. Zwar
steht rechts vom Spielfeld eine Bank, auf der auch zwei Jugendliche
sitzen, die keine Sportkleidung tragen, aber es wäre mir peinlich,
mich dazuzugesellen. Ich erspähe Chris und Timon, die ebenfalls zu
denen gehören, die sich gerade aufwärmen, aber die beiden sehen
mich nicht.
Mich verlässt der Mut. War doch eine doofe Idee, befürchte ich,
und so muss ich Milos Familienleben wohl ein anderes Mal therapieren. Gerade will ich kehrtmachen und die Halle verlassen, da vernehme ich Milos Stimme. Er stolpert lachend – und rückwärts – aus
einem der Gänge, die zu den Umkleiden führen. Dort bleibt er stehen und unterhält sich mit jemandem, der sich noch im Gang befindet, lässt einen Spruch ab und lacht erneut auf. Seit wann hast du
denn gute Laune? Ich will ihm nichts zurufen, denn ich möchte die
Unterhaltung nicht unterbrechen, doch als er einen weiteren Schritt
zurückgeht und sein Gesprächspartner ebenfalls in die Halle kommt,
wird mir ganz anders. Nur für den Bruchteil einer Sekunde verharre
ich am Eingang, drehe ich mich herum und laufe auf den Schulhof
hinaus. Ich bin versucht, noch einmal zurückzukehren, nur um sicherzustellen, dass ich keine Halluzinationen hatte, aber ich habe
keinen Zweifel daran, wen ich dort gesehen habe: Kira. Vickis Kira.
Das Mädchen, das äußerst nett getan und dann die üblen Fotos von
mir geschossen hat.
274
23
E
ine Geschichte aus dem Alten Testament ist mir gleichermaßen
verhasst und ans Herz gewachsen. Zum einen berührt es mich,
wie sehr Jakob Rahel, die Tochter Labans, geliebt haben muss, dass
er bereit war, sieben Jahre für ihren Vater zu arbeiten, die ihm, »weil
er sie liebte, … wie wenige Tage« vorkamen. Jakob wurde von Laban
betrogen, der ihm seine andere Tochter Lea unterjubelte und ihm Rahel zwar nach der Brautwoche ebenfalls überließ, Jakob sich dafür jedoch sieben weitere Jahre für ihn abschuften durfte. Wie stark seine
Liebe wohl gewesen sein muss! Ich wäre zutiefst beeindruckt … wäre
da nicht Lea.
Wir erfahren, dass Leas Augen »matt« waren, ihre Schwester Rahel »aber war schön von Gestalt und hatte ein schönes Gesicht«. Da
waren sie nun, die beiden Schwestern – die ältere, »matte«, und die
jüngere, »schöne«. In der Bibel steht ebenfalls, dass Jakob Rahel
mehr liebte – und dass Gott diese »Zurücksetzung« dadurch ausglich, dass Lea die fruchtbarere der beiden Frauen wurde und Jakob
viele Kinder gebar. Vielleicht bin ich noch zu jung, um den dahinter
verborgenen Tiefsinn zu erkennen, aber so ganz gerecht kommt mir
das nicht vor (auch wenn ich Gottes Gerechtigkeit ja eigentlich gar
nicht anzweifeln will). Ich habe mich oft gefragt, wie das Verhältnis
der beiden Schwestern wohl ausgesehen haben mag. War Lea neidisch auf die Schönheit ihrer Schwester? Liebte sie Jakob vielleicht
auch und freute sich sogar darüber, dass sie ihn ehelichen durfte –
hatte sie die Hoffnung, er werde sein Herz für sie öffnen? Wie muss
sie sich gefühlt haben, als Jakob ihre schöne Schwester ebenfalls heiraten durfte? Verschaffte es ihr Genugtuung, dass sie diejenige war,
die ihm Kinder schenkte?
Ich bin zwar die jüngere Tochter im Hause Bach, aber die Vorstellung, Sophie, die mir immer in allem überlegen scheint, und ich
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müssten uns ein- und denselben Mann teilen, macht mich wahnsinnig. Das will und könnte ich niemals!
Das ist ein extremes Beispiel, das für uns in der heutigen Zeit
(und in der heutigen Kultur) schwer nachzuvollziehen ist, aber ich
habe mir Gedanken gemacht, wie es mir in einer abgeschwächten Situation gehen würde. Wie würde ich damit umgehen, wenn sich jemand, den ich liebe, in meine Schwester verliebt und sie heiratet?
Noch abgeschwächter. Würde ich mich für meine Schwester freuen,
die in allem besser ist als ich, wenn sie auch noch einen tollen Mann
abbekommt?
Noch abgeschwächter. Gönne ich meiner besten Freundin, die wie
eine Schwester für mich ist, das Glück, das mir verwehrt bleibt?
Die Absurdität meiner Gedanken und welche Ableitungen ich aus
dem Bibeldrama um Jakob, Lea und Rahel für mein Leben ziehe,
bringen mich beinahe zum Lachen.
Es hat wieder zu regnen begonnen, und es schüttet sogar noch
mehr als nach meiner Verabredung mit Milo. Luisas SMS war kurz –
vermutlich war sie schnell auf der Damentoilette, sonst hätte sie mir
sicher zwischendurch nichts geschrieben, um Finn nicht das Gefühl
zu geben, sie wäre abgelenkt. »ER HAT MEINE HAND GENOMMEN!« In Großbuchstaben und mit etwa 30 Ausrufezeichen. Die beste Freundin in mir, die Luisa über alles liebt, war aufgeregt und freute sich für sie, aber bevor ich mich auf diese Freude überhaupt einlassen konnte, flüsterte mir die innere Lea ins Ohr: »Sie hat endlich
ihren Jakob … aber du wirst deinen niemals bekommen …«
Nach einem monatelangen Auf und Ab, nach vielen Tränen und
unermesslichem Herzeleid scheint Finn endlich begriffen zu haben,
was für ein feines Mädchen Luisa ist. Endlich. Und ich? Ich liebe
einen Jungen, der mir in der schrecklichsten Prüfung beigestanden
hat und sich mir trotzdem irgendwie nicht öffnen kann und den ich
nun zu allem Überfluss mit einem Mädchen erwischt habe, das zu
den schlimmsten Stunden meines Lebens erheblich beigetragen hat.
Erwischt stimmt ja eigentlich nicht. Milo und Kira haben sich ledig-
276
lich unterhalten. Aber warum sollte er das tun? Er selbst hat mir gesagt,
dass Kira genauso schlimm ist wie Vicki. Er weiß, dass sie diejenige
ist, die das Foto von mir geschossen hat, das dann Vickis Flyer zierte.
Und was mich am meisten verunsichert: Er war den ganzen Vormittag schräg drauf … und er wollte mir nicht sagen, was los ist. Als ich
ihm vorgeschlagen habe, sein Trainingsspiel zu besuchen, hat er es
gleich abgewehrt. Wollte er vermeiden, das genau das geschieht, was
dann eingetreten ist – dass ich ihn und Kira sehe?
Und in all der Verwirrung, die mich völlig überwältigt, muss ich
dann noch erfahren, dass es bei Finn aus irgendwelchen Gründen
doch gefunkt hat – was ich, um ehrlich zu sein, bei aller Liebe für
Luisa schon längst abgehakt hatte.
Pflichtbewusst schicke ich Luisa eine SMS, die lediglich aus mindestens genauso vielen Ausrufezeichen besteht wie ihre und belasse
es dabei. Ich gehe davon aus, dass sie sich telefonisch bei mir meldet,
sobald ihre Verabredung vorbei ist. Ich könnte sie darauf hinweisen,
dass sie erst in zwei Wochen sechzehn wird – Finn sogar erst in zwei
Monaten. Aber damit bringe ich wahrscheinlich nur zum Ausdruck,
dass ich ihr nicht gönne, dass Finn nun doch auf sie steht. Und das
tue ich ja … oder nicht?
Ähnlich wie Luisas Bericht heute Vormittag, dass Finn sich mit ihr
verabredet hat, besteht ihr Bericht am Abend aus einem Wortschwall, der kein Ende nehmen will; allein wie Finn seine Hand zärtlich auf ihre gelegt hat, könnte ein komplettes Kapitel in einem Liebesroman füllen, angefangen bei ihrer emotionalen Unsicherheit, wie
sie sich ihm gegenüber verhalten soll, bis zur Beschaffenheit seiner
Handfläche, kein Detail lässt sie aus. Kein Wunder, dass sie so gut in
Deutsch ist, denke ich, wenn sie schriftlich nur halbwegs bildhaft zustande bringt, wozu sie im Sprechfluss fähig ist … Und wieder spüre ich
einen kleinen Stich. Ich will nicht neidisch sein, ich will nicht neidisch
sein, ich will nicht neidisch sein. Das Gespräch endet so beflügelt, wie
es begonnen hat. Sie hat nicht nach dem Handballspiel gefragt und
277
ich habe es nicht erwähnt. Wozu die Stimmung drücken? Luisa und
Finn sind für morgen erneut verabredet, auch wenn sie mir versichert hat, dass sie alles ganz langsam angehen wollen, eben weil sie
noch nicht sechzehn sind. Ich überlege, ob ich Bengü anrufen und sie
fragen soll, ob sie etwas unternehmen möchte, aber mir fällt ein, dass
sie mit ihrer Familie in Urlaub gefahren ist. Stattdessen bemitleide
ich mich also selbst und schäme mich gleichermaßen, dass ich nicht
imstande bin, mich mehr für Luisa zu freuen, und dass ich Milos
Loyalität anzweifle, obwohl es mit Sicherheit eine ganz simple Erklärung gibt, die ich schon noch früh genug erfahren werde.
Die zähen Ferientage, in denen ich nichts zu tun habe und vergeblich
darauf warte, dass sich Milo meldet, damit wir gemeinsam proben,
wollen einfach nicht vergehen. Luisa hat mich überredet, dass wir
uns gemeinsam mit Finn und Dominik treffen, weil es schon länger
her ist, dass wir zu viert verabredet waren, und ich willige nur um
ihretwillen ein, denn die Vorstellung, dass ich mich den ganzen
Abend mit Dominik unterhalten muss, während sie mit Finn herumturtelt, ist nicht gerade prickelnd. Als wäre das nicht schon seelischer
Stress genug, macht Papa am Freitag bereits mittags Feierabend und
kommt mit einer wahren Hiobsbotschaft nach Hause.
»Wir fahren nach Bockenheim zu den Greisers«, teilt er mir mit.
Mama sehe ich sofort an, dass sie bereits davon wusste. »Vickis Vater
hat sich bei mir gemeldet, und wir sind überein gekommen, dass wir
uns als Familien noch mal zusammensetzen. Ich habe ihm als Bedingung genannt, dass wir bei der kleinsten Drohung oder Schuldzuweisung gehen und dass jemand von der Schule als neutrale Mittelsperson ebenfalls anwesend sein muss.«
Hoffentlich Frau Ömsen.
»Dr. Hilmberger hat sich bereit erklärt, ebenfalls dazuzustoßen.«
Bravo. Der war doch schon beim ersten Gespräch völlig überfordert und hat sich von Vickis Mutter komplett unterbuttern lassen.
»Und wenn ich nicht will?«, bocke ich.
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»Molly, wenn sich die Sache außerschulisch regeln lässt und sich
kein Krieg daraus entwickelt, wäre das doch toll«, meint nun Mama.
»Das Ganze war der Vorschlag von Vickis Vater, und vielleicht hat
sich Vicki ja entschlossen, mit der Wahrheit herauszurücken.«
Mutter, ich bitte dich … wie naiv bist du? Ich halte es für wahrscheinlicher, dass die Greisers auch von meinen Eltern ungehörige
Fotos schießen und dann die komplette Familie erpressen.
Da ich wegen der Umstände der vergangenen Tage jedoch gerade
keinen großen Sinn mehr im Leben sehe, bringe ich nicht einmal die
Kraft auf, vehement zu protestieren.
Als wir im Auto sitzen, starre ich schweigend aus dem Fenster.
Vielleicht erweicht ja Mamas Schwangerschaft das Herz dieser abgrundtief bösen Familie, aber ich gehe eher davon aus, dass wir in
eine Todesfalle tappen. Ich hätte niemals gedacht, dass ich je an den
Ort des Geschehens zurückkehren würde, und als wir vor dem Haus
der Greisers halten, pocht mein Herz wild, und unschöne Erinnerungen, die ich in den vergangenen Tagen recht erfolgreich verdrängt
habe, schleichen sich zurück. Als wir das eiserne Tor passieren, werde ich plötzlich regelrecht wütend auf meine Eltern und empfinde es
als psychische Folter, dass sie mich hierher zurückbringen, aber die
Haustür steht bereits offen und es gibt kein Zurück mehr.
Herr und Frau Greiser begrüßen uns gemeinsam. Vickis Vater hat
ein greiser-untypisches warmes Lächeln und schwarze, leicht grau
melierte Haare, die ihn sehr attraktiv machen. Der Vollbart ist perfekt getrimmt und mit seinem blau karierten Hemd und der dunklen
Hose sieht er sehr schick, aber gleichzeitig entspannt aus, und auf
den ersten Blick kann ich mir gar nicht vorstellen, dass er die Ausgeburt des Teufels hervorgebracht hat. Als ich jedoch sehe, dass Vicki
seine schwarzen Augen geerbt hat, schwindet mein Vertrauen gleich
wieder. Die Augen des Vaters, das Lächeln der Mutter – und Frau
Greiser beglückt uns auch sogleich mit selbigem. Anders als bei dem
Gespräch in der Schule ist sie leger angezogen und trägt die Haare
offen, aber ihrer Miene entnehme ich Härte, und ich frage mich, wie
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sie sich von ihrem Mann hat breitschlagen lassen, das Gespräch mit
uns niederen Kreaturen zu suchen. Vielleicht hat er ihr ein neues
Auto gekauft oder ein Diamantencollier.
Als wir den Vorraum des Foyers betreten, stelle ich erleichtert
fest, dass die Toilettentür verschlossen ist. Na, haben Sie das Schloss reparieren lassen?, will ich fragen, aber ich verkneife es mir. Das wäre
kein guter Beginn.
»Es freut uns, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagt Herr
Greiser. »Veronica und mir liegt es sehr am Herzen, dass wir die
ganze Angelegenheit friedlich regeln, und vielleicht gelingt es uns ja,
unsere Töchter ebenfalls davon zu überzeugen … Sie wissen ja, wie
hartnäckig Teenager sein können.« Sein Blick fällt auf Mamas Bauch.
»Hätte ich das gewusst, wären wir vielleicht lieber zu Ihnen gekommen«, bemerkt er freundlich.
»Ich liege ja nicht den ganzen Tag herum«, erwidert Mama sogleich, obwohl das zumindest angesichts der letzten Woche nicht so
ganz wahr ist. »Es tut gut, auch mal herauszukommen.«
Die Greisers führen uns durch das Foyer ins Wohnzimmer, wo
bereits Dr. Hilmberger auf der weißen Couchgarnitur Platz genommen hat. Als er uns sieht, stellt er sein Glas auf den Kaffeetisch, erhebt sich und reicht uns allen die Hand. »Schön, dass Sie es einrichten konnten«, sagt er.
Vickis Mutter setzt sich auf den Ohrensessel am Kopfe des Tisches, auf dem Vicki auf besagter Party gesessen hat. Meine Eltern
und ich nehmen links von ihr Platz, wobei ich zwischen meinen Eltern bleibe; Herr Greiser setzt sich uns gegenüber rechts neben den
Ohrensessel, auf der anderen Seite der Couch sitzt Dr. Hilmberger,
und schließlich gesellt sich auch Vicki zu uns, die sich zwischen den
Schuldirektor und ihren Vater fallen lässt und sich damit mir direkt
gegenüber befindet. Sie ist perfekt gestylt wie eh und je, aber sie
wirkt genauso lustlos wie ich, und das ist vermutlich das Einzige,
was uns in diesem Augenblick verbindet. Ich mustere die Greisers
und stelle fest, dass zum einen beide Eltern sehr gut aussehen, zum
280
anderen Vicki es trotzdem irgendwie geschafft hat, die besten äußerlichen Merkmale ihrer Eltern zu vereinen. Welche Charaktereigenschaften sie von wem geerbt hat, will ich gar nicht wissen. Ich schaue
auf den Kaffeetisch, damit sich unsere Blicke ja nicht treffen.
Auf dem Tisch steht ein rundes Tablett mit Wasser und Säften
und während mein Vater und ich dankend ablehnen, lässt sich meine
Mutter ein Glas einschenken.
»Die Schulleitung hat Gespräche mit allen Mädchen geführt, die
auf unsere Schule gehen und bei Vickis Party waren«, beginnt Dr.
Hilmberger das Gespräch. »Die Direktoren der übrigen Mädchen haben das ebenfalls getan. Wir haben auch mit den Eltern gesprochen,
die alle sehr betroffen waren von dem, was geschehen ist.« Er trommelt mit der rechten Hand unruhig auf seinem Oberschenkel, was
mich ganz nervös macht. »Die Mädchen beharren alle auf Vickis Version der Geschichte«, sagt er dann.
Ich wage es, kurz zu Frau Greiser zu schauen, die zwar keine
Miene verzieht, aber trotzdem ein triumphierendes Funkeln in den
Augen hat.
»Dann weiß ich nicht so recht, was das Ganze hier soll«, werfe ich
ein. Bestimmt wäre es klüger, gar nichts zu sagen und die Erwachsenen reden zu lassen, aber ich kann mich nicht zurückhalten. »Vicki
wird von ihrer Version niemals abweichen und ich nicht von meiner,
so einfach ist das.«
»Warum sollte ich von der Wahrheit abweichen?«, meint Vicki
prompt mit einem Unschuldsblick, der mir nur wieder bestätigt, wie
sehr ich sie verachte. In den Serien und Filmen, die ich ständig
schaue, finde ich das oft unglaubwürdig, wie perfekt die Leute lügen
und betrügen und sich verstellen, ohne dass ihnen jemand auf die
Schliche kommt, aber hier habe ich das leibhaftige Beispiel direkt vor
Augen. Wüsste ich nicht, was tatsächlich geschehen ist, würde ich
Vicki bestimmt ebenfalls glauben. Andererseits habe ich wenigstens
einen Bonus: Ich sage die Wahrheit. Demnach kann ich mich nicht in
Widersprüche verwickeln und brauche mir eigentlich keine Sorgen
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zu machen, wie eine Lügnerin zu wirken.
»Unser Wunsch ist es, die Sache auf sich beruhen zu lassen«, meldet sich nun Herr Greiser zu Wort. »Molly möchte bestimmt vergessen, was geschehen ist, Vicki ebenfalls, und wir würden uns freuen,
wenn auf dem Schulhof Frieden einkehrt und die ganze Angelegenheit keine größeren Kreise nach sich zieht.«
»Dass sich alle von dem Schrecken erholen, liegt uns genauso am
Herzen wie Ihnen«, erwidert Mama. »Aber bei allem Respekt, Herr
Greiser, wir können nicht ignorieren, dass Molly das angetan wurde
– Sie haben die Fotos sicherlich gesehen. Jemand steckt also dahinter.
Warum sollte Molly lügen, eine Unschuldige bezichtigen und somit
den wahren Täter decken?«
»Weil sie den wahren Täter liebt«, beantwortet Vicki ihre Frage.
Ich höre wohl nicht richtig. Milo hat nichts damit zu tun!, will ich
brüllen, aber mir wird bewusst, dass ich damit vor versammelter
Runde meine Gefühle für ihn gestehen würde. »Möchtest du auf
Milo anspielen?«, frage ich also stattdessen.
»Die Lösung liegt doch auf der Hand«, fährt Vicki unbeirrt fort.
»Milo und ich waren beste Freunde, haben uns zerstritten, Molly hat
sich total in ihn verschossen, er wollte mir eins auswischen, und da
Molly alles für ihn tun würde, hat sie sich auf die Foto-Aktion eingelassen. Jetzt steht sie im Mittelpunkt, er ist ihr großer Held, und mein
Ruf ist ruiniert.«
Ich nehme zurück, was ich eben über Vickis Glaubwürdigkeit
festgestellt habe – denn dass irgendjemand diese abstruse Lüge glauben würde, will mir nicht in den Kopf. Wie konnte ich Luisa nur als
meine Rahel bezeichnen? Es ging doch von Anfang an um Vicki, Milo und
mich und dieses komplizierte Liebesdreieck, das an Niveaulosigkeit nur von
zeitgenössischen Vampirromanen überboten werden kann. »Du hast ja so
recht«, sage ich zynisch. »Und anschließend sind wir auf meinem
Einhorn ans Ende des Regenbogens galoppiert und haben dort im
Kessel voller Gold gebadet, um unseren Sieg über dich zu feiern.«
Sogleich ertönt ein entrüsteter Einspruch von Frau Greiser, mein
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Vater versucht gleichzeitig, meine Worte zu entschärfen, meine Mutter spricht mir beschwichtigend zu, allerdings nicht, ohne ein kleines
Grinsen zu unterdrücken, während mein inkompetenter Schulleiter
die Situation nur beobachtet und zu schwitzen begonnen hat. Irgendwie gelingt es Papa schließlich, das Wort an sich zu reißen. Er
startet einen letzten Versuch, ans Gewissen der Greisers zu appellieren. »Ich kenne Vicki nicht«, sagt er. »Ich möchte ihr auch überhaupt
nichts unterstellen. Was ich weiß, ist, dass meine Tochter ein ehrliches und aufrichtiges Mädchen ist, das sich bemüht, ein gutes Leben
zu führen. Ich lege meine Hand für sie ins Feuer, dass sie zu so einer
ungeheuerlichen Intrige niemals bereit wäre. Wenn Sie das Gleiche
über Vicki sagen können, befürchte ich, dass dieses Gespräch tatsächlich nichts bringen wird. Aber ich erwarte«, er blickt Dr. Hilmberger an, »dass an der Schule etwas geschieht, was eine Wiederholungstat an Molly oder irgendeinem anderen Schüler unterbindet.«
»Wir werden gleich am zweiten Schultag nach den Ferien eine
Schulkonferenz haben«, erklärt Dr. Hilmberger rasch. »Wir werden
über das Thema sprechen, es wird von Seiten der Schulleitung eine
Entschuldigung geben, dass überhaupt überall diese Flyer unbemerkt verteilt werden konnten, und Vicki selbst wird als Schulsprecherin einen Vortrag über Mobbing halten und darüber, was die
Schüler tun können, damit sich so etwas nicht wiederholt.«
»Ich tue, was ich kann«, sagt meine Erzfeindin lächelnd.
Ich bin überrascht, dass ihre Mutter ganz und gar nicht begeistert
aussieht. Weder sie noch Vickis Vater äußern sich zu Papas Kommentar, ob sie das Gleiche über ihre Tochter sagen könnten wie er
über mich, und ich gewinne den Eindruck, dass beide einfach nur
möchten, dass das Thema vom Tisch ist, damit sie sich Wichtigerem
widmen können (vermutlich beruflichen Angelegenheiten).
»Na schön«, sage ich. »Aber ich glaube trotzdem daran, dass irgendwann jede Wahrheit ans Licht kommt.« Wir sehen uns vor dem
Jüngsten Gericht.
»Du wieder«, winkt Vicki ab. »Da kommt wohl das strenge Mor-
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monendasein durch.« Ihre Eltern werden hellhörig, meine und Dr.
Hilmberger ebenfalls. »Oh, ich hoffe, das war keine unangemessene
Bemerkung«, sagt sie lachend.
»Da hast du eine etwas falsche Vorstellung«, entgegnet Mama
stattdessen und schafft es irgendwie, ihr herzlich zuzulächeln. Mir
ist natürlich überhaupt nicht danach zumute. Irgendwie hat ein bedrohlicher Unterton in Vickis Stimme mitgeklungen. Ich wusste
nicht, dass ihr bekannt ist, dass ich Mitglied der Kirche bin, und
wenn es ihr nächstes Ziel ist, das zu meinem Schwachpunkt zu machen, weiß ich auch nicht, wie ich angemessen reagieren kann …
mich bloßzustellen, ist eine Sache, aber das Evangelium ist mir so
kostbar, und die Gefahr, dass sie die Kirche ins Lächerliche zieht …
ich will gar nicht darüber nachdenken.
Die Verabschiedung erfolgt kurz und frostig, ohne dass die Unterhaltung noch groß fortgeführt wird – und eigentlich gibt es ja auch
nichts mehr zu sagen, denn jeder hat seinen Standpunkt deutlich gemacht. Mama hievt sich auf den Beifahrersitz und seufzt erst einmal
laut auf. »Was für eine traurige Familie«, stöhnt sie. »Ruf, Ansehen,
gesellschaftlicher Status, nur darum geht es. Von Liebe keine Spur.«
»Könnt ihr mich bei Dominik absetzen?«, bitte ich leise und gehe
nicht darauf ein. »Wir treffen uns dort mit ein paar Leuten.« Vicki
geht mir auf den Keks, ihre Eltern auch, Dr. Hilmberger auch, und
obwohl ich Mama und Papa liebe, bin ich auch mit ihnen ein bisschen beleidigt, dass sie mich zu diesem Gespräch genötigt haben – so
empfinde ich das jedenfalls.
Mama und Papa werfen sich kurz einen Blick zu. »Molly, wir werden das nicht so einfach auf sich beruhen lassen«, sagt Papa dann.
»Das hätten die Greisers wohl gerne, aber wir werfen jetzt bestimmt
nicht das Handtuch.«
Das rührt mich fast, aber meine Eltern werden genauso wenig
ausrichten können wie ich. Da hat Milo mehr Einfluss … aber der ist
wahrscheinlich gerade eifrig dabei, mit Kira zu knutschen.
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Ich bringe mich nicht einmal dazu, meinen fürsorglichen Eltern
für ihren Beistand zu danken. Ich murmele zwar ein »Danke«, als
wir bei Dominik ankommen und ich beim Aussteigen versichere,
dass ich nicht zu spät heimkomme, aber ich schlage die Tür härter zu
als geplant und fühle mich ganz schlecht, als ich klingele. Als mir
Dominiks Vater die Tür öffnet, möchte ich in Tränen ausbrechen.
»Molly!«, ruft er freudig. »Du bist ja schon da! Hast du schon
Abendbrot gegessen oder möchtest du dich zu uns gesellen?«
»Oh, das tut mir leid, ich wollte euch gar nicht beim Essen
stören«, rufe ich, aber er tut es mit eine Handbewegung ab.
»Du bist jederzeit willkommen«, sagt er.
Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und folge ihm in den Wohnbereich, wo Dominik und seine Mutter Samara an einem reichlich gedeckten Tisch sitzen. Dominik hat gerade den Mund voll und winkt
mir zu, seine Mutter erhebt sich sofort und umarmt mich. »Setz dich
doch!«, sagt sie und bietet mir einen Stuhl am Tisch an. »Ich hole dir
einen Teller und Besteck.«
»Das ist wirklich nicht nötig!«, erwidere ich, aber sie ist schon losgedüst und Jochen, Dominiks Vater, hält mir den Brotkorb hin.
»Ganz frisch vom Bäcker!«, schwärmt er.
Samara setzt mir Teller, Glas und Besteck vor und füllt mir unaufgefordert Saft aus einer großen Karaffe ein. »Genießt du die Ferien,
Molly?«, fragt sie. »Was hast du bis jetzt so gemacht?«
Ich frage mich, ob sie von der Vicki-Sache weiß. Dominik hat es
inzwischen mitbekommen, auch wenn ich persönlich nicht mit ihm
darüber gesprochen habe. »Ich … nichts Besonderes«, erwidere ich
und nehme mir nun doch eine kleine Scheibe von dem wohlriechenden Vollkornbrot. »Herumgammeln, was sonst.« Ich zucke mit den
Schultern und bringe sie mit meiner kurzen Antwort zum Lachen.
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor …« Jochen wirft Dominik grinsend einen Blick zu. »Freut mich, dass ihr heute Abend mal
gemeinsam was unternehmt. Sicher, dass ihr hier zu Hause herumhocken wollt? Bei dem Wetter lohnt sich doch auch ein Spaziergang
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in die Stadt.«
»Ihr zwei wollt ja nur den Fernseher blockieren«, mampft Dominik mit Pausbacken und schiebt sich gleich noch einen Bissen Käsebrot hinterher.
Ich genieße die lockere Atmosphäre, die nach dem anstrengenden
Nachmittag bei den Greisers richtig angenehm ist, und lehne mich
auf dem bequem gepolsterten Essstuhl zurück, während ich die liebevollen Kabbeleien der Fischers amüsiert beobachte.
Luisa und Finn kommen gerade an, als wir den Tisch abräumen.
Mir wird irgendwie ganz anders, als die beiden zusammen hereinkommen. Ich erwarte einen neuen Anflug von Eifersucht, doch als
ich Luisa erblicke, überkommt mich plötzliche Erleichterung. Nachdem ich mich Vicki heute stellen musste, sehe ich mich nun meiner
besten Freundin gegenüber, die immer für mich da war, und so überrumpele ich Luisa damit, dass ich ihr um den Hals falle.
»Molly, ist alles in Ordnung?«, fragt sie verwundert, und jetzt erst
merke ich, dass mir Tränen über die Wangen laufen.
Dominiks Eltern sind in der Küche, und Finn und Dominik
hocken auf der Couch, um Neuigkeiten auszutauschen, und so zieht
mich Luisa ein paar Schritte zurück in den Eingangsbereich der
Wohnung. Ganz kurz schildere ich zunächst den seltsamen Besuch
beim Handballspiel und ernte sofort eine Schelte, warum ich ihr erst
zwei Tage später davon erzähle. »Du … du warst doch sicher beschäftigt«, verteidige ich mich.
»Molly!« Ist das blankes Entsetzen in ihren Augen? »Für dich bin
ich nie zu beschäftigt!« Sie packt mich förmlich an den Schultern.
»Molly, du weißt, wie lange ich schon in Finn verknallt bin und wie
lange es gedauert hat, bis er das jetzt endlich mal kapiert hat. Du
warst die ganze Zeit für mich da und hast mit mir darauf gewartet,
dass er endlich zu Potte kommt! Und ich werde mit dir auf Milo warten und bestimmt nicht weniger Zeit für dich haben!«
Ich umarme sie. Die Anflüge von Neid und Eifersucht sind verschwunden. Und mit einem Mal kommt mir ein seltsamer Gedanke:
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Vielleicht war Lea gar nicht ständig neidisch auf Rahel? Immerhin
sind längere Zeiträume in biblischen Berichten ja stets gerafft wiedergegeben. Vielleicht hatten sie sogar die meiste Zeit ein gutes Verhältnis und es herrschte ein liebevolles Band zwischen den Schwestern. Vielleicht kam es für Rahel nicht überraschend, dass zuerst ihre
ältere Schwester vermählt werden sollte, und vielleicht war es für
eine Lea eine große Freude, ihrem Mann so viele Kinder schenken zu
dürfen, nicht, um Rahel eins auszuwischen, sondern weil auch ihr eigenes Verhältnis zu Jakob dadurch gefestigt wurde. Ich kenne nicht
die Kultur und Gepflogenheiten von damals, aber ich weiß, dass ich
meiner besten Freundin von Herzen ihr Glück wünschen möchte,
und ich weiß, dass sie das Gleiche für mich empfindet.
»Alles in Ordnung?«, fragt Dominik verdutzt, als wir zurückkehren und uns zu ihnen setzen.
»Alles bestens«, strahle ich. »Na ja, fast …« Ich ergreife die Gelegenheit und berichte von dem Besuch bei den Greisers, von dem ich
Luisa eben noch gar nichts gesagt habe. Auch wenn dies nicht unbedingt im Geiste christlicher Nächstenliebe geschieht, tut es ganz gut,
dass wir uns gemeinsam über Vicki aufregen und meine Freunde
mich spüren lassen, dass sie auf meiner Seite sind.
Luisa und Finn sitzen nebeneinander, aber ich beobachte nicht
mehr körperlichen Kontakt als sonst. So wie ich die beiden einschätze, werden sie vor Finns Geburtstag auch nicht offiziell zusammenkommen, sondern nehmen sich die Zeit, die sie brauchen. Mir reicht
schon das Wissen, dass Finn endlich Interesse zeigt.
Entspannt will ich mich zurücklehnen, als mein Handy klingelt.
Unbekannt lese ich auf dem Display und gehe ran, ohne mir nähere
Gedanken zu machen.
Die flüsternde dunkle Stimme geht mir durch Mark und Knochen. »Joseph Smith war ein Lügner!«, höre ich, ehe unverzüglich aufgelegt wird.
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24
Z
u Bruder Gepperts am wenigsten gruseligen Unterrichten gehörte eine Lektion im vergangenen Jahr über die Pioniere auf
dem Treck in den Westen. Dass der Unterricht ausnahmsweise spannend war, lag daran, dass Bruder Geppert uns die ganze Zeit Ausschnitte aus dem Film Legacy – das Vermächtnis zeigte und es unterließ, uns mit seinen endlosen Monologen zu langweilen.
Luisa und ich saßen Hand in Hand und tränenüberströmt nebeneinander und kamen aus dem Schluchzen gar nicht mehr heraus, dabei kannten wir beide den Film schon und wussten, was da alles an
dramatischen und traurigen Szenen auf uns zukommen würde. Der
Weg einer jungen Frau, die nur ihre Religion leben wollte und der
ständig alles genommen wurde, ging uns jedoch erneut zu Herzen –
begleitet von einem leichten Unverständnis. Es war doch die Kirche
Gottes, die gerade erst wieder aufgerichtet worden war! Wie konnte
es im Interesse des Herrn liegen, die Heiligen derart zu prüfen und
ihnen wieder und wieder und wieder alles zu nehmen?
Glücklicherweise hatte der Film ein schönes Ende, aber besonders
berührte mich das Zitat von Joseph Smith, das Bruder Geppert zum
Abschluss vorlas: »Keine unheilige Hand kann den Fortschritt dieses
Werks aufhalten; Verfolgung mag wüten, Horden mögen sich zusammenrotten, Armeen mögen aufgestellt werden, Verleumdung mag sich gegen
uns richten, aber die Wahrheit Gottes wird vorwärtsschreiten, unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, bis sie jeden Kontinent durchdrungen, jeden
Breitengrad erreicht, jedes Land überzogen hat und in jedem Ohr erklungen
ist, bis die Pläne Gottes verwirklicht sind und der erhabene Jehova sagt:
Das Werk ist getan.«
Aus diesem Grund brauche ich keine Angst vor Verleumdung zu
haben und davor, dass jemand das Evangelium in den Dreck zieht –
denn es wird letzten Endes siegreich sein.
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Das ist die Theorie.
Ich weiß nicht, ob Vicki persönlich mich bei der Verabredung mit
meinen Freunden anrief und ihre Stimme verstellte oder elektronisch
verzerrte, oder ob sie jemanden dazu überredete – doch dass sie dahintersteckte, daran hatte ich keinen Zweifel, vor allem nicht nach ihrem stichelnden Kommentar, den sie am Ende unseres Besuchs hatte
fallen lassen. Selbst wenn sie nichts dergleichen gesagt hätte, wäre
mein Verdacht auf sie gefallen, aber Vicki liebt es ja, ihren Opfern gegenüber offen zuzugeben, dass es ihre Idee war, nur um vor der
Masse der Nichtsahnenden dann den Unschuldsengel zu spielen.
Luisa, Finn und Dominik konnten gar nicht glauben, was ich ihnen da erzählte. Doch als mein Handy fünf Minuten später erneut
klingelte, stellte ich den Lautsprecher an. Dieselbe Stimme, dieselben
Worte. Sofortiges Auflegen.
Entrüstung, Aufruhr und Verteufelung folgten unweigerlich. Dominik bekam sich gar nicht mehr ein, sprang auf und schlug (ernsthaft!) vor, das FBI einzuschalten. »Oder wie auch immer die hierzulande heißen«, fügte er kleinlaut hinzu.
»Ich lasse mir von ihr nicht den Abend mit euch verderben«, beschloss ich, stellte das Handy auf lautlos und bat meine drei Freunde, kein weiteres Wort über Vicki zu verlieren, aber die Anrufe warfen einen Schatten über den gemeinsamen Abend und jeglicher Versuch, uns zu amüsieren, wirkte aufgesetzt. Als ich nach zwei Stunden einen Blick auf mein Handy warf, sah ich, dass ich sage und
schreibe 40 Anrufe verpasst hatte. Die Nachrichten auf meiner Mailbox löschte ich, ohne sie anzuhören.
Papa war wutentbrannt. Glücklicherweise ist er technisch belesen
und er stellte mir sofort ein, dass anonyme Anrufe blockiert werden.
Einen Tag später begann dann, unser Festnetztelefon zu klingen.
Ausgerechnet Justus war der erste, den es erwischte. »Mormonen sind
Lügner!«, kam es ganz unerwartet. Mein kleiner taffer Bruder war
völlig verunsichert, und meine Rage steigerte sich fast ins Unermessliche. Lass es meinetwegen an mir aus, Vicki, aber lass gefälligst meine Fa-
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milie aus dem Spiel! Auch auf dem Festnetz richtete Papa die Blockade
ein, allerdings zähneknirschend, da es einige aus der Familie und im
Bekanntenkreis gibt, die ihre Rufnummer unterdrücken und uns nun
folglich ebenfalls nicht mehr anrufen können.
Am Montag trudelte der erste Brief ein. Es war nur ein einzelnes
Blatt Papier, auf dem oben in kleinen schwarzen Buchstaben stand:
»Mormonen-Schweine!« Der Brief ging nicht nur an mich, sondern war
an »Familie Bach« gerichtet. Auf dem Umschlag stand kein Absender
und Mama hatte mit einem Werbeschreiben gerechnet, umso größer
war der Schock, als sie die Beleidigung las. Irgendwie schaffte sie es
jedoch, die Fassung zu wahren, aber als Papa nach der Arbeit heimkam, brach sie dann doch in Tränen aus. Ich war gar nicht daheim,
sondern mit Luisa verabredet, und als ich abends davon erfuhr, war
wiederum ich diejenige, der sofort die Tränen kamen. Ich überhäufte
mich selbst mit Vorwürfen, denn dass das alles mit dem Mobbing an
der Schule zusammenhing, daran zweifelte keiner, nur dass sich der
Kreis der Opfer auf meine Familie ausweiten würde, damit hätte ich
nie im Leben gerechnet. Als meine Eltern mich leiden sahen, wurde
ihnen sichtlich das Herz schwer, sie drückten mich an sich und versicherten mir, dass nichts davon meine Schuld sei. »Wir sind deine Familie!«, verkündete Mama fest. »Und wenn wir diese Last mit dir gemeinsam tragen können, dann tun wir das erhobenen Hauptes!«
Ich war bewegt und dankbar für die Unterstützung meiner Eltern, nur wirkte die Last leider nicht spürbar leichter. Tags drauf war
der ganze Briefkasten voll. Mama wollte die Briefe als Beweismittel
behalten, aber Papa bestand darauf, sie ungeöffnet zu entsorgen.
Dann meldete er sich bei der Polizei, schilderte die gegenwärtige Situation und erfuhr, dass in solchen Fällen mehr als eine Anzeige gegen Unbekannt leider nicht drin sei. Der Polizeibeamte war freundlich, aber somit letztlich keine große Hilfe.
Abends saßen wir als Familie zusammen und berieten, wie wir
vorgehen und uns verhalten sollen, und Justus war derjenige, der relativ schnell die plausibelste Lösung nannte: »Ihr sagt mir doch im-
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mer, wenn mich jemand ärgert, soll ich das nicht beachten und irgendwann verliert der dann das Interesse daran.« Meine Eltern und
Sophie waren berührt, nickten und es gab eine große Familienumarmung, ich hingegen fühlte mich leer und unzufrieden. Es reicht mir
nicht, Vicki zu ignorieren, durchzuckte es mich. Ihr muss ein für alle Mal
das Handwerk gelegt werden. Aber wie? Die Pioniere in Legacy erduldeten ihr Leid und blickten nach vorn, ich hingegen verspürte in diesem Augenblick mehr denn je den Wunsch, die Waffen zu ergreifen
und meinen Gegnern offensiv den Garaus zu machen … nur dass
Gott mich dabei unterstützt, damit kann ich wohl eher nicht rechnen.
Kommenden Montag geht die Schule wieder los. Nun hatte ich
insgesamt drei Wochen, um die furchtbare Geschichte mit Vicki
halbwegs zu verarbeiten, aber sie hat sich in den vergangenen Tagen
ja äußerst angestrengt, um in meinem Leben präsent zu bleiben. Ich
sehe es schon kommen, dass ich ihr ein zweites blaues Auge verpasse. Und damit tue ich bestimmt wieder genau das, was sie will –
denn dann bin ich wieder das unbeherrschte böse Mädchen, das sich
nur mit Fäusten zu helfen weiß. Aber allein mir vorzustellen, wie sie
mich freundlich anlächelt und als Schulsprecherin dann noch großkotzig herumtrötet, wie schlimm Mobbing doch ist, treibt mich zur
Weißglut.
Heute Vormittag hat Milo angerufen und sich erkundigt, ob wir proben wollen. Die letzten paar Tage hatten wir eher sporadischen Kontakt, und so richtig habe ich seine Nähe auch gar nicht gesucht, da
mir die seltsame Episode von vergangener Woche einfach nicht aus
dem Kopf gehen wollte. Eine Probe hingegen ist eine willkommene
Abwechslung zu den jüngsten Ereignissen, und genau das tat ich
ihm auch kund, woraufhin er natürlich gleich nachhakte, was los sei.
Als ich ihm von den Anrufen und Briefen erzählte, ließ er bestürzt
ein paar Beschimpfungen über Vicki fallen und schlug vor, dass ich
ihn besuchen komme. Sofort vergab ich ihm meinen Verdacht mit
Kira, allerdings nur für die Länge des Telefonats, denn nachdem ich
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auflegte, kamen Verwirrung und Zweifel und die Angst, er könne etwas mit Kira am Laufen haben, zurück.
Zudem war ich noch nie bei Milo und werde ganz nervös bei dem
Gedanken, seine Familie zu treffen und sein Zimmer zu sehen. Diese
lästige Aufregung, gepaart mit dem seelischen Tohuwabohu wegen
der Anrufe und Briefe, macht mich mal wieder zu einem nervlichen
Wrack. In der U-Bahn drehe ich meinen mp3-Player auf volle Lautstärke und schließe die Augen in der Hoffnung, auf andere Gedanken zu kommen, aber die Zufallseinstellung wählt ausgerechnet die
Lieder aus, die textlich meinen Gemütszustand auch noch hervorragend unterstreichen. Ich spule vor von »This could be perfect if I wasn’t
worthless« zu »I’m dying, praying, bleeding and screaming« und stelle
fest, dass ich eine ernsthafte Inventur meiner Playlist vornehmen
sollte. Schließlich spiele ich das aktuelle EFY-Album ab, wofür ich
gerade überhaupt nicht in Stimmung bin, aber immerhin zieht es
mich nicht noch weiter runter, und als ich bei der Adresse in Bornheim ankomme, die Milo mir genannt hat, habe ich mich wieder ein
bisschen gefangen.
Da Milo erzählt hat, seine Familie und die Greisers wären früher
Nachbarn gewesen, bin ich von dem leicht heruntergekommenen
Wohnhaus überrascht. Ich hätte eher ein ähnlich protziges Haus erwartet – nun, das Viertel ist schon in Ordnung und absolut kein sozialer Brennpunkt, aber die Außenfassade ist leicht rissig, das Gelb
weniger ansehnlich und auch leicht verdreckt. Ich klingele, aber statt
einer Stimme über die Gegensprechanlage werde ich direkt hineingebuzzt und laufe langsam durch das muffige Treppenhaus nach
oben, nichtsahnend, wohin ich muss. Bereits im zweiten Stock lugt
Milo aus der Wohnungstür und empfängt mich mit einem breiten
Lächeln. Er ist wieder ganz der Alte, sage ich mir, bin mir jedoch bewusst, dass es mehr eine Hoffnung ist als eine Feststellung.
Kaum hat er mich begrüßt und hineingelassen, kommt eine Frau
aus einem der Zimmer und trocknet sich gerade die Hände an einem
Geschirrtuch. Sie ist sehr klein und hat unbändige schwarze Locken,
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die ihr zu allen Seiten abstehen, und abgesehen von der Haarfarbe
entdecke ich keine sonderlich große Ähnlichkeit zu Milo, aber sie lächelt herzlich und spricht mich gleich mit Namen an. »Milo hat
schon so viel von dir erzählt, wir haben uns gefragt, wann wir dich
zu Gesicht bekommen!« Ihr Deutsch ist gut, doch kann man einen
osteuropäischen Akzent hören und sogleich flüstert sie ihrem Sohn
etwas auf Kroatisch zu, woraufhin er errötet. »Viel Spaß euch beiden«, fügt sie hinzu und zieht sich so schnell, wie sie aufgetaucht ist,
wieder zurück.
Die Wohnung ist nicht sonderlich riesig, aber, soweit ich es beurteilen kann, gemütlich. Es gibt keinen offenen Wohnbereich, sondern
vom langen, relativ breiten Flur gehen rigoros alle Zimmer ab. Milo
nimmt sich nicht viel Zeit, mich groß herumzuführen. Er deutet im
Vorbeigehen lediglich auf die verschiedenen Zimmer und sagt dabei
kurz »Küche … Wohnzimmer … Gästetoilette … Schlafzimmer meiner Eltern … großes Bad … Zimmer meines Bruders …«
Er hat einen Bruder? »Davon wusste ich ja noch gar nichts«, werfe
ich gleich ein. »Seit wann hast du denn einen Bruder?«
Milo lacht. »Seit immer«, erwidert er und erklärt, dass sein Bruder drei Jahre älter ist und in Frankfurt studiert, sich aus Kostengründen jedoch keine eigene Wohnung sucht. »Der soll endlich mal
ausziehen, damit ich sein Zimmer haben kann«, fügt er hinzu.
Die allerletzte Tür hinten rechts in der Ecke führt in Milos Reich.
Das Zimmer ist tatsächlich ziemlich klein, aber toll eingerichtet. Milo
hat ein Hochbett aus massivem Holz, darunter befindet sich ein
Schreibtisch mit PC. Der Kleiderschrank ist kombiniert mit einem
Regal, in dem sich ein kleiner Fernseher befindet. An der Wand gegenüber steht ein kleiner, dunkelbrauner Ledersessel, der schon
ziemlich abgesessen wirkt, aber irgendwie gemütlich und stylisch
aussieht. Milo gewinnt augenblicklich an Ansehen, wie »erwachsen«
sein Zimmer ist – keine albernen Poster, Comics oder was man sonst
bei einem Jungen in seinem Alter erwarten würde. In dem Regal stehen neben etlichen Büchern zwei Handballpokale, und das einzige
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Bild im Zimmer, das über dem Sessel hängt, ist irgendein abstrakter
Kunstdruck, der optisch hervorragend mit den Möbeln harmoniert.
»Wow«, staune ich. »Du hast es hier aber schön!«
»Nicht wahr?«, erwidert er selbstgefällig und lässt sich auf den
Sessel fallen. »Der hier ist vom Sperrmüll«, erklärt er. »Ich habe meine Mutter regelrecht gezwungen, anzuhalten, damit ich ihn mitnehmen kann. Sie hat darauf bestanden, ihn fünfmal zu desinfizieren,
aber immerhin hat sie sich breitschlagen lassen.« Er verschränkt die
Hände hinter dem Kopf und lehnt sich genüsslich zurück, allerdings
nur für zwei Sekunden, ehe sein Gesicht plötzlich ernst wird. »Jetzt
erzähl bitte noch mal von diesen Briefen!«
Ich seufze und berichte von den schwierigen letzten paar Tagen,
angefangen bei dem Besuch bei Greisers vor einer Woche, bei dem
Vicki nur einen kleinen hämischen Kommentar über die Kirche fallen ließ. »Dass das solche Formen annimmt … damit hätte ich auch
nicht gerechnet.«
Milo wirkt nachdenklich. Ich habe mich auf den Boden zu seinen
Füßen gehockt (eigentlich frech, dass er mir nicht den Sessel angeboten hat), und als ich ihn beobachte, erinnere ich mich an das Bild von
vergangener Woche, wie er sich vormittags so seltsam verhielt und
dann bei dem Handballspiel am Nachmittag plötzlich wieder bestens gelaunt war, als er sich ausgerechnet mit Kira unterhielt – wovon ich ja offiziell gar nichts weiß.
Ich beschließe, aufs Ganze zu gehen. »Wer weiß, ob die Anrufe
und Briefe überhaupt Vickis Idee waren«, überlege ich laut. »Das
Foto damals hat ja auch Kira geschossen, nicht sie. Vielleicht hat
Vicki sie ja wieder engagiert.«
Ich sehe es ihm sofort an - ein seltsames Flackern glimmt in seinen Augen auf, ausgelöst durch diesen Namen. »Aber Drahtzieher ist und bleibt
doch sicher Vicki«, meint er vorsichtig nach einem kurzen Schweigen.
»Ja … aber das spricht ihre Freundinnen nicht frei von Schuld«,
erwidere ich. »Ich werde nie vergessen, wie freundlich und nett mich
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Kira behandelt hat, nur um mir dann dermaßen in den Rücken zu
fallen … das war wirklich das Allerletzte.« Ich wende meinen Blick
nicht von ihm ab. »Außerdem meintest du doch selbst, sie sei genauso schlimm wie Vicki, oder habe ich das falsch in Erinnerung?«
Er fühlt sich unwohl. Aber gleichzeitig versucht er, es zu überspielen. Du brauchst dich nicht vor mir zu verstellen!, will ich rufen.
Was auch immer da läuft, es gibt bestimmt eine ganz simple und logische
Erklärung … nur sag sie mir doch!
Aber Milo schweigt. Schließlich steht er auf, öffnet den Kleiderschrank und holt das Shirt mit dem Aufdruck TEAM MOLLY heraus,
das er, Chris, Timon und Rik bei der letzten Probe getragen haben.
»Das ziehen wir die ganze nächste Woche an«, sagt er und lenkt damit praktischerweise vom Thema ab. »Ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir so am meisten erreichen, Molly. Mit einer Gegenintrige schüren wir das Feuer nur, auch wenn die Versuchung vielleicht
groß ist, ihr eins auszuwischen.«
Ich bin einerseits gerührt, dass er mir nach wie vor das Gefühl
gibt, für mich kämpfen zu wollen und auf meiner Seite zu stehen –
andererseits verheimlicht er mir etwas, und es hat mit Kira zu tun,
und dieser Verdacht macht mich ganz wahnsinnig.
Milo schlägt vor, dass wir uns Jane und Mr. Rochester widmen
und setzt sich neben mich auf den Teppich, nachdem er sein Skript
vom Schreibtisch geholt hat. Mir gelingt es auch ganz gut, mich auf
das Theaterstück zu konzentrieren, was mitunter daran liegt, dass es
mir automatisch besser geht, wenn ich die ergreifendste Romanze
der Literaturgeschichte lebendig werden lasse und mich darin verliere, anstatt an Vicki oder Kira zu denken. Ich genieße also Mr. Rochesters Aufmerksamkeit, und nachdem wir gute zwei Stunden geprobt
und diskutiert und erörtert und interpretiert und analysiert haben,
stellen wir fest, dass wir wirklich gute Arbeit leisten. »Ich kann es ja
kaum erwarten, Frau Ömsen zu zeigen, wie sich unsere Figuren entwickelt haben«, ist Milos begeistertes Fazit, dem ich mich nur anschließen kann.
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Milos Mutter schaut ins Zimmer und fragt mich, ob ich zum
Abendessen bleiben möchte, aber ich lehne dankend ab – es ist ein
nettes Angebot, aber irgendwie wäre mir das heute zu viel des Guten. Ich teile Milo mit, dass ich aufbrechen muss, und als wir sein
Zimmer verlassen, begegne ich prompt dem Rest der Familie. Milos
Bruder Roman kommt uns im Flur entgegen – ich bin entzückt, denn
er sieht mindestens genauso gut aus wie Milo, ist aber im Gegensatz
zu seinem jüngeren Bruder allem Jungenhaften entwachsen und
sieht nicht zuletzt durch den 3-Tage-Bart äußerst männlich aus.
»Molly – Roman, Roman – Molly«, stellt Milo uns im Vorbeigehen vor.
Sein Bruder mustert mich. »Die berühmte Molly. Sie existiert also
wirklich«, sagt er scherzhaft und erntet ein genervtes Kopfschütteln
von Milo. Ich hingegen fühle mich geschmeichelt, dass Milo seiner
Familie offensichtlich von mir erzählt hat. Und wenn er in ein paar
Jahren so aussieht wie sein Bruder …
Roman verschwindet in seinem Zimmer, und wir passieren das
Wohnzimmer, wo Milos Vater auf der Couch sitzt und Zeitung liest,
jedoch nicht aufblickt. Nun weiß ich, von wem Milo die markanten
Gesichtszüge hat, wobei sein Vater recht grimmig dreinschaut und
Milo sich auch gar nicht die Mühe gibt, ihn zu begrüßen oder mir
vorzustellen, sondern mich direkt zur Tür bringt.
»Molly, lass dich nicht unterkriegen, okay?«, sagt er, bevor er
mich zum Abschied umarmt. »Hab keine Angst vor Montag. Deine
Bodyguards stehen hinter dir und neben dir und vor dir.«
Ich bedanke mich und mache mich nachdenklich auf den Heimweg. Milo war gut gelaunt und wieder ganz er selbst, aber dieses
seltsame Gefühl, was ihn und Kira betrifft, hat mich nicht verlassen.
Irgendetwas kommt da noch auf mich zu, und ich weiß gar nicht, ob
ich dafür bereit bin.
Als ich nach Hause komme, finde ich Mama in der Küche völlig aufgebracht vor. Auf dem Küchentisch vor ihr liegt ein ganzer Stapel
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Briefe. »Fünfzehn«, sagt sie. Fünfzehn neue Hassbriefe! Wenn die Portokosten wenigstens hoch wären und Vicki verarmen würde, aber
bestimmt hat sie das Geld für die Briefmarken aus dem Portemonnaie ihrer Mutter gestohlen. Mama versucht, sich abzuregen, aber
wahrscheinlich tun die Schwangerschaftshormone ihr Übriges, sodass es ihr nicht gelingt, die Fassung zu wahren und Justus’ Beschluss, das alles nicht an uns heranzulassen, zu befolgen. Von einer
zur anderen Sekunde ist Mama plötzlich den Tränen nahe. Der Anblick macht mich so wütend, dass ich die Briefe an mich reiße, ein
Küchenmesser nehme und beginne, jeden einzelnen zu öffnen. »Was
machst du denn?«, ruft Mama aus, aber ich reagiere gar nicht. Jeden
Satz sauge ich in mir auf in der Hoffnung, dass die Angst und Last
auf mich alleine übergeht und Mama nichts davon mittragen muss.
Die diffamierenden Zeilen sind nicht einmal albern, sondern klingen
wirklich bedrohlich und böse, als hätte sich jemand mit der Kirche
beschäftigt und wüsste genau, welche Punkte uns Mitgliedern nahegehen würden. Ein Brief zielt überhaupt nicht auf die Kirche als solches ab, sondern dort steht doch tatsächlich: »Jesus Christus war eine
Witzfigur.« Es lässt sich nicht mit Worten beschreiben, wie schmerzhaft sich diese seelische Ohrfeige anfühlt. Ich gebe einen (vermutlich
lächerlich klingenden) Kampfschrei von mir, zerknülle den Brief und
werfe ihn zu Boden, bevor ich mit aller Macht wieder und wieder
draufstampfe, ehe ich ihn aufhebe, in die Ecke pfeffere und in dem
Wirrwarr aus Papieren und Briefumschlägen auf den Boden sinke.
»Molly!« Mamas Stimme ist sanftmütig, aber ich möchte gar nicht,
dass sie mich tröstet. Ich sollte sie trösten. Sie sollte überhaupt nicht
darunter zu leiden haben. »Molly!« erklingt es erneut. Ich schaue auf
und Mama hat sich direkt vor mich gekniet. »Das braucht uns gar
nicht wehzutun!«, sagt sie, obwohl ihr selbst die Tränen über das Gesicht strömen und ich genau weiß, wie sehr sie das alles trifft. »Er hat
das doch schon für uns getragen!« Sogar jetzt geht es ihr um mein
Wohl, nicht um ihr eigenes.
»Ich weiß«, schluchze ich. »Ich bin so verdammt wütend und vor
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allem so hilflos. Ich will, dass Vicki dafür leiden muss, aber eigentlich will ich am meisten, dass das alles einfach nur vorbei ist.« Ich
reibe mir die nassen Wangen mit dem Handrücken trocken. »Und eigentlich dachte ich auch, dass es vorbei wäre und ich alles einigermaßen verarbeitet habe … und da setzt sie noch einen oben drauf.«
Mamas Blick ist von Schmerz und Mitleid gekennzeichnet. Sie ist genauso überfordert wie ich – sie kann ihrer Tochter nicht helfen, und
vielleicht macht es das für sie noch schlimmer als für mich. »Mama
…« Ich ergreife ihre Hände. »Du weißt gar nicht, wie viel es mir bedeutet, dass ihr für mich da seid. Das hilft mir wirklich ungemein!«
Ich schmiege mich an sie. Ich weine, sie weint, wir halten einander fest und lassen unsere Wut und Verzweiflung raus. Als ich mich
löse, geht es mir besser. Ich habe das Gefühl, zumindest einen Teil
des Schmerzes rausgelassen zu haben, und gerade möchte ich mich
bei Mama erneut bedanken, da sehe ich ihr an, dass etwas nicht in
Ordnung ist. »Mama?«
Sie ist bleich geworden und hält beide Hände fest auf den Bauch.
»Molly, irgendetwas stimmt nicht«, sagt sie, ehe sie hektisch zu atmen beginnt und dann plötzlich das Gesicht schmerzhaft verzieht.
»Ruf bitte Papa …«
Doch ich bin wie gelähmt und kann mich nicht vom Fleck rühren.
Entsetzt starre ich auf den Fliesenboden, wo sich unter Mama eine
kleine Lache bildet. Nicht jetzt, denke ich panisch. Es sind doch noch
über drei Monate bis zum Stichtag … und das ist definitiv kein Fruchtwasser – das ist Blut. Mir wird schummerig.
»Molly!« Mama wird lauter. »Ruf deinen Vater! Sofort!«
Benebelt springe ich irgendwie auf, greife nach meinem Handy
und rufe Papa an, der glücklicherweise gleich nach dem ersten Klingeln abnimmt. »Mama«, bringe ich nur heraus. »Sie blutet … du
musst sofort herkommen!«
Ich weiß nicht, welchen Sprint Papa hingelegt hat, aber er steht keine
fünf Minuten später vor der Haustür. Ich habe Mama bereits ins
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Auto verfrachtet und werfe Papa nur die Schlüssel zu, ehe ich auf die
Rückbank springe und es irgendwie schaffe, mich trotz zitternder
Hände anzuschnallen.
Fünf weitere Minuten vergehen, ehe Papa mit dem Wagen vor
dem Marienkrankenhaus hält. Ich steige aus, öffne die Beifahrertür
und hieve Mama heraus, die allerdings wieder ganz gut bei Kräften
wirkt und meine Stütze kaum braucht. Sie sagt Papa, dass er den
Wagen parken soll und lässt sich von mir in den Eingangsbereich begleiten. Ab und zu zuckt ihr Gesicht, als hätte sie Schmerzen, aber sie
geht aufrecht und die Blutung hat wohl aufgehört.
Papa hatte von unterwegs bereits im Hospital angerufen, und
eine Krankenschwester steht mit Rollstuhl bereit und nimmt Mama
mit. Ich bleibe hilflos und allein zurück und beginne erneut zu weinen, weil ich keine Ahnung habe, was ich tun soll. Hektisch wirkt
das Geschehen um mich herum gar nicht, aber keinen interessiert
das heulende Mädchen im Foyer, das sich verzweifelt umsieht und
nicht weiß, wie es sich verhalten soll. Als Papa endlich an meiner Seite ist, klammere ich mich fest an ihn, während er mit der Krankenschwester am Empfang spricht. Ich höre überhaupt nicht hin, was
die beiden miteinander besprechen und bekomme nur mit, dass Papas Ton ungehalten ist, die Dame jedoch geduldig und ruhig auf ihn
eingeht. Kann nicht endlich mal ein Arzt herkommen und erklären,
was die Sachlage ist?! Und uns am besten gleich sagen, dass mit
Mama alles in Ordnung ist und wir uns keine Sorgen zu machen
brauchen? Meine Knie zittern vor Anspannung, aber die Angst und
innere Aufruhr sind nicht die einzigen Gefühle. Die Wut in meinem
Herzen steigt immer mehr an, bis ich schließlich beide Hände zu
Fäusten balle. Das ist alles Vickis Schuld, denke ich immer wieder. Sie
muss dafür bezahlen. Kurz überlege ich ernsthaft, mich von Papa loszureißen, nach Bockenheim zu fahren, Vicki aufzulauern und mich
ihrer mit einem Brecheisen anzunehmen (woher auch immer ich mir
das nehmen soll).
Eine andere Krankenschwester nimmt uns mit in einen kleinen
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leeren Warteraum und versichert uns, dass gleich ein Arzt kommt
und uns über Mamas Zustand Bescheid gibt. Papa und ich fallen auf
eine gepolsterte, aber trotzdem unbequeme Doppelbank und ich
schmiege mein Gesicht an seine Schulter, während er mich mit beiden Armen festhält und mir mit der einen Hand sanft über den Kopf
streicht. Keiner von uns sagt etwas, stattdessen schweigen wir in der
Hoffnung, dass man uns sagt, was los ist, damit die quälende Warterei endlich ein Ende hat.
Gerade als ich mich ein wenig von ihm löse und rummeckern
will, wo der blöde Arzt bleibt, kommt ein hochgewachsener, recht
junger Mann in weißem Kittel um die Ecke in den Raum. Die rehbraunen Augen hinter der schwarzgerahmten Brille wirken freundlich, auch wenn er die hohe Stirn gerunzelt hat. Immerhin lächelt er.
»Herr Bach?«, fragt er Papa.
Papa nickt rasch und gemeinsam erheben wir uns.
»Dr. Wolfert.« Er reicht erst Papa, dann mir die Hand.
»Es geht sowohl Ihrer Frau als auch dem Baby gut«, verkündet er
zunächst das, was mich hörbar aufatmen lässt, und auch Papa steht
die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, wenngleich seine Augen
glasig werden, er die Brille abnimmt und sich eine Träne fortstreicht.
Der Arzt erklärt recht technisch, aber im einfühlsamen Tonfall
von irgendeiner Fehllage der Plazenta, dass es glücklicherweise in
ihrem Fall nicht so ernst sei und es bei Mama sogar eher danach aussehe, dass sie im Laufe der übrigen Schwangerschaft wieder »an die
richtige Stelle rutschen« wird (ich glaube, ich will niemals schwanger
werden …). »Sie braucht allerdings fürs Erste strikte Ruhe und sollte
im Bett bleiben«, ordnet er an und will ihr ein paar wehenhemmende
Medikamente verschreiben. »Körperliche Anstrengung sowie jedwede innere Aufregung sind bitte zu vermeiden«, fügt er hinzu.
Erklären Sie das mal Vicki Greiser, will ich ihm entgegenspucken,
aber der arme Mann tut ja sein Bestes.
Ein Blick auf die Uhr verrät, dass wir inzwischen doch eine geschlagene Stunde hier sind (obwohl mir die Wartezeit sogar noch er-
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heblich länger vorkam), und als er uns endlich in das Behandlungszimmer zu Mama mitnimmt, stelle ich erleichtert fest, dass sie viel
besser aussieht, wieder Farbe im Gesicht hat und uns anlächelt.
Papa küsst sie und verliert ein bisschen die Fassung, doch er reißt
sich zusammen und schimpft lediglich mit rauer Stimme: »Mach das
nie wieder!«
Ich dränge mich dazu. »Seh ich auch so«, stimme ich ihm zu.
»Warum musst du uns nur so einen Schrecken einjagen?«
»Frau Bach, wenn solche Blutungen erneut auftreten, sollten Sie
uns unverzüglich aufsuchen«, erklärt der Arzt und fachsimpelt dann
noch mit Mama und Papa, was ich allerdings ausblende. Mir ist nur
wichtig, dass es meiner Mutter wieder besser geht und sie sich
schnell erholt.
Gleichzeitig kann ich die Schuldgefühle nicht abschütteln. Was
tue ich meinen Eltern nur mit meinen Problemen an? Was tut Vicki
ihnen nur an? Und wie kann sie so gleichgültig sein? Wenn ihretwegen das Baby irgendeinen Schaden nimmt … ich will den Gedanken
überhaupt nicht fortspinnen.
Als wir endlich heim dürfen, nachdem der Arzt lang und breit erklärt hat, wie Mama sich verhalten soll und was sie wann wie lange
einnehmen muss, möchte ich am liebsten nur noch ins Bett, dabei ist
es erst kurz nach acht. Papa kümmert sich fürsorglich um Mama, die
davon jetzt schon ein bisschen genervt ist und behauptet, sie sei kein
kleines Kind und könne sich durchaus selbst hinlegen. Während die
beiden (liebevoll) diskutieren und Sophie und Justus über die Situation aufklären, säubere ich den grässlichen, angetrockneten Blutfleck
auf dem Küchenboden und rege mich darüber auf, dass sich meine
Geschwister noch nicht darum gekümmert haben. Aber eigentlich
bin ich gar nicht wütend auf sie, sondern auf Vicki, die Ursache für
diese ganze Misere. Mit der Flyer-Aktion hatte sie die Grenze bereits
deutlich überschritten, nun hingegen ist das Fass nicht nur voll, sondern läuft förmlich über, und ich bin nicht länger bereit, meine Eltern
leiden zu sehen.
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Ich greife mir den Stapel Briefe vom Küchentisch und laufe dann
nach draußen, wo ich aus der Altpapiertonne alle Briefe fische, die
ich erwischen kann, sogar diejenigen, die meine Eltern zerknüllt haben. Flink lauf ich auf mein Zimmer, ehe mich jemand erwischen
kann, und verstecke die Briefe in meiner Schreibtischschublade.
Dienstag, verspreche ich mir, Dienstag ist alles vorbei. Mein Plan ist
völlig irrsinnig und ich werde mir großen Ärger mit der Schulleitung
einhandeln, aber darauf kann ich keine Rücksicht mehr nehmen.
Im Film Legacy gehört Johnny, der Bruder der Hauptfigur Eliza,
zu denjenigen, die von der Verfolgung durch den Pöbel dermaßen
die Schnauze voll haben, dass sie die Waffe ergreifen und sich verteidigen. Das Bild, wie Eliza über ihrem erschossenen Bruder kauert
und gemeinsam mit ihrer Schwägerin um den Verlust trauert, ist mir
besonders nahe gegangen. Er wollte sich doch nur verteidigen … und
musste dafür mit seinem Leben bezahlen.
Nun, ich weiß nicht, wie der Preis aussehen wird, den ich zahlen
muss, aber eines weiß ich: Die Sache muss ein Ende nehmen, und ich
muss selbst dafür sorgen. Wenn man geärgert wird, soll man es nicht beachten, hat mein kluger Bruder gesagt. Damit hat er recht, aber zu
viel ist passiert. Keine unheilige Hand kann den Fortschritt des Werkes
aufhalten … Nein, das Werk Gottes wird Vicki mit ihren gemeinen
Attacken keineswegs aufhalten. Aber auch meinem persönlichen
Glück wird sie nicht länger im Wege stehen, dafür werde ich eigenhändig sorgen. Ich werde das Gewehr heben und abfeuern, wenn es
sein muss, und wenn sie mich mit in den Abgrund reißt, dann ist
dem so, aber wenigstens ist sie endgültig gestürzt.
303
25
A
b welchem Punkt wird ein Verteidigungskrieg zum Rachefeldzug? Im Buch Mormon lesen wir ja, wie Hauptmann Moroni
das Motiv seines Volkes erläutert, warum es in den Krieg zieht, und
es gutheißt, weil es darum geht, Land, Familie und Freiheit zu verteidigen. Wenn man angegriffen wird, darf man zurückschlagen. Gab
es unter den Kriegern auch welche, die zwar aus diesen Gründen
kämpften, aber so wütend auf die Lamaniten waren, dass sie auf gewisse Weise Freude am Blutvergießen verspürten?
Es klingt wie ein Widerspruch, das weiß ich. Aber auf der einen
Seite liegt es mir am Herzen, dass meine Familie nicht länger unter
dem leiden muss, was mir angetan wurde. Dass Papa die Telefonblockade aufheben kann und keiner Angst haben muss, die Post aus
dem Briefkasten zu holen. Und dass es an der Schule keine ähnlichen
Opfer wie mich gibt. Auf der anderen Seite … verspüre ich einen regelrechten Blutdurst. Ich will, dass Vicki leidet. Ich will sie bloßstellen,
erniedrigen und sie das empfinden lassen, was ich ihretwegen
durchgemacht habe. Mir ist bewusst, dass ich damit nicht besser bin
als sie selbst – aber ich habe die Entscheidung gefällt, und ich sehe
auch keinen anderen Ausweg. Nachdem die Aufregung dazu beigetragen hat, dass Mama ins Krankenhaus gekommen ist, muss etwas
geschehen. Die Schulkonferenz zum Thema Mobbing, die morgen
stattfinden wird, habe ich als geeigneten Zeitpunkt festgelegt, aber
ich habe mit niemandem über meinen Plan gesprochen, nicht einmal
mit Luisa. Die hat morgen nämlich Geburtstag, und es tut mir bereits
jetzt schon leid, dass ich ihr den ganzen Tag versauen werde, doch
ich muss diese Chance ergreifen, denn eine zweite, bei der die ganze
Schule versammelt ist, bietet sich mir nicht so schnell wieder … und
wer weiß, ob sich Vicki nicht sogar schon neue Intrigen ausgedacht
hat, die demnächst auf mich warten.
304
Beim Ankleiden fällt mein Blick ständig auf meine Schreibtischschublade, in der all die Hassbriefe liegen, die ich aus dem Altpapier
gefischt habe. Ob heute ein paar weitere dazukommen? Je mehr es
sind, desto größer der Effekt. Ich spüre innere Ungeduld.
Einen Tag noch, sage ich mir. Solange hältst du es noch aus.
Ich beruhige mich und lenke meine Gedanken auf Bengü, die in
den Ferien verreist war; ich freue mich, sie endlich wiederzusehen,
auch wenn sie mit allem, was während ihrer Abwesenheit passiert
ist, bestimmt erst einmal überfordert ist. Ich bin auch gespannt, wie
sich Lizzy verhalten wird, erwarte jedoch keine große Änderung. Sie
weiß zwar, was recht ist und was falsch, aber sie genießt ihre neue,
oberflächliche Freundschaft mit Vicki zu sehr, um es zu bereuen,
Bengü und mich links liegen gelassen zu haben.
Mama schläft noch, und ich gestehe, dass ich bei Papas Wiedereinstieg ins frühmorgendliche Seminar nicht ganz bei der Sache bin.
Sophie setzt sich im Anschluss in die Küche zu Justus, um zu frühstücken, ich hingegen breche auf. Milo hat mir gestern kurz durchgegeben, dass ich pünktlich in der Schule sein soll, damit er und die
Jungs mich wie bei der Theaterprobe abholen und sich als meine persönliche Leibgarde aufspielen können – und den Spaß möchte ich ihnen keineswegs verderben. Je mehr ich Vicki zu verstehen geben
kann, dass ich nicht alleine bin, desto besser, gerade weil es ja Milo
ist, den sie selbst mag. Ob sie weiß, dass da irgendwas mit Kira ist?
Die wiederum ist doch auch ihre Freundin – und sollten die beiden
sich zerstritten haben, wäre Kira dann nicht bereit, zu meinen Gunsten auszusagen? Au weia, das wird echt immer komplizierter. Ich sollte
nicht mehr darüber nachdenken, das bekommt mir nicht.
Tatsächlich erwartet mich am Schultor ein déjà-vu. Gemeinsam
mit Rik, Chris und Timon steht dort Milo. Es ist warm heute und sie
tragen unter dem T-Shirt kein weiteres Shirt, alle vier haben die
Arme verschränkt und posieren förmlich in der Morgensonne; Chris
trägt eine Sonnenbrille und Rik ein Kopftuch, und ich kann mich
nicht entscheiden, ob sie wie Möchtegern-Gangster aussehen oder
305
wie eine Boygroup. »Quit playing games with my heart!«, will ich Milo
singend zurufen, doch ich laufe nur fröhlich auf die vier zu, lasse
mich umarmen und freue mich über die Begrüßung durch meine Bodyguards. Wir gehen ins Gebäude und schlendern zu fünft nebeneinander zu meinem Klassenzimmer, sodass wir die gesamte Breite
des Ganges einnehmen und alle Schüler, die uns entgegenkommen,
uns rigoros ausweichen müssen. Darauf kann ich heute keine Rücksicht nehmen. Denn morgen wird vermutlich mein Untergang sein.
Hach, ich gebe schon eine Märtyrerin erster Klasse ab!
Der Unterricht beginnt erst in zehn Minuten, aber die Hälfte meiner Mitschüler hockt bereits vor dem Klassenzimmer, als ich auftauche. Bengü stürmt mir sofort entgegen und springt mir nahezu in die
Arme. »Du siehst toll aus«, sagt sie und mustert Milo und die anderen. »Ihr zieht das echt durch?«
Milo bleibt ernst, aber ich sehe ihm an, dass er ein Grinsen unterdrückt. »Wer sich mit Molly anlegt, muss es früher oder später bereuen«, entgegnet er laut genug, dass meine Klassenkameraden es
hören. Sowohl Jungen als auch Mädchen schauen beeindruckt zu
uns auf, auch wenn eine konsequent den Blick abwendet: Lizzy.
»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelt Rik links neben mir,
und als ich mich umdrehe, kommt Vicki uns entgegen, die erst, als
wir uns ihr zuwenden, erkennt, dass ihre Feindin erneut von vier
adretten und athletischen Leibwächtern umringt ist. Samira trippelt
ihr hinterher wie ein Dackel an der Leine und rennt hinten in sie hinein, weil Vicki so abrupt stehenbleibt.
Die Wut der letzten Woche brodelt in mir. Du tyrannisiert mich.
Du tyrannisierst meine Familie. Du ziehst meinen Glauben in den Dreck.
Wegen dir hat Mama beinahe ihr Baby verloren. Aber ich behalte die Beherrschung. Morgen, Molly, sporne ich mich innerlich an.
Dennoch wage ich es, sie anzusprechen. »Vicki«, begrüße ich sie
genauso herablassend, wie sie vor wenigen Wochen mich immer angeredet hat. »Ich kann deinen Vortrag morgen kaum erwarten!«
Alle starren sie gebannt an. Sie weiß, dass sie sich zurückhalten
306
muss. Wenn ihr jetzt der Kragen platzt, sind alle meine Mitschüler
Zeugen davon. »Das ist aber nett von dir, Molly«, erwidert sie in engelsgleicher Stimme. »Jetzt, wo wir uns ausgesprochen haben und alles wieder in Ordnung ist, müssen wir mit allen Kräften verhindern,
dass so etwas je wieder passiert. Wer weiß, wie das nächste Opfer
damit umgehen würde? Es kann ja nicht jeder so stark sein wie du.«
Vicki geht einen Schritt auf mich zu, beugt sich vor und drückt mir
tatsächlich einen Kuss auf die Wange, noch ehe Milo oder einer der
anderen Jungen reagieren können. Als sie sich löst und ihr Gesicht
nur Zentimeter von meinem entfernt ist, zieht sie die Augen zu
Schlitzen. »Bald ist alles vorbei«, haucht sie.
»Das ist es wirklich«, zische ich – ebenfalls süßlich –, woraufhin
Vickis Augen größer werden. Du schüchterst mich nicht mehr ein, begreifst du das nicht?
Herr Rank unterbricht den subtilen Zickenkrieg, begrüßt uns und
schließt das Klassenzimmer auf; Vicki löst schließlich den Blick und
setzt mit Samira ihren Weg fort. Als ich ihnen hinterherblicke, sehe
ich etwas, womit ich gar nicht gerechnet habe: Lizzy, die auf dem Boden sitzt, sich an die Wand lehnt und die Knie angewinkelt hat,
schaut zu Vicki hoch. Ihren Augen entnehme ich geradezu etwas Flehendes, aber Vicki würdigt sie nicht eines Blickes, woraufhin Lizzy
den Kopf senkt. Was ist das denn?, frage ich mich. Sind deine neuen
Freundinnen dich etwa schon leid?
»Alles okay?«, fragt Milo und reißt mich aus den Gedanken. »Wir
holen dich in der großen Pause ab, ja?«
Ich nicke, und die vier Jungs ziehen davon.
Vor Lizzy bin ich die letzte, die das Klassenzimmer betritt. Ich
höre allgemeines Gestöhne, weil die Lust in der ersten Schulstunde
nach den Ferien ohnehin auf dem Tiefpunkt ist, und dann noch ausgerechnet Mathematik … und Herr Rank hat bereits seine Unterlagen aufgeschlagen, die Doppeltafel aufgeklappt und die Kreide gezückt. »Ich hoffe, ihr hattet schöne Ostern«, begrüßt er uns. »Schlagt
bitte eure Bücher auf Seite 78 auf …«
307
Bengü stößt mich an. »Milo ist so heiß«, gackert sie. »Und wie
Vicki geglotzt hat … die wird sich noch wundern, dass dein Beliebtheitsgrad ihren bald übertrumpfen wird.«
Das bezweifle ich. Und das will ich auch gar nicht. Alles, was ich
will, ist Vickis Sturz. Um jeden Preis.
Es dauert keine zehn Minuten, bis die Tafel mit mathematischen
Formeln vollgekritzelt ist. Brav schreibe ich ab, obwohl ich Herrn
Rank überhaupt nicht zuhöre und ich genauso gut irgendwelche mir
unbekannten Schriftzeichen in mein Heft schreiben könnte, die würden mir ähnlich viel Erkenntnis schenken. Ab und zu schaut Lizzy
verstohlen zu Bengü und mir, aber kaum treffen sich unsere Blicke,
sieht sie schnell wieder nach vorne an die Tafel. Ich kritzele Bengü an
den Rand meines Heftes die Frage, ob sich irgendetwas mit Lizzy getan hat, und stoße sie dann mit dem Ellenbogen an. Bengü sieht mich
nur völlig entnervt an, ehe sie den Kopf schüttelt und sich wieder
dem Unterricht zuwendet.
Nach der Doppelstunde holt mich Milo mit Rik ab und entschuldigt
die anderen beiden, die rüber zum Bäcker wollen. Gemeinsam mit
Bengü gehen wir hinaus auf den Schulhof in die Sonne und setzen
uns auf eine leere Bank. Wir fragen Bengü ein wenig über ihren Urlaub aus, aber ich kann mir nicht helfen und beobachte gleichzeitig
meine Umgebung, sodass ich nur die Hälfte mitbekomme. Wir werden beobachtet. Und zwar von allen Seiten. Die Schüler wissen durchaus, wer ich bin – das Mädchen, das auf Klo fotografiert wurde –, aber
Milos Plan geht auf. Ich sehe kein Kichern hinter vorgehaltener
Hand, keine Finger, die auf mich zeigen, ich höre keine abfälligen
Bemerkungen, die jemand über mich reißt. Stattdessen genießen vor
allem Milo und Rik die Aufmerksamkeit, und viele lesen im Vorbeigehen den Schriftaufzug auf den T-Shirts. Wenn die zwei auf ihrer Seite stehen, mache ich mich mal lieber nicht darüber lustig, denken sich
vielleicht einige – zumindest hoffe ich das.
Meine Augen schweifen über den Schulhof, und ich entdecke Liz-
308
zy, die auf der anderen Seite des Hofes mutterseelenallein sitzt und
lustlos an ihrem Pausenbrot knabbert. Na, wo sind deine Freundinnen?,
frage ich mich. Von Vicki, Kathrin und Samira keine Spur. Lizzy
stiert wehmütig ins Leere und schaut ab und zu traurig zu Boden.
Schließlich bemerkt Bengü, dass ich Lizzy beobachte, und unterbricht ihren Bericht. »Gib sie auf, Molly«, meint sie. »Sie hat genau
das bekommen, was sie verdient. Vicki braucht sie nicht mehr und
will nichts mehr mit ihr zu tun haben, und ihr Stolz untersagt es ihr
nun, zu uns zurückzukriechen. Was ich auch gar nicht will!«, setzt
sie hinzu, aber ich kenne Bengü. Sie hat ein gutes Herz, und auch
wenn Lizzy sie tief verletzt hat, würde sie ihr vergeben, wenn Lizzy
nur auf sie zukommen würde.
»Eigentlich kann sich Vicki das gar nicht leisten«, überlege ich
laut. »Lizzy war auch auf der Party. Was würde sie denn jetzt davon
abhalten, zu Dr. Hilmberger zu gehen und zu gestehen, dass sie gelogen hat und meine Version der Geschichte stimmt?« Ich warte auf
keine Antwort. »Entschuldigt mich kurz«, sage ich und lasse Bengü
mit meinen zwei Leibwächtern für einen Augenblick zurück, während ich die paar Meter auf die andere Seite des Hofes sprinte, bis
ich direkt vor Lizzy stehe und mich vor ihr aufbaue. Jetzt erst bemerkt sie mich, läuft sofort rot an und sieht sich panisch um. »Lizzy,
hör mir zu«, rede ich ruhig auf sie ein. »Ich weiß nicht, was zwischen
dir und Vicki vorgefallen ist, und ich erwarte überhaupt nichts von
dir.« Ich setze mich neben sie. »Bengü und ich vermissen dich«, sage
ich. »Und es ist immer ein Platz für dich bei uns, okay? Wir können
dich zu nichts zwingen … aber ich glaube, du hast selbst erkannt,
was wahre Freundschaft ist und was nicht!«
Unverzüglich schießen ihr die Tränen in die Augen. »Molly, du
verstehst nicht …«, flüstert sie. Sie ringt nach Worten, aber hält sich
stattdessen nur die Hand vor das Gesicht. Gerade will ich meinen
Arm um sie legen, als sie an mir vorbeisieht und schnurstracks aufspringt. »Ich will nichts mit dir zu tun haben, kapierst du das jetzt
endlich?«, ruft sie plötzlich in einem ungewöhnlich aggressiven Ton.
309
»Lass mich einfach in Ruhe!« Mit diesen Worten läuft sie davon.
Erschrocken sehe ich mich um – und erspähe Vicki, die mit Kathrin und Samira ein paar Meter von mir entfernt steht. Die drei unterhalten sich angeregt, aber zwischendurch wirft mir Vicki einen
Blick zu, der mir alles verrät, was hier vor sich geht.
»Was war das denn?« Bengü, Milo und Rik sind zu mir herübergekommen und wirken verwirrt. »Was ist denn in die gefahren?«
»Ganz einfach«, erkläre ich. »Vicki hat auch gegen sie etwas in
der Hand. Sie hat ihr die Freundschaft gekündigt, droht ihr aber
gleichzeitig, dass sie ihr, wenn sie zu uns zurückkommen sollte, irgendetwas antut … und offensichtlich zieht die Drohung. Und dass
mit Vicki nicht zu spaßen ist, hat Lizzy an mir ja nun selbst erlebt.«
Und wie viele weitere neben Lizzy und mir gibt es noch, die Vicki
irgendwie unter Druck setzt? Ich glaube nicht, dass wir die einzigen
beiden sind – dafür war ihr skrupelloser Ruf schon zu früh zu mir
durchgedrungen. Eine von uns muss den Schritt wagen und sich opfern, um die anderen zu retten. Einen anderen Ausweg sehe ich
nicht.
Im Deutschunterricht gibt Frau Ömsen bekannt, dass morgen in der
dritten und vierten Stunde in der Aula die Schulkonferenz zum Thema »Mobbing« unter der Leitung von Dr. Hilmberger stattfinden
wird. »Das ist eine Pflichtveranstaltung, nicht dass ihr euch Hoffnungen macht«, fügt sie gleich hinzu. »Wir werden als Klasse geschlossen hingehen und zusammensitzen, da wir ohnehin in der
Dritten Deutsch hätten, und ich werde eine Anwesenheitsliste führen.« Nach dem Unterricht bittet sie mich, kurz im Raum zu bleiben.
»Wie geht es dir, Molly?«, fragt sie. »Hattest du ganz gute Ferien?«
Ehe ich antworten kann, betritt Milo das Klassenzimmer. »Bereit
für die Pause?«
Frau Ömsen schmilzt dahin. »Damit erübrigt sich meine Frage«,
sagt sie. »Milo, du legst wirklich ein beispielhaftes Verhalten an den
Tag! Wenn nur ein Bruchteil der Schüler so einen Mumm hätte …«
310
»Es ist doch das einzig Richtige«, entgegnet Milo schulterzuckend, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. »Ich habe
viel zu lange nichts gesagt und getan.«
»Meine Eltern und ich waren bei den Greisers«, berichte ich Frau
Ömsen und gehe damit auf ihre zweite Frage ein. »Es war aber nicht
sonderlich ergiebig, und es hätte mich auch gewundert … Seitdem
bekommen meine Familie und ich anonyme Anrufe und Briefe. Aber
wir können Vicki natürlich nichts nachweisen.«
»Das kann einfach nicht wahr sein«, erwidert meine engagierte
Deutschlehrerin und Quasi-Mentorin entrüstet. »Ich hatte tatsächlich
geglaubt, dass Milos Aktion sie ein wenig aus der Bahn wirft.«
»Das hat sie auch, davon bin ich überzeugt. Nur lässt sie sich
nicht so einfach unterkriegen und hat zum neuen Schlag ausgeholt.«
»An irgendeinem Punkt muss selbst Vicki Greiser begreifen, dass
sie verloren hat«, mutmaßt Milo. »Denn allem entgegen, wovon Molly überzeugt ist: Vicki ist tatsächlich ein Mensch.«
»Das lasse ich einfach mal so im Raum stehen …« Ich wende
mich an Frau Ömsen. »Danke fürs Nachfragen … bis morgen.«
Frau Ömsen schließt hinter uns das Klassenzimmer ab, wie sie es
im Gegensatz zu 90 Prozent der übrigen Lehrer pflichtbewusst tut,
und läuft im Gang in die entgegengesetzte Richtung, während Milo
und ich uns runter auf den Schulhof begeben. Wie vorhin sitzen wir
mit Bengü und Milos Pseudo-Gangster-Buddies zusammen. Wieder
sehe ich Lizzy vereinsamt, wie sie an eine Wand lehnt und niedergeschlagen zu Boden schaut. Ja, sie hat es sich selbst zuzuschreiben. Ja,
sie wollte Vickis Freundschaft um jeden Preis und ist ihr ins offene
Messer gelaufen. Trotzdem verspüre ich jetzt, wo ich sie leiden sehe,
Mitleid, und es verstärkt meinen Hass auf Vicki. Vielleicht rechtfertigt es mein Vorhaben sogar noch mehr? Oder rede ich mir das nur
ein? Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch
die linke hin … Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht
verfallen sein … Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen …
Warum lässt mich diese innere Stimme nicht ruhen?
311
Ich finde im Altpapier einen Stapel weiterer Briefe. Weder Mama
noch Sophie, die beide zuhause sind, sagen etwas dazu, und klammheimlich hole ich die ungewünschte Post und lege sie in meine
Schreibtischschublade. Beim Familienabend liegt Mama auf der
Couch und hat ihre Beine auf Papas Schoß gelegt. Sophie sitzt wie
gewohnt auf dem Sessel, und Justus und ich teilen uns ausnahmsweise seinen lovesac. Er schmiegt sich an mich, etwas, was ich seit
Einbruch seiner Pubertät kaum erlebt habe. Er tut immer stark und
cool, aber der Terror der vergangenen Woche ist auch ihm an die
Substanz gegangen.
So wie ich Papa kenne, hat er eine Lektion über Vergebung vorbereitet, daher werfe ich gleich nach dem Anfangsgebet die Frage in
die Runde, die sicherlich meine Geschwister genauso beschäftigt wie
mich: »Wann ist es recht, zurückzuschlagen, und in welchem Maße?«
Papa schaut zu Mama, die ihm klar zu verstehen gibt, dass er gefälligst antworten soll. Vielleicht wäre selbst sie nach allem, was geschehen ist, für einen Racheakt zu haben?
»Vergeltung ist nie die Lösung, Molly«, lautet Papas musterhafte
Antwort, obwohl ich gar nicht von Rache gesprochen habe.
»Hauptmann Moroni hat sein Volk verteidigt – und zwar nicht
nur einfach so, sondern mit gerissenen Strategien und Taktiken«, halte ich ihm entgegen. »Wenn ich mich gegen Vicki verteidigen will,
wie sieht das dann aus? Habe ich nicht das Recht, sie auszuschalten,
ehe sie noch mehr Schaden anrichtet?«
»Das klingt schon sehr nach Mordanschlag«, mischt sich Sophie
ein. »Ich habe auch die Schnauze voll von ihrem Getue, aber Böses
mit Bösem vergelten? Und wie überhaupt? Willst du Fotos von ihr
veröffentlichen?«
Darüber habe ich nachgedacht, aber das wären dann digital bearbeitete und folglich eine Lüge. Und lügen will ich ja gerade nicht. Ich
will die Wahrheit.
»Ich versteh dich«, eilt Mama mir seelisch zur Seite, auch wenn
sie nach wie vor regungslos auf der Couch liegt wie ein gestrandeter
312
Blauwal. »Du wünschst dir Gerechtigkeit, du möchtest, dass sie das
durchmacht, was sie dir angetan hat, und gleichzeitig hören wir jeden Sonntag von der Kanzel, dass wir jedem vergeben sollen. Das ist
sehr schwer …«
An Vergebung mag ich noch gar nicht denken. »Ich dachte, mit
den Fotos wäre die Sache gegessen. Es war schlimm und ich will es
nicht runterspielen, aber irgendwie habe ich es verarbeitet …«
»Du hast ihr ja auch ein blaues Auge gehauen«, scherzt Justus.
»Darum geht es mir nicht mal!«, werfe ich ein. »Ihr und meine
Freunde habt mich unterstützt und wart für mich da und dadurch
konnte ich das alles ertragen. Aber jetzt terrorisiert sie die ganze Familie, und wir müssen uns doch zur Wehr setzen! Ich kann nicht einfach nur da sitzen und ihr auch noch die andere Wange hinhalten …
ich will die Waffen ergreifen und meine Familie verteidigen genau
wie Hauptmann Moroni.« Und Vicki bluten sehen, ich gestehe es ja.
»Meinst du, es ist noch einmal was anderes, wenn es um Leben
und Tod geht?«, fragt Papa vorsichtig.
»Aber es geht um Leben und Tod, Papa!«, rufe ich verzweifelt und
richte mich auf. »Verstehst du das nicht? Ich bin 16! Ich suche meinen Platz im Leben … alles geht um Leben und Tod!«
Hilflos blickt er zu Mama, die grinsend die Augen geschlossen
hat und nur mit den Schultern zuckt. »In dem Alter ist das so«, bestätigt sie meinen Ausruf.
»Hmm.« Damit hat er nicht gerechnet. »Gut, Molly«, sagt er nach
einer kurzen Denkpause. »Zwingen können wir dich ohnehin zu
nichts. Mir ist wichtig, dass du glücklich bist. Ich will nicht, dass
Vicki sich noch eine Schikane ausdenkt, aber, was mir noch tiefer am
Herzen liegt: Ich weiß nicht, ob du den inneren Frieden findest, den
du dir herbeisehnst, wenn du sie zertrampelst.«
Mama öffnet die Augen und schaut zu mir herüber. »Begehe keine Dummheit, Molly. Denk nicht nur an Hauptmann Moroni. Denk
auch an Teankum.«
Ich weiß, worauf sie hinaus will … Teankum war ein ähnlich geis-
313
tiger Gigant wie Moroni und einer der besten nephitischen Heeresführer. Als er jedoch aus Wut über den Krieg in einer hitzigen Entscheidung des Nachts ins Lager der Lamaniten schlich und deren
König Ammoron tötete, musste er das mit seinem Leben bezahlen.
Papa hat mir mal erklärt, dass er schon Debatten unter Mitgliedern
der Kirche erlebt hat, ob der Anschlag eine ehrenhafte Tat von Teankum war oder ob er sich sogar des Mordes schuldig gemacht hatte,
weil er eben von Zorn getrieben worden war.
Bin ich wie Moroni oder bin ich wie Teankum? Will ich diejenigen
schützen, die ich liebe, oder will ich vor allem Vickis Ende?
Ich sinke wieder zurück in das große Sitzkissen, stiere an die Decke und gebe ein undefinierbares Geräusch von mir, mit dem ich lediglich meine Kenntnisnahme von Mamas Kommentar kundtun
möchte.
»Molly, wir haben dir versprochen, dass wir die Sache nicht auf
sich beruhen lassen«, sagt Papa beschwichtigend. »Wir werden
nichts unversucht lassen und uns wehren – aber wenn du jetzt beginnst, Vicki das Leben zur Hölle zu machen, begibst du dich doch
letztlich auf ihr Niveau herab, und das hast du gar nicht nötig.« Papa
schlägt seine Dreifachkombi auf und liest einen Vers aus dem Buch
Lehre und Bündnisse vor. »Lernt, dass derjenige, der die Werke der
Rechtschaffenheit tut, seinen Lohn empfangen wird, nämlich Frieden in
dieser Welt und ewiges Leben in der künftigen Welt.«
Ich lasse die Schriftstelle auf mich wirken, kann mich jedoch zu
keiner Entscheidung hinreißen lassen. Noch schlimmer, ich verkrieche mich heute Abend ohne Nachtgebet ins Bett und ziehe mir gleich
aus Schuldgefühl die Decke über den Kopf. Ich habe Angst, dass
Gott mich irgendwie ausschimpft oder dass ich, wenn ich ihn frage,
ob es in Ordnung ist, dass ich Vicki morgen bloßstelle, die klare und
eindeutige Antwort bekomme: Molly Bach, wenn du tatsächlich
glaubst, das sei mein Wille, bist du so was von auf dem Holzweg!
314
Ich schlafe sehr unruhig. Es dauert nicht nur ewig, bis ich eingeschlafen bin, sondern ständig wache ich auf und habe das Gefühl,
jede Stunde auf den Wecker zu schauen. Heute ist der Geburtstag meiner besten Freundin. Zum Glück feiert Luisa erst am Freitag, wobei Julia bei der Aktivität am Abend bestimmt einen selbstgemachten
Frankfurter Kranz mitbringt, wie es inzwischen Tradition ist, falls ein
Geburtstag auf eine Aktivität fällt. Soll ich ihr denn wirklich den Tag
versauen?
Obwohl dienstags der Seminarunterricht ja nachmittags in der
Gemeinde stattfindet und morgens ausfällt, stehe ich zur gewohnten
Zeit auf und dusche dafür länger, bis Sophie irgendwann an die Tür
pocht und wütend hereinschaut. »Ich bewundere es ja, dass du dir
neuerdings Zeit nimmst, um dich hübsch zu machen, aber ich muss
auch irgendwann hier rein.«
Grummelnd ziehe ich den Stecker des Glätteisens und verziehe
mich in mein Zimmer. Ich will mich nicht nur hübsch machen, ich will
heute blendend aussehen.
Als ich die Vorhänge öffne und meine Fenster aufreiße, strömt
mir angenehm frische Frühlingsluft entgegen und die Sonnenstrahlen bewirken, dass ich ein Auge zukneifen muss. Brav mache ich
mein Bett, räume ein paar Klamotten in den Schrank, die auf dem
Boden liegen, und öffne dann langsam und theatralisch die obere
Schreibtischschublade. Dort liegen die Hassbriefe, die wir seit Tagen
bekommen, in all ihrem Stolz. Ich hole den großen Stapel hervor und
verfrachte ihn irgendwie in meine Schultasche. Als ich mein Zimmer
verlasse, werfe ich einen traurigen Blick zurück – wieso verlässt mich
das Gefühl nicht, ich würde Abschied nehmen und nie wieder hierher zurückkehren? Vielleicht war Frau Ömsens Entscheidung, mich
als Jane Eyre zu besetzen, doch nicht ganz so abwegig – was für ein
Theater ich hier abziehe, ist schon preisverdächtig.
Ich frühstücke nur eine Scheibe Toast und mache mich dann bereit zu gehen. Gerade als ich die Haustür zuziehe, höre ich jemanden
die Treppe herunterkommen, und so flüstere ich nur ein leises »Le-
315
bewohl« und mache mich dann auf den Weg, nur um in ein albernes
Kichern über mein hirnverbranntes Verhalten zu verfallen.
Heute steht Milo bereits an der U-Bahn-Haltestelle, um mich in Empfang zu nehmen. Er ist allein. »Ich sehe schon, der Rest der Security
hat keine Lust mehr«, begrüße ich ihn.
»Doch doch«, erwidert er gleich, »aber es sind ja noch zwanzig
Minuten bis zum Unterricht … wieso bist du denn schon so früh
hier?«
»Das Gleiche könnte ich dich fragen«, kontere ich und ernte nur
ein Achselzucken.
Bevor Milo mich vor dem Klassenzimmer absetzt, sieht er mich
besorgt an. »Egal, was Vicki heute von sich gibt, lass es nicht an dich
heran, okay? Sie ist ein echter Wolf im Schafspelz und wird versuchen, die ganze Schule einzulullen …«
»Bei mir wird ihr das sicher nicht gelingen. Bei Lizzy auch nicht,
vermute ich … und ich garantiere dir, dass es noch weitere Opfer
gibt, Milo. Irgendjemand muss den ersten Schritt gehen und den
Mund aufmachen.«
Er lacht. »Ja klar. Am besten stürmst du während der Versammlung nach vorn und bezichtigst Vicki vor allen Schülern und Lehrern
der Verleumdung und des Rufmords.« Sein Lachen verblasst ziemlich schnell, da ich keine Miene verziehe. »Molly?« Noch immer sage
ich nichts. Er zieht mich ein Stück zur Seite, damit niemand uns hört.
»Das hast du nicht im Ernst vor, oder? Du läufst nicht nach vorne
und gibst irgendwelche Beschuldigungen von dir!«
»Und warum nicht?«
»Weil du keine Beweise hast und dir nur Ärger einhandelst!«
»Dass das Ärger gibt, weiß ich, Milo … aber darum geht es heute
nicht. Wenn ich handle, tut es mir vielleicht jemand gleich. Und
selbst wenn ich nichts beweisen kann, halten mich nicht alle für eine
Verrückte. Vicki wird diese – übrigens wahren – Anschuldigungen
nie los. Und jeder hier weiß, dass ihr zwei euch zerstritten habt und
316
du auf meiner Seite bist.«
Milo ist kreidebleich geworden. »Ich halte das für keine gute
Idee«, sagt er. »Ich bitte dich, nicht übereilt zu handeln … sonst geht
der Schuss nach hinten los.«
Ich nicke mit zusammengepressten Lippen und sehe ihm nach,
während er in seinen Unterricht geht. Als ich mich umdrehe, zucke
ich zusammen, weil Lizzy direkt hinter mir steht. Weder Milo noch
ich haben sie bemerkt. Ob sie etwa gehört hat, was wir eben besprochen
haben?
»Das willst du wirklich tun?«, fragt sie ungläubig. Damit wäre
meine Frage wohl beantwortet.
»Im Gegensatz zu dir habe ich nicht vor, mich von allen zurückzuziehen und mich unterkriegen zu lassen«, sage ich bissiger als geplant. »Überleg dir lieber, ob du nicht meinem Beispiel nacheifern
möchtest, Lizzy, anstatt herumzuheulen, was sie dir antun könnte
oder nicht. Ich bin drei Wochen durch die Hölle gegangen und habe
es endgültig satt.«
Denk an Teankum, höre ich Mamas Stimme.
Zu spät, denke ich. Der Speer ist bereits gezückt. Ob Ammoron
seine Knechte alarmieren kann, die mich dann kaltmachen, oder ich
ihn mit einem gut einkalkulierten Wurf vernichte, wird sich zeigen.
Direkt nach der zweiten Schulstunde steht Frau Ömsen vor dem
Klassenzimmer und holt uns ab, damit wir gemeinsam in die Aula
gehen. Sie wirft einen Blick ins Klassenbuch, um zu schauen, ob
Schüler fehlen, und zählt uns dann durch. Fehlt nur noch, dass wir
paarweise nebeneinander gehen müssen wie in der 1. Klasse … aber es gelingt uns auch so, beieinander zu bleiben, obwohl die Schülermassen
aus allen Richtungen in die Aula strömen und sich dort auf die Stühle verteilen. Es ist sehr laut; auf der Bühne sind auch ein paar Stühle
aufgestellt sowie ein kleines Podium, hinter dem Dr. Hilmberger
steht und Unterlagen sortiert. Der stellvertretende Schulleiter sowie
der Oberstufen- und der Unterstufenleiter gesellen sich zu ihm, und
317
kurz darauf erscheint Vicki Greiser, die ebenfalls einen Platz auf der
Bühne einnimmt. Sie wirkt weder aufgeregt noch eingeschüchtert
von dem großen Publikum und sitzt dort, als wäre es das Alltäglichste der Welt. Links und rechts neben der Bühne sind große Leinwände ausgefahren, auf der die erste Folie einer Slideshow zu sehen
ist. »MOBBING« steht dort in Großbuchstaben. Kein Untertitel oder
sonst dergleichen.
Direkt nach dem Klingeln klopft Dr. Hilmberger ans Mikro und
schaut über die vielen Stühle nach oben zur Empore, wo der Beamer
aufgebaut ist und der Hausmeister sitzt sowie Milos Kumpel Timon,
der zur Technik-AG gehört und sich mit diesem ganzen Kram bestens auskennt.
»Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Lehrerinnen und Lehrer«,
adressiert er uns alle ganz politisch korrekt, wobei seine Stimme
trotz Verstärkung klingt wie ein kleiner nervöser Hasenpups. »Aus
aktuellem Anlass versammeln wir uns heute hier, um ein wichtiges
Thema anzusprechen, das sich zunehmend zu einer inakzeptablen
Problematik an der Schule entwickelt hat …«
Bengü, die neben mir sitzt, stößt mich an. »Bist du in Ordnung?«,
flüstert sie voller Sorge.
Mein Herz pocht und mein Blick fällt auf meine offene Tasche.
Keiner hat mich gefragt, warum ich überhaupt etwas mitgenommen
habe – als einzige hier im Raum, wie es scheint. Ich sehe die Ecke eines Briefes.
»Ja«, erwidere ich und schaue nach vorn. Ich will nicht, dass sie
mir meine Unsicherheit ansieht oder auf die Idee kommt, ich könne
etwas vorhaben.
Dr. Hilmberger nennt nicht meinen Namen, was im Grunde
schwachsinnig ist, weil jeder an der Schule weiß, wer ich bin – und
mein Name stand ja sogar noch auf dem Flyer drauf. Er redet von einer »höchst verwerflichen Tat«. »So etwas kann nicht geduldet werden und darf sich nicht wiederholen«, betont er und ermahnt uns
Schüler, so etwas zu melden, wenn wir es mitbekommen, anstatt
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Stillschweigen zu bewahren oder uns gar zu beteiligen. Er wendet
sich auch an die Lehrkräfte. »Ich kann mir nicht erklären, wie diese
Flyer unbemerkt an der ganzen Schule verteilt werden konnten! Wir
müssen die Augen offenhalten und bei jedem auch noch so kleinen
Verdacht einschreiten!« Die Unsicherheit ist aus seiner Stimme gewichen, und dafür, dass er ziemlich überfordert wirkte, als ich nach
meiner Attacke auf Vicki in seinem Büro saß, meistert er das hier
ganz souverän.
Nach seinen Worten übergibt er die Zeit an Frau Dr. Müller, die
Schulpsychologin. Ich war mir bewusst, dass es so jemanden gibt,
aber richtig wahrgenommen habe ich sie noch nie (und ich weiß
auch von niemandem, der mit ihr schon mal das Gespräch gesucht
hat). Gleich zu Beginn berichtet sie schonungslos von einem 15jährigen Mädchen aus den USA, das sich im Januar erhängt hat, weil sie
von neun Mitschülern systematisch fertiggemacht wurde. »Was mit
ein paar Scherzen beginnt, kann leider sehr böse enden«, sagt sie appellierend. Sie legt verschiedene Arten des Mobbings aus und untermalt jede davon mit abschreckenden Beispielen, die kaum grausamer hätten enden können. Sie hebt auch hervor, wie »harmlos« solche Situationen anfangs scheinen und in keinem Fall unterschätzt
werden dürfen – weder von Lehrern noch von Schülern.
Ich sehe mich um und habe den Eindruck, dass die Botschaft ankommt – zumindest schauen die meisten gebannt nach vorn und
verstehen zum ersten Mal, was sich aus kleinen, gar nicht so ernst
gemeinten Ärgereien entwickeln kann und zu welchem Psychoterror
die meisten von uns imstande sind, ohne dass wir uns dessen bewusst wären.
Als sich Frau Dr. Müller wieder setzt, ist über eine halbe Stunde
vergangen. Ich war so aufmerksam, dass ich mein Vorhaben völlig
verdrängt habe, und erst als Vicki ans Podium tritt, wird mir wieder
schummerig zumute. »Ich kann mich den Worten von Dr. Hilmberger und von Frau Dr. Müller nur anschließen«, beginnt sie. Wohl mit
purer Absicht ist sie in Weiß gekleidet und schwebt förmlich auf der
319
Bühne wie der Schutzengel der Einsamen und Gehänselten unserer
Schule. Sie liest nichts ab und ist rhetorisch und inhaltlich überzeugend, was mich noch ärgerlicher macht. »Ich sehe es als Pflicht, mich
persönlich zu entschuldigen!« Ich weiß nicht, wie sie mich erspäht
hat, aber sie blickt mich direkt an. »Molly! Das hätte niemals passieren dürfen!«
Ich bin starr vor Schreck. Sie nennt mich tatsächlich beim Namen?
Sie führt mich vor, nachdem es Dr. Hilmberger ganz pedantisch vermieden
hat, mich anzusprechen?
»Ich persönlich werde nicht ruhen, bis der Übeltäter gefunden
und entlarvt wurde«, fährt sie fort.
Ich greife nach meiner Tasche. Jetzt oder nie …
»Molly, was machst du denn?«, flüstert Bengü fast panisch. Ich
ziehe den großen Stapel Briefe heraus, während ich bemerke, dass
alle Schüler um mich herum in meine Richtung starren.
»Bengü, ich muss das tun«, flüstere ich. »Ich muss –«
»HEUCHLERIN!«
Vicki verstummt. Ich selbst höre nichts außer meinem Herzschlag. War ich das gerade? Halluziniere ich? Aber dann sehe ich, wie
sich die Blicke von mir abgewendet haben. Zwei Reihen vor mir erhebt sich langsam, wie aus dem Nichts, Lizzy. »Sie ist diejenige, die
hinter alldem steckt!«, brüllt sie geradezu durch die gesamte Aula
und zeigt dabei mit dem Finger nach vorne auf Vicki. »Und ich kann
es beweisen!«, fügt sie atemlos hinzu.
320
26
D
ie gesamte Aula hält den Atem an. Ich selbst presse mir die
Hände aufs Gesicht und habe den Stapel Briefe wieder in meiner Schultasche verschwinden lassen. Für einen Augenblick bin ich
mir unsicher, ob nicht ich selbst diejenige war, die »Heuchlerin!« gebrüllt hat und innerlich so aufgeregt bin, dass es unbewusst geschah.
Doch nachdem sich Lizzy erhoben hat und ihr Gesicht mit Flecken
übersät ist, die die gleiche Farbe haben wie ihr feurig rotes Haar, ist
mir wie auch den übrigen Schülern klar, woher der Protest kam. Lizzy sitzt am rechten Ende der Reihe und bahnt sich ihren Weg langsam und angespannt, doch hoch erhobenen Hauptes nach vorne, gefolgt von den Blicken aller Anwesenden. Warum greift denn niemand
ein? Warum sagt der Schulleiter denn nichts? Es können doch nicht alle
dermaßen unter Schock sein!
Schließlich ist es Vicki selbst, die einlenkt. »Lizzy, es ist wohl
kaum der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt für solche Ausbrüche – gerade in Anbetracht der Thematik«, sagt sie ins Mikro – ihr
Ton ist freundlich, aber ich höre ein leichtes Zittern in der Stimme,
etwas, was mir bei Vicki noch nie aufgefallen ist.
Als Lizzy den Bühnenrand erreicht, springen Dr. Hilmberger und
der stellvertretende Direktor gleichzeitig auf, doch wiederum ist es
Vicki, die versucht, die Kontrolle über die Situation zu behalten.
»Vielleicht wäre es angebracht, die Versammlung kurz zu unterbrechen?«, schlägt sie vor. Sie bleibt erstaunlich ruhig, das muss ich ihr
ja irgendwie anrechnen.
Lizzy lässt sich nicht davon beirren und gelangt über den Aufgang auf die Bühne. Vicki bleibt eisern am Pult stehen; Dr. Hilmberger läuft zu Lizzy und sein Kopf ist nicht weniger rot als ihrer. Er
hebt beschwichtigend die Hände und redet leise auf sie ein, was
akustisch bei uns nicht ankommt (obwohl wir im vorderen Drittel
321
sitzen), woraufhin Lizzy nur energisch mit dem Kopf schüttelt. »Ich
war dort!«, kreischt sie plötzlich, woraufhin Dr. Hilmberger erschrocken einen Schritt zurückgeht. »Ich war auf der Party und habe gesehen, was sie Molly angetan hat! Aus Angst habe ich die Klappe gehalten! Aber das ist noch nicht alles!« Sie wendet sich zu uns, aber
ihr Blick ist auf die Empore hinten über dem Saal gerichtet.
»Timon!«, ruft sie.
Völlig verwirrt drehen wir uns nun alle zur Technik um. Der
Hausmeister selbst scheint durcheinander, Timon hingegen verzieht
keine Miene, betätigt flink ein paar Knöpfe, und urplötzlich wird die
Slideshow auf den Leinwänden ausgeblendet und durch ein sehr
wackeliges Video ersetzt. Man sieht nur eine Wiese, und es wirkt so,
als habe jemand seine Handykamera eingeschaltet, während er das
Handy vor sich in den Händen hält.
»Nun mach schon«, erklingt über die Lautsprecher eine Stimme.
Es ist eindeutig Vicki, auch wenn man sie nicht sieht, aber die Kamera bewegt sich langsam und vorsichtig nach oben, und nun ist Vicki
zu sehen, wie sie neben Samira auf einer Wiese hockt und selbst an
ihrem Smartphone spielt.
»Und was willst du machen?«, hören wir nun Lizzys Stimme – sie
ist scheinbar diejenige, die das Video heimlich aufzeichnet.
Man hört Kathrin im Hintergrund albern kichern und noch ein
anderes Mädchen, und Vicki präsentiert uns ihr teuflisches Lächeln.
»Das wirst du schon noch sehen!«
Lizzy nennt eine Telefonnummer. Zu meinem Entsetzen erkenne
ich, dass es sich um meine eigene handelt. Vicki tippt sie in ihr Handy. »Jetzt, meine Lieben, werdet ihr erfahren, warum ich so eine fabelhafte Schauspielerin bin!«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir inzwischen das Herz ausgesetzt ist. Ich schaue auf die Bühne und frage mich, ob irgendein Lehrer – oder Vicki selbst – dem Ganzen Einhalt gebieten, aber alle stehen regungslos da, und sollte die naturblasse Vicki jemals einen
Farbton in ihrem Gesicht gehabt haben, ist dieser nun endgültig ge-
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wichen. Sie ist kreidebleich und hat verstört die Augen aufgerissen.
Mein Blick fällt zurück auf die Leinwände. Die gefilmte Vicki hält
sich das Telefon ans Ohr und sagt dann mit einer völlig verstellten
und dunklen Stimme: »Joseph Smith war ein Lügner!«, ehe sie das
Handy runternimmt, auflegt und die Schultern entzückt hochzieht.
Sie schaut kurz grinsend nach rechts und links und bekommt wirklich überhaupt nicht mit, dass sie gerade gefilmt wird.
»Wer war ein Lügner?«, fragt Samira verwirrt.
»Wie unsere heiße Informantin hier mir berichtet hat, gehört Molly so einer komischen Sekte an. Ich sag euch, damit hab ich sie ein
für allemal. Allein als ich vorhin was angedeutet habe, hat ihre Mutter gleich völlig pikiert reagiert. Also habe ich sofort, nachdem sie
weg sind, ein wenig recherchiert, und dieser Smith hat diese Sekte
wohl gegründet und wurde ohnehin immer als Lügner beschimpft,
was ihm und seinen Anhängern ganz schön zugesetzt hat.« Der Triumph ist ihr ins Gesicht geschrieben. »Heute beglücke ich Molly mit
Anrufen, ab nächster Woche erhält sie dann Briefe. Ich kann es kaum
erwarten, mich dieser blöden Kuh endlich zu entledigen.«
Das Video endet.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich aufgestanden bin. Ich
weiß nicht, ob Bengü versucht hat, mich zurückzuhalten, und ob die
Versammelten nun zu mir starren; alles, was ich weiß, ist, dass ich
vor dem Bühnenrand stehe, am ganzen Körper zittere und in den
Händen einen riesigen Stapel Briefe halte, den ich doch eben noch
zurück in die Tasche gelegt hatte. Obwohl das Papier kaum was
wiegt, habe ich den Eindruck, ich müsse meine gesamte Kraft zusammennehmen, als ich die Briefe Vicki allesamt entgegenschleudere. »Mit Dank zurück!«, zische ich.
Dr. Hilmberger hebt einen Zettel auf, der ihm vor die Füße geflogen ist, liest die kurze Textzeile und schaut zu Vicki.
In diesem Augenblick bricht der Tumult los. Irgendeiner grölt ein
lautes »BUUUUUH!«, in das fast alle Schüler innerhalb von wenigen
Sekunden einstimmen. Ich höre Beschimpfungen und Aufschreie,
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und die Lehrer, die aufgesprungen sind und versuchen, Ruhe in die
Aula zu bringen, bemühen sich vergebens.
Wie ist das geschehen? Das wirkte ja nahezu perfekt orchestriert –
Lizzys Einschreiten, das Video und dass ich selbst mich ebenfalls
eingeschaltet habe. Ich bin völlig verwirrt. War das eine spontane
Idee von Lizzy? Ich war doch drauf und dran, selbst auf die Bühne
zu stürmen. Woher kam ihr Sinneswandel? Wie und wann um alles
in der Welt hat sie das Video der Technik zukommen lassen?
Dr. Hilmberger schickt den stellvertretenden Schulleiter und die
Schulpsychologin mit Vicki und Lizzy zu dem hinteren Bühnenaufgang, damit sie dem Trubel entfliehen und sich ins Sekretariat begeben können, ehe er ans Mikro tritt.
Ich stehe noch immer regungslos und zitternd vor der Bühne, bis
ich plötzlich merke, wie mir ein Arm um die Schultern gelegt wird.
Milo steht neben mir. Ich wende mich ihm zu, vergrabe mein Gesicht
in seiner Brust und lasse mich fest von seinen Armen umschließen.
Mit der einen Hand streicht er mir sacht über das Haar, mit der anderen über den Rücken, und ich versuche, den Lärm um mich auszublenden und dem Ganzen hier irgendeinen Sinn zu verleihen.
»RUHE!« Und mit einem Mal ist es still. Ich weiß nicht, ob ich Dr.
Hilmberger jemals zuvor dermaßen habe die Stimme erheben hören.
»Alle Lehrer kehren mit ihren Klassen augenblicklich in den Unterricht zurück!«, weist er seine Kollegen im Befehlston an. »Sofort!« Ich
hebe den Blick und schaue mich nach Frau Ömsen um, die hektisch
mit einem anderen Lehrer redet und dabei auf meine Klasse zeigt.
Der Lehrer nickt und läuft auf meine Klassenkameraden zu, aber ich
weiß nicht, was er zu ihnen sagt, weil ich mich wieder in Milos Umarmung verloren und meine Augen geschlossen habe.
»Molly …« Frau Ömsen ist an unsere Seite geeilt. »Herr Reinhardt hat eine Freistunde, und ich habe ihn gebeten, für mich einzuspringen. Ich denke, ihr solltet mit mir ins Sekretariat kommen.«
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Alle Schüler, denen wir unterwegs begegnen, können nicht die Augen von mir abwenden. Ich sehe ein paar nach oben gestreckte Daumen, aber größtenteils schlichtweg sprachlose Mienen. Eine Show
wie diese hat wohl keiner von ihnen jemals zuvor erlebt, und viele
fragen sich vermutlich, ob das Ganze womöglich inszeniert war und
wie das Nachspiel aussehen wird.
Die Tür zu Dr. Hilmbergers Büro ist geschlossen. An der Wand
davor steht eine kleine Couch, auf der genau drei Personen Platz haben. Wir lassen uns dort nieder, wobei ich mich in die Mitte setze.
»Wusstest du davon?«, breche ich schließlich das Schweigen und
wende mich an Milo.
»Ich?«, fragt er ungläubig. »Dasselbe wollte ich dich fragen! Du
hast mir doch erst vorhin gebeichtet, dass das dein Plan war … Das
war schon sehr unheimlich, wie du diesen Haufen Briefe auf Vicki
geworfen hast …«
»Das war dein Plan?«, schaltet sich nun Frau Ömsen ein.
»Nein! Ja. Nein!« Ich ringe nach Worten. »Es war mein Plan … Ich
war bereit, nach vorne zu stürmen, das Mikro an mich zu reißen und
Vicki die Schuld an allem zu geben und ihr dann die Briefe in die
Hand zu drücken. Lizzy ist mir zuvorgekommen … aber ich schwöre, ich hatte keine Ahnung, dass sie das vorhat!« Und ich verstehe es
auch nicht. Sie schien doch solche Angst vor Vicki zu haben … und wenn
sie dieses Video die ganze Zeit hatte, warum hat sie sich von Vicki
überhaupt einschüchtern lassen? Das will mir alles nicht in den
Kopf.
Noch während ich versuche, mir einen Reim auf Lizzys Aktion zu
machen, wird Timon von Herrn Joost, dem Hausmeister, zum Sekretariat geschleppt. Frau Ömsen, Milo und ich blicken die beiden gespannt an, als könnte Timon zumindest teilweise Licht ins Dunkle
bringen. Herr Joost, der ohnehin ein eher unangenehmer und meist
schlecht gelaunter Zeitgenosse ist, wirkt alles andere als amüsiert.
»Da bestehen die drauf, dass mir die Jungs von der Technik-AG helfen, obwohl ich gar keine Hilfe brauche, und dann folgt so ein
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Eklat!«, meckert er.
Selbst Milo schaut seinen Kumpel nur fragend an, während Frau
Ömsen bereits aufgesprungen und auf ihn zugegangen ist. »Was hat
Lizzy mit dir abgesprochen?«, verlangt sie zu wissen.
»Ich wollte doch nur helfen!«, entgegnet der Arme betreten. »Sie
meinte, Molly und Milo wüssten Bescheid und wir würden Vicki
heute vor der ganzen Schule bloßstellen … Du meintest doch, wir
lassen uns von dem Flittchen nichts mehr bieten!«, klagt er Milo an.
»Nun mal von vorn!« Frau Ömsen bleibt ruhig. »Was genau ist
geschehen?«
»Ich saß schon oben an der Technik, als Lizzy hochkam – direkt
vor der Versammlung. Sie hat mir einen USB-Stick in die Hand gedrückt und gesagt, dass da das Beweismaterial drauf ist, dass Vicki
nur Lügen erzählt, und dass sie mir ein Signal gibt, wann ich das abspielen soll …«
»Und das tust du einfach so?«, fragt Frau Ömsen fassungslos.
Timon senkt den Blick. »Ich hab mir das Video kurz über den
Laptop angesehen … und ich dachte, krass, damit haben wir sie echt
… und als Vicki dann noch so blöd herumgeblökt hat von wegen
›Seid ja alle lieb zueinander …‹« Er wendet sich wieder Frau Ömsen
zu. »Hatten Sie nicht Aufsichtspflicht? Ich frage mich eher, wieso Ihnen entgangen ist, dass Lizzy kurz abgehauen und zu mir hochgekommen ist.« Er wirkt beleidigt. »Da tut man einmal das Richtige
und kriegt nur Ärger, oder was? Alter, wenn ich einen Verweis bekomme –«
»Timon, keiner macht dir einen Vorwurf!«, entgegnet Frau Ömsen. »Außer Herr Joost vielleicht«, fügt sie leise hinzu, obwohl der
schon wieder kehrtgemacht hat. »Wir versuchen nur, die Geschehnisse zu rekonstruieren. Und ja«, gesteht sie, »ich habe Lizzy auf
dem Weg zur Versammlung die Erlaubnis gegeben, kurz auf Toilette
zu gehen … ich habe mir dabei überhaupt nichts gedacht.«
Milo grinst richtig frech. »Sie sind mitschuldig, Sie sind mitschuldig«, zieht er sie auf. Irgendwie nimmt er damit uns allen ein biss-
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chen von der unerträglichen Anspannung, selbst Frau Ömsen rafft
sich zu einem leichten Lächeln auf. Sie will gerade etwas sagen, als
sich ihre Miene wieder verfinstert. Jetzt vernehme ich auch die
Schritte, und als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Veronica Greiser
auf uns zustürmt. Wie hat die es denn geschafft, innerhalb so kurzer Zeit
herzudüsen? Man sollte meinen, eine Frau wie sie hätte rund um die
Uhr wichtige Termine, die sie nicht so einfach unterbrechen kann.
Wie eine fürsorgliche Mutter stellt sich Frau Ömsen schützend
vor Milo, Timon und mich, aber Frau Greiser wirft uns lediglich
einen hasserfüllten Blick zu, ehe sie ohne anzuklopfen in das Büro
des Schulleiters stürmt und die Tür hinter sich zuschlägt. Ob Lizzys
Eltern ebenfalls informiert wurden?
Kurze Zeit später läutet die Schulglocke. Es vergehen keine zwei
Minuten, als Bengü auftaucht und sich nach meinem Wohlbefinden
erkundigt. »Eigentlich weiß ich nicht, wie es mir geht«, sage ich daraufhin. Ich bin besorgt um Lizzy, will jedoch auch brennend ihre Seite der Geschichte hören, während ich mich frage, ob ich mich eigentlich über Vickis Bloßstellung freue oder doch geschockt bin. Als am
Ende der Pause Lizzys Mutter auftaucht, kommt Dr. Hilmberger aus
seinem Büro. Er begrüßt sie kurz und bittet sie hinein; dabei ist die
Tür nur einen Spalt geöffnet, doch kann ich weder einen Blick auf
Lizzy noch auf Vicki erhaschen.
Der Schuldirektor bemerkt das gefüllte »Wartezimmer« und
kommt auf uns zu. Zuerst wendet er sich an Timon. »Das hier wird
noch eine Weile dauern«, sagt er. »Am besten gehst du in deinen Unterricht. Ihr zwei auch.« Er richtet sich an Milo und Bengü. »Du,
Molly, kommst bitte mit mir, da dich die Angelegenheit direkt betrifft.« Niemand sagt einen Ton, stattdessen folgt nur stummes Nicken. Milo klopft mir aufmunternd auf die Schulter und formt mit
den Lippen: »Du packst das!«
Gefolgt von Dr. Hilmberger betrete ich dessen Büro. Lizzy hat
Rotz und Wasser geheult und ihre Mutter wiegt sie sachte in ihren
Armen. Vicki und Frau Greiser sitzen stumm nebeneinander, und
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auch wenn man Vicki den Schrecken durchaus ansieht, scheint sie
nicht eine Träne vergossen zu haben.
Der Schulleiter trägt einen leeren Stuhl heran und platziert ihn
zwischen die beiden Parteien, und ich fühle mich mehr als unwohl,
als ich mich setze und die Hände vorsichtig auf dem Schoß falte.
Darf ich mir auch meine Eltern als Beistand kommen lassen?
Dr. Hilmberger nimmt an seinem Schreibtisch Platz. Auch er
wirkt mit der Situation völlig überfordert. Es wird Zeit für einen
neuen Direktor. Ich nominiere hiermit Frau Ömsen.
»Lizzy sagt, ihr hättet nichts miteinander abgesprochen«, beginnt
er schließlich.
»Das stimmt«, antworte ich. »Sie kam mir zuvor. Ich hatte die
Briefe aus gutem Grund dabei.« Ich schaue zu Lizzy. »Was hast du
dir nur dabei gedacht?«, flüstere ich ihr leise, aber ohne jeglichen
Vorwurf zu. Genauso gut könnte mir jeder die gleiche Frage stellen,
denn sie hat ja nur ausgeführt, was ich eigentlich tun wollte.
Lizzy antwortet nicht. Sie schaut mich nicht einmal an.
»Womit hat sie dir gedroht?«, setze ich hinzu und warte darauf,
dass Frau Greiser protestiert, aber weder sie noch Vicki reagieren.
Noch immer sagt Lizzy nichts.
»Sie äußert sich nicht dazu«, erklärt nun Dr. Hilmberger, »und
auch Vicki möchte nichts dazu sagen. Die Art und Weise, wie sich
das alles eben zugetragen hat, werden wir vorerst außer Acht lassen.
Mir geht es zunächst einmal darum, ein paar andere Sachverhalte
klarzustellen. Vicki, steckst du hinter dem Flyer, auf dem Molly öffentlich gedemütigt wurde?«
Vicki richtet sich gerade auf. Wenn sie fallen muss, dann wohl
würdevoll. »Ja«, lautet ihre Antwort kurz, knapp und kalt. Ihre sonst
so redselige Mutter gibt keinen Ton von sich.
»Hast du deine Freundinnen überredet, zu deinen Gunsten zu lügen?«
»Ja.«
»Hast du Molly und ihre Familie mit anonymen Anrufen und
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Briefen belästigt?«
»Ja.«
»Hast du Lizzy ebenfalls auf irgendeine Weise unter Druck gesetzt?«
»Ja.«
Mit jeder Frage verstärkt sich Dr. Hilmbergers bestürzter Gesichtsausdruck. Er kann vermutlich den Gedanken gar nicht ertragen, dass sich an einem renommierten Gymnasium, das in der ganzen Stadt einen äußerst guten Ruf genießt, solche Schandtaten zugetragen haben. »Gibt es noch weitere Schüler, denen du gedroht
hast?«
»Möglicherweise.« Sie klingt teilnahmslos und gleichgültig.
Dr. Hilmberger verliert die Geduld. »Ja oder nein!«
Sprechen Sie nicht so mit meiner Tochter!, würde die Frau Greiser,
die ich kenne, ihn ankeifen, aber noch immer schweigt sie und sitzt
nur wie versteinert da.
»Ja«, korrigiert Vicki ihre vorige Antwort.
Dr. Hilmberger wischt sich ein paar Schweißperlen fort und reibt
sich nervös die Lippen. »Gibt es etwas, was du Molly und Lizzy sagen möchtest?«
Da ist es wieder – Vickis eisiges Lächeln. Ich hatte es schon vermisst und mich gefragt, ob sie noch dazu imstande ist. »Sie meinen
eine Entschuldigung?«, hakt sie fast spöttisch nach. »Ich fürchte,
dazu fehlt mir das Gewissen.«
»Haben Sie denn gar nichts zu sagen?«, meldet sich nun Frau
Opitz, Lizzys Mutter, zu Wort und schaut zu Frau Greiser.
Wie ihre Tochter ist auch die Mutter nicht zu durchschauen. Frau
Greiser überlegt kurz, ehe sie endlich den Mund öffnet. »Ich bedaure, dass meine Tochter eine solche Schande über die Schule gebracht
hat«, sagt sie. »Ich stand natürlich hinter ihr, wie jede gute Mutter es
tun würde, und habe ihr geglaubt. Trotzdem schlage ich vor, dass
wir uns erst einmal bemühen, die Angelegenheit unter uns zu regeln, anstatt die Presse einzuschalten oder –«
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»Geht’s noch?«, unterbreche ich sie respektlos – aber nicht weniger
respektlos, als sie sich verhält, finde ich. »Die Presse, die macht Ihnen
Sorgen? Ihr Ruf? Was ist mit meiner Familie? Mit Lizzy?« Ich kann
mich nicht mehr im Stuhl halten. »Weißt du, dass meine Mutter wegen deiner Briefe beinahe das Baby verloren hätte?«, spucke ich Vicki
entgegen. »Du bist der allergrößte Abschaum, den es gibt! Wir haben
eine Anzeige gegen Unbekannt erstattet, weil wir nichts gegen dich
in der Hand hatten, aber ich kann dir schon mal garantieren, dass
wir die mit deinem Namen austauschen werden!«
Frau Greiser erhebt sich, packt Vicki am Arm und zieht sie ebenfalls hoch. »Das Gespräch ist vorerst beendet«, verkündet sie doch
allen Ernstes. »Ich möchte mit meinem Mann und mit meiner Tochter über diese Angelegenheit sprechen und dann zusammenkommen, wenn sich die Gemüter ein wenig beruhigt haben!«
»Frau Greiser –«, setzt Dr. Hilmberger an und springt ebenfalls
auf, doch die Frau hat sich bereits erdreistet, die Bürotür geöffnet
und zieht Vicki hinter sich her. »Das kann doch nicht wahr sein!«,
stellt er frustriert fest.
»Ich möchte mit Lizzy ebenfalls nach Hause«, sagt nun Frau
Opitz. »Die Emotionen sind gerade bei allen so aufgewühlt, dass
kaum einer richtig denken kann, habe ich den Eindruck.«
Endlich schaut Lizzy zu mir. Ihr verheultes Gesicht bewirkt, dass
mir unweigerlich die Tränen in die Augen steigen. »Es ist jetzt vorbei!«, versuche ich sie zu beruhigen. »Komm doch bitte zu Bengü
und mir zurück!«
Lizzy entweicht ein lautes Schluchzen. »Du hast mir doch geraten, deinem Beispiel zu folgen«, erinnert sie mich an das kurze Gespräch vorhin, nachdem sie mich und Milo belauscht hatte. »Ich
habe schon länger mit dem Gedanken gespielt und das war mein
letzter Anstoß … du hast genug gelitten, Molly, und ich kann niemals wiedergutmachen, dass ich nach der Party nicht für dich da
war. Aber wenigstens ist dein Leid jetzt vorbei.«
Spielt sie jetzt wirklich die Märtyrerin? Sie klaut mir ja echt meinen
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Plan. Ich habe noch so viele Fragen an sie, aber so sehr ich Frau Greisers feige Flucht verabscheue, sie hat nicht ganz unrecht, dass es besser wäre, wenn wir uns erst einmal alle ein bisschen beruhigen. Also
sehe ich Lizzy und ihrer Mutter hinterher, als auch die beiden das
Büro verlassen, und setze mich dann zurück auf meinen Stuhl, weil
ich davon ausgehe, dass Dr. Hilmberger zumindest noch ein paar
Fragen an mich hat. Allerdings entlässt er auch mich. »Molly, ich
werde mich unverzüglich mit dem Schulrat zusammensetzen und
wir werden überlegen, was zu tun ist. Ich gehe davon aus, dass wir
in den nächsten Tagen eine neue Schulversammlung einberufen,
aber wie das alles aussehen wird, kann ich gerade noch nicht sagen.
Ich kann meinen eigenen Schock über die ganze Sache gar nicht zum
Ausdruck bringen.«
Eine einzige Frage brennt mir noch auf der Zunge. »Dr. Hilmberger, haben Sie nach der Sache mit dem Flyer mir geglaubt oder
Vicki?« Ich weiß nicht, was ich mir von seiner Antwort verspreche.
Er zögert kurz. »Ich habe nie geglaubt, dass du selbst dahintersteckst«, erwidert er, »aber ja, ich wollte auch an das Gute in unserer
Schulsprecherin glauben … im Zweifel für den Angeklagten. Es tut
mir leid, dass ich damit falsch lag und du als Unschuldige darunter
leiden musstest.«
Ist schon in Ordnung. Vicki ist eine Meisterin der Täuschung und ich
hätte ihr vermutlich ebenfalls geglaubt. Ich spreche meine Gedanken jedoch nicht aus. Stattdessen nicke ich nur und verlasse das Büro des
Schulleiters ebenfalls, ungewiss, welche Konsequenzen auf alle Beteiligten warten.
Kein Schultag meines Lebens hat sich länger angefühlt als der heutige. In fast jeder Schulstunde wird das Gespräch auf die Schulversammlung gelenkt, auch wenn meine Lehrer abblocken und sich bemühen, zumindest halbwegs vernünftigen Unterricht durchzuführen
– immerhin versuchen sie nicht, den Lernstoff um jeden Preis durchzuziehen. Allen ist bewusst, wie heikel die Thematik ist angesichts
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der Tatsache, dass ich in der Klasse bin – aber so richtig traut sich
auch keiner, mich anzusprechen, was denn nun wirklich vorgefallen
ist und wie es Lizzy geht. Ich beteilige mich nicht aktiv am Unterricht und kann mich auch nicht darauf konzentrieren, also schreibe
ich mit, was an der Tafel steht, und sehne mich danach, hier endlich
rauszukommen. Meine Stimmung ist nicht ideal für die JD-Aktivität
und Luisas Geburtstag, aber solange ich nicht auch dort im Mittelpunkt stehe und abschalten kann, ist mir jede Abwechslung recht.
Mein Abschied von Bengü und Milo ist kurz, und wir beschließen
lediglich, uns auszutauschen, falls es im Laufe des Tages irgendwelche Neuigkeiten geben sollte. Ansonsten bleibt fraglich, ob morgen
der Schulalltag zurückkehrt oder weitere Maßnahmen getroffen werden, damit die Situation verarbeitet und abgeschlossen werden kann.
Mama weiß bereits Bescheid. Dr. Hilmberger hat sie angerufen
und kurz informiert, und eigentlich erleichtert mich das ein wenig,
dass ich nicht mit der Tür ins Haus fallen muss, auch wenn sie Einzelheiten fordert, die ich ihr selbstverständlich nicht verwehren
kann.
Ich habe Gewissensbisse. »Ich weiß, dass ihr mir gestern abgeraten habt, mich zu rächen«, sage ich abschließend. »Aber wäre Lizzy
nicht nach vorne gelaufen, hätte ich das getan. Sie war einfach
schneller als ich.«
Mama reagiert verständnisvoll. »Vielleicht war alles richtig so«,
überlegt sie. »Vielleicht auch nicht. Was mir jetzt wirklich am Herzen
liegt, ist, dass wir nach vorne sehen, Molly. Ich werde Vickis Bloßstellung nicht gutheißen oder behaupten, sie hätte das verdient – wesentlich ist, dass sie vor dem Schulleiter zugegeben hat, dass sie hinter all diesen üblen Machenschaften steckt. Und das bedeutet, dass
ihre Intrigen ein Ende haben. Das sollte uns momentan am Wichtigsten sein.«
Und Lizzy?, frage ich mich innerlich. Hat es für sie ein Ende? »Stellt
euch mal darauf ein, in den nächsten Tagen öfters zur Schulleitung
zu müssen«, warne ich sie vor. Papa freut sich bestimmt schon auf
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ein Wiedersehen mit Frau Greiser. Und ich freue mich auf das, was
für einen Teenager eher unüblich ist: auf einen ganz normalen Schultag ohne kräftezehrende Zwischenvorkommnisse.
Ich rufe Luisa bereits am Nachmittag an und tausche mit ihr die aufregenden Neuigkeiten aus, nachdem ich sie mit Geburtstagsgrüßen
überhäuft habe. Ich will ihr heute Abend keineswegs die Show stehlen – die Aktivität an sich hat zwar nichts mit ihrem Geburtstag zu
tun, aber es ist ihr Geburtstag und es soll um sie gehen und um ihre
Träume und Hoffnungen für das kommende Lebensjahr. Finn und
Dominik haben mich gefragt, ob wir ihr etwas gemeinsam schenken
wollen und ich habe eingewilligt, allerdings konnte ich es mir nicht
nehmen lassen, ihr einen langen Brief zu schreiben, genauso wie sie
es an meinem Geburtstag getan hat. Den Brief erhält sie heute, das
Geschenk auf ihrer Party am Freitag.
Heute ist eine gemeinsame Aktivität mit den Jungs und wir wollen in der Kulturhalle Volleyball spielen, wobei Julia wie immer
einen leckeren Frankfurter Kranz mitgebracht hat, mit dem wir uns
nach dem Spiel verköstigen wollen. Nach einer überschwänglichen
Begrüßung und dem gemeinsamen Seminarunterricht begeben Luisa, Finn, Dominik und ich uns gleich in die Halle, stellen die Stangen
auf und holen das Netz. Finn turtelt mit Luisa und mir geht das Herz
auf, die beiden so glücklich zu sehen – gerade heute. Kein Anflug
von Eifersucht. Der einzige Nachteil besteht darin, dass Finn die ganze Zeit bei uns ist und ich Luisa nicht ausfragen kann, wie es läuft
und wie es ihr geht, dafür lenkt sie wiederum das Thema ständig auf
die Schulversammlung, und natürlich wollen die Jungs auch alles
über den fulminanten Untergang von Vicki Greiser wissen.
»Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, ist Dominiks Meinung. »Bei
all dem Terror, den sie jahrelang veranstaltet hat, ist das genau die
angemessene Strafe. Ich hoffe, sie fliegt von der Schule.«
Warum nur kann ich ihm nach all dem Hass, den ich für Vicki verspürt
habe, nicht voll und ganz zustimmen? Hatte Papa recht? Ist das nicht die
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Weise, wie ich zu innerem Frieden gelange? Also sage ich nichts und
knote schweigend das Netz fest.
»Wie geht es jetzt weiter?«, erkundigt sich Finn.
»Das ist die Frage«, erwidere ich. »Dr. Hilmberger sagt, dass es
eine weitere Schulversammlung geben muss. Ich weiß zwar nicht, ob
die ihren Vortrag fortsetzen, aber sicherlich muss die Aktion von
heute thematisiert werden und dass das nicht der richtige Weg war,
aber gleichzeitig werden sie Vicki bestimmt auch irgendwie anprangern … vielleicht muss sie sich vor der ganzen Schule entschuldigen
und als Schulsprecherin zurücktreten, davon würde ich jetzt ausgehen.« Dass sie einen Schulverweis bekommt, halte ich allerdings
auch nicht für völlig unmöglich, sie hat eindeutig zu viele Grenzen
überschritten. Und wer weiß, ob sich jetzt nicht noch weitere Schüler
melden, denen sie gedroht hat.
»Molly!«
Ich erkenne die Stimme, wundere mich aber, sie hier zu hören:
Bengü kommt in die Kulturhalle gerannt. Was macht sie denn hier? Sie
ist außer Atem und ihre Wangen sind von zerlaufendem Mascara
schwarzgefärbt, ich erschrecke mich richtig bei dem Anblick. Mir
schwant Böses. »Was ist passiert?«, frage ich und laufe ihr entgegen.
»Ist etwas mit Lizzy?«
Sie stürzt sich in meine Arme und ich halte sie fest, während meine Freunde aus der Kirche den Netzaufbau abgebrochen haben und
auf einen Schlag verstummt sind.
Bengü ist so aufgelöst, dass sie Mühe hat, irgendeinen vernünftigen Laut von sich zu geben.
»Geht es um Lizzy?«, wiederhole ich meine Frage eindringlicher.
Nun nickt sie und verbirgt das Gesicht in den Händen. »Sie liegt
auf der Intensivstation«, bringt sie schließlich hervor und schnieft.
Die Tränen laufen ihr in Strömen über das Gesicht. »Sie hat versucht,
sich das Leben zu nehmen.«
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27
D
er Tod gehört nicht weniger zum Erlösungsplan Gottes als die
Geburt. Er ist nicht das Ende, sondern eine weitere Pforte –
und wie oft hören wir doch, das Erdenleben sei nur ein winziger
Knoten in einem unendlich langen Seil, ein kleiner Augenblick in der
Ewigkeit.
Aber ich bin ein Mensch. Ich denke wie ein Mensch. Ich habe zeitliches
Empfinden wie ein Mensch.
Als wir Papas Eltern in einem relativ kurzen Zeitraum nacheinander verloren hatten, war ich traurig wie jedes Enkelkind – ich hatte
meine Großeltern sehr lieb. Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, weiß
ich, dass Oma und Opa Bach nicht besonders alt geworden sind –
aber als Kind hat man dieses Konzept noch nicht ganz verinnerlicht.
Man selbst ist jung, Mama und Papa sind halt Mama und Papa und
Oma und Opa sind alt und grau (obwohl Oma Bach bis zu ihrem
Tod schönes, dichtes braunes Haar hatte). Nie hätte ich gedacht, dass
die Thematik mich als Jugendliche treffen würde – so schnell, so unverhofft, so plötzlich.
Was, wenn man Lizzy nicht mehr helfen konnte? Ich bin trostlos und
die Hoffnung, die ich dringend nötig habe, will sich nicht einstellen,
dabei will ich gar nicht mit dem Schlimmsten rechnen. Lizzy soll leben und alles verarbeiten und wieder so fröhlich und ausgelassen
werden wie früher.
Ich knabbere an meinen Fingernägeln – ein Laster, das mir Mama
vor zehn Jahren mit großer Mühe und viel eklig-bitterem Schutzlack
abgewöhnt hat. Papa und ich haben Bengü bei sich zuhause abgesetzt. Ich habe sie noch nie so aufgewühlt erlebt. Selbst wenn sich
Bengü aufregt, hat sie doch normalerweise die ruhige Natur, bleibt
gefasst und vernünftig und bemüht sich, erst einmal alles im Kopf
durchzugehen. Dass sie sich von ihren Gefühlen übermannen lässt,
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ist eine echte Ausnahme. Vielleicht war die Nachricht mit Lizzy ein
zu großer Schock – oder vielleicht sind es Schuldgefühle, weil die
Freundschaft in den letzten Wochen so zerrüttet war und Bengü den
Gedanken, es nicht ins Reine gebracht haben zu können, nicht ertragen kann. Trotzdem hat sie die Frage, ob sie ins Krankenhaus mitkommen will, mit einem vehementen Kopfschütteln und ohne nähere Gründe abgelehnt.
Nun sind Papa und ich zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage
in einem Krankenhaus – wenn auch nicht im gleichen wie mit Mama
am vergangenen Freitag. Ich bin mindestens genauso besorgt, Papa
macht sich eher Sorgen um mich und redet mit der Dame am Empfang, die uns Stockwerk und Station nennt, uns aber bittet, dort mit
der zuständigen Krankenschwester zu sprechen, weil Lizzy erst vor
ein paar Stunden eingeliefert wurde und eigentlich noch keinen Besuch empfangen sollte (abgesehen von unmittelbaren Angehörigen).
Ich teile Papa mit, dass ich alleine nach oben fahre, weil ich nicht
will, dass die schlimmen Erinnerungen an Mamas Zusammenbruch
wieder hochkommen, aber er äußert sich gar nicht dazu, legt seine
Hand fest auf meine Schulter und lotst mich zum Aufzug.
Nachdem wir den Fahrstuhl verlassen und die Glastür zur Station passiert haben, steigt meine Angst. Der furchtbar sterile Geruch
und die viel zu verdächtige Stille können kein gutes Zeichen sein.
Die erste Tür zur Linken steht offen und führt in ein Schwesternbüro, das allerdings gerade leer ist, aber ehe wir uns nach einer Krankenschwester umsehen können, entdecken wir gleichzeitig Herrn
und Frau Opitz ein paar Meter weiter, wie sie auf dem Gang mit einem Arzt sprechen. Sie sind nicht weit weg und trotzdem sprechen
sie so gedämpft, dass ich nicht einmal ein Flüstern hören kann, aber
vielleicht ist mir der ganze Trubel auch aufs Trommelfell geschlagen
und ich bin nun taub, mich würde nichts mehr wundern.
Lizzys Mutter wendet sich zur Seite und sieht uns. Mit einem gequälten Lächeln breitet sie die Arme aus, und obwohl wir uns nicht
sonderlich gut kennen, drückt sie mich kurz an sich. Ihr Make-up ist
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verlaufen, ihre Augen sind verquollen.
»Wie steht es um sie?«, frage ich und kann meine Tränen selbst
nicht mehr zurückhalten. Es ist mir peinlich, das Gespräch mit dem
Arzt einfach so zu unterbrechen, aber ich kann mich auch nicht zurückhalten. Allerdings nickt der Doktor Herrn Opitz nun zu und entfernt sich prompt. Lizzys Vater stellt sich zu uns, und hinter mir spüre ich Papa, der mir erneut sacht auf die Schultern fasst, diesmal mit
beiden Händen.
»Sie hat viel Blut verloren«, berichtet Frau Opitz. »Aber zum
Glück haben wir sie rechtzeitig gefunden und sie ist aus dem Schneider … sie schläft jetzt.«
Ich traue mich nicht recht zu fragen, was eigentlich geschehen ist,
jedoch umreißt Herr Opitz von sich aus die Geschehnisse vom Nachmittag. Lizzy war aufgebracht, als sie heimkam, wollte aber nicht
darüber sprechen und verkrümelte sich in ihrem Zimmer. Als ihr Vater am späten Nachmittag heimkam, fand er ihr Zimmer leer vor, das
Bad war jedoch abgeschlossen und niemand antwortete. Nach ein
paar Minuten wurden er und seine Frau unruhig, er brach die Tür
mit Gewalt auf, und sie fanden ihre bewusstlose Tochter blutdurchtränkt und leichenblass vor. Sie hatte sich im Bad eingeschlossen, die
Rasierklingen ihres Vaters aus dem Spiegelschrank gekramt, sich in
die Wanne gehockt und beide Handgelenke aufgeschlitzt. Trotz Ohnmacht waren die Augen geöffnet und beide befürchteten das
Schlimmste, aber der Krankenwagen traf schnell ein und bereits
nach der ersten Bluttransfusion stabilisierte sich ihr Zustand. Was
Lizzy vermutlich das Leben gerettet hat, ist ein banaler technischer
Fehler: Sie hat versucht, die Pulsadern quer aufzuschneiden, nicht
längs, und so war der Blutverlust zwar nicht ohne, aber es hätte viel
schlimmer kommen können.
Frau Opitz bietet mir an, kurz mit ihr ins Krankenzimmer zu gehen. »Sie schläft ganz friedlich«, sagt sie. »Es wird dir guttun, sie so
zu sehen. So ging es uns vorhin.«
Papa bleibt mit Lizzys Vater im Gang zurück, als wir das kleine
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Zimmer betreten. Es gibt zwei Betten, aber nur Lizzys ist besetzt. Um
ehrlich zu sein, sehe ich weniger ein friedlich schlafendes Mädchen
als ein kleines blasses Ding mit fast schwarzen Ringen unter den Augen, das selbst in diesem schlafenden Zustand unglücklich wirkt.
Mir wird das Herz schwer und ich muss ein Schluchzen unterdrücken. Lizzys Augenbrauen sind traurig zusammengekniffen, ihre
Mundwinkel herabgelassen. Die dünnen Handgelenke sind verbunden, und Infusion und EKG wirken sich nicht unbedingt positiv auf
die trostlose Atmosphäre aus.
Während ich sie beobachte, spreche ich ein Gebet im Herzen,
auch wenn ich nicht weiß, ob ich danken oder flehen soll. Vater im
Himmel, ich bin so erleichtert, dass sie am Leben ist … aber du musst ihr
bitte helfen, das alles weiterhin durchzustehen. Ich bin doch für sie da. Bengü ist für sie da. Ihre Eltern sind für sie da …
Ich blicke zu Frau Opitz und fühle mich plötzlich mitverantwortlich für das Ganze. Vielleicht wäre es mir doch gelungen, Lizzy vor Vicki
zu bewahren, wenn ich mich mehr angestrengt hätte? Außerdem fühle
ich mich unwohl, weil ich das Gefühl habe, Lizzys Mutter kostbare
Zeit zu rauben, aber ihr Angebot nicht ablehnen wollte, zu Lizzy ins
Zimmer zu gehen. »Bei Bengü und dir habe ich sie immer in Sicherheit gewogen«, flüstert sie. »Ich habe nicht ein einziges Mal bezweifelt, dass ihr gute Gesellschaft für sie seid. Ihr hättet sie niemals in
Schwierigkeiten gebracht. Als sie dann plötzlich so drastisch den
Freundeskreis wechselte …« Sie holt ein völlig durchweichtes Papiertaschentuch aus der Hosentasche und tupft sich damit die Augen ab. »Mir kam das nicht geheuer vor. Aber sie hat darauf bestanden, ihre neuen Freundinnen wären toll und würden sie, wie sie
meinte, ›etwas mehr für voll nehmen‹.«
O Lizzy, weine ich innerlich. Wie konntest du auch nur eine Sekunde
annehmen, jemand wäre Vicki wichtiger als sie selbst? Sie würde sogar Kathrin und Samira verkaufen, um sich selbst zu retten … Andererseits
habe ich selbst mitbekommen, wie Vicki ihr Umfeld geschickt einlullt. Nur hätte Lizzy es eigentlich besser wissen müssen.
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Frau Opitz fährt fort. »Als Dr. Hilmberger uns nach Vickis Party
kontaktierte, waren wir völlig entsetzt, aber Lizzy beteuerte, dass
nichts dergleichen dort vorgefallen war. Ich wusste überhaupt nicht,
was ich tun sollte. Ich wollte ihr glauben, aber mein Gefühl sagte
mir, dass sie Vicki aus irgendwelchen Gründen schützte.« Leise lacht
sie kurz verkrampft auf. »Ich fühle mich schuldig, Molly. Ich dachte
immer, wir hätten ihr die Liebe entgegengebracht, die sie braucht …
vielleicht ist sie als Mittelkind doch zu kurz gekommen.«
»Das glaube ich nicht«, entgegne ich gleich. »Sie bewundert Vicki
schon seit Jahren – dabei ist sie selbst so hübsch und klug, aber sie
hat immer nur gesehen, welchen Einfluss Vicki hat, und sie hat sich
das für sich selbst gewünscht, auch wenn ich sicher bin, dass sie ihren Einfluss eingesetzt hätte, um etwas Gutes zu bewirken … Sie war
geblendet und wollte nicht sehen, wo sie da hineingerät …«
»Vor etwas über einer Woche kam sie völlig verändert nach Hause«, erzählt Frau Opitz weiter. »Ich habe sie noch nie so erlebt … sie
konnte nicht mehr lachen, nicht mehr scherzen, sie war aggressiv
und ließ nicht mit sich reden. Sie war am Boden zerstört und hat keinen an sich herangelassen.« Der Schmerz in ihrer Miene mischt sich
nun mit Wut. »Dana, unsere Älteste, hat vorhin angerufen. Sie hat zu
Hause das Chaos beseitigt und dann gesehen, dass Lizzy am PC
noch unter ihrem Postfach eingeloggt war. Wusstest du, dass Vicki
sie erpresst hat?« Sie schluckt und kämpft erneut mit den Tränen.
Mein Herz beginnt, wie wild zu klopfen. »Mir ist gestern der Verdacht gekommen, ja«, bestätige ich.
Lizzys Mutter ringt nach Worten. Sie schaut auf ihre schlafende
Tochter und schüttelt fassungslos den Kopf. »Molly, ich will die Fotos von dir nicht herunterspielen, aber du kannst dir nicht vorstellen,
was für Aufnahmen sie von ihr gemacht haben … und ich habe sie ja
nicht einmal gesehen, aber was Dana erzählt hat …« Sie presst sich
eine Hand gegen den Mund. Ich fühle mich unbeholfen und möchte
sie trösten, weiß aber nicht, was ich tun soll. »Sie müssen sie betrunken gemacht oder unter Drogen gesetzt haben«, sagt sie dann und es
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ist kaum mehr als ein leises Hauchen. »Dana meint, es sei Pornografie der übelsten Sorte … Lizzy muss völlig benommen aussehen,
sie kann das nicht freiwillig mit sich haben machen lassen …« Nun
schaut sie mich wieder an. »Molly … wer tut so etwas? Wie kann man
nur so gewissenlos und grausam sein?«
Mein ohnehin schon schreckliches Bild von Vicki verschlimmert
sich noch einmal gewaltig, allerdings ergibt die Sache nun allmählich
einen Sinn. »Frau Opitz, Sie müssen zur Polizei«, tue ich erwachsen,
als wisse sie das nicht selbst. »Das ist nicht mehr Schikane oder Mobbing, das ist Missbrauch.«
Das Einzige, was mich gerade in irgendeiner Weise bestärkt und
mir Erleichterung verschafft, ist die Gewissheit, dass Vicki entlarvt
ist – und dass Lizzy selbst es war, die diesen Schritt gegangen ist. Ich
weiß nicht, warum Lizzy das Video von Vicki aufgenommen hat –
ich hoffe, dass sie bereit ist, den Mund zu öffnen und alles zu erzählen, wenn sie erwacht ist –, aber die Angst davor, solche Fotos von
ihr könnten veröffentlicht werden, war wahrscheinlich erheblich größer als die Gewissheit, das nötige Druckmittel zu besitzen, um Vicki
bloßzustellen. Daher auch ihr wirres Gerede heute Vormittag in Dr. Hilmbergers Büro, überkommt es mich. »Wenigstens dein Leid ist jetzt vorbei«, hatte sie gesagt. Sie war tatsächlich bereit, Vickis Machenschaften ein
Ende zu setzen und als Preis in Kauf zu nehmen, dass diese Fotos von ihr
womöglich in Umlauf geraten. Sie hat sich buchstäblich für mich geopfert.
Die Erkenntnis verschlägt mir die Sprache und ich spüre einen
Knoten in meinem Hals. Dann kommen die Tränen. Mir wird bewusst, dass Lizzy tief in ihrem Herzen gewusst hat, wer ihre wahren
Freunde sind und dass dieses Wissen letztlich gesiegt hat und sie bereit war, ihr Leben für meines zu geben. Ich muss augenblicklich an
die Schriftstelle aus dem Johannes-Evangelium denken, dass es keine
größere Liebe gibt als die, wenn jemand sein Leben für seine Freunde hingibt.
»Wir werden die nötigen Schritte gehen, keine Sorge.« Ihre Stimme ist nun fester und bestimmter. »Du solltest das Gleiche tun.«
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»Ja«, stimme ich zu. Wir gehen zurück auf den Flur und schließen
die Tür leise, und ich werfe nur kurz einen letzten Blick auf Lizzy,
ehe ich mich zu Papa stelle und seine Arme um mich spüre.
»Vielen Dank fürs Kommen«, sagt Herr Opitz leise und an mich
gerichtet: »Wir wissen deine Freundschaft zu Lizzy sehr zu schätzen,
Molly.«
Ich bin nun doch froh, dass Papa mit hochgekommen ist, denn
ich torkele ein wenig benommen neben ihm her und befürchte, jede
Sekunde hilflos zusammenzubrechen. Als wir im Auto sitzen, kann
ich mich nicht länger zusammenreißen, schluchze kurzatmig und
lasse mich von meinem Vater trösten.
Wie fing das alles noch an? Mit einem einzigen dummen Kommentar
bei der Theaterprobe! Wie sich wohl alles entwickelt hätte, wenn ich
damals mit Vicki mitgegangen wäre, als sie mir angeboten hatte,
»ihre« Jane und »meine« Bertha zu besprechen. Ich glaube nicht,
dass sich eine echte Freundschaft daraus entwickelt hätte, und wer
weiß, vielleicht läge ich jetzt im Krankenhaus, ich kann es nicht ermessen. Doch der bloße Gedanke, dass etwas klein und unbedeutend anfing und in einen solchen Psychokrieg ausartete, wegen dem
nun das Leben einer Freundin auf dem Spiel steht, ist grotesk und
mehr als lächerlich. So ist meine Heulerei gepaart mit ein paar unangebrachten Lachern. Papa lässt mich ohne Worte gewähren und
streicht mir einfach sacht übers Haar.
Mama erkundigt sich nicht nur nach Lizzy, sondern auch nach Bengü, die, wie sie berichtet, erst bei uns zuhause gewesen war, ehe sie
ins Gemeindehaus kam. »Ich hatte mich gerade von der Couch gepult, weil der Wicht mal wieder gegen die Blase gedrückt hat«, erzählt sie. Sie hat mir einen heißen Kräutertee gemacht und sich neben mich an den Küchentisch gesetzt, weil sie es laut eigener Aussage heute nicht eine Sekunde länger erträgt, auf dem Rücken zu liegen. »Ich wollte gerade auf Klo, da sah ich Bengü schon vor der
Haustür stehen, und eine Sekunde später klingelte sie … als ich ihr
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sagte, du seist in der Gemeinde, war sie auch schon wieder losgestürmt …«
Ich hole mein Handy hervor, auf das ich seit heute Nachmittag
nicht mehr geschaut habe. Vier verpasste Anrufe von Bengü. Einer
von daheim. Zwei von Luisa. Zwei von Milo. Von meinen Eltern
muss ich mir ständig anhören, wie wunderbar es sich leben ließ, als
keiner ein mobiles Telefon besaß, und nun nutze ich die Vorzüge offensichtlich nicht einmal.
»Die Schule hat sich auch gemeldet«, berichtet Papa, der sich zu
uns gesellt hat. »Deine Mutter und ich haben morgen Mittag ein Gespräch mit Dr. Hilmberger. Sie müssen jetzt alle Eltern erneut befragen … und die nächste Schulversammlung ist gleich für morgen angesetzt.«
»Ich bin gespannt, wann sie uns den Stoff des restlichen Schuljahres reindreschen wollen«, seufze ich. »Wobei wir morgen Mathe haben und Herr Rank bestimmt keine Rücksicht auf die momentane
Problematik nimmt … aber vielleicht habe ich Glück und die Versammlung findet während der 4. Stunde statt …«
Wir sprechen das gemeinsame Abendgebet früher als sonst, weil
ich müde bin und nach oben möchte. Papa betet für Lizzy und ihre
Gesundheit und für unser aller Seelenfrieden und ich umarme ihn
dafür länger als sonst und gebe ihm einen Kuss auf die Wange.
Große Lust auf Seminar morgen früh habe ich nicht, aber vielleicht
findet mein Paps ja einen Weg, dass ich den Tag mit einer positiveren
Einstellung beginnen kann.
Nachdem ich Bengü nicht erreiche, rufe ich mit einem schlechten
Gewissen vor dem Einschlafen wenigstens noch Luisa an, die den ätzendsten Geburtstag aller Zeiten gehabt haben muss. »Molly, nun
mach mal halblang!«, ruft sie fast ungeduldig. »Du kannst ja wohl
überhaupt nichts dafür!«
Sie bietet mir sogar an, ihre Party zu verschieben oder gar ausfallen zu lassen, falls mir das zu viel wird, aber ich lehne ihr Angebot
resolut ab. Eine Ablenkung am Wochenende wird uns allen guttun.
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Vielleicht ist Lizzy bis dahin aus dem Krankenhaus entlassen? Aber
ich weiß gar nicht, wie es mit ihr weitergeht – und ob sie möglicherweise noch einige Zeit dort bleiben und psychiatrisch betreut werden muss, damit sie ihre Verzweiflungstat nicht wiederholt.
Ich weiß, dass es beim Beten nicht um unseren Willen geht, sondern darum, Gottes Willen für uns zu erkennen, aber ich bete rigoros
um Lizzys Wohlbefinden. Ich weine und flehe und klage an und entschuldige mich dann wieder. Um kurz nach Mitternacht schrecke ich
hoch und stelle fest, dass ich auf meinen Knien vor dem Bett eingeschlafen bin. Schnell krieche ich unter meine Decke und liege trotz
Müdigkeit doch wieder eine Weile wach, bis mich der wohltuende
Schlaf von meinen vielen Sorgen erlöst.
Wir sind im Seminarunterricht beim dritten Nephi angelangt. Papa
hat mir gestern Abend angeboten, dass ich heute länger schlafen
darf, wenn ich möchte, aber abgesehen davon, dass mir die heiligen
Schriften guttun werden, war ich sowieso wieder viel zu früh wach.
Sophie sieht mich mitleidig an, als ich neben ihr Platz nehme.
»Konntest du schlafen?«, fragt sie vorsichtig.
»Lesen wir«, blocke ich ab – obwohl ich ihr die Frage wirklich
nicht übelnehme. Aber es ist zu früh und ich bin zu müde und vom
gestrigen Tag zu ausgepowert, um Dankbarkeit zu zeigen.
»Wir besprechen heute ein paar fantastische Verse«, beginnt Papa
nach dem Gebet. »Sie können gar nicht passender sein zu unserer etwas schwierigen Situation. Es geht heute um die Weihnachtsgeschichte … aber aus einer anderen Sicht als sonst.«
In Weihnachtsstimmung bin ich wahrlich nicht – trotzdem höre
ich aufmerksam zu, als Sophie in ein paar Worten umreißt, was einst
in Bethlehem geschah: die stille, ruhige, friedliche, unspektakuläre
Geburt des Erretters und Erlösers der gesamten Menschheit.
»Wir ziehen heute einen Kontrast«, fährt nun Papa fort. »Denn
während es in Jerusalem relativ ruhig zuging, war auf dem amerikanischen Kontinent die Hölle los.« Er ruft uns in Erinnerung, wie all
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die Nephiten, die daran glaubten, dass es zur Geburt Christi ein Zeichen geben würde, hingerichtet werden sollten, falls dieses nicht einträfe. »Ich frage mich, welche Angst dort herrschte – oder ob die
Gläubigen im Herzen ganz ruhig waren, weil sie wussten, dass alles
gut ausgehen würde. Und dann«, er tippt auf einen der Verse, »betet
Nephi – wobei hier steht, dass er zum Herrn schrie. Was geschah
dann? Molly, Vers 12 und 13?«
»Und es begab sich«, lese ich. »Er schrie mächtig zum Herrn, den
ganzen Tag lang; und siehe, die Stimme des Herrn erging an ihn,
nämlich: ›Hebe dein Haupt empor und sei guten Mutes; denn siehe,
die Zeit ist nahe, und in dieser Nacht wird das Zeichen gegeben werden, und morgen komme ich in die Welt, um der Welt zu zeigen,
dass ich alles erfüllen werde, was ich durch den Mund meiner heiligen Propheten habe sprechen lassen.‹«
Welch wundervolle Verheißung. Welchen Trost Nephi verspürt
haben muss, dass der Herr ihm zusicherte, alles würde gut werden.
»Es gibt sehr finstere Zeiten, in denen es manchmal um Leben
und Tod geht«, sagt Papa. »Aber: Es gibt immer Hoffnung! Derer dürfen wir uns niemals berauben lassen!«
»Aber … manchmal geht trotzdem nicht alles so gut aus wie an
dieser Stelle, oder?«, frage ich.
»Der Herr nimmt uns nicht die Entscheidungsfreiheit«, erwidert
Papa. »Manchmal machen uns die Entscheidungen anderer sehr zu
schaffen … aber Molly, wir dürfen niemals die Hoffnung verlieren,
dass sich letztlich alles zum Guten wendet!«
»Lizzy wird das packen!«, redet Sophie mir zu. »Du sagst doch
selbst immer, was für eine Powerfrau sie ist.«
Jetzt gerade verspüre ich diese Hoffnung. Warum macht unser
begrenzter, menschlicher Verstand uns nur immer so schnell wieder
einen Strich durch die Rechnung? Vielleicht, weil Lizzys Tat die pure
Hoffnungslosigkeit verkörpert. Und dennoch: Dass sie sich gewandelt und Vicki angeprangert hat, zeigt, dass meine und Bengüs Hoffnung, sie werde sich besinnen, nicht umsonst war, und wir müssen
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daran unbedingt weiterhin festhalten.
Der liebevolle Zuspruch des Herrn an Nephi prägt sich mir tief ein
und auf dem Schulweg sage ich mir den Anfang der Schriftstelle in
Gedanken immer wieder auf. Hebe dein Haupt empor und sei guten
Mutes … Ich möchte am liebsten ins Krankenhaus fahren oder bei
Lizzys Familie anrufen und mich erkundigen, wie der Stand der
Dinge ist und wie es Lizzy inzwischen geht, aber ich will mich nicht
aufdrängen.
Ich erreiche die Schule also in Ungewissheit und gebe mich einer
Gruppenumarmung mit Milo und Bengü hin, die mich am Schuleingang erwarten. Bengü wirkt übermüdet, aber relativ gefasst, der
arme Milo hingegen, den ich gestern gar nicht mehr zurückgerufen
habe, hat die schreckliche Nachricht gerade erst erfahren.
»Meine Mutter hat heute morgen mit Frau Opitz telefoniert«, informiert uns Bengü. »Lizzy geht es gesundheitlich ganz gut. Sie ist
noch nicht so bereit, über alles zu reden, was geschehen ist, aber ihre
Eltern und die Ärzte hoffen, dass sie bald zu ihr durchdringen können.«
»Wir dürfen die Hoffnung jedenfalls nicht verlieren!«, sage ich
den beiden aufmunternd und wende damit sogleich das im Seminar
Gelernte an. Und sollte mir jemand vorwerfen, dass ich mir blauäugig etwas vormache, dann ist das eben so. Hoffnung zu versprühen
ist jedenfalls ein besseres Gefühl als schlechte Stimmung zu verbreiten. »Auch wenn Vicki das nicht gerade fördert.« Bei dem Gedanken
an sie bekomme ich schon wieder miese Laune.
»Wisst ihr Näheres?«, fragt Milo vorsichtig. »Also womit sie Lizzy unter Druck gesetzt hat?«
»Ebenfalls mit Fotos«, erkläre ich, »allerdings eine ganze Spur
härter als bei mir, so unvorstellbar das klingt …«
Ich bin den beiden dankbar, dass sie ihre Neugier zügeln, es dabei belassen und nicht nach einer näheren Beschreibung fragen. Abgesehen davon, dass ich den konkreten Inhalt ja gar nicht kenne, hat
mir das gereicht, was Frau Opitz erzählt hat.
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»Die Schulversammlung findet jetzt gleich statt«, berichtet nun
Milo und lenkt damit das Thema auf den heutigen Tag. »Hilmberger
will anscheinend keine Zeit mehr verlieren. Ich glaube schon, dass es
ihm um unser Wohl geht, aber realistisch betrachtet steht auch seine
Karriere auf der Kippe … wenn das alles rauskommt, was sich hier
abgespielt hat …« Er hält inne und kneift plötzlich die Augen zusammen. Sein Blick ist auf die andere Straßenseite fixiert, und als Bengü
und ich uns umdrehen, sehen wir, was ihn abgelenkt hat: Ein auf
Hochglanz poliertes, silbernes BMW-Cabriolet hat dort gehalten und
Mutter und Tochter Greiser steigen aus. Mit dem weißen, schwarzgetupften Tuch, das Kopf und Hals ziert, und der großen Sonnenbrille
sieht Frau Greiser aus wie eine Filmdiva aus den 50ern. Vicki sieht
für ihre Verhältnisse wenig zurechtgemacht aus. Mit geneigtem Kopf
läuft sie hinter ihrer Mutter her in Richtung Hintereingang – der kürzeste Zugang zum Sekretariat.
»Meinst du, die nehmen etwa auch an der Versammlung teil?«,
überlegt Bengü laut.
»Nie und nimmer«, höhnt Milo abfällig. »Die haben bestimmt
einen Termin bei Hilmberger … bloß beginnt die Versammlung doch
in wenigen Minuten, eigentlich dürfte der gar keine Zeit für sie haben, das ist gerade etwas seltsam …«
Misstrauisch wenden wir uns wieder dem Eingang zu und betreten die Schule. Die Lehrer haben in den Gängen eine Art Kette gebildet und weisen jeden Schüler freundlich darauf hin, sich unverzüglich in die Aula zu begeben. Wir folgen zunächst der Masse, und als
wir an der geöffneten Doppeltür zum großen Saal stehen bleiben,
stellen wir fest, dass die Schüler heute nicht nach Klasse aufgeteilt
sitzen; ein paar Lehrer weisen den Ankömmlingen Sitzplätze zu und
so füllen sich die Reihen nach und nach von vorn nach hinten. Frau
Dr. Müller, die Schulpsychologin, hat auf der Bühne bereits Platz genommen, die Stühle neben ihr sind jedoch noch leer. Die Leinwände
sind heute nicht von der Decke heruntergelassen. Vielleicht hält Dr.
Hilmberger es nach der gestrigen Aktion für angebracht, dass wei-
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testgehend auf technische Hilfsmittel verzichtet wird.
Die Stimmung ist erdrückend. Die meisten Schüler schweigen angespannt, ein paar tuscheln, aber ebenfalls ernst und ohne Gelächter.
Alle spüren, dass etwas gehörig nicht in Ordnung ist.
Wir drei stehen noch wie angewurzelt am Eingang der Aula, als
Frau Ömsen auf uns zueilt. Unsere sonst immer fesche und attraktive Lehrerin wirkt wie um zehn Jahre gealtert. An den dicken Augenringen ist erkennbar, dass auch sie eine eher schlaflose Nacht hinter
sich hat. »Ach, ihr drei«, begrüßt sie uns, »ihr seid der kleine Lichtblick, dass unsere Schule auch noch Gutes hervorbringt. Gibt es Neuigkeiten von Lizzy?«
Bengü und ich berichten ihr kurz, was wir wissen, und sie wirkt
sofort erleichtert, dass es unserer Freundin den Umständen entsprechend gut geht.
»Frau Ömsen, was genau läuft hier jetzt ab?«, fragt Milo neugierig. »Wir haben eben Vicki und ihre Mutter ankommen sehen – nehmen die etwa teil?!«
Frau Ömsen sieht sich kurz um, um sicherzustellen, dass uns keiner hört. »Herr Nordisk leitet das heute«, erklärt sie und zeigt auf
den stellvertretenden Schulleiter, der soeben auf der Bühne Platz genommen hat. »Frau Dr. Müller wird allerdings die meiste Zeit reden
… Dr. Hilmberger stößt wohl erst später dazu.«
Oder er flieht und verlässt das Land wegen akuten Versagens.
»Susanne?« Ein Lehrer, der ein paar Zettel Papier in der Hand
hält, spricht Frau Ömsen an.
»Entschuldigt mich.« Frau Ömsen wirft uns ein letztes Lächeln zu
und widmet dann dem anderen Lehrer ihre Aufmerksamkeit.
Verstehe ich das also richtig? Wir werden im Grunde vom Schulleiter vertröstet? Ich kann mir genau vorstellen, wie das jetzt ablaufen wird: Herr Nordisk setzt Dr. Hilmbergers Vortrag fort, wie das
alles bloß nicht erneut geschehen darf, und Frau Dr. Müller, die ja
gestern schon so freigiebig über die tödlichen Folgen von Mobbing
philosophiert hat, kann nun sogar ein akutes Beispiel nennen. Auch
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wenn ich nicht weiß, ob Lizzys Name genannt werden wird.
Das bringt mir doch nichts. Frau Greiser und Vicki reden gerade auf Dr.
Hilmberger ein und ich soll mich hier berieseln lassen?
»Ich werde Vicki stellen«, beschließe ich spontan und zu meiner
eigenen Überraschung. Ich sehe Milo und Bengü an, dass sie es für
einen Scherz halten. »Ich meine das ernst«, füge ich hinzu. »Was sollen wir uns denn jetzt von unserer lieben Psychologin anhören? Wie
gefährlich Mobbing ist? Welche Folgen das hat? Ich glaube, das wissen wir zu genüge … ich sage, wir schwänzen das Ganze und lauern
Vicki vor dem Sekretariat auf.«
»Ich weiß nicht, Molly …« Bengü sieht mich zweifelnd an. »Das
kann doch nur mit einem weiteren blauen Auge enden …«
»Das ist mir egal«, entgegne ich patzig. »Du vergisst, dass mir
Lizzy gestern bei der Versammlung nur zuvorgekommen ist. Ich
wollte sie selbst auffliegen lassen … ich will, dass sie sich mir und
Lizzy gegenüber verantwortet.«
»Ich bin dabei«, sagt Milo. Bengüs Miene zeigt Missbilligung,
woraufhin Milo fast schüchtern die Hände in die Hosentaschen
steckt und die Schultern anhebt. »Was denn?«, fragt er wie ein Unschuldslamm. »Irgendjemand muss sie doch festhalten, während
Molly zuschlägt …«
»Milo!« Bengü ist entsetzt.
»Ich werde mich zurückhalten!«, beschwichtige ich sie. »Aber es
muss sein. Ich muss sie mit dem, was sie verschuldet hat, konfrontieren.«
»Also gut.« Bengü seufzt. »Ich halte hier die Stellung. Falls doch
irgendetwas Wichtiges gesagt wird, kann ich euch dann davon berichten …«
Milo und ich nicken.
Entschlossen wenden wir uns ab und verlassen die Aula. Nun
müssen wir uns nur noch zum Sekretariat vorkämpfen und geduldig
warten – und dann, liebe Vicki, wirst du mir Rede und Antwort stehen.
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D
ie liebste Ausrede meines kleinen Bruders, bis zum Anschlag
mit (Plastik-)Waffen durch das Haus zu flitzen und sowohl seine Familie als auch beliebige Gegenstände abzuballern, besteht
schon seit einiger Zeit aus Verweisen auf das Buch Mormon. Ich
selbst wurde ja erst vor wenigen Wochen sein Opfer und anschließend Zeuge, wie er die Gelegenheit gleich nutzte, seinem Kumpel
vom Buch Mormon zu erzählen und den »krassen« Geschichten darin. »Ich verteidige mich nur gegen die Bösen« ist derzeit sein Standardsatz. »Und ich verteidige euch ebenfalls! Meine Familie! Meine
Freiheit!« Das sagt er immer lächelnd, ehe uns die Schaumstoffmunition um die Ohren fliegt.
Schon in der PV habe ich dazugelernt, dass die Kriegsgeschichten
im Buch Mormon vor allem einen symbolischen Wert haben, da wir
uns heutzutage gegen den Satan und seine Anhänger wappnen müssen, um auf geistiger Ebene frei zu sein und unsere Familie und
Freunde zu beschützen.
Seitdem der inzwischen völlig ausgeartete Konflikt mit Vicki begonnen hat, ist diese symbolische Bedeutung für mich nach und
nach verloren gegangen. Ich bin buchstäblich in einem Krieg. Vicki
hat mehrfach angegriffen, ich habe zurückgeschlagen, es hat die ersten Opfer gegeben. Nun steht mir die Endschlacht bevor. Im Geiste
stelle ich mir vor, wie ich mir die berühmte Rüstung Gottes anlege,
und ich bin froh, dass es immerhin auch ein Schwert gibt, mit dem
ich angreifen und sie durchbohren kann – aber, Molly, das Schwert ist
das Wort Gottes. Zügle dein Temperament und handle mit dem Geist.
Sonst bist du schneller entwaffnet, als du zum Angriff ausholen kannst.
Milo und ich haben uns aus der Aula geschlichen, nachdem Bengü sich von dem nächstbesten Lehrer einen Platz hat zuweisen lassen. Rigoros steuere ich auf den Gang zu, der eine Etage nach oben
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und damit zum Sekretariat führt, als sich uns ein Lehrer in den Weg
stellt. Ich habe ihn natürlich schon mal gesehen, hatte ihn aber nie im
Unterricht und kenne, um ehrlich zu sein, nicht einmal seinen Namen. »Die Schulversammlung beginnt in wenigen Minuten«, sagt er
freundlich, aber bestimmt. »Bitte geht in die Aula und setzt euch.«
»Wir haben einen Termin mit dem Schulleiter«, entgegne ich in einem dreisteren Ton als gewollt.
Sein Blick ist skeptisch. »Während der Versammlung?«, fragt er
zweifelnd.
»Sie wissen sicherlich, wer ich bin?« Mein Zynismus ist nicht zu
überhören. »Oder soll ich Ihnen den Flyer noch mal zeigen?«
Ich glaube, ich war noch nie so frech zu einem Lehrer. Aber bei der
heiklen Stimmung, die bis in alle Ecken und Winkel der Schule vorgedrungen ist, traut er sich nicht, mir zu widersprechen. Er nickt
und geht dann wortlos zur Seite. Er fragt nicht einmal, warum mich
Milo begleitet, wozu er jedes Recht gehabt hätte.
Kaum ist der Lehrer außer Hörweite, fängt Milo an zu kichern.
»Molly, du bist ja echt knallhart!«, »lobt« er mich. »Hast du seinen
Blick gesehen?« Er kann es gar nicht glauben, auch wenn ich nichts
sage und mich lieber daran ergötze, wie beeindruckt er von mir ist
und dass es zur Abwechslung mal ich war, die uns aus einer beklemmenden Situation gerettet hat.
Wir laufen die Treppe hoch und werden von gähnender Leere
empfangen – keine Lehrer, keine Schüler; dieser Teil der Schule ist so
leergefegt, dass man annehmen könnte, es seien noch Ferien.
Nachdem wir an ein paar geschlossenen Klassenräumen vorbeigekommen sind, erreichen wir schließlich eine Sackgasse: Eine weitere Treppe führt zwar nach unten zum Hintereingang, ansonsten
befindet sich dort nur eine Tür zum Lehrerzimmer sowie eine Glastür, hinter der das Sekretariat und ein paar Büros zu finden sind,
darunter das von Dr. Hilmberger.
Milo öffnet die Tür sacht. Der Gang dahinter ist leer, wobei wir
aus dem einen offenen Büro, wo die beiden Schulsekretärinnen sit-
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zen, hören, wie jemand mit langen Fingernägeln auf der Computertastatur herumklackert. Das Büro von unserem Schulleiter ist, wie
ich es auch erwartet hätte, geschlossen. Vicki und ihre Mutter sind
bei ihm und tischen ihm gerade vermutlich weitere Lügen auf.
Wir könnten zwar auf der Bank vor Dr. Hilmbergers Büro Platz
nehmen, aber ich möchte nicht riskieren, dass er uns hier erwischt,
daher treten wir zurück und ich schließe die Glastür wieder.
»Und jetzt?«, fragt Milo. »Wir warten, bis Vicki rauskommt?«
»Genau«, erwidere ich. »Sicher, dass du mit mir warten willst?
Wer weiß, wie viele Stunden die da drinhocken.«
Demonstrativ lässt sich Milo an der Wand heruntergleiten und
setzt sich auf den Boden. »Ich bleibe hier.« Er trommelt mit den
Fingerspitzen auf den Oberschenkeln herum. »Was genau willst du
ihr denn eigentlich sagen?«
Nun, das Geständnis habe ich ja bereits im Beisein von Dr. Hilmberger erhalten, und darum geht es mir auch gar nicht. »Ich will,
dass sie zugibt, dass sie eine schreckliche Tat begangen hat«, erkläre
ich. »Dass sie sich bewusst ist, unschuldige Leben zerstört zu haben.
Milo, stell dir vor, Lizzy wäre tot … stell dir vor, meine Mutter hätte
das Baby verloren … Trotzdem geht es Vicki nur darum, im Mittelpunkt zu stehen und den eigenen Hintern zu retten?«
»Sie hat nichts anderes gelernt«, seufzt Milo und hebt gleich darauf die Hände. »Damit will ich ihr die Verantwortung nicht abnehmen – sie ist alt genug. Aber es gibt immer eine Ursache …«
»Jedenfalls wirst du ihre Mutter irgendwie ablenken müssen«,
fällt mir gerade ein – denn die ist ja auch mit von der Partie.
»Soll ich sie verführen?« Er hebt blasiert eine Augenbraue.
»Milo!« Er meint es nur im Scherz, ich weiß, aber mit Scherzen
kann ich gerade nichts anfangen, dazu ist die Nervosität, die zu meiner Entschlossenheit hinzugekommen ist, zu groß geworden. Wie
gehst du am besten vor, Molly? Gerade will ich mir einen Plan zurechtlegen, da höre ich meinen Namen.
»Frau Opitz!«, rufe ich erstaunt. Lizzys Mutter erscheint auf dem
352
oberen Ende der Treppe, die runter zum Hintereingang führt. »Was
machen Sie denn hier?« Blöde Frage – was sollte sie hier wohl wollen?
»Ich habe einen Termin mit Dr. Hilmberger«, erklärt sie ihr Auftauchen, als hätte sie es nötig, uns Rechenschaft abzulegen. Sie sieht
viel besser aus als gestern und einigermaßen ausgeruht. »Seid ihr gar
nicht bei der Versammlung?«, wundert sie sich.
»Ich – ähm – also –«
»Molly wollte auch gerade zum Schulleiter«, rettet Milo mich und
erhebt sich schnell. Er geht einen Schritt auf sie zu und reicht ihr die
Hand. »Ich bin Milo«, stellt er sich vor, »ein Freund von Molly.«
»Dr. Hilmberger … hat gerade Besuch«, sage ich dann zähneknirschend. Wenn Frau Opitz einen Termin mit ihm hat, müssen Vicki
und ihre Mutter unangemeldet aufgetaucht sein. Eine Konfrontation
zwischen den beiden Parteien geht vermutlich noch ärger aus als
zwischen Vicki und mir – es sei denn, Lizzys Mutter ist von Natur
aus ein Ruhepol und kann sich zurückhalten. »Wie geht es Lizzy?«,
frage ich zaghaft.
»Ich war gerade bei ihr«, berichtet sie. »Sie kann ihre Kurzschlussreaktion selbst nicht so ganz fassen, meint sie … aber da muss
noch einiges aufgearbeitet werden. Eine Psychologin führt gerade
ein Gespräch mit ihr.« Ein dunkler Schatten legt sich über ihre Augen. »Ich habe gesehen, was sie ihr angetan haben, Molly. Dana
meinte, ich solle es lassen und es würde den Schmerz nur vergrößern, aber ich musste … Ich musste es einfach wissen.« Sie macht eine
Pause, und vermutlich sind die schrecklichen Bilder wieder in ihr Bewusstsein gedrungen, begleitet von der Bestürzung darüber, dass
sich das Leben ihrer Tochter innerhalb kürzester Zeit zu einem wahren Horrorfilm entwickelt hat. »Was geschehen ist, ist geschehen. Ich
kann nur hoffen, dass Lizzy die Kraft findet, nach vorne zu blicken
und das alles schnell zu vergessen. Aber ich kann die Täter nicht ungeschoren davonkommen lassen.«
Das sollte sie auch nicht. Im Gegensatz zu mir wirkt sie jedoch
sehr abgeklärt und vernünftig – ihr geht es nicht um einen blutigen
353
Rachefeldzug, sondern um eine gerechte Strafe, und es ist nicht ihre
Aufgabe, diese zu bestimmen. Genauso wenig wie meine.
Gerade möchte ich sie bestärken, als die Glastür auffliegt und Veronica und Vicki Greiser den Sekretariatsbereich verlassen, gefolgt
von Dr. Hilmberger.
Ein Augenblick höchst unangenehmen Schweigens folgt.
Die intrigante Täterin und ihre genauso hinterhältige Mutter.
Ihre Erzfeindin und ihr ehemals bester Freund, den sie liebt, und der
sich mit dem Feind verbündet hat.
Die Mutter des Mädchens, das sich ihretwegen versucht hat, das Leben
zu nehmen.
Der Schulleiter, der das alles mehr oder weniger hilflos beobachten
musste und selbst nicht weiß, wie in seiner Schule jemals wieder Frieden
einkehren soll.
Wo ist das Kamerateam, das diese Dokusoap filmen soll? Ich
kann den Zuschauern versichern, dass sie hier keine unterirdisch begabten Laiendarsteller vorfinden, sondern die knallharte Realität.
»Auch das noch«, stöhnt nun Frau Greiser entnervt, als sie Milo
und mich erspäht und setzt sich prompt ihre Designer-Sonnenbrille
auf, dabei ist dieser Schultrakt sogar tagsüber und trotz Beleuchtung
eher düster.
»Molly, weshalb seid ihr nicht in der Versammlung?«, fragt Dr.
Hilmberger fast gleichzeitig.
»Ich wollte zu Ihnen«, lüge ich kleinlaut. »Aber es scheint so, als
wären Sie beschäftigt?«
Dr. Hilmberger sieht nervös auf seine Uhr. »Du kannst direkt
nach der Versammlung gern herkommen«, schlägt er dann vor.
»Aber ihr könnt hier nicht einfach unbeaufsichtigt herumstreunern.
Bitte geht sofort zurück zu den anderen. Frau Opitz?« Er hält die
Glastür auf.
Lizzys Mutter und Vicki starren einander in die Augen. Unverständnis, Wut und Verzweiflung auf der einen Seite prallen auf völlige Gleichgültigkeit auf der anderen Seite. Schließlich zwingt sich
354
Frau Opitz, den Blick abzuwenden und geht schnell und kommentarlos an Dr. Hilmberger vorbei. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie
Vicki am liebsten tausend Dinge an den Kopf geworfen hätte – böse
Beleidigungen, Drohungen, vielleicht wäre sie auch gern handgreiflich geworden. Sie hat den höheren Weg gewählt und ich empfinde
tiefen Respekt, dass sie sich gar nicht erst auf ein Streitgespräch eingelassen hat.
Frau Greiser zerrt an Vickis Ärmel. »Jetzt komm endlich, mein
Geduldsfaden ist am Reißen.« Sie läuft schnurstracks an uns vorbei,
und das Geräusch der Stöckelschuhe auf den Fliesen hallt laut durch
den Gang.
Ich mustere Vicki, die mich und Milo argwöhnisch beäugt. Jetzt
erst nehme ich es wahr. Sie hat geweint. Ich weiß nicht, ob die Tränen
aufrichtig waren oder nicht, aber sie hat geweint, und allein das ist
eine Gefühlsregung, die ich ihr so gar nicht zugetraut habe.
»Vicki, nun mach zu, verdammt noch mal!«, befiehlt Frau Greiser
ihrer Tochter, aber Vicki beachtet sie nicht und bleibt bei uns stehen.
Ein kurzer Moment mit peinlicher Stille folgt, und nun weiß ich doch
nicht so recht, was ich sagen soll. Aus mir unerklärlichen Gründen
empfinde ich einen Anflug von Mitleid, aber gleichzeitig so viel
Hass, und obwohl ich ihr gegenüberstehe, genau wie ich es wollte,
bringe ich kein Wort heraus.
Vicki durchbricht schließlich das Schweigen. »Du hast gewonnen,
Molly«, verkündet sie eher trocken. »Ich gratuliere.«
Das war sie – die große Endschlacht? Sie ist vorbei, ehe sie begonnen hat? Vicki kapituliert?
»Das war ein Krieg, den ich nie wollte«, erwidere ich. »Und ich
werde nie verstehen, warum du ihn führen musstest, Vicki. Du hättest all das nie nötig gehabt. Aber über Leichen zu gehen …« Ich stocke, denn angesichts von Lizzys Tat kommt mir mein eigener Kommentar unangebracht und makaber vor.
»Vicki!« Frau Greiser ist einige Meter vor uns an der Treppe stehengeblieben, hat sich umgedreht und winkt ihre Tochter zu sich,
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die sie weiterhin eisern ignoriert.
»Das ist mir völlig egal, ob du es verstehst oder nicht«, meint
Vicki. »Molly aus der perfekten Familie mit ihren perfekten Freunden.
Lächelt einmal unschuldig und bekommt all das, was sie will. Hast
du eine Ahnung, wie lange ich mich anstrengen musste, um all das
hier zu erlangen?« Sie breitet die Arme aus. »Meinen Freundeskreis,
mein Amt als Schulsprecherin –«
»All das hier?« Ich äffe ihr Geste nach. »Und was ist dir geblieben?
Wo sind deine ›Freunde‹? Wo ist dein Amt? Und wer trägt wirklich
die Schuld, dass du alles verloren hast – ich oder du selbst?«
Sie weicht einen Schritt zurück, als hätte ich ihr erneut einen
Fausthieb verpasst, aber diesen Gefallen werde ich ihr heute bestimmt nicht tun. »Was auch immer. Deine Klugscheißer-Bemerkungen kannst du für dich behalten.« Ihre Mutter beobachtet uns verdrießlich, aber Vicki macht keinerlei Anstalten, sich zu ihr zu gesellen. »Nun gut«, meint sie stattdessen. »Das ist wohl unser Lebewohl.
Aber ich kann euch dann ja auch selbst mitteilen, dass ich von nun
an diese Schule nicht länger besuchen werde. Ich bin so untröstlich,
dass ich es nicht in Worte fassen kann.«
Sie fliegt tatsächlich?! Oder haben ihre Eltern es eingefädelt, sie von der
Schule zu nehmen, ehe sie offiziell geschmissen werden kann? Sind sie und
ihre Mutter deshalb hereingeschneit? Um Dr. Hilmberger mitzuteilen, dass
Vicki die Schule verlässt, ehe sie einen Verweis bekommt?
Ich zwinge mich, zurückhaltend zu sein. Mein Herz braust auf
und es gibt so vieles, was ich ihr entgegenschmettern möchte, aber
während ich unschlüssig darüber bin, ob ich gerade die Rüstung
Gottes trage oder nicht, wird mir eines klar: Vorwürfe bringen mich
nicht weiter. Ein Angriff mit dem Schwert bringt mich nicht weiter. Sie
will es nicht einsehen. Ich muss abschließen. Ich muss die schlechten Gefühle gehen lassen. Ich muss mit erhobenem Haupt nach vorne blicken.
Die Folgen sind schon schmerzhaft genug – ich kann mich nicht
noch selbst belasten, indem Hass mein Herz zerfrisst. »Eines Tages,
Vicki«, sage ich langsam und fest, »wenn du erwachsen geworden
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bist und über all das, was geschehen ist, reden möchtest, werde ich
dazu bereit sein. Ich wünsche dir, dass du erkennst, dass du selbst
nicht glücklicher wirst, nur weil du andere unglücklich machst.«
»Molly Bach, die Mustermormonin«, faucht sie sarkastisch. »Und
du meinst ernsthaft, dass ich mir das jetzt zu Herzen nehme? Dass
ich mich ändere, um so zu werden wie du? Du hast gar nichts über
mich begriffen. Glaubst du, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche,
als eines Tages deine Vergebung zu erlangen? Ha!«
»Viktoria Greiser!« Nun ist ihre Mutter tatsächlich am Ende ihrer
Geduld, trippelt wütend zurück – und sie ist not amused. »Was sollen
diese dämlichen Kindereien! Ich habe in zehn Minuten einen Termin
und den werde ich bestimmt nicht wegen dir verpassen! Mir reicht
es, dass dein Vater und ich darunter leiden müssen, dass du nichts in
deinem Leben auf die Reihe bekommst. Entweder du kommst jetzt
sofort mit oder du nimmst die Bahn!«
»Dann nehme ich eben die Bahn, Mutter!« Es ist ein regelrechtes
Kreischen. Vickis Porzellangesicht färbt sich rot und Wuttränen steigen ihr in die Augen. »Ich werde dieses Gespräch jetzt zu Ende führen!« Sie wird ruhiger, aber die dicke Luft zwischen den beiden
könnte man mit einem Messer zerschneiden.
»Mach, was du willst«, erwidert Frau Greiser herablassend.
»Wenn du endlich auf dem Internat bist, wie es von Anfang an geplant war, habe ich erst einmal meine Ruhe vor dir. Und glaub ja
nicht, dass du im Juli mit deinem Vater und mir auf die Malediven
fliegst. Das hast du dir sehr schön selbst verbaut.« Sie rückt sich ihre
Handtasche zurecht und schreitet davon.
Ich bin sprachlos vor Entsetzen. Wie kann eine Mutter so lieblos mit
der eigenen Tochter sprechen? Kurz vergesse ich Vickis schreckliche
Missetaten, und mir eröffnet sich ein völlig anderes Bild von einem
Mädchen, das ihr Leben lang vermutlich nie geliebt wurde.
Vicki fängt meinen Blick auf, und das Mitleid, das sie darin liest,
macht sie sogar noch zorniger. »Geschockt?«, fragt sie. »Sag bloß, in
eurer vollkommenen Mormonenfamilie herrscht ein anderer Um-
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gangston?«
Ich erwidere nichts.
»Und deshalb verachte ich dich, Molly«, speit sie die nächste Feuerflamme. »Dich und alles, wofür du stehst. Kaum zu glauben, dass
ich dich all die Jahre nie wahrgenommen habe, bis du dich bei den
Theaterproben so hervorgetan hast.«
»Vicki, es reicht.« Milo steht an meiner Seite. Ich spüre, wie er seine Hand schützend auf meinen Rücken gelegt hat. »Es gibt absolut
keinen gerechtfertigten Grund für das, was du Molly und Lizzy und
wer-weiß-wie-vielen anderen angetan hast!«
»Wer-weiß-wie-vielen?«, hakt Vicki nach. »Das weißt du doch ganz
genau! Du hast immer darüber hinweggesehen – du warst immer für
mich da … du warst mein bester Freund …« Sie braust auf. »Und du
hast mich verraten …« Vicki weint, doch da sie jede Träne nur für
sich selbst zu vergießen scheint, schwindet das eben empfundene
Mitleid bereits wieder.
Der Kampf ist vorbei. Sie ist besiegt. Sie hat alles verloren.
Unvorsichtig lege ich meine geistige Rüstung ab. Mein Schild
senkt sich. Und mit einem Mal holt Vicki Greiser unvorhergesehen
und blitzschnell zu ihrem letzten Schlag aus. »Dabei bist du nur eines, Milo … blind!« Mir stockt der Atem. Ich ahne, was nun folgen
wird. »Hast du wirklich nicht begriffen, dass sie unsterblich in dich
verliebt ist? Dass sie dich anhimmelt, seitdem ihr als Jane und Rochester auf der Bühne geprobt habt?«
Ich erblasse schlagartig. Aber Vicki ist mit ihrer letzten Attacke
noch nicht fertig. Nun schaut sie wieder zu mir. »Und du, Molly,
kennst du eigentlich schon Milos kleines, dreckiges Geheimnis?«
Er schnappt hörbar nach Luft, woraufhin Vicki hämisch zu lachen
beginnt. »Ja, Milo, ich kenne es … Du dachtest, Kira würde den Mund
halten, aber leider muss ich dir sagen, dass sie mir immer loyaler sein
wird als dir! Sie hat mir alles erzählt! Und Molly weiß ganz offensichtlich noch nichts davon. Wie schade.«
Sie entfernt sich von uns, geht aber rückwärts, damit sie uns wei-
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terhin hasserfüllt anstarren kann. »Ich hoffe, ich werde euch niemals
wiedersehen, ihr zwei minderbemittelten, armseligen MöchtegernLiebhaber!« Mit diesen Worten dreht sich Vicki um und stürmt die
Treppe hinunter, sodass sie aus unserem Blickfeld verschwunden ist.
Es ist so ruhig, dass wir hören, wie unten in der Ferne die Tür
vom Hintereingang aufgeht und sich wieder schließt.
Atme ich noch? Ich taumele einen Schritt zurück und halte mich
an der Wand fest. Milo steht mir gegenüber, der Schock ist auch ihm
ins Gesicht geschrieben.
Vicki hat es geschafft. Sie hat ihre letzten Kräfte darauf verwendet,
unser Leben ebenfalls zu zerstören. Ich war mir so sicher, der Krieg wäre
endlich vorbei und alles wäre gesagt und getan … Ich lag verkehrt.
Milo, der sonst immer so gefasst wirkt, sind Tränen in die Augen
gestiegen. »Ist das wahr?«, fragt er schließlich. »Du hast dich in mich
verliebt?«
Ich kann nicht einmal darauf antworten, sondern breche weinend
zusammen und verberge voller Scham das Gesicht in meinen Händen. Mir ist egal, ob Dr. Hilmberger uns hört oder die Schulsekretärinnen oder irgendwelche Lehrer, die möglicherweise vorbeikommen, weil sie etwas aus dem Lehrerzimmer holen müssen.
»Molly …« Irgendwie gelingt es Milo, mein Gesicht sanft in seine
Hände zu nehmen. Wir blicken uns in die Augen und ich sehe ihm
Schmerz und Mitgefühl an, und er weint mit mir, und selbst die
Rotzfahne unter der Nase macht ihn nicht unattraktiver.
»Du kannst mir wohl kaum einen Vorwurf machen«, fasse ich
mich schließlich. »Du warst von Anfang an nicht nur ein vorbildlicher Gentleman, sondern hast immer zu mir gestanden! Und dann
die Kussszenen auf der Bühne … und ja, ich weiß, dass die zum
Theaterstück gehören, aber versetz dich doch mal in meine Lage!«
Ich entlocke ihm ein Lächeln. »Molly, ich habe noch nie ein Mädchen wie dich getroffen … du bist wirklich wie ein Engel hier auf Erden. Alles um dich strahlt das aus.« Er stockt kurz, während ihm
eine weitere Träne über die Wange rinnt. »Ist es in Ordnung, dass ich
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dich liebe … aber eben nicht so wie du mich?«
Ich sollte einen Messerstich im Herzen verspüren, Trübsal und
Trauer, aber seltsamerweise verspüre ich gerade nur eines: dass ich
ihn um keinen Preis der Welt missen möchte. »Ich möchte dich niemals als Freund verlieren«, schluchze ich.
Wir umarmen uns erneut, und erst jetzt schleicht sich mir Vickis
böse Bemerkung über Milo ins Bewusstsein. Ich löse mich. »Hilf es
mir nur zu verstehen, Milo«, bitte ich. »Warum gerade Kira? Ich
weiß, man sagt ja, wo die Liebe hinfällt … aber nach dem, was sie
mir in Vickis Namen angetan hat …«
Der Schmerz, den er mit mir geteilt hat, schlägt um in eigenes
Leid, das ich nicht definieren kann. Seine Unterlippe zittert richtig
und er wendet den Blick von mir ab.
»Es ist okay«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Es kommt gar
nicht so plötzlich … um ehrlich zu sein, bin ich heimlich zu dem
Handballspiel nach unserem Museumsbesuch gekommen, um dich
doch anzufeuern, obwohl du das nicht wolltest … und ich habe euch
beide gesehen und wie vergnügt ihr wart. Ich hoffe nur, dass du mir
nicht böse bist und denkst, ich hätte euch hinterherspioniert oder so
und ich –«
»O Molly …«, unterbricht er mich. Nie habe ich ihn so verletzlich
und betrübt erlebt. Ich wünschte, er würde meine Gefühle erwidern,
aber ich weiß, dass man so etwas nicht erzwingen kann. Doch muss
er verstehen, dass ich trotzdem für ihn da sein werde, genau wie er
für mich da war. »Ich liebe Kira nicht«, sagt er und atmet lange aus.
»Es ging nie um sie.«
»Wie bitte?«, frage ich vorsichtig und bin nun vollends verwirrt.
Wovon hat Vicki dann gesprochen? Worauf wollte sie hinaus?
Und dann öffnet Milo den Mund, und auf einmal ergibt alles
einen weittragenden, überraschenden Sinn, der mich und meine Beziehung zu ihm und auch sonst alles für immer verändern wird:
»Es geht um Kiras Bruder … in ihn habe ich mich verliebt.«
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29
Ich war am Ende vom »Zauberer von Oz« richtig sauer. Justus hatte
sich nach der Hälfte verdrückt, Mama und Papa lagen kuschelnd aneinander, Sophie heulte wie ein Schlosshund wegen dieses entzückenden Filmes. Bis ich empört rief: »Das war alles nur ein
Traum?!« und mit einem Kopfkissen nach dem Fernseher warf.
Sophie verdrehte die Augen. »Darum geht es doch überhaupt
nicht, Molly«, stöhnte sie besserwisserisch. »Dorothy hat bestimmte
Werte verinnerlicht und ist auf geistiger Ebene gewachsen. Deshalb
spielt es keine Rolle, ob das nun ein Traum war oder nicht.«
Für mich spielte es eine Rolle. Ich wollte, dass Dorothy wirklich die
Reise in dieses zauberhafte Land gemacht und all die skurrilen Figuren getroffen hatte. Ich wollte, dass Oz für sie buchstäblich die Realität darstellte – und nicht nur als moralischer Wink mit dem Zaunpfahl diente. Ich bin ja schon immer geknickt, wenn mich der Wecker
morgens aus meiner wunderschönen Traumwelt reißt und ich mich
dem öden Alltag stellen muss. Die Quintessenz des Evangeliums
hingegen besteht doch gerade darin, dass sich Träume erfüllen. Dass
Glück immerwährend fortbesteht. Dass Liebe ewig währt.
Und nun? Als mir Milo vorhin unter Tränen gesagt hat, dass er
die Gefühle, die ich für ihn hege, nicht erwidert, ist die erste Seifenblase geplatzt. Aber eigentlich hätte ich das ja wissen müssen, dass
jemand wie er nicht jemanden wie mich liebt … und dennoch: Was
nicht ist, könnte ja noch werden. Er mag mich. Wir haben viel gemeinsam. Wir sind füreinander da – das ist die beste Grundlage dafür, dass sich noch etwas bei ihm entwickeln kann. Mein »Oz« kann
Realität werden …
Dachte ich jedenfalls für ein paar Minuten, bis Milos zweiter
Knüller mein Traumschloss endgültig zum Einstürzen brachte. Mir
fällt es schwer, das Gesagte zu verarbeiten, und es dauert ein paar
361
Augenblicke, bis ich überhaupt begriffen habe, was er mir da gerade
gestanden hat. Milo hat den Kopf gesenkt, und seine traurige, verheulte Miene bricht mir das Herz.
»Milo …« Sofort hebt er den Blick hoffnungsvoll, aber ich weiß
gar nicht, was er hören will. Ich möchte nicht das Falsche sagen, aber
was ist das Richtige? Ich tue das Einzige, wozu ich gerade imstande
bin: Ich breite meine Arme aus und presse mich mit voller Wucht an
seine Brust. Keine Sekunde später hat er seine Arme um mich geschlungen, und ich spüre sein Gesicht in meinem Haar.
Eine Weile verharren wir so, ohne etwas zu sagen. Als wir uns
voneinander lösen und in die Augen schauen, bin ich diejenige, die
wieder am liebsten laut losheulen möchte. Dieser Moment fühlt sich so
intim und innig an … und er ist nur rein freundschaftlich und wird niemals darüber hinausgehen? Kann und will ich damit überhaupt leben?
»Heißt das, wir können Freunde bleiben?«, fragt er zaghaft.
Mit dieser Frage habe ich am allerwenigsten gerechnet und perplex weiche ich einen Schritt zurück. »Wovon redest du?«, wundere
ich mich. »Ich habe dir doch gerade gesagt, dass ich dich niemals als
Freund verlieren will!«
»Ja, aber Molly …« Er blickt erneut zu Boden. »Ich wollte schon
lange mit dir darüber reden, aber ich spüre dieses besondere Band
zu dir … und ich hatte Angst, es könnte kaputtgehen.«
»Also wusstest du doch, dass ich … dich mag?« Ich schwäche
meine Gefühle für ihn lieber ab, um die Sache zu entdramatisieren.
»Nein, nicht wegen dir persönlich … wegen deiner Kirche.« Er
muss meinem Blick Verblüffung entnehmen, denn er bemüht sich sogleich um eine Erklärung. »Ich hab im Internet ein bisschen nachgeforscht und hatte den Eindruck, dass … na ja … dass das ein ernsthaftes Problem darstellen könnte … Als ich diese Konferenz mit dir
besucht habe, fand ich das echt sehr interessant, aber ich dachte,
wenn jemand die Wahrheit über mich wüsste, wäre ich bestimmt
nicht willkommen.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll – weil ich keine Antwort
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habe. Den Standpunkt der Kirche kenne ich durchaus, aber würden
meine Eltern ihn zurückweisen? Würden die Mitglieder schlecht
über ihn sprechen? Ich kann mir das gar nicht vorstellen … aber ich
weiß es nicht. Nur von einem bin ich felsenfest überzeugt: Milo ist
mein Held. Er war für mich da und hat mich beschützt. Daran ändert
sich rein gar nichts. Auch wenn er … ach, ich traue mich ja nicht einmal, es auszuformulieren.
Ich beschließe, das Schlauste zu sagen, das mir gerade in den Sinn
kommt. »Milo, wenn wir jeden Sonntag Nächstenliebe predigen, darf
es gar nicht angehen, dass jemand zurückgewiesen oder abgelehnt
wird, nur weil er –« Andere Vorlieben hat? Eine bestimmte Neigung hat?
Wie soll ich es nur ausdrücken?
»Schwul ist?«, beendet Milo meinen Satz und spricht das Wort offen aus, das ich vermeiden wollte. Vielleicht, weil ich es nicht akzeptieren kann? Oder mir unsicher bin, wie sich das langfristig auf unsere Beziehung zueinander auswirken soll?
Ich lese in seinen Augen eine gewisse Erwartungshaltung, aber
auch den Anflug von Enttäuschung. Er hat mir das Ganze aus Angst
vor einer möglichen negativen Reaktion verheimlicht, und ich glaube, dass ich mich trotz meiner Umarmung eben nicht so verhalte wie
eine echte Freundin. Ich ertappe mich, wie ich seine Hand ergreife.
»Ich habe das eben ernst gemeint!« Ich sehe ihm fest in die Augen.
»Aber du musst auch verstehen, dass das … etwas überraschend
kommt.« Etwas überraschend ist gut. Hätte ich keine Gefühle für ihn,
wäre die Lage deutlich entspannter, dessen bin ich mir sicher.
»Molly … ich spiele leidenschaftlich gern Theater und lese Jane
Austen und hab ein Dutzend weibliche Kumpels… dir ist nie der Gedanke gekommen …?«
»Du spielst auch Handball«, halte ich ihm entgegen. »Und es ist ja
nicht so, dass du nur mit Mädchen herumhängst …« Aber ja, vielleicht schwirren mir gerade falsche Klischees im Kopf herum. »Wie
lange weißt du das denn schon? Wissen Rik und die anderen davon
– oder überhaupt irgendjemand? Kira weißt es ja wohl offensichtlich,
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weshalb auch immer …« Jede Frage, die ich ihm – oder auch mir
selbst – stelle, wirft zwei neue auf.
»Also gut.« Er holt tief Luft. Und führt mich dann in seine Welt.
»Ich habe schon immer gespürt, dass ich ein bisschen … anders bin«,
beginnt er seine Reise. »Ich war ein außergewöhnlich sensibles Kind
und habe die meisten ›normalen‹ Interessen, die Jungs haben, nicht
geteilt. Mein Bruder war da ganz anders, der war ständig draußen
mit Freunden und hat sich im Schlamm gerauft, während ich daheim
saß und gemalt habe oder mich mit Vicki verabredet und mit ihren
Barbies gespielt habe … Meine Mutter war immer relativ gelassen,
mein Vater hingegen überhaupt nicht. Er hat mir auch strikt jeglichen Mädchenkram verboten, und als sich Mama erbarmt und mir
eine Puppe gekauft hat, landete die vor meinen Augen im Müll, weil
mein Vater außer sich war. Auf seine Art und Weise liebt er mich
vielleicht … aber ich kann mich nicht daran erinnern, jemals auf seinem Schoß gesessen zu haben oder herzlich von ihm umarmt zu
werden. Womit ich an sich leben könnte, wenn er das durch Lob
kompensiert hätte – aber Roman war der Vorzeigesohn, nicht ich.
Roman war immer der ›richtige Sohn‹. Er war im Fußballverein, er
war im Wald und auf dem Feld unterwegs, er war an allem technischen Schnickschnack interessiert … Ich war nur das kleine Weichei,
und selbst meine guten Schulnoten konnten das nicht ausgleichen.
Ich spiele nur seinetwegen Handball. Ich wollte unbedingt in den
Turnverein, aber Papa hat drauf bestanden, dass es eine Ballsportart
sein muss.« Er lacht verkrampft, während ihm eine Träne über die
Wange rinnt. »Ich habe es ausgewürfelt. Ausgewürfelt, Molly. Fußball
1, Tennis 2, Volleyball 3, Basketball 4, Handball 5 oder Squash 6. Ein
Wurf. Eine 5.« Die Absurdität seiner Entscheidung entlockt ihm ein
weiteres gequältes Lachen. »Heute bin ich gar nicht komplett undankbar. Handball macht mir Spaß und ich bin ehrgeizig darin geworden, weil ich gut bin. Meine wahren Leidenschaften liegen jedoch woanders … aber ich habe meinem Vater gar nicht erst erzählt,
364
dass ich in der Theater-AG bin, er würde es nur belächeln oder mir
sogar verbieten. Mama hat versprochen, dass es unser Geheimnis
bleibt. Aber auch sie ist zu keiner Aufführung gekommen.
Na ja, richtig ich selbst sein konnte ich immer in Vickis Gegenwart. Ich habe gern Zeit mit ihr verbracht. Wir haben immer scherzhaft davon gesprochen, dass wir heiraten werden, wenn wir groß
sind – dabei war ich mir ab einem gewissen Punkt in der Kindheit
tatsächlich sicher, dass sie eines Tages meine Frau sein würde. Wer
denn sonst? Sie war schließlich meine beste Freundin. Als Kind verwechselt man sowas natürlich mal mit Verliebtsein … aber als Kind
hat man auch einfach eine andere Vorstellung davon, was das Leben
für einen bereithält.
Als dann mit elf, zwölf, dreizehn Jahren auf Klassenfahrten die
ersten Fotos herumgingen, die ein Klassenkamerad heimlich aus
dem Internet ausgedruckt hatte, war ich ungewöhnlich unbeeindruckt. Meine Freunde fanden die abgebildeten nackten Tussis total
interessant, mir hat das gar nichts gegeben. Wenn es darum ging,
wen von den Mädels aus der Klasse wir toll finden, sind mir immer
Mädchen eingefallen, mit denen ich mich gut verstehe und zu denen
ich ein tiefes freundschaftliches Band habe … aber rein vom Körper?
Irgendwie sprach mich das nicht so an wie die anderen Jungen. Also
habe ich mich selbst im Internet umgeschaut … und Bilder entdeckt,
die plötzlich die Gefühle in mir hervorgerufen haben, die meine
Freunde immer beschrieben haben, wenn sie von Mädchen sprachen
… aber auf den Bildern waren eben keine Frauen zu sehen.«
Milo stoppt. Der pure Anblick, wie nahe ihm das alles geht,
nimmt mich mit. Mit weit aufgerissenen Augen blicke ich ihn an und
versuche, das Gehörte zu verdauen. Doch ich lasse seine Hand nicht
los und drücke sie noch ein wenig fester. »Roman erwischte mich
prompt«, fährt er fort. »Mein Bruder hätte nicht cooler reagieren
können. Er hat mir gezeigt, wie man die Browserchronik löscht und
nur gemeint: ›Sag Papa lieber nix, okay?‹ Dabei hat er es belassen
und wir haben nie wieder darüber gesprochen. Ich habe mich trotz-
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dem so geschämt, Molly … Ich wusste, dass ich da etwas mache, was
nicht in Ordnung ist. Und meine ganze Welt geriet aus den Fugen.
Was geschah da mit mir? Warum interessierte ich mich für Jungen
und nicht für Mädchen? Die Angst davor, anders zu sein, war so
groß, dass ich beschloss, so zu sein wie alle anderen. Bei der nächsten Klassenfahrt hatte ich Fotos aus dem Internet dabei – natürlich
von Frauen – und ich flirtete mit jedem Mädchen schamlos, was ich
als nicht sonderlich schwierig empfand, weil mir die meisten ohnehin recht zugetan waren. Vicki habe ich tatsächlich immer weisgemacht, dass das nur gespielt ist und mir natürlich keine so wichtig
ist wie sie. Allerdings sind wir uns nie nähergekommen, stattdessen
habe ich auf einer Party aus Jux und Tollerei und weil ich frustriert
war und zu viel getrunken hatte, mit einem anderen Mädchen herumexperimentiert. Einmal abgesehen davon, dass ich mir danach
hundertprozentig sicher war, dass ich nicht auf Mädchen stehe, war
die Situation an sich schrecklich. Ich habe sie furchtbar behandelt
und war von mir selbst angeekelt.«
Er hat die meiste Zeit mit großen Augen ins Leere gestarrt und
blickt mich nun an. »Du ahnst gar nicht, welchen tiefen Respekt ich
vor dir habe, Molly Bach«, sagt er. »Eure Regeln, die du so konsequent befolgst … ich glaube, dass sie erheblich dazu beitragen, dass
du so bist, wie du bist. Ich hab mich immer gefragt, was ich an deiner Ausstrahlung so faszinierend finde, und jetzt, wo ich über all
diese Erlebnisse nachdenke, weiß ich es. Du bist tatsächlich unverbraucht. Rein. Unschuldig. Aber dabei keineswegs naiv oder weltfremd. Du weißt genau, wofür du einstehst.« Er widmet sich wieder
seinem eigenen Leben. »Aber du weißt ja, wie dumm man sein kann,
und ich hatte die Schnauze voll, mich zu verstellen. Klar durfte Papa
nie etwas erfahren. Und auch sonst keiner. Selbst Vicki, mit der ich
ständig zusammen war, konnte ich nichts sagen, so abfällig, wie sie
sich über die wenigen ›Schwuchteln‹ und ›Kampflesben‹ geäußert
hat, von denen wir wussten. Ich beschloss, diese ganze Farce bis zum
Abitur durchzuziehen und dann irgendwo weit weg von der Familie
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und allen, die ich kenne, zu studieren. Dem Handball blieb ich treu
und trat zum kreativen Ausgleich der Theater-AG bei … Tja, und vor
einem halben Jahr traf ich auf Vickis Geburtstagsfeier Daniel, Kiras
älteren Bruder. Er ist schon 18 und hat den Führerschein und hatte
Kira abgesetzt. Ich stand im Foyer und machte die Tür auf und wir
kamen kurz ins Gespräch und redeten fast eine Stunde lang … um
ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, ob er überhaupt schwul ist,
aber ich fühlte mich stark zu ihm hingezogen und sagte mehr aus
Spaß, dass wir ja mal was unternehmen könnten … woraufhin er mir
seine Nummer gab.« Milo presst die Lippen zusammen und
schweigt kurz. Ich glaube, dass ihm Erinnerungen kommen, an denen er mich nicht teilhaben lassen möchte – entweder weil sie zu
persönlich sind oder weil er Rücksicht auf mich nehmen möchte,
nun da er weiß, dass ich Gefühle für ihn habe, und ich bin ihm auch
nicht undankbar.
»Aus irgendwelchen Gründen ist Kira vor zwei Wochen in sein
Zimmer geplatzt, als ich gerade bei ihm war«, erklärt er. »Natürlich
war es unvorsichtig, dass wir uns nähergekommen sind, obwohl wir
nicht alleine im Haus waren, aber nun ließ es sich auch nicht ungeschehen machen. Es hatte auch gar keinen Sinn, zu versuchen, uns
herauszureden. Wir bettelten Kira an, niemandem etwas zu sagen,
und ich zwang mich, mich mit ihr anzufreunden und sie zu überzeugen, die Klappe zu halten. Von Daniel hat sie gnadenlos sein komplettes Taschengeld einkassiert … Allein dadurch hätte uns klar sein
müssen, dass wir sie nicht auf unserer Seite haben. Und Vicki hat sie
ja offensichtlich gesagt, was da läuft … Jedenfalls weißt du jetzt,
warum ich bei unserem Museumsbesuch in so komischer Stimmung
war. Ich stand … nun … etwas unter Strom.«
Seine Hand löst sich von meiner, er lehnt sich zurück gegen die
Wand und sackt ein wenig in sich zusammen. »Und damit endet
meine traurige Geschichte«, schließt er den Bericht. »Wenn mein Vater davon erfährt, und nach heute wird Vicki sicher dafür sorgen,
sind meine Tage gezählt. Ich hatte immer gehofft, es würde erst so-
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weit sein, wenn ich nicht mehr bei meinen Eltern wohne … aber ich
hätte es besser wissen müssen. Daniels Familiensituation ist ähnlich
angespannt und das Einzige, was mich in den letzten Wochen richtig
über Wasser gehalten hat, war die Freundschaft zu dir, Molly … du
hast echtes Licht in mein Leben gebracht.«
Erneut stürze ich mich schluchzend auf ihn. Das ist alles so unfair.
Ich verstehe nicht, warum er Gefühle für Jungen hat. Ich verstehe
nicht, warum ich Gefühle für ihn habe. Ich verstehe nicht, was das
für ihn und für mich und für unsere Freundschaft bedeutet. Wie kann
das angehen, Vater im Himmel?, schreie ich innerlich. Hast du ihn so gemacht? Treibst du einen Scherz mit uns? Sitzt du auf deinem hohen Thron
und wir sind Figuren in einer äußerst zynischen Schachpartie?
»Molly? Milo?« Dr. Hilmbergers Stimme entreißt uns beide der Welt,
in die wir gerade versunken sind. Ich will gar nicht wissen, wie absonderlich und verflennt wir gerade aussehen müssen. Unser Schulleiter ist mit Frau Opitz aus der Glastür getreten, die zum Sekretariat
führt. Lizzys Mutter hat ebenfalls verweinte Augen. Taktvoll verabschiedet sie sich jedoch lediglich, teilt mir mit, dass Lizzy sich über
einen baldigen Besuch bestimmt freuen würde, und ist dann verschwunden.
Als wäre das nicht genug, ertönt die Schulklingel. Läutet sie auch
das Ende der Schulversammlung ein und gleich wimmelt es hier von
Lehrern und Schülern?
»Ich hatte doch gesagt, ihr sollt zurückgehen …« Es klingt so, als
wolle Dr. Hilmberger uns ausschimpfen, aber angesichts unseres Anblicks hält er sich höflich zurück und schaut kurz auf seine Armbanduhr. »Na ja, dann kommt mal mit.«
Stimmt, er denkt, dass ich mit ihm sprechen will.
Was eine Lüge war. Eigentlich wollte ich nur Vicki konfrontieren, weil
sie schuld ist, dass Lizzy versucht hat, sich umzubringen.
Woraufhin Vicki mich und Milo bloßgestellt hat.
Woraufhin ich erfahren habe, dass Milo mich niemals lieben wird.
368
Woraufhin er mir eine so traurige Geschichte erzählt hat, dass ich kurz
vor einem Nervenzusammenbruch stehe.
Am liebsten möchte ich nach Hause – dabei habe ich noch vier
Unterrichtsstunden vor mir. Wie soll ich mich denn jetzt noch auf etwas anderes konzentrieren können als Milos Beichte?
Ausgelaugt und müde schleichen wir Dr. Hilmberger hinterher.
Freundlich hält er uns die Tür zu seinem Büro auf und schließt sie
hinter uns. Auch unser Schulleiter sieht aus, als hätte er schlaflose
Nächte gehabt. Dem ist vielleicht auch so. Dann das ungeplante Gespräch mit Vicki und ihrer Mutter und der Termin mit Frau Opitz,
der sicherlich ebenfalls nicht ganz einfach zu verarbeiten ist. Mir
wird bewusst, dass auch Mama und Papa nachher noch mit ihm zusammenkommen. Ich sollte mich kurz fassen und versuchen, es
schnell hinter mich zu bringen, damit Milo und ich hier raus können.
»Ich wollte mich nur entschuldigen«, sage ich also. »Es war nicht
richtig, dass ich gestern nach vorne gestürmt bin und Vicki mit den
Briefen beworfen habe.«
Dr. Hilmberger wartet kurz, als erwarte er, dass ich noch mehr
loswerden möchte. »Nun, Molly …« Er räuspert sich. »Das war eine
Kurzschlussreaktion, die ich dir gar nicht vorhalten kann. Du hättest
niemals solche Briefe erhalten dürfen, und alle Verantwortlichen werden die Konsequenzen tragen, das kann ich dir versichern.«
Ich zucke zusammen, weil ich sofort an Kira denken muss. Ich
weiß nicht, wie das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Bruder aussieht, aber wenn sie vor Vicki nicht dichtgehalten hat, schreckt es sie
bestimmt auch nicht zurück, andere in das pikante Geheimnis einzuweihen. Ich möchte Milo trösten und ihn beruhigen und ihm versichern, dass alles gut wird und er sich keine Sorgen zu machen
braucht, aber leider habe ich bei allem, was in den letzten Wochen
geschehen ist, Angst, dass er der nächste Leidtragende in dieser Angelegenheit sein wird.
»Wir werden uns bemühen, dass die Normalität schnell wieder
einkehrt, aber wir werden das Geschehene sicher nicht vergessen.«
369
Dr. Hilmberger rückt seine Brille zurecht. »Alle Schüler müssen begreifen, dass so etwas nie wieder vorkommen darf.«
»Vicki hat uns vorhin mitgeteilt, dass sie die Schule verlassen
wird.« Ich weiß ja nicht, ob er als Schuldirektor irgendeiner Schweigepflicht unterliegt und nicht darüber sprechen darf, daher ist es
vermutlich geschickter, wenn er weiß, dass ich nicht spekuliere oder
aus Neugier frage, sondern die Fakten aus erster Hand kenne.
Er nickt. »Das ist korrekt«, bestätigt er die Information. »Wobei
ich hinzufügen möchte, dass sie, falls ihre Eltern und sie dies nicht
von sich aus angeboten hätten, dieselben Konsequenzen erwartet
hätte. Was sie dir und Elisabeth angetan hat – und gestern hat sich
noch eine Schülerin aus der 10d gemeldet, der ebenfalls gedroht
wurde –, ist an dieser Schule nicht zu dulden. Ich habe gestern außerdem mit einigen von Vickis Freundinnen gesprochen, die ebenfalls auf besagter Party waren und auf Elisabeths Video zu sehen waren.« Er zögert kurz. Die Erinnerung, wie Lizzys brutale Enthüllung
so überraschend die Versammlung am gestrigen Vormittag gesprengt hat, macht ihm wohl irgendwie zu schaffen. »Allerdings behaupten sie nun alle, es sei allein Vickis Idee gewesen und sie hätten
nichts damit zu tun gehabt.«
Natürlich. Das hätte ich mir denken können: Das schwarze Schaf
ist gefunden und alle Schuld wird eifrig darauf abgewälzt. Das zeigt
mir jedoch auch wieder nur die »Tiefe« von Vickis Freundschaften
und wie sie im Grunde immer allein war … abgesehen von Milo, zu
dem sie tatsächlich ein engeres Band hatte.
Ich schaue zu ihm rüber. Der Arme sieht so todunglücklich aus,
wie ich es noch nie erlebt habe. Unsere Stühle stehen direkt nebeneinander, und ich lange herüber und nehme seine Hand. Klar vermittle ich Dr. Hilmberger damit ein falsches Bild, aber das ist mir
jetzt egal, zumal mich Milo dankbar anblickt.
»Ganz ausgestanden ist das alles noch nicht«, sagt Dr. Hilmberger
abschließend, »aber wir befinden uns endlich auf dem richtigen
Kurs. Wenn wir von der Schulleitung etwas für dich tun können, lass
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es uns bitte wissen, Molly. Ich würde dir auch dringend ans Herz legen, mit Frau Dr. Müller zu sprechen. Ich hätte wahrscheinlich schon
nach der Sache mit den Flyern darauf bestehen sollen.«
Ich weiß beim besten Willen nicht, ob ich dieses Angebot annehmen werde, aber ich lächle freundlich.
Dr. Hilmberger steht auf, wir tun es ihm gleich. Er öffnet uns die
Tür und richtet sich dann noch einmal an Milo, bevor wir sein Büro
verlassen. »Milo, ich finde es ganz toll von dir, wie du zu deiner
Freundin stehst!« Er klopft ihm auf die Schulter.
»Ich würde alles für Molly tun!«, erwidert Milo.
Ich glaube, er meint es ernst. Und das allein treibt mir den nächsten Wasserfall in die Augen. Er negiert weder, ich sei seine Freundin,
noch spielt er herab, was der Schulleiter eben gesagt hat. Wie perfekt
das alles sein könnte … Vicki ist Vergangenheit, wir können nach vorne sehen … und nun tappen wir doch wieder in der brutalen Finsternis umher.
Der restliche Vormittag zieht an mir vorbei wie ein Film, den ich gar
nicht richtig wahrnehme. Bengüs Bericht von der zweiten Schulversammlung ist unspektakulär. Obwohl Frau Dr. Müller gestern so
ausschweifend über die schweren Folgen von Rufmord gesprochen
hat, wurde Lizzys Selbstmordversuch nicht erwähnt. Stattdessen
regten sie und der stellvertretende Schulleiter einen offenen Dialog
darüber an, wie man sich verhalten soll, wenn man mitbekommt,
dass jemand gemobbt wird, und die Schüler haben sich wohl auch
recht eifrig daran beteiligt. Um eine Aussage zu Lizzys Aktion gestern und Vickis offensichtlicher Schuld wurden alle Anwesenden betrogen, aber vielleicht kommt die ja noch und es musst erst abgewartet werden, was mit Vicki geschieht. Mein Bericht an Bengü ist ähnlich abgespeckt und ich beschränke mich auf das Wesentliche, nämlich dass Vicki von der Schule geht. Über Milo verliere ich kein Wort.
Ich weiß nicht, wann Mama und Papa den Termin mit Dr. Hilmberger haben und ob sie beide erscheinen wollen oder nur einer. Allerdings halte ich mich in den Pausen auch pflichtgemäß auf dem
371
Schulhof auf, sodass ich von dieser Zusammenkunft nichts weiter
mitbekomme.
Milo und ich haben heute beide nach der Siebten Schluss, und
wir stehen lange vor der Schule und halten einander fest. Ich trauere
um alles, was ich nicht haben kann. Ich trauere, dass es ihm schlecht
geht und er Angst hat, nach Hause zu fahren, weil er nicht weiß, ob
Vicki es bereits eingefädelt hat, dass seine Eltern die »Neuigkeiten«
erfahren.
»Alles wird gut!«, sage ich mehrmals und möchte selbst daran
glauben. Wie könnte sein Vater ihn nicht lieb haben? Aber dann denke ich an Frau Greisers Auftritt und wie sie Vicki vor unseren Augen
runtergeputzt hat, und mir wird bewusst, dass nicht alle so viel
Glück mit ihren Eltern haben wie ich.
Und wenn Milo Eltern wie ich hätte? Wie würden meine Eltern reagieren, wenn eines ihrer Kinder mit so einer Enthüllung käme? Wie würde das
Leben weitergehen? Was würde das für die Kirche bedeuten? Ich habe so
viele Fragen, auf die ich keine Antworten finde, und mir dröhnt der
Schädel. Als ich in die U-Bahn steige, nehme ich wahr, wie ich von
Mitschülern angegafft werde. Alles wissen, wer ich bin. Und doch wissen sie gar nichts.
Mama und Papa sitzen im Wohnzimmer, als ich nach Hause komme.
Ich weiß nicht, wie Papa seinem Chef erklärt, dass er in letzter Zeit
ständig abwesend ist, aber vielleicht gibt es in den Arbeitsverträgen
der Verwaltung ja Sonderklauseln für Familienprobleme, wo die Familie immer so hoch angepriesen wird.
Normalerweise steuere ich als Erstes mein Zimmer an, wenn ich
nach der Schule heimkomme, aber ich höre die Stimme der beiden,
schlüpfe aus meinen Schuhen, werfe meine Tasche in die Ecke und
stehe nach wenigen Schritten im Türrahmen der offenen Wohnzimmertür. Meine Eltern sitzen nebeneinander auf der Couch. Sie wenden sich mir zu und sehen mich liebevoll an. Ich kann gar nicht beschreiben, was der Auslöser ist, aber ich glaube, es ist die Erkenntnis,
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dass ich Eltern habe, die wirklich in allen Situationen zu mir stehen,
und dass es nichts gäbe, was bewirken könnte, dass sie mich nicht
mehr lieben. Und so hocke ich nur Sekunden später vor ihnen. Mein
rechter Arm ist um Papas Hals geschlungen, mein linker um Mama,
und meine Tränen benetzen sie gleichermaßen. Papa legt seine Hand
auf meinen Rücken und Mama legt ihre auf Papas. Natürlich interessiert mich, was sie mit Dr. Hilmberger besprochen haben, aber jetzt
gerade brauche ich nur eines: ihre Liebe und ihre Zusicherung, dass
sich alles irgendwie einreihen wird – dass sie mir das gleiche Versprechen machen wie ich Milo, aber dass ihres im Gegensatz zu meinem eine sichere Sache ist.
Ich will mein Oz. Ich will nicht aufwachen und mich der farblosen Realität stellen. Ich will, dass Milo glücklich ist … und dass es irgendwie eine Möglichkeit gibt, dass wir gemeinsam glücklich werden.
»Alles wird gut, mein Schatz«, sagt Papa.
Endlich hat er es gesagt! Ich muss ihn beim Wort nehmen!
Ich löse mein Gesicht von den beiden. Papa hat auf dem weißen
Hemd einen furchtbar hässlichen Mascara-Fleck von meiner Wimperntusche.
»Frau Opitz hat vorhin angerufen«, erzählt Mama und streicht
mir über den Kopf. »Lizzy würde sich freuen, wenn du sie nachher
besuchen kommst.«
»Und das Vicki-Problem scheint auch endlich ein Ende zu nehmen«, sagt Papa.
Das Vicki-Problem hat Ausmaße angenommen, die ihr leider noch nicht
erfassen könnt, möchte ich hinzusetzen, aber ich weiß nicht, ob es
Milo überhaupt recht ist, wenn ich meinen Eltern erzähle, was er mir
anvertraut hat.
»Ich werde nachher zu Lizzy fahren«, beschließe ich laut. Wahrscheinlich glauben Mama und Papa, meine Heulerei hätte hauptsächlich mit Lizzy zu tun oder es wären Tränen der Erleichterung,
weil ich Vicki los bin. Es ist besser, dies dabei zu belassen. Erneut
drücke ich meine Eltern kurz und gehe dann deprimiert hoch in
373
mein Zimmer.
Ich bin am Ende meiner Kräfte. Was hatten wir doch gestern beim
Seminar besprochen? Hebe dein Haupt empor und sei guten Mutes. Wie
gern möchte ich das jetzt verspüren können, aber aller Mut, alle
Hoffnung scheinen – wieder einmal – wie weggewischt. Nichts scheint
in meinem Leben irgendwie glatt zu laufen. Es kommt mir wie die
reinste Ironie vor, dass die Sonne prall durchs Fenster scheint und
die Vögel vergnügt zwitschern. Müde setze ich mich im Schneidersitz auf den Fußboden, lehne mich ans Bett und schließe die Augen.
Ach, Milo … Die Hoffnung, die ich gestern Morgen noch verspürt
habe, ist verlorengegangen und ich weiß nicht, wie ich sie jemals
wiederfinden soll …
374
30
W
ie sich wohl Moroni gefühlt hat, nachdem sein gesamtes Volk
abgeschlachtet worden und er völlig auf sich allein gestellt
war? Wie ging er mit der Einsamkeit um, als er sich immer weiter
nach Norden kämpfte, bis er schließlich den geeigneten Ort fand, wo
er die goldenen Platten vergrub? Kamen Engel herab und spendeten
ihm Trost? War sein Band zum Vater im Himmel so stark und inniglich, dass er sich womöglich niemals richtig einsam fühlte?
Es ist nicht fair von mir, mich mit Moroni zu vergleichen. Ich
habe Mama und Papa. Ich habe Luisa und Bengü – und vielleicht sogar auch wieder Lizzy. Ich habe Dominik und Finn. Ich habe Julia.
Und natürlich habe ich Milo, auch wenn er schlussendlich der Auslöser für meinen trostlosen Zustand ist, der meine Wut und meinen
Hass auf Vicki verdrängt und mit einer Leere ersetzt hat, die ich einfach nicht füllen kann. Ich fühle mich, als wäre ich eine isolierte Seele
in der Wildnis, die nicht weiß, wohin sie gehen soll; ein herrenloses
Boot, das auf stürmischer See hin- und hergetrieben wird.
Ob es Milo in den letzten Jahren ähnlich ergangen ist, seitdem er
festgestellt hat, dass er »anders« ist? Wenn er nie mit jemandem über
seine Situation gesprochen hat, müssen sich doch auch in ihm nicht
nur Frust und Anspannung angestaut haben, sondern auch Einsamkeit. Zwar wurde er nicht seines Glaubens wegen verfolgt, aber insbesondere die Angst vor der Reaktion seines Vater, der ihm nie innige Liebe gezeigt hat, muss beinahe lähmend gewesen sein und vielleicht der etwaigen Todesangst eines einzelnen Nephiten vor den
blutdürstigen Lamaniten gar nicht unähnlich. (Obwohl Moroni dem
Tod sicher tapfer ins Auge geschaut hätte.)
Ich weiß nicht, wie Mama und Papa meinen neuen depressiven
Gemütszustand interpretieren – ob sie es darauf schieben, dass in
den letzten Wochen einfach zu viel geschehen ist, oder auf Lizzys
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Selbstmordversuch. Beim Mittagessen äußern sie sich löblich über
ihr Gespräch mit Dr. Hilmberger. »Er hat viel vor«, berichtet Papa.
»Und er will die Schüler aktiv einbeziehen, damit die Initiative vor
allem von euch ausgeht.«
Schön. Hat er auch einen Plan für mein gebrochenes Herz?
Nach dem Essen macht sich Papa auf den Weg ins Büro und ich
verlasse das Haus ebenfalls, um ins Krankenhaus zu Lizzy zu fahren.
Wenn ihre Mutter sagt, dass sie sich über einen Besuch freuen würde, möchte ich dem gerne nachkommen, auch wenn ich nicht weiß,
wie gut ich das Gespräch mit Milo aus meinen Gedanken verbannen
kann. Hoffentlich stellt sie keine Fragen zu ihm und mir … Lieber sollten
wir über sie sprechen und wie es ihr geht und wie wir alles, was geschehen ist, so schnell wie möglich hinter uns lassen. Ich wäre gar
nicht böse, wenn wenigstens eine Last aus meinem Leben schwindet
und Lizzy bald wieder ganz die Alte ist.
Die Fahrt ins Krankenhaus wird zur reinsten Folter. Egal, wohin
ich auch schaue, entdecke ich Pärchen, die nebeneinander und aufeinander hocken, Händchen halten, flirten, turteln, schmusen, knutschen. Ich komme mir vor wie die einsame Jungfer in irgendeinem
klischeebehafteten Musical, das über die Bühne tanzen und singend
mitansehen muss, wie Amors Pfeil alle Menschen um sie herum getroffen hat, nur sie allein findet nicht den Mann ihrer Träume.
Wie die Leute wohl schauen würden, wenn ich anfange, durch
den U-Bahn-Waggon zu tanzen, um die Stangen zu schwingen und
mein trauriges Liebesleben zu besingen? Nur mit welchem Lied? Mir
fällt keine vernünftige Melodie zu »Ein Drache machte mir das Leben
zur Hölle, woraufhin sich eine gute Freundin das Leben nehmen wollte,
und der Junge, auf den ich stehe, interessiert sich nicht für Mädchen« ein.
Stattdessen brummele ich ein »Entschuldigung« und dränge mich
an dem Pärchen in meinem Alter vorbei, das die Tür blockiert, damit
ich an der Nationalbibliothek aussteigen kann.
Kaum habe ich die Bahn verlassen, fängt es an zu tröpfeln. Na
wunderbar. Zeit für meine nächste Musical-Nummer. Aber ich will
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nicht völlig durchnässt an Lizzys Seite sitzen und mir eine Lungenentzündung holen, also sprinte ich die zweihundert Meter zum Hospital und begebe mich augenblicklich in den fünften Stock, ohne
mich irgendwo anzumelden. Die beiden Krankenschwestern in dem
Büro beachten mich überhaupt nicht (Saftladen?), und so gehe ich
schnurstracks auf das Krankenzimmer zu, in dem Lizzy gestern lag,
klopfe sanft und trete dann ein.
Lizzy ist allein. Ich weiß nicht, womit sie sich beschäftigt hat –
und ob überhaupt –, denn sie liegt dort mehr oder weniger regungslos in der Stille, lächelt mich jedoch matt an, als sie mich sieht. Ich
finde, dass sie besser aussieht als gestern. Sie hat wieder mehr Farbe
im Gesicht, auch wenn die Augen glasig sind und die schönen roten
Haare, die sie sonst immer so toll frisiert, zerzaust zu allen Seiten abstehen.
»Heeeee«, flüstere ich und suche gar nicht erst groß nach weisen
Worten, sondern eile zu ihr, umarme sie vorsichtig und lasse mich
dann direkt auf den Stuhl fallen, der praktischerweise neben dem
Krankenbett steht. Meine Hände gleiten von ihrem Rücken nach vorne auf ihre Hände. »Du siehst gut aus!«, spreche ich ihr zu.
»Danke für das Kompliment, auch wenn es eine schamlose Lüge
war«, entgegnet Lizzy und lehnt sich zurück in das riesige Kissen.
Sie wendet sich ab von mir und schaut aus dem Fenster. Mir fehlen
die richtigen Worte, und sie weiß wohl ebenfalls nicht so recht, was
sie sagen soll. Ich empfinde das Schweigen jedoch keineswegs als
unangenehm: Ich genieße es, Lizzy »zurückzuhaben« – auch wenn
die Umstände kaum schlimmer hätten sein können –, und sie genießt
es hoffentlich, am Leben zu sein und zu wissen, dass der richtige
Ausweg nie darin besteht, aufzugeben.
»Es war dumm von mir«, sagt sie nach einer Weile. »Das weiß
ich.«
»Ja«, stimme ich ihr zu. »Es war dumm. Aber aus diesem Grund
machen wir Fehler. Damit wir daraus lernen. Und dazu bist du
glücklicherweise noch in der Lage.« Als sie noch nicht zu mir sieht,
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drücke ich ihre Hände fester. »Lizzy …«
Sie schließt kurz die Augen, atmet tief durch und blickt dann zu
mir. »Ich weiß, dass du meinst, Vicki von Anfang an durchschaut zu
haben«, sagt sie. »Aber du hast ja keine Ahnung, wie gerissen sie ist.
Ich war wirklich … wirklich überzeugt, dass sie es ernst mit mir
meint. Die Freundschaft, die sie mir angeboten hat, fühlte sich gar
nicht oberflächlich an. Sie hat Interesse an meinem Leben gezeigt,
wollte meine Meinung zu allem hören … und ich habe es so sehr genossen, dass mir gar nicht auffiel, wie schnell das alles ging. An dem
Tag, als sie dich und mich zu ihrer Party eingeladen hat und du mir
noch groß weismachen wolltest, dass sie mich nur da haben will, damit du auch kommst, hat sie mich zum Shoppen mitgenommen. Sie
hat kein Wort über dich verloren oder dich schlecht geredet, sondern
mir das Gefühl gegeben, Zeit mit mir verbringen zu wollen. Und so
ging das ein paar Tage …« Sie stoppt kurz und blickt wieder aus
dem Fenster – vielleicht ist sie wehmütig, weil sie sich erhofft hatte,
dass Vicki es gut mit ihr meint, oder sie kann selbst nicht glauben,
dass sie auf sie reingefallen ist. »Dann fing sie ab und zu an, deinen
Namen zu erwähnen … immer nur mit versteckter Kritik. Wie sehr
sie sich über die Rolle der Jane gefreut hätte, aber wie du dich in den
Vordergrund gedrängt hast … Wie sehr Milo sie abgeschoben hat,
seitdem er sich mit dir angefreundet hat … Und, Molly, ganz ehrlich:
Es hat alles einen Sinn ergeben. Ich konnte nachvollziehen, was sie
gesagt hat … nicht zuletzt, weil mein eigenes Ego angekratzt war.«
Vicki, das raffinierte Biest. Keine Frontallügen, sondern Halbwahrheiten. Wessen Taktik war das doch gleich noch?
»Wusstest du von dem Streich?«, frage ich. Selbst in diesem eingelullten Zustand muss ihr doch klar gewesen sein, wie gemein so
eine Aktion ist.
»Es war etwas ganz anderes geplant«, berichtet sie zu meiner
Überraschung. »Vicki wollte eigentlich Alkohol ins Trinkspiel bringen. Sie verpackte es wieder recht geschickt und meinte, sie wolle
antesten, ob du dich breitschlagen lässt oder nicht … Ich habe sie ge-
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warnt, dass sie keinen Erfolg haben wird. Aber du weißt ja, wie überzeugt sie von sich selbst ist. Sie hat allen ihren Freundinnen eingetrichtert, sich liebevoll um dich zu kümmern, um dich zu ködern.«
Kira, kommt es mir in den Sinn. »Und das Türschloss im Gäste-WC?«, will ich wissen. »Das kann doch kein Zufall gewesen sein,
dass es ausgebaut war …«
»Nein, das gehörte ebenfalls zum Plan – auch wenn ich das erst
erfahren hab, nachdem wir hereingeplatzt sind, als du dort warst. Eigentlich solltest du nicht auf dem Klo hocken, sondern kotzend über
der Schüssel hängen … weil alles andere ja noch nicht erniedrigend
genug gewesen wäre … Aber ich brauche dir wohl kaum erläutern,
wie grandios du Vickis Plan durchkreuzt hast, als du so souverän
verkündet hast, dass du mit dem Sex bis zur Ehe warten willst und
dann nach oben gedüst bist … Plan B war jedoch so schnell ausgeklügelt, dass ich gar nichts dagegen sagen konnte. Aber ich war auch
immer noch sauer auf dich und habe mir selbst gesagt, dass das alles
die gerechte Strafe dafür ist, dass du immer in allem so perfekt tun
musst …« Mit jedem Wort wird sie ruhiger.
Natürlich schätze ich ihre Offenheit und es ist wichtig, dass das
alles einfach mal ausgesprochen wird, aber trotzdem bin ich ein bisschen geknickt. Ich soll diejenige sein, die immer perfekt tut? Dabei
bin doch gerade ich so unvollkommen und mit so vielem unzufrieden … wie konnte der Gedanke an Vickis Freundschaft sie nur derart vergiften?
»Als du abgehauen bist, war sie zwar zufrieden, dass der
Schnappschuss geglückt war, aber da ihr ursprünglicher Plan nicht
funktioniert hat, musste jemand anderes herhalten.«
»Du«, schlussfolgere ich.
Die Erinnerung legt sich wie ein Schatten über ihr Gesicht. »Das
Wasser wurde gegen Wodka ausgetauscht … dachte ich. Ich war die
einzige, die Alkohol bekam. Ich … ich kann mich noch an das Brennen in der Kehle erinnern und wie mir ganz anders wurde, aber ansonsten ist es so, als wäre mein Gedächtnis von dem restlichen
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Abend ausgelöscht … Als ich am nächsten Morgen aufgewacht bin,
war mir einfach nur übel und ich hing den ganzen Tag über der Toilette.« Sie schüttelt über die eigene Naivität den Kopf. »Selbstverständlich hat mir Vicki versichert, alle wären besoffen gewesen. Von
den Fotos, die sie von mir gemacht haben, erfuhr ich erst einmal gar
nichts. Am darauffolgenden Montag schlich sie sich bereits früh
morgens aus dem Haus. Der Hausmeister schließt oft schon gegen
halb sieben die Türen auf, und so verteilte sie in aller Ruhe die Zettel, ohne dass irgendjemand es mitbekam.«
»Und du warst trotzdem noch auf ihrer Seite und hast gelogen,
um sie zu schützen?« Ich klinge vorwurfsvoller, als ich es gemeint
habe, aber das Gefühl der Bloßstellung und Erniedrigung von jenem
schrecklichen Tag schleicht sich zurück.
Lizzy zuckt nur leicht mit den Schultern. »Ich saß viel zu tief
drin«, erwidert sie. »Nun wusste ich, was Vicki mit ihren Feindinnen
tut. Dieses Los wollte ich keineswegs teilen.« Sie lacht verkrampft.
»Als ob mir das was genützt hätte … Ich spürte nämlich ziemlich
schnell, dass sie meiner langsam überdrüssig wurde und ihre Herzlichkeit abnahm … Trotzdem war das Video, das ich im Park aufgenommen habe, ein glücklicher Zufall. Vicki wollte deine Telefonnummer und ich kam nur versehentlich an den Aufnahmebutton. Irgendetwas hielt mich zurück, das Video zu beenden … und das Timing hätte nicht besser sein können.« Tränen steigen ihr in die Augen. »Einen Tag später präsentierte sie mir die Fotos, die sie von mir
geschossen hatten, kündigte mir die Freundschaft und drohte mir
außerdem, die Fotos zu verbreiten, falls ich es wagen würde, wie sie
es formulierte, ›winselnd zu Molly zurückzukriechen‹.« Ihre Stimme
bebt. »Ich weiß, was du denkst, Molly – warum nicht drohen, sie mit
dem Video bloßzustellen?« Die erste Träne kullert ihr über die Wange. »Der Vergleich ist total bescheuert, das ist mir bewusst, aber
kennst du die Filme, in denen irgendwelche Mafia-Handlanger zur
Polizei gehen und gegen ihren Boss aussagen und selbst die Polizei
sie nicht schützen kann, sondern sie irgendwann mit einem Beton-
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fußbett im Meer landen? Das beschreibt in etwa meine Angst, zumal
ich ja gesehen habe, wozu sie fähig ist und wie gewissenlos dazu …
Das Absurde ist, dass ich das Video trotzdem auf einem Stick immer
bei mir trug und mich damit ein bisschen in Sicherheit gewogen
hab.« Lizzy dreht ihre Hände, sodass unsere Handflächen aufeinander liegen, und sie presst ihre Finger so fest in meine, dass sich ihre
Nägel in meine Haut bohren. Sie beginnt zu schluchzen. »Als du mir
trotz allem angeboten hast, dass wir weiter Freunde sein können,
und als ich mitbekommen habe, dass du Vicki bei der Schulversammlung zur Rechenschaft ziehen willst, wusste ich, dass ich das
machen muss …«
»Und das werde ich dir nie vergessen!«, rufe ich. »Mir tut es nur
so weh, dass du gedacht hast, du müsstest dein Leben wegwerfen!«
Lizzy beißt sich auf die Lippe. »Es war, als wäre eine Sicherung
durchgebrannt«, erzählt sie mit heiserer Stimme. »In dem Moment,
als ich Timon das Video überreichte und wusste, dass ich nach vorne
rennen und Vicki vor der ganzen Schule bloßstellen würde, war ich
mir sicher, mein eigenes Todesurteil gefällt zu haben. Vicki würde
die Fotos irgendwo publik machen. Sie würde alles daran setzen,
mich zu zerstören. Diesen Gefallen konnte ich ihr einfach nicht tun.
Also fasste ich diesen Entschluss, um alle Chancen aus dem Weg zu
räumen, dass mein Leben noch schrecklicher wird.«
»Aber Lizzy«, werfe ich ein, »mit so einer Tat verhinderst du
nicht, dass sich dein Leben verschlimmert, sondern du verhinderst
jegliche Möglichkeit, dass es sich bessert!«
»Ich bin nicht so stark wie du, Molly. Das war ich nie.«
»Unsinn«, entgegne ich. »Ich kenne dich doch! Du hast viel mehr
Kraft, als du denkst! Schon allein deshalb hast du das alles durchgestanden und wirst dich von alldem hier erholen!«
Mit einer Hand wischt sie sich die feuchte Wange trocken. »Ich
hoffe, dass Milo bald endlich erkennt, dass er keine Bessere abbekommen kann als dich«, sagt sie.
Das hatte ich nun die letzten Minuten erfolgreich verdrängt.
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»Das ist lieb, dass du das sagst, aber … Milo hat mir bereits gesagt, dass er … nur eine Freundin in mir sieht, nicht mehr.«
Zuerst sieht Lizzy mich mit großen Augen an, dann beginnt sie
plötzlich zu lächeln. »Nun«, sagt sie, »was auch immer geschehen
mag, ›nur‹ eine Freundin wird er nie sehen – denn es gibt kaum etwas Wertvolleres als eine Freundschaft zu dir, Molly. Ich hoffe, dass
ihm das klar ist.«
Ihre Worte rühren mich. Sie wirkt, als wäre sie über Nacht erwachsen geworden, und vielleicht ist sie das auch. Sie wurde ihrer
Jugend beraubt, und auch wenn die Zeit einige Wunden heilen wird,
kommt der tiefe innere Frieden, den sie braucht, aus einer anderen
Quelle, und wer weiß – vielleicht bin ich imstande, ihr das verständlich zu machen.
Die Krankenschwester kommt herein und ist ganz überrascht,
einen Besucher vorzufinden. »Deine Mutter sollte auch bald hier
sein«, teilt sie Lizzy mit und fügt freundlich, aber bestimmt hinzu,
dass nur ein Besucher zur Zeit anwesend sein sollte. Ich nehme das
höflich zur Kenntnis und verabschiede mich von Lizzy, die mir ein
Dankeschön ins Ohr flüstert und dann wieder aus dem Fenster
schaut und in ihre Gedankenwelt versinkt.
Der Regen hat aufgehört, auch wenn der Himmel nach wie vor
recht grau ist. Der nasse Asphalt wirkt trist und in dem Prasselregen
haben sich etliche Pfützen gebildet. Trotzdem fühle ich mich heiterer
als auf dem Weg zum Krankenhaus; das Gespräch mit Lizzy war aufschlussreich, teilweise schockierend, aber insgesamt fühle ich mich
gestärkt, weil wir uns auf versöhnlicher Ebene aussprechen konnten
und ich davon überzeugt bin, dass Lizzy auf dem richtigen Weg ist.
Auch das, was sie über Milo gesagt hat, ist mir tief ins Herz gedrungen. Ich möchte gar nicht hochspielen, dass sie die Freundschaft zu
mir als wertvoll bezeichnet hat, sondern mir bewusst machen, wie
kostbar Freundschaft an sich ist – und dass Milo wahrscheinlich
mehr denn je eine Freundin braucht, die ihn stützt und für ihn da ist.
Nur kann ich das mit meinen Gefühlen für ihn? Oder mache ich
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mir da selbst etwas vor? Laufe ich sogar Gefahr, mir einzureden,
dass er, wenn ich ihn nur genug liebe, die Gefühle irgendwann doch
erwidert? Wenn er einfach nur noch nicht die Richtige getroffen hat?
Ich begebe mich wahrscheinlich auf zu dünnes Eis – aber gerade
in den letzten Tagen ging es doch immer wieder um Hoffnung …
darf ich in diesem Fall nicht hoffen? Oder setze ich mein Herz damit auf
etwas, was wahrlich hoffnungslos ist?
Ich schreibe Milo eine SMS und teile ihm kurz mit, dass ich an ihn
denke und mich glücklich schätze, ihn als Freund zu haben. Zehn Sekunden später schickt er mir lediglich ein Herz-Emoticon zurück,
ohne Worte. Ich freue mich, aber ein melancholischer Beigeschmack
lässt mich den Augenblick nicht vollends auskosten. Ein Freundschaftsherz. Jetzt, wo alles offen ausgesprochen ist, traut er sich, mir
solche Symbole zu schicken, da er weiß, dass ich sie richtig interpretiere. Andererseits könnte ich ihm fast ein wenig Taktlosigkeit vorwerfen, denn er sollte doch wissen, dass ich meine Gefühle für ihn
nicht einfach so ausschalten kann und erst einmal verarbeiten muss.
Als ich nach Hause komme, ist mir wieder nach Heulen zumute,
aber in den vergangenen Tagen und Wochen sind so viele Tränen geflossen, dass ich es einfach nicht mehr ertrage, auch nur eine weitere
zu vergießen. Ich fühle mich ausgelaugt und ausgetrocknet. Schade,
dass es aufgehört hat zu regnen! Bestimmt würde mich die Feuchtigkeit auf meiner Haut auch innerlich ein bisschen beleben. Ich schließe die Tür auf und gehe direkt in die Gästetoilette, wo ich mir ein
wenig Wasser ins Gesicht spritze, ehe ich mich für längere Zeit im
Spiegel betrachte.
Hässliches Entlein? Nein, so sehe ich mich schon lange nicht mehr.
Die letzten Monate waren nicht nur eine seelische, sondern auch eine
äußerliche Transformation für mich. Ein klassisches Modelaussehen
wie Vicki werde ich nie haben, aber ich weiß nun auch, dass zu wahrer Schönheit mehr gehört als ein perfekt geschnittenes Gesicht, eine
Frisur, die immer sitzt, und eine makellose Figur. Durch das Theaterstück und die Geschehnisse der letzten Zeit fühle ich mich reifer und
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bin zufriedener mit mir selbst. Und was bringt mir das letztlich? Das
Herz meines Traumjungen werde ich niemals erobern können. Niemals … niemals … Immer wieder hallt es mir durch den Kopf.
»Molly?« Mama steht hinter mir an der offenen Tür und wir
schauen uns durch den Spiegel an, ehe ich mich zu ihr umdrehe.
Nein, ich werde nicht weinen. Es reicht.
»Wie geht es Lizzy?«, fragt sie.
»Es gibt noch viel zu verarbeiten«, erkläre ich, »aber es tat uns
beiden sehr gut, offen miteinander zu reden.«
»Wie schön.« Eigentlich wollte ich mich nur frisch machen und es
gibt keinen Grund, hier im Bad zu verweilen, aber ich spüre, das
Mama noch etwas auf dem Herzen hat, und tatsächlich rückt sie
auch sogleich damit heraus. »Papa und ich haben überlegt, ob wir
nicht am Samstag gemeinsam in den Tempel gehen wollen«, schlägt
sie vor. »Ich habe vorhin angerufen und erfahren, dass eine Jugendgruppe aus dem Ruhrpott um 10 Uhr eine Taufsession hat, und es
wäre kein Problem, wenn du dich ihnen anschließt. Wir würden uns
auch dazusetzen. Vielleicht kann Papa sogar helfen, es gibt wohl
noch nicht genügend Brüder, die für die verschiedenen Aufgaben
eingeteilt sind.«
Ich zögere gar nicht erst und nicke sofort. Dass ich selbst noch
nicht auf diese Idee gekommen bin! Die Jugendgruppe aus der Gemeinde hat ungefähr alle sechs Monate eine gemeinsame Session,
und auch wenn wir in der glücklichen Lage sind, dass der Tempel
nur zwanzig Minuten mit dem Auto entfernt ist, gelingt es uns als
Familie leider nicht so oft, gemeinsam hinzufahren. »Gern!«, stimme
ich also freudig zu. Bei allem, was geschehen ist, wird mir die Ruhe
und geistige Atmosphäre nicht nur guttun und Kraft schenken, sondern vielleicht auch ein paar neue Einblicke dazu gewähren, was ich
tun kann, um die Situation zu meistern.
»Wir können ja auch Lizzys Namen auf die Gebetsliste setzen«,
regt Mama an. »Sophie hat außerdem vorgeschlagen, dass wir am
Sonntag als Familie fasten. Was hältst du davon?«
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So sehr ich manchmal die oberheilige Art meine Schwester verabscheue, kommt sie mir jetzt gerade ganz gelegen, und ich bin ihr
dankbar, dass ihr etwas daran liegt, dies alles gemeinsam durchzustehen. »Ja, das klingt gut«, sage ich. Ich gehe auf Mama zu, gebe ihr
einen Kuss und verspüre einen Anflug von Glück in dieser Achterbahn der Emotionen.
Eine gewisse Einsamkeit kann ich trotzdem nicht abschütteln. Mal
verspüre ich Mitleid mit Milo, mal bin ich traurig über meine geplatzten Träume, in denen er keine unwesentliche Rolle spielt, mal
werde ich wütend, denn auch wenn er mich nicht gebeten hat, mit
niemandem über sein Geheimnis zu sprechen, fühle ich mich verpflichtet, darüber zu schweigen, und da ich mich an keinen wenden
kann, steigt der innere Druck und ich finde kein Ventil dafür. Selbst
Luisa kann ich nichts sagen, und das belastet mich wahrscheinlich
am meisten. Ich kann mich nicht einmal mehr auf ihre Geburtstagsparty übermorgen freuen. Ich möchte weder die Stimmung versauen noch kann ich so tun, als sei alles in Ordnung.
Auch wenn ich niemandem an die Gurgel springe und versuche,
ihn zu verspeisen, komme ich mir wie ein Zombie vor, eine leblose
Hülle, die unter den Lebenden verweilt. Die Blicke meiner Mitschüler, denen ich am nächsten Tag kontinuierlich ausgesetzt bin, lassen
mich völlig kalt. Bengü, die Lizzy gestern ebenfalls besucht hat, kann
mein Verhalten nicht so recht nachvollziehen, denn eigentlich spricht
ja alles dafür, dass die Hürden beseitigt sind und wir mit frischem
Mut voranschreiten können – Lizzy ist auf dem Weg der Besserung,
Vicki müssen wir fürs Erste nicht wiedersehen.
»Ich stehe einfach noch etwas unter Schock«, rede ich mich heraus und lasse sie nicht an mich heran. »Es gibt zu viel auf einmal zu
verdauen.« Das ist zumindest nicht gelogen.
Es ist der erste Schultag seit Montag, an dem ich Milo nicht vor
dem Unterricht sehe. Doch auch in den ersten Pausen kann ich ihn
nicht ausfindig machen. Stattdessen treffen Bengü und ich auf Frau
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Ömsen, die Aufsicht hat und nicht nur um ein Update sämtlicher Geschehnisse bittet, sondern uns auch an die Theaterprobe am Nachmittag erinnert.
Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht.
Und in bester Stimmung bin ich auch nicht gerade, aber darum
geht es beim Theaterspielen – dass man imstande ist, das Privatleben
auszublenden, und sich der Rolle hingibt, die man verkörpert. Also
werde ich wohl oder übel die Ärmel hochkrempeln müssen und
mein Bestes geben – aber ohne Milo? Wo ist er denn nur?
»Ich habe ihn heute auch noch nicht gesehen«, fällt es Frau Ömsen auf. »Vielleicht ist er krank geworden?«
Bei mir hingegen schellen alle Alarmglocken. Das kann doch kein
Zufall sein, dass er gerade heute nicht auftaucht. Panisch denke ich
an Lizzy – wenn Milo eine ähnliche Kurzschlussreaktion zeigt, weiß
ich nicht, was ich tun soll. Ich habe einfach keine Kraft mehr, ein weiteres Drama durchzustehen.
Ich gehe auf die Toilette, schließe mich in der Kabine ein und setze mich auf den geschlossenen Klodeckel. Ich schicke Milo eine SMS
und frage nach, ob alles in Ordnung ist. Wieder fühle ich mich allein
und hilflos und weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Am liebsten möchte ich laut aufschreien und mich von allen angestauten Gefühlen befreien, indem ich sie herausbrülle, als mir eine Erkenntnis
kommt, die augenblicklich ein schlechtes Gewissen in mir hervorruft.
Warum hoffe ich, dass Lizzy sich der einen Quelle zuwendet, die wahren
Frieden bringt, wenn ich sie selbst gar nicht in Anspruch nehme?
Ich bin so blind. Und stur. Und stolz. Und an dem womöglich
seltsamsten Ort schließe ich die Augen (wenn ich mich auch nicht
vor die Toilette knie), falte die Hände und beginne, dem Vater im
Himmel mein Herz auszuschütten. Ich verlange gar nichts von ihm.
Ich danke ihm für meine liebevollen Eltern, die so tapfer an meiner
Seite stehen, obwohl Mama mit ihrer Gesundheit zu kämpfen hat.
Ich danke ihm für Sophie und Justus, die meine schwierige Situation
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mit mir tragen und mir nicht das Gefühl geben, ich sei schuld, dass
die Stimmung im Hause Bach momentan eher gedrückt ist. Ich danke für meine wundervollen Freunde Luisa und Bengü und auch für
Lizzy und dass rechtzeitig Hilfe kam und es ihr wieder besser geht.
Ich danke ihm, dass sie weiß, dass ihre Tat nicht richtig war und positiver gesinnt nach vorn blicken möchte. Und dann danke ich für
Milo, dessen Rolle in meinem Leben mir nicht mehr klar ist, von dem
ich jedoch eines ganz sicher weiß: Er ist ein guter Mensch. Ich habe
keine Ahnung, warum er ist, wie er ist, aber er war die letzten Monate ein wahrer Freund, und daran muss der Vater im Himmel Wohlgefallen haben. Ich bitte für ihn, dass es ihm gut geht und er ebenfalls den Frieden findet, den er braucht.
Obwohl ich mir so eisern geschworen hatte, nicht mehr zu weinen, kommen mir die Tränen automatisch, als ich eine innere Wärme
verspüre, die erst meine Brust und schließlich meinen ganzen Körper
durchzieht. Es ist, als nähme mich jemand in die Arme, der mir sagt:
Molly, du bist nie allein, wenn du deinen Weg mit Gott bestreitest.
Ich bin mir sicher, dass Moroni seine Familie und seine Freunde
sehr vermisst hat, als er durch die öde Welt wanderte. Vielleicht hatte er auch seine Momente, in denen er Einsamkeit verspürte, aber: Er
war nie allein. Sagte er nicht selbst, dass die Lamaniten alle verfolgten und töteten, die Christus nicht leugnen wollten, er dazu aber
nicht bereit war? Wie hätte er auch diesem Glauben abschwören
können, der ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er war?
Ich werfe einen Blick auf mein Handy, aber Milo hat nicht geantwortet. Das macht nichts, sage ich mir. Alles hat seine Richtigkeit.
Was genau der Herr mit mir vorhat, kann ich nicht sagen, aber
dass er einen Plan für mich hat, spüre ich mehr denn je. Und gewappnet mit neuer Energie und geistiger Kraft bin ich bereit, mich
den neuen Dämonen zu stellen, die Vickis Platz eingenommen haben, ihnen entgegenzutreten und siegreich daraus hervorzugehen.
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D
as erste Mal in den Tempel gegangen bin ich einen Monat nach
meinem zwölften Geburtstag. Luisa und ich hatten den
Wunsch, die erste Taufsession gemeinsam mitzuerleben, und so wartete ich die paar Wochen, bis auch sie zwölf geworden war. Gemeinsam mit den damaligen Jungen Damen und Jungen Männern der Gemeinde (und der jeweiligen Leitung) fuhren wir nach Friedrichsdorf,
gingen in den Tempel und hatten anschließend noch eine kleine
Zeugnisversammlung, in der wir unsere Eindrücke ein wenig verarbeiten und, wenn der Wunsch da war, die anderen daran teilhaben
lassen konnten.
Mit zwölf verbucht man ein geistiges Erlebnis noch nicht unbedingt als »geistig«. Wenn in der Jugend der kindliche Glaube zu einem eigenen, festen Zeugnis heranwächst, entdeckt man erst nach
und nach verschiedene Gefühle, die man im Laufe der Zeit einordnen und benennen kann. Von meinem ersten Tempelbesuch sind mir
vor allem zwei Gefühle noch sehr lebhaft in Erinnerung: innere Ruhe
und Freude. Davor war ich sehr aufgeregt, aber das legte sich sehr
schnell, nachdem wir uns umgezogen und den Taufraum betreten
hatten. Luisa und ich waren die einzigen Tempel-»Neulinge«, und
als der Tempelpräsident ein paar Worte an die Gruppe richtete,
sprach er speziell uns beide an. Er lobte uns für die Entscheidung,
ein gutes Leben zu führen, und für die Bereitschaft, notwendige heilige Handlungen für die Verstorbenen zu erledigen.
Ich saß auf der Bank und sog die friedliche Atmosphäre in mich
auf. Der Raum war warm, die gepolsterte Bank bequem, sogar den
weichen Teppich genoss ich durch meine dünnen weißen Söckchen.
Als ich an der Reihe war und in das warme Wasser herabstieg, kam
die Nervosität zurück und ich zitterte ein bisschen, aber Papa, der im
Wasser stand und mich in Empfang nahm, erklärte mir behutsam al388
les, und die Aufregung legte sich schnell wieder.
Inzwischen kann ich mich an die Namen der verstorbenen Frauen, für die ich stellvertretend getauft wurde, nicht mehr erinnern,
aber damals im Taufbecken versuchte ich, mir jeden einzuprägen,
und als wir uns dann nach der Taufsession in einem kleinen Raum
im Annex versammelten und dort einander Zeugnis gaben, überlegte ich, ob sich diese Geister auf der anderen Seite des Schleiers wohl
nun freuten, dass die Taufe für sie vollzogen war.
Grundlegend hat sich seitdem nicht alles verändert – meine Empfindungen und Gedanken sind denen von damals noch ähnlich, aber
inzwischen habe ich einen anderen Bezug zu ihnen. Ich kann nach
der Taufsession sagen: »Ich habe den Geist gespürt«, wenn mich dieses warme, friedliche Gefühl begleitet hat, und sowohl vor als auch
nachdem ich an der Reihe bin, spreche ich leise ein Gebet für die Verstorbenen, für die sich nun möglicherweise alles ändern wird.
Mama und Papa gehen gern in den Tempel und berichten manchmal, dass sie Kraft und Antworten empfangen.
Ob es mir ähnlich gehen wird?
Ich war noch nie im Tempel, weil mich etwas enorm belastet hat
und ich mich nach einer Lösung gesehnt habe, und irgendwie schäme ich mich ein bisschen, dass mir bei der ganzen Vicki-Sache der
Gedanke nie gekommen ist, den Herrn in seinem Haus um Hilfe anzuflehen.
Meine Eltern und ich sind heute ohne meine Geschwister hier.
Auch wenn eine Session mit der ganzen Familie etwas Besonderes
ist, bin ich gar nicht undankbar, dass Justus bei einem Kumpel übernachtet und Sophie daheim anderes zu tun hat. Es mag egoistisch
klingen, vor allem angesichts dessen, dass sich die letzten Wochen
nur um mich gedreht haben, aber heute brauche ich Mama und Papa
ein paar Stunden für mich allein.
»Ich weiß nicht genau, wie ich eine Antwort erkennen kann«,
habe ich sie vorhin auf der Fahrt gefragt. »Wie weiß ich, was der Vater im Himmel von mir erwartet? Und was ich tun soll? Spüre ich
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das einfach?«
Daraufhin hat sich Mama vom Beifahrersitz kurz zu mir umgedreht. »Erwarte nicht von ihm, dass er dir eine Antwort ins Gehirn
diktiert«, sagte sie. »Vielmehr hat er uns den Verstand ja gegeben,
damit wir uns mögliche Lösungen überlegen und ihn dann um Bestätigung bitten, dass das, was wir vorhaben, in seinem Sinne ist.
Wenn wir völlig hilflos vor einer Situation stehen, können wir ihn
natürlich auch um Anstöße bitten und darum, dass er uns den Weg
weist, aber meistens habe ich den Eindruck, dass er genau weiß, in
welcher Form die richtige Antwort bereits in uns schlummert. Er
lässt uns lieber selbst drauf kommen als uns alles vorzusagen – so ist
der Lerneffekt ja auch größer.«
Ich habe ein paar der Jugendlichen, die mit mir im Taufraum sitzen, auf der pfahlübergreifenden Jugendtagung im vergangenen
Sommer schon mal gesehen, aber richtig kennen tue ich keinen. Das
stört mich aber nicht, da ich mich so noch mehr auf meine eigenen
Gedanken konzentrieren kann. Papa sitzt als Zeuge gegenüber vom
Recorder, Mama sitzt neben mir auf der hinteren linken Bank und
hält meine Hand. Ich habe auf dem Schoß meine Bibel aufgeschlagen, die Augen jedoch geschlossen und versuche, mich geistig
einzustimmen.
Eine Lösung, für die ich um Bestätigung bitten kann … Nur schweben
meine Gedanken in wirren Sphären, und ich weiß nicht einmal, wofür ich mir eine Lösung wünsche. Dass sich Milo bei mir meldet?
Dass es ihm gut geht? Dass der Vater im Himmel ihn unschwul
macht? Dass es Milo irgendwie gelingt, sich doch in mich zu verlieben? Oder dass es ihm einfach gut geht und er in Sicherheit ist?
Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn vor mir, wie er mir lächelnd zunickt, doch gleich im nächsten Augenblick verliert er seine
fröhliche Miene und traurig senkt er Kopf und Schultern. Er wendet
sich ab und reagiert nicht, als ich laut seinen Namen rufe.
Das Bild von einem davonlaufenden Milo verschwimmt, und ich
bin mit meinen Gedanken bei der Theaterprobe vorgestern, die eher
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durchwachsen war, nicht zuletzt dadurch, dass Milo durch Abwesenheit glänzte. Frau Ömsen ist sehr streng, wenn sich jemand nicht
abmeldet, aber da sie weiß, wie zuverlässig er ist, war auch sie etwas
besorgt – zumal ich ihr ja nicht sagen konnte, wo er steckte.
Die Probe konzentrierte sich also auf andere Szenen mit wichtigen Aussagen, doch da ich Milo den ganzen Tag nicht erreichen
konnte und unkonzentriert war, vollbrachte ich nicht gerade eine
Glanzleistung.
Frau Ömsen und Frau Beinker saßen die meiste Zeit abseits und
haben intensivstes Brainstorming betrieben. Durch Vickis Ausfall
muss Blanche Ingram neu besetzt werden, und Kathrin und Samira
wollen wohl ebenfalls aufhören. Auch wenn sie jegliche Schuld auf
Vicki abgewälzt haben, waren auch sie auf dem Video zu sehen und
haben sich aus dem »öffentlichen Leben« zurückgezogen – waren
also die letzten paar Tage kaum noch irgendwo außerhalb der Unterrichtsstunden zu sehen.
Irgendwie gelang es Frau Ömsen, sich nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Am Ende der Probe meinte sie aufmunternd zu mir:
»Wir dürfen uns von diesen Problemen gar nicht demotivieren lassen. Das Stück kann gar nicht grandios werden, wenn es sich nicht
durch ein paar Tücken kämpfen muss.« Meine Lehrerin schafft es
immer wieder, mich mit Aussagen zu überraschen, die sich gut auf
das Evangelium beziehen lassen. Ich sollte sie dringend zur Kirche
einladen.
Und so erhielt ich neue Motivation und rief abends zu Hause bei
Milo an, nachdem ich über zehn Ecken seine Festnetznummer bekommen hatte. Sein Vater ging ans Telefon und das Gespräch lief in
etwa so ab:
»Falkenstein …« (Im äußerst unfreundlichen Ton.)
»Hallo, hier ist Molly Bach. Ist Milo zu Hause?«
»Er ist gerade beschäftigt.«
»Oh, kann ich ihn später erreichen?«
»Nein, heute passt das nicht mehr.«
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»Okay … vielleicht können Sie ihm ausrichten, dass ich angerufen habe?«
»Ja.« (Und der Hörer wurde aufgelegt.)
Ich glaubte ihm einfach mal, dass Milo tatsächlich zu Hause war –
was mich zumindest ein bisschen beruhigte, denn das bedeutete,
dass er nicht abgehauen war oder so. Aber der Tonfall war dermaßen
kurz angebunden und unhöflich, dass ich nach allem, was Milo über
seinen Vater erzählt hatte, augenblicklich befürchtete, irgendetwas
sei da ganz stark am Brodeln. Nur was kann ich tun, wenn ich nicht
im Bilde bin und nicht einmal die Möglichkeit habe, mit Milo selbst
zu sprechen?
Ein Ratgeber aus der Tempelpräsidentschaft begrüßt uns alle sehr
warmherzig und eröffnet die Taufsession mit einem kurzen geistigen
Gedanken. Der erste Jugendliche begibt sich in den Nebenraum, wo
die Konfirmierungen durchgeführt werden, und geht anschließend
ins Wasser. Gedämpft vernehme ich den Taufspruch, gefolgt von einem Swuuuuusch, als der Täufling im Wasser begraben wird. Ansonsten ist der Raum erfüllt von ehrfürchtiger Andacht.
Ich sehe mich um. Ein paar Jugendliche haben ebenfalls die heiligen Schriften aufgeschlagen, andere sitzen einfach brav auf ihrem
Platz und haben die Hände auf dem Schoß gefaltet. Zwei Jungen unterhalten sich flüsternd miteinander, wirken aber sehr ernsthaft dabei, nicht albern.
Mama hat mir vorgeschlagen, den 27. Psalm zu lesen. Die hoffnungsvollen Worte Davids erfüllen mich mit Zuversicht, und besonders Vers 4 tut es mir an: »Nur eines erbitte ich vom Herrn, danach
verlangt mich: Im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage meines Lebens, die Freundlichkeit des Herrn zu schauen und nachzusinnen in
seinem Tempel.«
Genau das tue ich ja gerade. Und es fühlt sich richtig an. Und
nun? Was soll ich ihm jetzt vorschlagen – oder was kann ich sagen,
damit ich seinen Willen für mich erkenne?
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Vater im Himmel, ich mache mir Sorgen um Milo … Ich weiß nicht, ob
es ihm gut geht, und ich weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten
soll. Ich kenne deinen Erlösungsplan und ich weiß, welche Rolle die Familie
darin spielt … Daher weiß ich nicht, wie ich mit dem umgehen soll, was er
mir erzählt hat. Ist er nun ein schlechter Einfluss auf mich? Bei allem, was
er für mich getan hat, kann das doch nicht sein?
Ich öffne kurz die Augen, schließe sie dann wieder und denke an
die wunderbaren Freunde, mit denen ich gesegnet bin. Wie gern hätte ich Milo gestern Abend zu Luisas Geburtstagsfeier mitgenommen!
Wie schon bei meiner eigenen Feier vor einem Monat hätte auch diese Gruppe mit ihm fantastisch harmoniert.
Luisa strahlte wie ein Stern am Firmament, als sie mir die Tür öffnete. Sie war für die Party (oder für Finn?) richtig herausgeputzt,
drehte sich für mich in ihrem Kleid, das den gleichen Blauton hatte
wie ihre Augen, einmal im Kreis, und machte dann einen Knicks. Sie
zeigte mir einen hübschen Armreifen, der ebenfalls farblich zu ihrem
Outfit passte. Finn hatte ihn ihr geschenkt, und das, obwohl er sich
auch an dem gemeinsamen Geschenk beteiligt hatte.
Meine beste Freundin sah aus wie eine Prinzessin, und nachdem
ihr eigentlicher Geburtstag so einen faden Beigeschmack hatte mit
der skandalösen Schulversammlung und Lizzys Selbstmordversuch,
verdiente sie es mehr denn je, dass ihre Party ein Kracher werden
würde und genauso, wie sie sie sich vorgestellt hatte. Keine hyperdramatischen Unterbrechungen. Keine Molly im Mittelpunkt mit ihrem Freak-Dasein. Alles sollte sich einzig und allein um Luisa drehen.
Leicht machte sie es mir aber nicht. Denn gleich als Allererstes
fragte sie mich, ob ich Milo erreicht hätte.
Die Antwort lautete Nein, und die Sorge, die ihr nun ins Gesicht
geschrieben stand, vermasselte meinen Plan, dass es um sie gehen
sollte, nicht um mich. Daher winkte ich schnell ab und behauptete,
alles sei in bester Ordnung. Dann schob ich sie förmlich rückwärts
ins Wohnzimmer, wo bereits ein paar Gäste Platz genommen hatten.
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Finn und Dominik waren noch nicht da, dafür aber drei Schulfreundinnen von Luisa. Ich kannte sie vom Sehen und begrüßte sie
freundlich. Luisas Bruder Luka und ein Junge, den ich nicht kannte,
fummelten an der Stereoanlage herum. »Die beiden sorgen für den
Discokeller«, erklärte Luisa aufgeregt. Sie liebt es zu tanzen, und
auch wenn ihr besonders der klassische Partnertanz liegt, der uns
seit Jahren auf fast jeder Jugendveranstaltung eingetrichtert wird,
wäre so mancher aus dem Häuschen, wie sie auf der Tanzfläche abgehen kann, wenn ein lauter Elektrosong mit ohrenbetäubendem
Bass erklingt.
Luisas Vater Robert stand auf der Terrasse und hatte bereits den
Grill angeschmissen, ihre Mutter Ines werkelte fleißig in der Küche,
und der Duft von selbstgebackenem Kuchen erfüllte das ganze
Haus. Es klingelte erneut und Luisa stürmte zur Tür, während ich
mich neben die Techniker hockte und so tat, als interessiere mich,
was die beiden dort taten.
Als Lukas Kumpel einen Teil der Anlage in den Keller runtertrug,
sah Luka zu mir auf. Mir wurde bewusst, dass wir uns das letzte Mal
unterhalten hatten, nachdem er und Luisa mich nach Vickis Party an
der U-Bahn-Haltestelle aufgegabelt hatten. »Ich habe mich nie bei dir
richtig bedankt«, entfuhr es mir unwillkürlich. »Es war echt nett von
dir, mich abzuholen, und ich war total kurz angebunden …«
Luka runzelte die Stirn. »Es war so oder so kein Problem«, meinte
er, »aber nachdem ich nun weiß, was da abgelaufen ist, sogar noch
weniger. Zum Glück hat die Sache ein Ende.«
Ja und nein. Ich beschloss jedoch, ihn in dem Glauben zu lassen.
»Zum Glück«, wiederholte ich also zustimmend. Er wird mir mal ein
guter Schwager sein, wenn er Sophie geehelicht hat, überlegte ich.
»Jedenfalls würde ich mich geehrt fühlen, wenn du nachher mit
mir tanzt«, bot er mir verschmitzt an, und als ich bejahte, tätschelte
er mir den Kopf, wie er es sicher ab und zu bei Luisa tut, ehe er seinem Freund in den Keller folgte.
Sicher hatte er keinen Flirt im Sinn, und doch war ich mit meinen
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Gedanken sofort wieder bei Milo und wie er mir über Wochen in gewisser Weise den Hof gemacht und die ganze Zeit dabei von nur einer rein platonischen Freundschaft ausgegangen war. Wie hatte er
nur glauben können, ich würde seine Signale nicht romantisch auffassen?
Luisa erschien mit Finn und Dominik im Wohnzimmer. »Papa hat
die ersten Steaks auf den Grill gepackt«, verkündete sie. »Es fehlen
nur noch Stef und Biene, aber die müssten auch jede Minute eintrudeln.« Sie hüpfte aufgeregt zu mir und umarmte mich von hinten.
»Ich freu mich so, dass du da bist!«, flüsterte sie mir ins Ohr. Ich lächelte gequält. Ich freute mich ja auch, dort zu sein … aber noch lieber wäre ich mit Milo erschienen.
Nachdem alle Gäste anwesend waren, überreichten wir Luisa ihr
Geschenk. Ich hatte die Idee gehabt, dass wir ihr einen Radausflug in
den Taunus schenken, gemeinsam picknicken und dann abends
schwimmen gehen (je nach Wetterlage ins Hallenbad oder an einen
Badesee). Ich war ja versucht vorzuschlagen, Milo ebenfalls mitzunehmen, aber zu fünft wäre es vermutlich ungünstig – und es geht ja
auch um Luisa und nicht um mich. Abgesehen davon finde ich unsere Viererrunde sehr angenehm, allerdings hatte Luisa erst letztens
gemeint, ihr Vater hätte uns als die »vier Musketiere« bezeichnet,
und da Dominik und ich eben kein Paar sind (im Gegensatz zu Luisa
und Finn), möchte ich auch keinen falschen Eindruck erwecken. Andererseits hatte ich in letzter Zeit auch nicht das Gefühl, von ihm
umschwärmt zu werden, was vielleicht auch an meinem übermäßig
offensichtlichen Milo-Crush lag. Oder ich habe mich geirrt und Dominik war nie in mich verschossen, was ja ebenfalls möglich ist.
Luisa bedankte sich überschwänglich, und nach dem Tischgebet
startete das muntere Grillgelage, das fließend in die Tanzparty im
Keller überging. Luka und sein Kumpel Lars hatten wirklich keine
Mühe gescheut und eine wahre Disco (inklusive Kugel) eingerichtet,
und auch wenn wir die meiste Zeit im Kreis herumhopsten, zog
mich Luka tatsächlich auf die Tanzfläche und wirbelte mich zu ei-
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nem ABBA-Song herum. Ab und zu schloss ich die Augen und stellte
mir vor, mit Milo zu tanzen, nur um ein Stechen in der Brust zu verspüren und erneut zu erkennen, dass ich nicht nur für ihn in seiner
schwierigen Lage da sein möchte, sondern gleichzeitig meine romantischen Gefühle für ihn verarbeiten muss. Habe ich mir da vielleicht
zu viel zugemutet?
Ich öffne die Augen und reibe sie mir kurz mit der rechten Hand,
ehe irgendeine verdächtige Träne sichtbar werden kann. Ich lehne
mich an Mamas rechte Schulter, und sie löst ihre Hand von meiner,
damit sie ihren Arm um mich legen kann. »Willst du mir nicht sagen,
was dich bedrückt?«, flüstert sie mir zu.
Das hat Mama mich noch nie gefragt. Ja, sie war immer für mich
da, aber sie hat mir immer meinen Freiraum gewährt und mir nie
das Gefühl gegeben, sich aufdrängen zu wollen. Sie weiß, dass ich
rede, wenn ich möchte. Vielleicht liegt es an der wunderschönen Atmosphäre im Tempel, dass sie mich direkt nach meinen Sorgen fragt,
aber ich glaube, ich würde mich ihr wohl auch an einem anderen Ort
anvertrauen. Wie stark mein Wunsch ist, mit meinen Eltern zu sprechen, wird mir jetzt erst bewusst, als meine Mutter mich anspricht.
Ich drehe den Kopf zur Seite und lege meine Wange auf ihre. Auch
ich flüstere, damit ich niemanden in seinen Gedanken störe und um
die Stille zu bewahren, die hier so eindrucksvoll herrscht.
»Milo ist schwul«, lautet meine Antwort knapp, ehrlich und ungeschont. Jetzt, wo ich es endlich jemandem gesagt habe, spüre ich
augenblicklich, wie aus dem schweren Rucksack, den ich derzeit trage, ein paar Brocken purzeln.
Mamas Hand fährt von der Schulter in mein Haar, und sachte
streichelt sie mir den Hinterkopf. Einige Sekunden sagt sie gar
nichts. Ich habe mich an sie gelehnt und sehe nicht, ob sie überrascht
oder gar geschockt ist oder vielleicht sogar damit gerechnet hat.
»Wie geht es dir damit?«, fragt sie.
Wieder eine ungewöhnliche Frage für sie. Eigentlich dürfte es sie
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nicht verwundern, wenn ich ihr nun einen Zickenkommentar entgegenschleudere wie: »Wie soll es mir denn damit gehen, bitteschön?!«
Sie stimmt mich jedoch nachdenklich. Mein Herz ist erfüllt von so
vielen verschiedenen Gefühlen, dass es mir schwerfällt, konkret auf
die Frage zu antworten. »Ich bin ein bisschen traurig«, gestehe ich.
»Und ich war ziemlich geschockt. Und ich mache mir Sorgen um
ihn. Und ich habe tausend unbeantwortete Fragen. Aber ich bin ihm
für seine Ehrlichkeit natürlich auch dankbar. Und ich möchte ihn
nicht als Freund verlieren, dafür hat er eine zu große Bedeutung in
meinem Leben gewonnen.«
Ich nehme wahr, wie Mama nickt.
»Ich habe keine Kraft für ein weiteres Drama, Mama …«, sage ich,
obwohl es so leise ist, dass ich nicht weiß, ob sie es überhaupt hört.
Ich möchte nicht die Ruhe hier im Raum stören, aber irgendwie fühlt
es sich für mich auch richtig an, im Haus des Herrn über diese Herzensangelegenheit zu sprechen und Rat zu suchen.
Mama bewegt die linke Hand auf meine geöffnete Bibel und tippt
auf den letzten Vers des Psalms.
Hoffe auf den Herrn und sei stark! Hab festen Mut und hoffe auf den
Herrn!
Ein warmes Gefühl durchströmt mich. Und tatsächlich rechne ich
geradezu mit dem, was Mama mir als Nächstes sagt: »Setz den
Herrn an die erste Stelle und alles wird so sein, wie es sein soll, Molly. Diesen Glauben darfst du niemals verlieren.« Wir sehen einander
an. »Lass uns nachher gemeinsam mit Papa über das Thema sprechen, ja?«, schlägt sie lächelnd vor.
»Ja«, stimme ich zu. Gewiss haben sie nicht Antworten auf alle
meine Fragen, aber ich spüre die Wahrheit dessen, was Mama gesagt
hat. Es geht im Leben um nichts anderes als dies: Nähe zu Gott. Dieses Gefühl ist über allem anderen erhaben – mit diesem Gefühl geht
man letzten Endes immer in die richtige Richtung. Und stärker denn
je spüre ich, dass ich mir diese Nähe nicht nur für mich wünsche,
sondern auch für Milo. Ich stelle keine Erwartungen an ihn, wie er
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sein Leben lebt, aber ich glaube, wenn er wüsste, dass er ein Sohn
Gottes ist, wäre auch alles für ihn ein stückweit tragbarer.
Als ich aufgerufen werde und mich ins Wasser hinabbegebe, wird
dieses Gefühl sogar noch intensiver. Wir vollziehen heilige Handlungen, um zum Vater im Himmel zurückkehren zu können – auch hier
geht es um Nähe zu ihm. Welch Vorrecht, dass wir dies für verstorbene Vorfahren tun können, die keine Möglichkeit oder Gelegenheit
dazu hatten.
Nach der Taufsession fühle ich mich erfrischt und belebt und
habe den schönen Ausspruch aus dem ersten Vers des Psalms verinnerlicht: »Der Herr ist die Kraft meines Lebens.«
Mama hat die Idee, dass wir gemeinsam zur nächsten Pizzeria laufen
und zu Mittag essen. Papa kann nicht ganz nachvollziehen, warum
wir nicht heimfahren und mit Sophie und Justus später gemeinsam
essen, aber mit einem langen Blick macht Mama ihm unmissverständlich klar, wie wichtig es ist, dass wir noch ein wenig Zeit zu
dritt verbringen.
Wir finden ein ruhiges Plätzchen in einer hinteren Nische. Papa
fragt mich nach meinen Eindrücken von der Taufsession, und ich
freue mich, ihm und Mama ehrlich erzählen zu können, wie gut und
erbaut ich mich fühle und dass ich neue Kraft geschöpft habe. »Danke für die tolle Idee«, füge ich hinzu. »Das war genau das, was ich
gebraucht habe.«
Ich weiß nicht, wie ich das Thema nun geschickterweise auf Milo
lenken kann, daher bin ich Mama dankbar, dass sie das für mich
übernimmt. »Molly möchte gern noch über etwas Wichtiges mit uns
reden«, sagt sie. »Das ist auch der Grund für das Essen in kleinerer
Runde.«
Trotz der Ernsthaftigkeit der Situation bin ich kurz versucht, zu
verkünden, ich wäre schwanger – einfach nur, um Papas Reaktion zu
testen. Aber ich reiße mich zusammen. »Milo hat mir gestanden,
dass er schwul ist«, erkläre ich. »Ich habe so viele Gedanken, dass
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mir der Schädel brummt. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll,
oder eher: wie ich richtig damit umgehen soll. Ich verstehe nicht,
warum er überhaupt in dieser Situation ist, und was die Kirche zu
dem Thema sagt, finde ich auch etwas verwirrend.« Außerdem … bin
ich in ihn verliebt.
Papa hat die Augenbrauen gehoben. »Das ist ein ziemlich krasses
Geständnis«, bemerkt er.
Ja, so weit bin ich auch schon.
»Was hast du ihm denn gesagt?«, fragt Papa.
»Dass ich ihn als Freund niemals verlieren möchte«, sage ich.
Mama und Papa schauen einander an, dann mich. Sie sehen beeindruckt aus. Nur wieso? Das war die für mich natürlichste Reaktion – denn darum geht es bei Freundschaft doch.
»Damit hast du das Wichtigste schon getan«, sagt Mama und legt
ihre Hand auf meinen ausgestreckten Unterarm. »Wie geht er selbst
denn damit um?«
»Nicht so gut«, erwidere ich. »Er hat Angst davor, wie seine Eltern reagieren. Er hat kein gutes Verhältnis zu seinem Vater … Und
eigentlich wollte er mit dem Outing warten, bis er ausgezogen ist,
aber Vicki hat Wind von der Sache bekommen, und nun, da sie von
ihrem Thron gestürzt ist, bemüht sie sich mit Leibeskräften, alle
schön mit sich in den Abgrund zu reißen.«
»Diese Person«, grummelt Papa. »Die wird schon eines Tages
Reue zeigen. Mobbing kann sowohl straf- als auch zivilrechtlich verfolgt werden, insbesondere die Aktion mit Lizzy wird schwere Folgen für sie haben, auch wenn sich das alles noch über Wochen und
Monate erstrecken wird.«
»Lenk nicht ab«, flüstert Mama ihm zu.
»Ach ja. Entschuldigung. Ich bekomme einfach die Krise, wenn
ich ihren Namen höre … Viktor werden wir den Kleinen wohl eher
nicht nennen.«
»Jedenfalls war Milo ziemlich panisch, dass sie seinen Eltern das
Ganze steckt, und nach dem, was er so erzählt, ist die Angst nicht
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unbegründet … Er war gestern und vorgestern nicht in der Schule
und ich kann ihn nicht erreichen. Ob ich nachher einfach mal vorbeischauen soll?«
»Leider gehen viele nicht richtig damit um und stempeln solche
Menschen eher ab, als den Menschen an sich zu sehen. Um so wichtiger, dass du für ihn da bist«, bestärkt Mama mich. »Für Papa und
mich ist nur wichtig, dass es dir dabei gut geht.« Sie beißt sich ein
wenig auf die Lippe, und ich kenne den Grund. Wir haben nie offen
über meine Gefühle für Milo gesprochen – aber lohnt es sich wirklich, daraus jetzt noch ein Geheimnis zu machen?
»Ich weiß«, sage ich also. »Ich sollte mir keine vergeblichen Hoffnungen machen, oder?«
Ich glaube, ich breche den beiden das Herz. Sie wünschen sich ja
auch nur, dass ihre Tochter glücklich wird. »Molly, falls es dir wirklich gelingt, deine eigenen Gefühle zurückzustecken und dich darauf
zu konzentrieren, Milo mit deiner Freundschaft zu stärken, hast du
unseren tiefsten Respekt. Wir möchten nur nicht, dass du verletzt
wirst oder … annimmst, dass sich seine Empfindungen ändern, weil
du ihn gern hast. Das ist alles sehr, sehr schwierig.«
»Was denkt sich Gott denn dabei?«, rufe ich aus. »Es muss doch
irgendeinen Sinn geben, aber ich kann ihn nicht erkennen.«
Nun ergreift Papa das Wort. »Molly, da Spekulation nichts bringt,
ist mir wichtig, dass du weißt, dass ich keine Ahnung habe, warum
manche Menschen solche Gefühle haben. Das ist eine Frage, die ich
dem Vater im Himmel selbst einmal stellen werde … Aber wie so oft
spielt das Warum gar keine so große Rolle.«
»Milo hat sich das nicht ausgesucht, und das Beste und Wichtigste, was du tun kannst, ist ihm eine Freundin zu bleiben und für ihn
da zu sein«, setzt Mama hinzu.
»Aber ist das in Ordnung mit der Kirche?«, frage ich zaghaft.
»Milo hat erzählt, dass er ein bisschen im Internet recherchiert hat …
und das klang wohl alles nicht so positiv.«
Erneut schauen sich Mama und Papa an, diesmal nach dem Mot-
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to: »Du oder ich?« Mama ist dann diejenige, die antwortet. »Molly,
wir glauben fest an die Proklamation an die Welt und dass die Ehe,
wie Gott sie vorgesehen hat, aus Mann und Frau besteht. Was wir jedoch nicht vergessen dürfen, ist, dass Gott alle seine Kinder liebt –
unabhängig davon, in welchen Umständen sie sich befinden. Auch
wenn sie viele Entscheidungen treffen, die ihm nicht gefallen, wird
diese Liebe niemals vergehen. Und von uns erwartet er dasselbe –
daher wäre es sogar äußerst tragisch, wenn Milo jemals das Gefühl
bekäme, er sei nicht willkommen und wir würden ihn nicht gern haben. Welchen Lebensweg auch immer er einschlagen wird, lass das
eure Freundschaft nicht beeinträchtigen.«
Mit einem solchen Toleranzplädoyer habe ich gar nicht gerechnet,
und ich muss sagen, dass ich Papas Blick entnehme, dass er ihr nicht
voll und ganz zustimmt. Wunderbar. Jetzt haben die sicher noch eine
Ehekrise wegen mir.
»Ich weiß nicht, Schatz«, meint er. »Also natürlich sollen wir Liebe haben, aber … ich möchte auch nicht, dass Molly in irgendwelche
falschen Kreise gerät.«
Mama sieht ihn strafend an. »Das ist ja wohl nicht abhängig von
der sexuellen Orientierung eines Jungen«, sagt sie gleich. »Falsche
Freunde mit schlechtem Einfluss gibt es überall und man muss sich
vor ihnen hüten. Aber dass Milo ein guter Mensch ist, daran zweifelt
ja wohl keiner. Ich mache mir jedenfalls keine Sorgen, dass Molly
durch ihn in irgendwelche Gefahr geraten könnte.«
»Ja, das stimmt natürlich.« Papa wirkt gleich etwas ruhiger.
Der Kellner erscheint und stellt mir die Tagliatelle mit grüner Pesto vor die Nase, und der Duft bewirkt, dass mir der Magen knurrt.
Wir sprechen ein kurzes Gebet zusammen, ehe wir es uns schmecken
lassen. Ich habe immer noch viele Fragen, aber fürs Erste bin ich erleichtert, dass Mama und Papa so offen mit mir gesprochen haben.
Ich weiß, dass das Thema gut bei ihnen aufgehoben ist – und endlich
spüre ich, wie Sonnenstrahlen die dunklen Wolken in meinem Kopf
vertreiben.
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Auf dem Heimweg genieße ich meine beschwingten Emotionen. Ich
bin dem Vater im Himmel dankbar, dass er meine Gebete erhört und
mich inspiriert und mir auch durch meine Eltern Antwort gibt.
Ich möchte nachher bei Milo vorbeischauen. Ewig abwimmeln
können sie mich nicht, und wenn ich Glück habe, erwische ich seine
Mutter, die ja sehr nett zu mir war, als ich letzte Woche bei ihnen zu
Besuch war. Vielleicht ist er tatsächlich ja einfach nur krank und sein
Vater war gestresst! Mit dieser Idee bin ich zufrieden, einmal abgesehen davon, dass es mir wohl kaum schaden kann, an das Gute im
Menschen zu glauben.
Meinem Wunschdenken wird jedoch ziemlich schnell ein Strich
durch die Rechnung gemacht, als wir heimkommen. Sophie muss
uns gehört haben und erwartet uns an der offenen Haustür. »Milo ist
vorhin hier aufgetaucht«, sagt sie leise. Sie klingt besorgt. »Er wollte
wieder gehen, aber ich habe ihn überredet, auf euch zu warten … Er
ist im Wohnzimmer.«
Ich ziehe mir nicht einmal die Schuhe aus, sondern gehe schnellen Schrittes durch den Flur. Freudig möchte ich ihn begrüßen, aber
als ich sehe, wie er in sich versunken auf der Couch sitzt, weiß ich,
dass meine ganzen Sorgen begründet waren. Ich schnappe erschrocken nach Luft, als er aufsieht. Seine gesamte linke Gesichtshälfte ist
angeschwollen und blau. Die Lippen sind an mehreren Stellen aufgeplatzt und blutverkrustet. Regungslos starre ich ihn an und presse
mir beide Hände an den Mund.
»Kann ich ein paar Tage hier bleiben?«, fragt er zögernd und mit
gequälter Stimme. »Ich weiß nicht, wohin ich sonst kann …«
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403
32
J
eder findet seine Eltern ab und zu ätzend. Und selbst dann ist es
mehr situationsabhängig: »Ich bekomme meinen Willen nicht, also
finde ich dich blöd!«, kein grundsätzliches »Ich verabscheue dich!«
Dann verträgt man sich und alles ist wieder wie vorher … Geschichten von regelrechten Eltern-Kind-Fehden und schlimmen Beziehungen kannte ich bislang nur aus dem Fernsehen und den heiligen
Schriften, bis mir Veronica Greiser eine neue Sichtweise eröffnete,
wie eine lieblose Erziehung dazu beiträgt, einen Gift und Galle spuckenden Drachen zu erschaffen.
Dann wiederum verstehe ich nicht, warum manche Kinder es
schaffen, dem Übel zu entkommen, sich von der Vergangenheit abzuwenden und verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden,
während andere an der schlimmen Kindheit zerbrechen. Und, was
mich noch mehr verwirrt, warum gibt es auch Monster, die eigentlich eine sehr behütete Kindheit hatten? Das fängt ja schon in den
heiligen Schriften an. Adam und Eva waren bestimmt wundervolle
Eltern, und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie Kain und Abel
verschieden erzogen haben. Lehi und Saria haben Laman und Lemuel doch bestimmt auch nicht anders behandelt als Nephi und Sam.
Der gerechte König Zeniff hatte den Tyrann Noa als Sohn und dieser
wiederum hatte einen rechtschaffenen Sohn, Limhi. Wie entscheidet
der Vater im Himmel, welches Geistkind er in welche Familie
schickt? Sollten nicht nur äußerst starke Persönlichkeiten in schwierigen Verhältnissen aufwachsen müssen, damit sie ihr Leben trotzdem
meistern können? Warum gibt es welche, die das packen, wohingegen andere auf schlimme Abwege geraten?
Sollte Vicki einmal Mutter werden – und ich hoffe, dass dies niemals geschehen wird –, eifert sie bestimmt dem Beispiel ihrer Mutter
nach, obwohl sie unter deren Lieblosigkeit garantiert gelitten hat. Bei
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Milo, dessen familiäre Situation auch nicht gerade ideal ist, kann ich
mir vorstellen, dass er einmal ein sehr liebevoller Vater sein wird.
Aber dazu müsste er ja …
Ich zwinge mich, den Gedanken nicht weiterzuspinnen.
Meine Hand zittert so sehr, dass ich ein wenig Wasser verschütte,
das, mit ein bisschen Zitrone und Pfefferminze verfeinert, in einer
Karaffe stets griffbereit im Kühlschrank steht. Sophie hat mich in die
Küche geschickt, um Milo etwas zum Trinken zu holen, und anstatt
ihr vorzuhalten, sie könne ja wohl selbst gehen, bin ich brav und willig aufgesprungen.
Ich höre Mamas und Papas gedämpfte Stimmen aus dem Arbeitszimmer. Mamas erste Reaktion war: »Du kannst so lange hier bleiben, wie du möchtest!«, ehe sie Milo vorsichtig umarmt hat.
»Du kannst nicht einfach so eine Entscheidung treffen, ohne dass
wir darüber gesprochen haben!«, diskutiert Papa mit ihr. Zum Glück
habe ich die Wohnzimmertür angelehnt. Sophie und Milo dürften
die beiden nicht hören.
»Willst du ihn fortschicken?«, entgegnet Mama.
Das Letzte, was ich gebrauchen kann, sind streitende Eltern.
Wenn Milo so etwas erahnt, haut er sofort ab, und ich will gar nicht
wissen, wohin ihn seine Verzweiflung treibt.
»Er ist minderjährig, Katha!«, hält Papa ihr vor. »Es ist uns gesetzlich untersagt, ihn länger als eine Nacht hierzubehalten, ohne die
Polizei oder seine Eltern zu informieren!«
Ehe ich noch das Glas Wasser fallen lasse, gehe ich zügig zum
Wohnzimmer. Ich öffne und schließe die Tür so schnell ich kann und
hoffe, keinen Verdacht zu erwecken. Mir gefällt nicht, was Papa gesagt hat. Wie kann sowas gesetzlich sein? Wir können Milo doch
nicht zurückschicken! Ich bin heillos überfordert mit meinen Emotionen. Wieder einmal. Dabei hat der Tag doch so schön und besonnen
angefangen mit der Taufsession im Tempel.
Sophie hat eine große Kältekompresse in ein Handtuch gewickelt,
die sich Milo vorsichtig auf die geschundene Gesichtshälfte hält. So-
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phie tätschelt ihm behutsam den Rücken, was mich rasend macht.
Sie meint es bestimmt gut, aber ihre Anwesenheit stört mich kolossal. Es war richtig von ihr, ihn hineinzubitten, nun soll sie bitte nach
oben verschwinden.
Der Vater im Himmel erhört mein unausgesprochenes Gebet ausnahmsweise mal prompt in Form des klingelnden Telefons. Ich hätte
Sophie ja glatt zugetraut, dass sie mich abnehmen lässt, aber sie
springt auf und geht selbst. Sie scheint kurz abzuwägen, ob sie mit
dem Anrufer sprechen oder um Rückruf bitten soll, entschließt sich
dann jedoch, uns allein zurückzulassen, und verlässt – endlich – das
Wohnzimmer.
Ich reiche Milo das Glas und er nippt daran. »Danke«, flüstert er
mit dem Anflug eines dankbaren Lächelns, das mir das Herz zerreißt. Ich will nicht, dass er leidet.
Schnell nutze ich die Zweisamkeit aus. »Was hat Vicki getan?«,
frage ich. Vielleicht sollte ich nicht so unverfroren sein, aber es muss
zur Sprache kommen. Natürlich ist mir klar, wer Milo verprügelt
hat, das Übel muss jedoch seinen Ursprung bei Vickis bösen Machenschaften haben, also warum um den heißen Brei herumreden.
»Sie hat Kira dazu aufgestachelt, ihren Eltern davon zu berichten,
damit Daniel Ärger bekommt, und ihr Vater hat meinen Vater verständigt.« Erneut trinkt er einen kleinen Schluck, ehe er die Kompresse sinken lässt und mich eindringlich ansieht. Beide Augen sind
gerötet. »Meine Mutter und Roman waren beide nicht daheim … Da
ist er ein bisschen ausgetickt.«
»Ein bisschen?!«, rufe ich geschockt. Als mir Milo vor ein paar Tagen aus seinem Leben berichtet hat, war zwar von einem recht herzlosen Vater die Rede, aber von keinem gewalttätigen. Wie kann jemandem derart der Kragen platzen, dass er sein Kind grün und blau
schlägt? »War das das erste Mal, dass er so etwas getan hat?«, frage
ich daher.
Nun bringt Milo einen kurzen, traurigen Lachseufzer hervor.
»Ja«, erwidert er. »Zuneigung war nie seine große Stärke, aber hand-
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greiflich war er nie. Allerdings … na ja, ich sollte vielleicht hinzufügen, dass ich zuerst zugeschlagen habe …«
»Milo!« Mein Entsetzen nimmt zu. »Was ist denn nur in dich gefahren?« Ich hab gut reden. Vickis blaues Auge schleicht sich lebhaft in
meine Erinnerung.
»Er war völlig außer sich!« Milo hebt hilflos die Arme und verschüttet beinahe selbst etwas Wasser aus dem halbvollen Glas. »Er
hat mich beschimpft, mich erniedrigt, mir an den Kopf geworfen, er
habe das ja schon immer befürchtet, aber ein Teil von ihm habe trotzdem gehofft, ich sei ›normal‹. Dann hat er mir lauthals zu erklären
versucht, wie unsere Gesellschaft im Sumpf dieser … ›Perversionen‹
untergeht, und wie er einfach nicht begreifen könne, wie weitläufig
akzeptiert ein solcher Lebensstil sei. ›Bald treiben wir es mit Hunden
und Katzen und alle werden applaudieren!‹, war sein genauer Wortlaut. Er hat mein Handy an sich gerissen, mich als Schande der Familie bezeichnet und mir etwa tausend Jahre Hausarrest verpasst, und
… plötzlich hatte er meine Faust im Gesicht.«
Ich japse auf.
»Tja …« Milo kühlt sich wieder die geschwollene Gesichtshälfte.
»Mein Vater ist zwar älter als ich, aber er ist gut durchtrainiert …
Und so artete das etwas aus.« Offenbar bekam sein Vater sich nicht
mehr ein, prügelte seinen Sohn windelweich und drohte ihm, und
obwohl Milos Mutter nach der Heimkehr einen Schock erlitt, brachte
sie nicht die Kraft auf, sich gegen ihren Mann zu stellen. Sein Bruder
macht gerade ein Praktikum in Nordhessen und weiß von alldem
noch gar nichts. »Ich durfte mein Zimmer nur verlassen, um auf Toilette zu gehen. Ich war versucht, mein Fenster zu öffnen und nach
Hilfe zu brüllen, aber … zugegebenermaßen war ich gesundheitlich
nicht so ganz auf der Höhe. Als ich dann vorhin aus dem Bad kam
und Mama gerade an der Wohnungstür stand, um ein Paket entgegenzunehmen, bin ich einfach losgestürmt. Hab meine Schuhe im
Vorbeigehen gegriffen und bin rausgerannt. Bis hierher …«
Was ist denn nur los mit der Menschheit? Ich verletze Vicki, Milo
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verletzt seinen Vater, Lizzy verletzt sich selbst … Sind wir alle verrückt geworden? Vielleicht bestätigt sich meine Furcht von vorhin
und ich werde trotz super Eltern eine ganz miserable Mutter.
»Milo, wir sollten das Jugendamt verständigen«, schlage ich vor,
weil mir nichts Besseres einfällt.
»Und dann?«, fragt Milo. »Stecken sie mich für ein halbes Jahr ins
Heim, bis ich volljährig bin? Zu meiner Tante in Bayern haben wir so
gut wie keinen Kontakt und zu meiner Verwandtschaft nach Kroatien werde ich auch ganz sicher nicht ziehen.«
Ich tätschele seine Hand. »Hier bist du erst einmal in Sicherheit!«,
möchte ich ihn beruhigen, als wäre er illegaler Flüchtling – und ja, irgendwie ist er das ja auch. Mir geht nicht aus dem Kopf, was ich
Papa vorhin habe sagen hören. Ich sollte mich damit abfinden, dass
Milo hier nur eine kurze Bleibe haben kann – nur wohin soll er
denn? Wir können ihn doch nicht zurück zu seinen Eltern schicken.
Man sollte die mit den Greisers in ein kleines Zimmer sperren, bestimmt sind die wie so eine Parasitenart, die keinen Nebenbuhler
duldet, vernichten sich gegenseitig und machen diesen Planeten zu
einem schöneren, friedlicheren Ort.
In diesem Augenblick kommen meine Eltern dazu. Man kann ihnen ansehen, dass ihre Diskussion nicht sehr freundlich verlaufen ist,
und meine Eltern streiten selten. Dass eine schwierige Situation, für
die ich mich irgendwie mitverantwortlich fühle, das nun bewirkt
hat, ruft Schuldgefühle bei mir hervor. Am besten laufe ich mit Milo
gemeinsam weg – irgendwohin, wo niemand uns findet, wo wir allein sind, wo er gar nicht anders kann, als sich in mich unsterblich zu
verlieben … Schnell senke ich den Kopf. Naives Fantasiegespinst.
Mama und Papa setzen sich zu uns, auch wenn der Platz auf der
Couch für vier Leute äußerst begrenzt ist.
»Milo, du kannst gerne hier übernachten«, sagt Papa. »Aber du
musst verstehen, dass wir nicht tatenlos akzeptieren können, was dir
angetan wurde. Wir stehen dir zur Seite und halten zu dir. Nur können wir uns nicht strafbar machen, das geht einfach nicht.«
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»Natürlich nicht«, erwidert Milo sofort. »Es war nie meine Absicht, Sie in Schwierigkeiten zu bringen. Ich … ich hatte einfach keine Ahnung, wohin ich gehen soll. Molly kam mir als Erstes in den
Sinn, als ich aus dem Haus gerannt bin.«
Ich schmelze und leide gleichermaßen.
»Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie wir jetzt vorgehen können«, fährt Papa fort, doch Mama fällt ihm ins Wort.
»Erzähl doch erst einmal, was genau passiert ist«, bittet sie Milo.
»Wenn es dir nichts ausmacht«, fügt sie schnell hinzu. »Wir können
dir am besten helfen, wenn wir den Sachverhalt kennen.«
Milo denkt kurz nach. »Sie … Sie wissen über mich Bescheid?«
Mir wird plötzlich ganz anders, denn ich habe ihn ja nie um Erlaubnis gebeten, mit meinen Eltern über seine pikante Situation zu sprechen. Ich meine jedoch, dass er nicht erschüttert klingt, sondern eher
um eine Bestätigung bittet.
»Ja«, erwidert Mama, und ohne dass Milo darauf eingeht oder
mir einen Vorwurf macht, wiederholt er seinen kleinen Bericht so
ungeschont, wie er ihn mir erzählt hat. Ihn erneut zu hören, entsetzt
mich nicht weniger als beim ersten Zuhören; nun ist mir obendrein
noch mulmig zumute. Instinktiv greift Mama nach seinen Händen,
und ich frage mich, ob sie ihm in diesem kurzen Moment mehr Aufmerksamkeit und Liebe entgegenbringt als sein eigener Vater es sein
Leben lang getan hat.
Während Mama Milo voller Mitgefühl bedauert, kratzt sich Papa
an der Stirn und dann am Hinterkopf und wirkt unsicher und überfordert, was ich ihm nicht übelnehme. Wie hätte er auf eine solche Situation vorbereitet sein sollen? Vermutlich machen sich die wenigsten Eltern Gedanken darum, wie man vorgeht, wenn ein Freund des
eigenen Kindes vor der Haustür steht, nachdem er sich mit den eigenen Eltern gekloppt hat.
»Was würden Sie mir denn raten?«, fragt Milo aufrichtig.
Und da soll mal einer behaupten, Teenager wollen nicht den Rat von Erwachsenen …
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»Wir fahren erst einmal ins Krankenhaus und lassen das da untersuchen!« Papa deutet auf Milos misshandelte Gesichtshälfte.
»Ich hab doch nichts bei mir …«, entgegnet Milo und senkt den
Blick. »Ich habe buchstäblich nur meine Schuhe zu fassen bekommen
… Ich wäre allerdings auch auf Socken hergelaufen, wenn es nötig
gewesen wäre.«
»Hmm. Nun gut, da finden wir schon eine Lösung«, überlegt
Papa laut. »Auf jeden Fall ist es in Ordnung, wenn du heute hier
schläfst und erst einmal ein wenig zur Ruhe kommst. Aber morgen
… Milo, ich halte es für das Beste, wenn wir gemeinsam zur Polizei
fahren und du erklärst, was vorgefallen ist. Anschließend müssen
wir zu dir nach Hause. Jemand von der Polizei wird uns begleiten,
und glaube mir, wir werden dich nicht einfach an deine Eltern abschieben oder so. Deinem Vater muss klar sein, dass er dich nicht
hätte zusammenschlagen dürfen, sonst wäre er auch nicht so erpicht
darauf gewesen, dich wie ein Gefangener einzusperren und dich
nicht zur Schule zu schicken.«
»Ruf deinen Bruder an!«, schlage ich außerdem vor, damit ich
ebenfalls etwas Sinniges beitragen kann. »Vielleicht kann er kurzfristig heimkommen. Er sollte ebenfalls dabei sein!«
»Du kannst in meinem Zimmer schlafen«, bietet Sophie an, die
plötzlich im Türrahmen steht, ohne dass ich es bemerkt habe. Wie
viel sie von der Geschichte wohl mitbekommen hat? Meine Schwester
nimmt auf dem Sessel uns gegenüber Platz und winkelt die Beine an.
Sie ist mir mit ihrem Angebot zuvorgekommen, was mich ärgert.
Kaum ist sie zurück, nervt sie auch schon wieder. »Ich schlafe mit bei
Molly.«
Ach, geh doch wieder telefonieren, Mädchen.
Unverhofft beginnt Milo zu weinen, noch heftiger und verzweifelter als vor seinem Geständnis vergangene Woche nach der Konfrontation mit Vicki. »Es ist mir so peinlich«, sagt er mit fast erstickter Stimme zu meinen Eltern. »Ich will nicht, dass Sie Ärger bekommen, und Sie sind so nett zu mir …«
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»Deshalb bist du ja auch zu uns gekommen«, meint Mama und
grinst ein bisschen selbstgefällig, während sie ihm über den Rücken
streicht. »Es war genau die richtige Entscheidung, zu jemandem zu
gehen, dem du vertraust! Natürlich helfen wir dir! Dafür brauchst
du dich überhaupt nicht zu schämen!«
Wir lösen die kleine Runde auf. Wir zeigen Milo Sophies Zimmer,
beziehen ihm neue Bettwäsche und schlagen ihm vor, sich ein bisschen auszuruhen. Ich erwarte, dass Papa eine Familien-Krisensitzung einberuft, stattdessen ziehen er und Mama sich zurück. Justus
ist glücklicherweise immer noch nicht zu Hause, und Sophie holt
sich eine Extramatratze aus dem Keller und legt sie vor mein Bett.
Ich sollte mich vermutlich bedanken, dass sie so hilfsbereit darum
bemüht ist, es Milo gutgehen zu lassen, wäre ich nicht so genervt
von ihr.
»Er ist so ein Feiner!«, schwärmt sie plötzlich seufzend, während
sie ihr Kopfkissen aufklopft und zurechtlegt. »Läuft eigentlich etwas
zwischen euch?« Also hat sie das Ausmaß der Geschichte doch nicht
mitbekommen. Erdreistet sie sich trotzdem dazu und bekundet gerade heute ernsthaft Interesse an ihm?
»Nein«, antworte ich, »wir sind einfach gute Freunde. Aber vielleicht sieht er in dir ja mehr!« Soll sie doch ihr Glück bei ihm versuchen und auf die Schnauze fallen, die Olle. Ich warte keine Reaktion
ab und gehe wieder nach unten.
Später fühle ich mich schlecht, weil wir ja eigentlich von heute
Abend bis morgen Abend als Familie fasten wollten, was immerhin
Sophies Vorschlag war – und nicht, um sich hervorzutun, sondern
weil sie wirklich helfen wollte. Papa fragt uns, ob wir damit einverstanden sind, das geplante Fasten um einen Tag zu verschieben, damit Milo nicht morgen alleine speisen muss, was sicherlich seltsam
für ihn wäre (wobei Justus noch nicht voll mitfastet und immer nur
eine Mahlzeit ausfallen lässt – und ich gestehe, dass ich es ihm
manchmal gleichtue). »So könnten wir auch für ihn und seine Situa-
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tion fasten«, ist Papas Idee. In der Schule fasten zu müssen ist anstrengender als am Sonntag, aber wir sind sofort einverstanden.
Als Justus anruft und kleinlaut fragt, ob er eine weitere Nacht bei
Levi bleiben darf, ist er vermutlich überrascht, wie bereitwillig unsere Eltern ihm das erlauben, und Papa macht sich sogar gleich auf den
Weg und bringt ihm seine Sonntagssachen, damit er mit Levis Familie morgen zur Kirche kommen kann. Er sieht das Ganze sogar, wie
ich nach seiner Rückkehr erfahre, als eine Art göttliche Fügung, da er
ohnehin Levis Vater anrufen und um Hilfe bitten wollte: Markus
Bailly ist Arzt, und auch wenn es nahezu an eine Unverschämtheit
grenzt, ihn samstags mit Sonderwünschen zu behelligen, war er tatsächlich mehr als bereit, Papa zu begleiten, nachdem er von der
komplizierten Situation erfahren hat. Viel kann er gar nicht tun, was
aber ein gutes Zeichen ist – er sagt, dass so, wie es aussieht, alles
richtig verheilt und Milo nicht viel mehr tun kann, als die Prellungen
zu kühlen. Er hat eine Wundsalbe mitgebracht, die er auf die geschwollenen Stellen schmieren kann, und ein paar leichte Schmerztabletten.
Mama, die in der Zwischenzeit verbotenerweise in der Küche gewerkelt hat, obwohl sie sich schonen soll, gibt Markus als Dankeschön ein frisch gebackenes Brot und ein Glas Zimthonig mit auf den
Weg, ehe sie uns zum Essen ruft.
Ich bin noch satt von den Nudeln heute Mittag und stochere in
dem Kartoffelauflauf herum, den Mama schnell zusammengeschustert hat. Milo haut richtig rein, nimmt sich aber erst mehr, nachdem
Mama ihn eindringlich dazu aufgefordert hat. Er will nicht gierig erscheinen, aber vielleicht wurden seine Mahlzeiten in den letzten paar
Tagen aufs Minimalste reduziert. Ob sein Vater dafür gesorgt hat,
dass er nur Wasser und trockenes Brot bekommt? Ich traue mich gar
nicht, nachzufragen.
Mama fragt Milo freundlich, ob er uns morgen zur Kirche begleiten möchte und fügt hinzu, dass er sich dazu nicht verpflichtet fühlen muss. Milo jedoch sagt sofort: »Gern. Es ist Ihr Haus, Ihre Regeln,
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und das Mindeste, was ich tun kann, ist, mich Ihrem Tagesablauf anzupassen.«
Ich bekomme einen tieferen Einblick in Milos Charakter und sehe
einen gehorsamen Jungen, der stets das getan hat, was seine Eltern
ihm aufgetragen haben, einfach weil er sich um deren Liebe bemüht
hat. Ich frage mich, was – abgesehen vom Handball – er im Laufe seines Lebens noch getan hat, um seinem Vater zu gefallen, in der Hoffnung, ein Lob zu ernten. Wie viel Frustration hat er angestaut, die
jetzt vor wenigen Tagen herausgebrochen ist?
»Ich … ich habe halt nur keine schicke Kleidung. Ich habe nicht
einmal saubere Unterwäsche«, murmelt Milo verlegen.
Soll ich Papa vorschlagen, ihm etwas von seiner abzugeben?
Wahrscheinlich ist diese Art von Humor gerade alles andere als angebracht, aber bestimmt hat Papa irgendwo Boxershorts herumliegen, die er beim Sport anzieht, und da er in etwa so groß ist wie Milo
und selbst sportlich gebaut, kann er garantiert ein weißes Hemd entbehren. »Darum mach dir mal keine Gedanken«, bestätigt er auch
sofort.
Abends sitze ich auf Sophies Bett und habe Milos Kopf auf meinen
Schoß gebettet. Wir sprechen nicht viel, und ich habe den Eindruck,
dass er einfach etwas Gesellschaft braucht. Als er einschläft, löse ich
mich vorsichtig unter ihm und tausche meinen Schoß gegen ein
Kopfkissen, ehe ich das Licht ausschalte, hinausgehe und die Tür leise hinter mir schließe.
»Von wegen, zwischen euch läuft nichts«, grunzt Sophie mich an.
»Und dann noch auf meinem Bett …«
»Selber Schuld. Er hätte ja auch bei mir schlafen können«, zicke
ich zurück.
Meine Nacht ist sehr unruhig. Ständig wache ich auf und blicke
zum Wecker. Sophie schnarcht ein wenig, und am liebsten möchte
ich das Spektakel aufzeichnen und sie damit erpressen. Milo verfolgt
mich durch meine Träume und sein Vater auch. Ab und zu sehe ich
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Vicki vor mir, wie sie schallend auflacht, und dann sehe ich Kira und
ihren Bruder (nun, zumindest sehe ich ein Bild von ihm, wie ich ihn
mir vorstelle). Es ist ein heilloses Durcheinander, das mich nicht ruhen lässt, und als der Wecker schließlich klingelt, werde ich doch aus
dem Schlaf gerissen, der mich irgendwann zu später Stunde ereilt
hat, aber ich fühle mich, als hätte ich kein Auge zugemacht.
Mama und Papa sind schon auf, und ich sehe, dass Papa an Sophies Zimmertür ein Hemd mit Krawatte gehängt und darüber ein
Paar saubere Boxershorts gelegt hat. Ich frage mich, wann wir Milo
wecken müssen, aber er findet den Weg ganz allein, und als er unten
zum Frühstück erscheint, berichtet er mir, er habe zwar sehr gut geschlafen, aber dadurch, dass er nachmittags gepennt hätte und dann
auch abends so früh eingeschlafen sei, wäre er bereits ziemlich früh
wach geworden.
Trotz der Jeans sieht er mit Hemd und Schlips sehr schick aus,
und selbst wenn er uns in seinem Shirt von gestern zur Kirche begleiten würde, wäre das völlig in Ordnung. Das Abendgebet gestern
hat er verpasst, und so kniet er heute zum ersten Mal mit uns zu einem »richtigen« Gebet nieder, bei dem es nicht nur um Essen geht.
Ich mache mir Sorgen, dass er sich in der Kirche langweilen wird
und habe sicherheitshalber Luisa angeschrieben, ob sie Luka bitten
würde, heute zu vergessen, dass er schon volljährig ist, und noch
einmal in den Unterricht der Jungen Männer und in die Sonntagsschulklasse der Jugendlichen zu gehen, damit Milo jemanden im
gleichen Alter hat, an den er sich wenden kann. Luisa meinte, das
wäre kein Problem, aber dass sich Luka bestimmt freuen würde, fräge ich ihn selbst – und so gab sie mir seine Nummer durch und ich
schickte ihm kurz eine SMS. Lukas Antwort kam kurze Zeit später:
»Yo klar. Kein Problem.«
Äußerst vorbildlich steht Luka bereits im Foyer, als wir ankommen, obwohl wir wie immer recht früh sind. Das gibt uns aber Zeit,
noch ein wenig in der Gruppe zusammenzusitzen, Milo den Ablauf
der Versammlungen zu erklären, und er und Luka können sich ein
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bisschen kennenlernen, während noch ein paar weitere bekannte Gesichter dabei sind – und Luisa kennt er ja auch schon. Sie umarmt
ihn, ich sehe ihr aber an, dass sie bei seinem Anblick ein wenig erbleicht. »Ist der aber schlimm zugerichtet«, flüstert sie mir erschrocken zu, als Milo, Luka und Sophie ins Gespräch vertieft sind. Auch
die weiteren Mitglieder, die nach und nach ankommen, nehmen Milos buntes Farbgemisch im Gesicht mehr wahr als die Tatsache, dass
sie ihn noch nie gesehen haben. Als Justus mit den Baillys erscheint,
kommt Markus freundlich auf Milo zu und erkundigt sich, wie es
ihm geht. Die Gemeinde ist groß, und ein massives Problem war
schon immer, dass es kaum auffällt, wenn jemand Neues dort ist, daher bin ich froh, dass zumindest ein paar von ihnen Milo begrüßen.
Schließlich nimmt Luka ihn mit in die Kulturhalle, wo die Priestertumsträger sich versammeln, während wir Mädchen nach hinten
in unseren Raum gehen. Julia, die Milo ebenfalls freudig willkommen geheißen hat und dann mit einem Satz zurückgesprungen ist,
als er sich ihr ganz zugewandt hat, fragt uns unverblümt, was um alles in der Welt passiert ist. »Er hat sich wegen dir geschlagen, oder?«,
fragt sie mich erwartungsvoll.
Ach, all diese Unwissenden! Wie viel leichter doch alles wäre,
hätte es solche Gründe. Ich gehe also nicht näher darauf ein und Julias quälende Neugier wird nicht befriedigt.
Kurioserweise behandeln wir im Sonntagsschulunterricht heute
gerade die Schriftstelle, die mich in den letzten Wochen und Monaten immer mal wieder beschäftigt hat: Josua 1:9 – »Sei mutig und
stark!« Während Bruder Geppert eine unmenschlich lange Liste von
Propheten aufzählt, die alle mutig und stark waren, und die Gründe
dafür hinterlegt, will ich mich gerade zur Seite drehen und mich bei
Milo für die unerträgliche Langeweile entschuldigen. Ich nehme jedoch wahr, dass er unserem Lehrer gebannt zuhört. Vielleicht erwartet er auch gar keine Interaktion zwischen Lehrer und Schüler, sondern hatte sich darauf eingestellt, drei Stunden lediglich zuhören zu
müssen. Zwischen Sonntagsschule und Abendmahlsversammlung
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frage ich ihn, ob er klarkommt und wie der Unterricht bei den Jungen war.
»Ich habe die Bibel immer für ein angestaubtes Buch mit ein paar
Weisheiten gehalten«, gesteht er. »Ein paar Geschichten kenne ich
natürlich. Und auch wenn ich die Zehn Gebote nicht alle aufzählen
könnte, ein paar würde ich bestimmt zusammenbekommen … Aber
dass all diese Figuren für euch so … so lebendig sind …« Er überlegt
kurz. »Wie der alte Mann eben von diesen ganzen Menschen erzählt
hat und was die geleistet haben … Ich hätte eher damit gerechnet,
eine Predigt zu bekommen, aber so ist es …« Er ringt nach Worten.
»Ich weiß gar nicht, wie ich mich richtig ausdrücken soll.«
»Es gibt einen Bezug zum Leben«, sage ich, weil ich erahne, worauf er hinauswill. »Das angestaubte Buch ist gar nicht angestaubt.«
Er nickt lächelnd. »Ja …« Er seufzt, und hinter der deformierten
Fassade entdecke ich einen Jungen, der von einer strahlenden, hoffnungserfüllten Zukunft träumt. »Ich bewundere das so, dass ihr das
alles einfach so hinnehmt und glaubt … Ich habe nicht einmal einen
Bezug zu Gott, falls es ihn denn gibt.« Nun wirkt er wieder traurig.
»Auf meine Gebete hat er jedenfalls noch nicht geantwortet.«
»Milo, dass mit einem Glauben an Gott nicht alles Friede, Freude,
Eierkuchen ist, brauche ich dir wohl kaum zu sagen«, erwidere ich.
»Du hast ja selbst gesehen, dass die letzten Wochen kein Zuckerschlecken für mich waren. Der Unterschied besteht in der Hoffnung,
nicht allein zu sein. Dass langfristig alles einen Sinn ergeben wird.
Aber darüber kann ich dir noch so viel erzählen, wie ich will, das
musst du für dich ganz alleine herausfinden. Ich werde nicht versuchen, dich mit Erlebnissen, die ich hatte, von etwas zu überzeugen.
Wenn es Gott gibt, wenn das alles kein Märchen ist, dann musst du
das selbst herausfinden. Nur so funktioniert’s.«
Er nickt nachdenklich. »Danke, Molly …«, sagt er lediglich.
Nein, wie Gott entscheidet, wen er in welche Familie setzt, weiß ich
nicht. Vielleicht bekommen manche Eltern schwierige Kinder, weil
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sie die Fähigkeiten besitzen, damit fertigzuwerden. Vielleicht haben
wir uns im Vorherdasein auch tatsächlich einen gewissen Erkenntnisstand angeeignet und deshalb gelingt es manchen Menschen,
trotz schrecklicher Umstände neue Kraft zu gewinnen und etwas aus
ihrem Leben zu machen, während anderen das nicht gelingt. Eines
weiß ich ganz sicher: Ich bin für mein Leben verantwortlich. Milo für
seines. Aber ich spüre, dass er es schaffen wird – dass er, wohin auch
immer ihn sein Weg führt, diese Kraft erlangen kann. Vielleicht habe
ich sogar Vicki fälschlicherweise verurteilt. Möglicherweise blickt sie
eines Tages in den Spiegel und erkennt ihr wahres Ich und was für
ein Mensch sie ist. Vielleicht ändert sie etwas und wird einmal eine
gute Mutter … oder, na ja, zunächst einmal ein anständiger Mensch.
Als Papa mit Milo losfährt, um Roman vom Bahnhof abzuholen,
den Milo gestern noch erreichen konnte, und dann zur Polizei zu
fahren, stehe ich lange am Fenster und versuche mir auszumalen,
was da noch auf uns – und besonders auf Milo – zukommt. Ich weiß,
dass Gottes Hand immer ausgestreckt ist. Nun kann ich nur noch beten, dass Milo das auch erkennen kann …
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33
I
ch bin Jane Eyre. Ich höre Mr. Rochester nach mir rufen. Ich laufe
die sandige Straße entlang. Mein langes Kleid peitscht durch den
Morast, aber es spielt keine Rolle. »Edward? EDWARD?«, brülle ich.
Wieder erklingt mein Name. Eindringlicher. Verzweifelter. Die
Rauchschwaden in der Ferne treiben mir Angstschweiß ins Gesicht.
Ich hoffe, ihm ist nichts passiert! Obwohl ich außer Atem bin und
meine Lungen beinahe zerbersten, erhöhe ich das Tempo. Ich stolpere ein paar Mal und falle beinahe zu Boden, kann mich jedoch halten. Einmal versinkt mein linker Fuß in einer Schlammpfütze.
Ich passiere die nächste Anhöhe. Ich muss stehenbleiben und Luft
holen, denn mein Herz rast und mir ist schwindelig geworden. Beim
Anblick von Thornfield Hall wird mir ganz anders. Zerstört. Das
einst düstere und dennoch prunkvolle Gemäuer nichts weiter als ein
schwarzes Skelett in der Wildnis, das nach Wahnsinn und Tod stinkt.
»Edward!« Er sitzt auf einem Felsbrocken am Wegesrand, und als
er mich hört, sieht er in meine Richtung und streckt die Hand nach
mir aus.
Ich hebe das Kleid an, damit ich besser laufen kann, und schleppe
mich mit letzter Kraft zu ihm. Ich falle ihm zu Füßen und vergrabe
mein Gesicht in seinem Schoß, während er mir die Hände zart auf
die Wangen legt und mir die Tränen fortstreicht. Als ich schließlich
zu ihm aufsehe, entdecke ich einen milchigen Schleier auf seinen Pupillen, und mir wird klar, dass er mich nur fühlt und nicht sieht.
»Du bist zurückgekommen, Jane!«, flüstert er. »Du bist zu mir zurückgekehrt!«
»Aber natürlich!«, erwidere ich. »Ich würde doch nie –«
Ich stehe plötzlich aufrecht. Ich trage ein anderes Kleid. Der Garten blüht, einige Gebäudeteile sind wieder restauriert und erstrahlen
im selben Glanz wie früher. Der kleine Junge auf meinem Arm
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strahlt mich an. Die schwarzen Augen des Vaters, das gleiche dichte
dunkle Haar … »Er ist wunderschön, nicht wahr?«, sage ich und
küsse den kleinen Kerl auf die Nasenspitze, woraufhin er niedlich
gluckst.
»Wie soll ich das wissen?«, erwidert Edward traurig. »Ich habe
ihn noch nie gesehen.«
Ich sehe zu ihm. Die Haare sind länger und mit ein paar silbrigen
Strähnen durchzogen, ebenso der dichte Vollbart. Seine Augen sind
unverändert. »Ich verstehe nicht«, sage ich. Mr. Rochester gewinnt
doch einen Teil seines Augenlichts wieder … So steht es doch am Ende des
Romans – er kann seinen Sohn sehen! »Wieso kannst du ihn nicht sehen?«, stelle ich eine äußerst seltsame Frage.
»Ich werde nie wieder sehen können.« Das klingt nicht vorwurfsvoll, sondern betrübt, aber auch faktisch – er hat sein Schicksal akzeptiert. »Nie wieder, Molly. Nie wieder.«
Molly? Ich bin –
Er entfernt sich langsamen Schrittes, die rechte Hand fest auf den
Krückstock gestützt.
»Warte auf mich!«, rufe ich, doch anstatt ihm zu folgen, bleibe ich
wie angewurzelt stehen und bin nicht imstande, meine Füße zu bewegen.
»Nie wieder. Nie wieder.«
»Edward! Milo!«
Ich fahre hoch und sitze aufrecht im Bett. Das laute Pochen des
Herzens schmerzt fast in der Brust. Ich schnappe nach Luft.
Auf dem Boden neben meinem Bett höre ich Sophies lautes, regelmäßiges Atmen. Stimmt ja, sie schläft immer noch in meinem Zimmer
… Ich sinke zurück aufs Kopfkissen. Mein Atem wird ruhiger, der
Herzschlag langsamer. Es ist drei Uhr morgens, und nun bin ich so
aufgewühlt, dass an Weiterschlafen eigentlich nicht zu denken ist –
um so überraschter bin ich, als ich beim Klingeln des Weckers hochschrecke und mir bewusst wird, dass ich doch relativ schnell wieder
eingeschlafen bin. Oder habe ich auch nur geträumt, dass ich aufge-
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wacht bin? War es ein Traum in einem Traum?
Mein Magen knurrt, dabei habe ich paradoxerweise gar kein Verlangen nach Essen. Ich stolpere über Sophie, die einen Protestlaut
von sich gibt und sich dann wieder umdreht, dabei muss auch sie
raus. Ob es wieder einen mauligen Vortrag darüber gibt, wie ungerecht es ist, dass in anderen Bundesländern bis zu den mündlichen
Prüfungen kein Unterricht mehr für die Abiturienten stattfindet, sie
sich aber hinquälen muss? Zum Seminar müsste sie sich jedoch ohnehin aufraffen, daher bin ich auch recht rücksichtslos und schalte rigoros die Deckenlampe an, als ich aus dem Bad zurückkomme. Sofort bedeckt Sophie mit den Händen ihre Augen und stöhnt auf. Ich
schnappe mir eines ihrer Oberteile, die sie gestern noch mit rübergeschleppt und auf meinem Schreibtischstuhl aufgehäuft hat, und ziehe es über.
»Das ist meins«, meckert sie verschlafen.
Mir doch egal. Meine Rache dafür, dass du nervst. Wahrscheinlich tue
ich ihr unrecht, und auch wenn die letzten Wochen harmonisch zwischen uns waren, geht sie wieder mir auf den Senkel. Vielleicht auch,
weil sie gestern so demonstrativ fürsorglich zu Milo war. Mittlerweile hoffe ich richtig, dass sie sich an ihn ranschmeißt und so bitter enttäuscht wird wie ich, aber es kann auch gut sein, dass Mama und
Papa sie inzwischen über ihn aufgeklärt haben.
Milo stößt dazu, als wir gerade in den Schriften vertieft sind. Sein
Blick sagt alles: »Wie jetzt – die drei Stunden Kirche gestern haben nicht
gereicht?«
Papa reagiert cool. »Hol dir doch Frühstück und setz dich dazu«,
schlägt er vor. »Aber fühl dich nicht verpflichtet, du kannst auch
gern am Küchentisch essen, wenn dir das lieber ist.«
Wäre mir lieber, denn beim Duft von frisch geröstetem Toast würde ich nun doch Hunger bekommen. Wir haben Milo von unserer
kleinen Fasten-Aktion nichts gesagt und wollen ihn auch nicht mit
einer weiteren komischen Mormonenpraxis überrumpeln, aber sollte
er fragen, warum wir nichts essen, wird Papa keineswegs eine Aus-
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rede erfinden, wie ich ihn kenne.
Als sich Milo zu uns an den Esstisch im Wohnzimmer setzt, haben wir nur noch ein paar Minuten, aber Papa nutzt die Gunst der
Stunde und erklärt den Sinn und Zweck des Seminarprogramms
und was wir da jeden Morgen so besprechen.
»Jeden Morgen?«, fragt Milo ungläubig.
Bis auf dienstags. Da haben wir Seminarunterricht in der Gemeinde. Und samstags natürlich. Da schlafen wir aus. Und in den Ferien
bleiben wir auch verschont. Okay, ich sollte das nicht so sagen – eigentlich gehe ich sehr gern zum Seminar. Das Aufstehen ist die größte Prüfung.
Sophie packt oben ihre Sachen zusammen, und Milo und ich machen uns schon bereit zur Abfahrt und warten nicht auf sie. Er hat
mich tatsächlich überredet, mit dem Fahrrad zu fahren, dabei ist UBahn so viel bequemer und man kann sich noch mal ganze fünf Minuten gestatten, die Augen zu schließen. Er fragt mich nicht, warum
ich gar nichts frühstücke – womöglich geht er davon aus, dass ich
bereits vor dem Seminarunterricht etwas gegessen habe. Ich muss
die ohnehin gewöhnungsbedürftige und schwierige Situation ja
nicht so komischer machen, indem ich von mir aus verkünde, dass
ich heute um mein eigenes Wohl faste und seines obendrein.
»Was wirst du den Lehrern sagen?«, frage ich.
»Unfall«, entgegnet er. »Außer Frau Ömsen.«
»Außer Frau Ömsen«, bestätige ich. Wir sind uns einig, dass sie
die Wahrheit erfahren muss. Nicht nur, dass wir beide sie im
Deutschunterricht haben, verbindet uns, sondern wir vertrauen ihr
wirklich bedingungslos. Und wenn eine Lehrerin hier an der Schule
einen klugen Rat hat und nicht nur herumlabert, sondern etwas tut,
dann ganz sicher sie.
Wir begegnen ihr prompt auf dem Gang und sie ordert uns unverzüglich, ihr in den Nebenraum im Lehrerzimmer zu folgen. Wir
haben nur noch knappe zehn Minuten bis Unterrichtsbeginn, und
wegen Herrn Ranks Überpünktlichkeit ist mir das gar nicht so recht,
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aber als ich Frau Ömsen damals aufsuchte, nachdem sie mir die Rolle der Jane zugeteilt hatte, nahm sie sich auch die Zeit für mich, obwohl es direkt vor der ersten Stunde war.
Milo schildert ihr kurz und knapp die Geschehnisse von vergangener Woche. Er ist sehr sachlich, auch wenn die Fakten allein ausreichen, um unsere Lehrerin zusammenzucken und voller Mitleid
immer wieder den Kopf schütteln zu lassen. Über die Tatsache, dass
Milo auf Jungen steht, schaut sie ihn nur verständnisvoll an, wobei
sie mir kurz einen »Ach, du Arme«-Blick zuwirft. Es ist so peinlich,
wie offensichtlich meine Gefühle für ihn für alle Welt sind!
»Gestern hat Mollys Vater meinen Bruder vom Bahnhof abgeholt,
und dann sind wir zu mir nach Hause gefahren«, berichtet Milo
schließlich von dem, was sich nach der Kirche abgespielt hat. »Wir
wollten eigentlich zuerst zur Polizei, aber Roman hat darum gebeten,
dass wir zunächst einmal versuchen, ein vernünftiges Gespräch mit
unseren Eltern zu führen, ehe wir weitere Schritte einleiten, und
Herr Bach war damit einverstanden.« Mit den Fingern trommelt
Milo unruhig auf der Tischplatte herum. Ich verstehe den Grund
nicht, denn angesichts dessen, wie alles vorläufig ausgegangen ist,
bräuchte er nicht nervös sein. Andererseits kehren die Gefühle von
gestern möglicherweise zurück und er durchlebt die Situation erneut. »Meine Eltern … waren beide ziemlich aufgebracht. Ich weiß,
dass meine Mutter mich liebt, aber sie ist meinem Vater gegenüber
sehr loyal, und sie war mit der Situation komplett überfordert. Die
Spannungen zwischen ihnen waren spürbar, und sie muss ihm,
nachdem ich abgehauen war, tatsächlich mal die Hölle heiß gemacht
haben, was ich nicht von ihr kenne. Mein Vater zeigte Reue, aber ich
hatte mehr den Eindruck, dass er Angst hatte, dass ich rechtliche
Schritte gegen ihn einleite. Mein Bruder ist komplett ausgeflippt, beschimpfte meine Eltern als rückständig und lieblos, und als dann zur
Sprache kam, dass er – obwohl wir ja nie offen darüber gesprochen
haben – das über mich schon seit Jahren ahnt, war mein Vater sichtlich geschockt. Der ›perfekte Sohn‹ lehnt sich auf.« Milos Sarkasmus
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ist nicht zu überhören, dabei weiß ich, dass er seinen Bruder sehr
lieb hat, und das ist bestimmt nicht so einfach, wenn Roman immer
bevorzugt behandelt wurde. Bei einer Vicki Greiser wären da eher
Eifersucht und eiskalte Rachsucht vorprogrammiert.
»Wie seid ihr verblieben?«, fragt Frau Ömsen.
Milo schaut zu mir, als sei ihm unangenehm, was er nun sagen
will. »Mollys Vater war meine Rettung … Er hat von sich aus angeboten, dass ich für ein paar Tage bei den Bachs wohne und wir alle
darüber nachdenken, wie es weitergehen soll. Papa hat eingewilligt
unter der Bedingung, dass ich nicht zur Polizei gehe, was schon ein
ziemlich erbärmlicher Schritt von ihm war. Roman hat ihm dann gedroht, dass er das Jugendamt einschaltet, aber ich selbst hatte auch
den Eindruck, dass wir alle einfach etwa Abstand brauchen.«
Frau Ömsen lächelt mich an. »Toll, dass ihr helft, Molly!«, lobt sie
mich, als hätte ich irgendetwas damit zu tun. »Du solltest trotzdem
mit Frau Dr. Müller sprechen, Milo«, fügt sie hinzu. »Sie kann dir
Optionen nennen, denn irgendwann muss es ja weitergehen.«
Dr. Hilmberger hatte auch mir geraten, mit der Schulpsychologin
zu sprechen. Fein, Milo und ich können das ja als Paartherapie in
Anspruch nehmen.
Schließlich langt Frau Ömsen über den Tisch und legt ihre Hand
auf Milos Schulter. »Ich finde es sehr erwachsen von dir, wie du damit umgehst. Lass dich nicht vom Hass zerfressen.«
»Hass?« Und da ist sie, dieselbe Traurigkeit in seinen Augen, die
ich heute Nacht in meinem Traum gesehen habe, auch wenn kein
Schleier über den Pupillen liegt und der dunkle Farbton im Licht der
Lampe schimmert. »Wenn das so einfach wäre … Er ist mein Vater,
Frau Ömsen … Ich schaffe es einfach nicht, ihn zu hassen.«
Als er den Kopf senkt, schließe ich meine Arme um ihn. Anerkennung, das ist alles, wonach er sich sehnt, und selbst in dieser finsteren Stunde hat er noch nicht aufgegeben, dass sein Vater ihm irgendwann auf irgendeine Weise zu erkennen gibt, stolz auf ihn zu sein.
Ich bange um eine weitere Enttäuschung für ihn, aber wie kann ich
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nach all dem, was ich in letzter Zeit über Hoffnung dazugelernt und
verinnerlicht habe, jetzt daran zweifeln, dass diese Möglichkeit besteht?
Milo hat eine Stunde länger Unterricht als ich, doch anstatt nach
Hause zu fahren, setze ich mich in die Schulbibliothek und hole
mein Theatermanuskript aus der Tasche, das ich heute morgen noch
schnell eingesteckt habe. Alles andere in meinem Leben scheint derzeit wichtiger zu sein als mein Auftritt als Jane Eyre – Lizzys körperliche Genesung, meine seelische Genesung, Milos familiäre Situation.
Doch während ich die letzten Seiten überfliege, schöpfe ich Kraft. So
erdacht die Geschichte auch ist, so nahe fühle ich mich ihr … und
letzten Endes wird alles gut. Ich werde am Ende des Stücks einen
kleinen Monolog halten und darüber sprechen, wie ich Mr. Rochester geheiratet habe, wie er die Welt einige Zeit durch mich sehen
konnte, und dass er sein Augenlicht schließlich teilweise zurückerlangt. Dann kommt Milo mit einer Babypuppe, dem Erstgeborenen
von Jane und Edward, legt ihn sacht in meine Arme, und für einen
kleinen Augenblick sind wir die perfekte Familie, bis das Licht gedämmt wird und der Vorhang fällt.
»Ich werde nie wieder sehen können. Nie wieder, Molly. Nie wieder.«
Nicht, dass ich viel baue auf all den Quatsch, den ich ständig
träume, aber da sich dieser Traum so real angefühlt hat, bin ich sogar
noch entschlossener, ihn nicht zur Wirklichkeit werden zu lassen.
Dass Milo und mir nicht eine gemeinsame Zukunft bevorsteht, wie
sie in Jane Eyre steht, akzeptiere ich ja mehr oder weniger. Doch muss
es einen Weg geben, wie wir beide nach vorne sehen können und
glücklich werden.
Gestern Abend hat Milo von uns aus versucht, Kiras Bruder Daniel zu erreichen, was ihm nicht gelang. Ans Handy ging er nicht,
über die Festnetznummer wollte Milo es gar nicht erst probieren. Er
kann nicht abschätzen, wie die Situation dort zu Hause ist – Daniel
ist zwar volljährig, wohnt aber eben noch bei seinen Eltern, wobei ich
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mir gar nicht vorstellen kann, dass die einem erwachsenen Kind das
Mobiltelefon wegnehmen und ihm Hausarrest verpassen würden.
Andererseits wird Milo in ein paar Monaten achtzehn, ist groß und
sportlich, und das hat seinen Vater überhaupt nicht zurückgeschreckt, also wer weiß.
»Wir müssen dringend üben, was?«
Ich zucke erschrocken zusammen, als mir Milo ins Ohr flüstert.
Ich war so in Gedanken verloren, dass ich ihn nicht gehört habe, dabei bin ich die Einzige in der Bibliothek und gerade hier lässt sich die
Tür nicht leise schließen, sondern knarrt fürchterlich.
Mein Manuskript ist immer noch aufgeschlagen, doch ich verstehe erst nach einer kurzen Pause, worauf er hinauswill. »Ja«, erwidere
ich, »aber es gibt momentan Wichtigeres, oder?«
»Hey, gerade fürs Proben lohnt sich diese Kacksituation geradezu«, meint er. »Wir können jeden Nachmittag die Dialoge durchgehen und Jane und Rochester den letzten Schliff verpassen.«
Luisa wird sich freuen … Nun gut, Finn wird sie darüber hinwegtrösten, dass ich ein paar Tage weniger Zeit für sie habe. Also rufe
ich enthusiastisch: »Das wäre toll!« Ich krame meine Sachen zusammen, und gemeinsam verlassen wir das Schulgelände.
Wir legen auf dem Heimweg einen Zwischenstopp im Krankenhaus ein. Zuerst habe ich Bedenken, dass Milos Anblick Lizzy den
letzten Funken Glaube an die Menschheit raubt, stattdessen grinsen
sich beide an und ernennen sich als Leidensgenossen. »Wir sollten
an der Schule eine Psychowrack-AG gründen«, schlägt Lizzy ein wenig feixend vor. »Wir drei bilden den stolzen Vorstand, Bengü macht
aus Solidarität mit, Samira und Kathrin brauchen sicher Beistand,
weil alle Welt sie jetzt hasst, und Dr. Hilmberger schließt sich uns an,
weil er nicht verhindern konnte, dass seine Schüler durchdrehen.«
Wir reden nicht über Lizzys Therapie, und ich weiß nicht, ob wir
Umstände, über die man nicht scherzen sollte, zu leichtfertig durch
den Kakao ziehen, aber der Humor hilft uns, für ein paar Minuten zu
vergessen, welche Albträume uns heimgesucht haben. Als Milo und
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ich daheim ankommen, sind wir heiter und beschwingt, und er hat
direkt ein paar Ideen, was wir heute Abend anstellen können. Leider
muss ich ihm diese austreiben und erläutere den Familienabend,
woraufhin seine Augen groß werden – na ja, eigentlich nur ein Auge,
nämlich das heile, nicht angeschwollene.
»Nur um es noch mal zusammenzufassen: Ihr habt sonntags drei
Stunden Kirche, montags Familienstunde, dienstags Jugendtreffen
und außerdem jeden Morgen Bibelunterricht?« Plus Tempel, plus Supersamstage, plus Sitzungen, plus Tagungen … Ich will gar nicht aufzählen, was noch alles dazukommt, sonst kippt er um.
Die Bestürzung legt sich jedoch schnell wieder, da er von dem
Gedanken, mindestens einmal in der Woche als Familie zusammenzusitzen und über wichtige Aspekte des Lebens zu sprechen, angetan ist.
Beim Abendessen allerdings schaffen wir es dann, den Schalter
wieder von bewundernswert auf seltsam zu kippen, da Papa das gemeinsame Fasten beendet. Er erwähnt nicht, dass es dabei auch um
Milos Wohl ging, aber trotzdem entsteht eine unangenehme Pause,
bis Mama ihm erläutert, was es nun damit wieder auf sich hat. Milo
nickt aufmerksam, ist mit unseren seltsamen Angewohnheiten aber
nun wohl komplett überfordert.
Zum Glück hat Justus heute die Familienabendlektion, was mich
freut, weil sie kurz sein wird und Milo gestern und heute schon so
viel geistigen Input hatte. Noch beeindruckter bin ich, wie mein kleiner Bruder unseren Gast einbezieht. Er lässt Milo das Gleichnis vom
barmherzigen Samariter vorlesen und fragt ihn, was er davon hält.
»Hmm … na ja, die ersten beiden Typen waren offensichtlich
Vollpfosten«, antwortet er grinsend. Wir lachen, Sophie am lautesten
und schlägt ihn ganz verspielt auf den Oberarm, woraufhin ich sie
schlagen möchte, aber härter. »Es ist auf jeden Fall beeindruckend,
wenn sich jemand so fürsorglich um einen kümmert, der eigentlich
sein Feind ist …« Er hält inne. Ob er an seinen Vater denkt?
Tatsächlich unterschätze ich Justus noch mehr. Er möchte nämlich
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auf den Beginn hinaus – auf die Frage, die Christus gestellt wurde,
nämlich wie man das ewige Leben erlangt, und auf die beiden
großen Gebote, die dieser daraufhin nannte: Gott lieben und den
Nächsten lieben wie sich selbst. Diesen letzten Aspekt möchte Justus
untermauern. »Wir sollen uns immer um andere kümmern«, sagt er,
»aber manchmal müssen wir uns auch um unsere eigenen Verletzungen kümmern und wieder gesund werden. Wir müssen uns selbst
auch lieb haben, um Frieden zu finden.«
Justus drückt sich so schlicht und simpel aus, und gerade das entfacht ein Feuer in meiner Brust. Ich wünschte, ich könnte einfach Milos Hand nehmen und ihn das empfinden lassen, was ich empfinde,
aber vielleicht ist das gar nicht nötig, wenn seine Augen wirklich so
schimmern, wie ich es gerade wahrnehme.
Milo gewöhnt sich schnell an unseren Tagesablauf. Er kommt am
Dienstag zwar nicht mit in die Gemeinde, weil er für die Schule einiges nachzuholen hat und Klausuren anstehen, aber er setzt sich jeden Morgen zum Seminarunterricht dazu und lauscht schweigend.
Am Mittwoch besteht er darauf, zum Training zu gehen, auch wenn
er in seinem Zustand unmöglich spielen kann, aber ich nutze die gewonnene Zeit für Luisa. Am Donnerstagmorgen legt Papa ihm ein
neues Exemplar des Buches Mormon hin. Er sagt nicht, es sei ein Geschenk, sondern lediglich, dass er die Verse ja vielleicht mitlesen
möchte und er natürlich auch so frei darin herumblättern könne.
Unser Gast erweist sich auch als tatkräftige Hilfe, und ich habe
den Eindruck, dass meine Aufgaben im Haushalt alle hinfällig sind,
weil Milo sie bereits erledigt hat, bevor ich überhaupt an sie denken
konnte. Vor allem aber machen er, Papa und Justus sich nun voller
Tatendrang an den Umbau des Kellerzimmers, das Justus beziehen
will, damit sein Zimmer für das neue Baby verwendet werden kann.
Solange der Kleine noch nicht da ist, kann Milo dort schlafen, damit
Sophie und ich in absehbarer Zeit wieder getrennte (Schlaf-)Wege
gehen können, und ich ertrage sie auch nur, weil mir wichtig ist,
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dass es Milo gut geht. Ich bekomme zufällig mit, wie Milo Mama
sein Taschengeld, das er noch übrig hat, zuschieben will, weil er sich
schlecht fühlt, dass sie und Papa ein weiteres Maul zu stopfen haben
– gerade jetzt, wo es ohnehin Neuzuwachs gibt. »Untersteh dich!«,
warnt sie ihn. »Du bist keine Last für uns, Milo! Ganz im Gegenteil:
Du hilfst uns doch so sehr, und es ist wirklich angenehm, dich bei
uns zu haben!«
Zähneknirschend steckt Milo sein Geld wieder ein, bringt am
nächsten Tag jedoch einen großen Blumenstrauß für Mama mit und
ignoriert ihre Proteste.
Auch telefoniert er jeden Tag mit seinem Bruder, aber nur einmal
mit seiner Mutter. Er verliert nicht viele Worte darüber, vielleicht,
weil er sich keine Hoffnungen machen möchte, dass der tiefe Riss in
der Beziehung zu seinem Vater jemals heilen kann. Zu Daniel, Kiras
Bruder, hat er immer noch keine Verbindung aufnehmen können –
nicht einmal auf E-Mails reagiert dieser. Ich merke, wie kurz angebunden Milo ist, wenn ich ihn darauf anspreche. Wahrscheinlich ist
es ihm, egal wie gut wir befreundet sind, peinlich, darüber zu sprechen, weil er ja von meinen Gefühlen für ihn weiß (mit denen ich
aber doch einigermaßen gut zurechtkomme). Ich hege aber den Verdacht, dass da noch etwas anderes am Brodeln ist. Ob Milo ihm nicht
wichtig genug ist und er sich nicht in die Sache so reingehängt hat?
Möglich wäre es. Jedenfalls freut es mich für ihn, als Roman ihn einlädt, das Wochenende bei ihm zu verbringen; er hat nur ein winziges
Zimmer in Kassel gemietet, aber er meint, es würde schon irgendwie
gehen. Meine Eltern spornen ihn an, das Angebot wahrzunehmen –
nicht um ihn loszuwerden, sondern weil sie sich einig sind, es werde
ihm guttun. Ich werde ihn vermissen, kann aber wohl schlecht abstreiten, dass ich mich darauf freue, mein Zimmer zwei Nächte für
mich zu haben.
Die Theaterprobe verläuft erfreulich. Frau Ömsen hat irgendeinen magischen Trick angewandt und Samira und Kathrin zum Bleiben überredet. Die beiden verbringen, wenn sie nicht gerade am Pro-
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ben sind, die Zeit für sich und kapseln sich (vermutlich aus Scham)
von uns anderen ab, und ich kann auch nicht sagen, dass ich bereit
bin, offen und herzlich auf sie zuzugehen, aber ich ertrage ihre Anwesenheit tapfer – ich weiß allerdings nicht, wie Lizzy es mit ihnen
ergehen wird, wenn sie wieder dabei ist.
Für die Rolle der Blanche Ingram laufen wohl noch ein paar Gespräche. Frau Ömsen und Frau Beinker äußern sich nicht groß dazu,
nur, dass sie guter Dinge sind, die Rolle bald vergeben zu haben.
Als Milo am Nachmittag seine Tasche packt und sich auf den Weg
machen will, sehe ich, dass er das Buch Mormon, das Papa ihm gegeben hat, auf Sophies Nachttisch liegen hat. »Erwischt!«, rufe ich aus
und halte mir gleich die Hände vor den Mund. Ich will ihn nicht
bloßstellen. Da er nur lacht, zeige ich mit dem Finger auf ihn. »Wir
mormonisieren dich kaputt, ich versprech’s dir!«
Er greift nach dem Exemplar und wirft es ebenfalls in die Tasche.
»Wer weiß, vielleicht werfe ich einen Blick hinein …« Er zwinkert
mir zu.
Da ist es plötzlich. Ich kann es sehen. Oder eher spüren. Licht umgibt
ihn. Er ist nicht der verlorene Rochester aus meinem Traum, sondern
er hat Mut gefasst. Er beginnt, als barmherziger Samariter den Verletzten in sich zu umsorgen, zu lieben und zu heilen.
Als wir gemeinsam zum Hauptbahnhof fahren und ich ihn dort
zum Abschied umarme, habe ich den Eindruck, dass schon bald etwas ganz Wundervolles für ihn geschehen wird. Dennoch will ich
mich nicht zu sehr in etwas hineinsteigern, denn das endet nur wieder böse, und so erfreue ich mich daran, dass sich die vergangene
Woche so positiv entwickelt hat.
Ich bin so gut drauf, dass ich Justus, der zu seinem eigenen Unglück im Flur steht, als ich die Tür öffne, anfalle, ihn an mich knuddele und mit Knutschereien überhäufe, aus denen er sich nur schwer
lösen kann und mir dafür »ewige Rache« schwört.
Lachend werfe ich meine Sachen ab, laufe nach oben und stelle
erquickt fest, wie Sophie ihren Kram zusammenräumt und in ihr
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Zimmer bringen will. »Eigentlich hätte Papa das Arbeitszimmer aufräumen können, dann hätten wir uns das hier alles gespart«, überlege ich.
»Unfug«, entgegnet sie, »Krippe und Wickeltisch würden wir da
gerade noch reinkriegen, aber ein anständiges Bett … ? Ist schon
richtig, dass Justus nach unten zieht und der Knirps sein Zimmer bekommt.«
Meint sie das Baby oder redet sie von Milo? Ich kenne natürlich
die Antwort, muss aber trotzdem schmunzeln.
»Übrigens ahnst du nicht, mit wem ich heute Vormittag ein Gespräch hatte!«, ruft Sophie plötzlich und fächert sich übertrieben Luft
mit beiden Händen zu.
Der Satan?, will ich sagen, um die Stimmung zu verderben.
»Wenn ich es nicht ahnen kann, rück doch einfach raus mit der Sprache«, erwidere ich stattdessen.
»Frau Ömsen!«, platzt sie heraus und breitet dann theatralisch die
Hände aus. »Vor dir steht die neue Blanche Ingram!«
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I
ch werde nie vergessen, wie meine Deutschlehrerin in der Unterstufe einmal wegen des Lärmpegels eines Mitschülers so erbost
war, dass sie ausrief: »Ach, nimm doch einen Strick und erschieß
dich!« Dieser absurde Kommentar wurde zum Running Gag der
Klasse, und noch heute kommt mir, wenn mir Frau Grubert gestresst
auf dem Flur entgegenhetzt und ein »Morgäään« entgegenschleudert, dieser Satz als Erstes in den Sinn, und ich bin versucht zu sagen: »Ach, nehmen Sie doch einen Strick und erschießen Sie sich.«
Wie das letztlich funktionieren soll, weiß ich immer noch nicht,
aber die reizvolle Kombination, mich gleichzeitig zu erhängen und
mir dann eine Kugel durchs Hirn zu jagen, erscheint mir gerade äußerst reizvoll.
WAS hat meine Schwester da gerade verkündet?
»Ernsthaft«, fügt sie auch noch lachend hinzu, als würde ich ihr
nicht glauben. »Ich habe Frau Ömsen gefragt, wie es mit dem Stück
aussieht, jetzt, wo Vicki weg ist, da meine liebliche Schwester mir ja nie
etwas erzählt. Sie meinte, es gäbe zwei potenzielle Neubesetzungen
für Blanche, mit denen sie aber nicht hundertpro glücklich sei, und
da habe ich –«
»Sophie, du machst Abi! Und willst dann studieren!«, halte ich ihr
vor und suche nach Gründen, warum das einfach nicht wahr sein
kann.
»Im Unterricht läuft doch so gut wie nichts mehr!«, entgegnet sie,
wirft dramatisch die Arme nach oben und rollt mit den Augen. »Und
ich bleibe auf jeden Fall in Frankfurt. Du glaubst doch wohl selbst
nicht, dass ich mit meinem angepeilten Schnitt an der Goethe-Uni
nicht zugelassen werde, oder?«
Manchmal könnte ich echt einfach nur auf sie eindreschen.
»Wie soll denn das funktionieren, wenn du Vorlesungen hast?«,
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bringe ich mein nächstes Argument an. »Wir können ja wohl schlecht
die Probenzeiten nach deinen Pflichtveranstaltungen richten.« Leider
entnehme ich ihrem selbstsicheren Blick die Antwort. »Es sei denn,
Frau Ömsen hat dir angeboten, die Probenzeiten gegebenenfalls anzupassen«, sage ich missmutig. Frau Ömsen, wie können Sie mich derart verraten?!
»Ein wenig mehr Begeisterung hätte ich schon von dir erwartet«,
wirft sie mir nun vor, greift sich den Reststapel ihrer Klamotten, der
über der Rückenlehne meines Schreibtischstuhls liegt, und verzieht
sich dann in ihr Zimmer.
Ich bleibe sprachlos zurück. Frau Ömsen wollte mich gar nicht verraten, kommt es mir in den Sinn. Ganz im Gegenteil. Sie dachte sich
wahrscheinlich, dass ich mich total darüber freuen würde, wenn ausgerechnet meine große Schwester der Theater-AG aus der Patsche
hilft und die Rolle von Blanche Ingram übernimmt. Total freuen –
von wegen!
Meine Tür fliegt wieder auf. Jetzt erst sehe ich, dass in der einen
Zimmerecke noch ihre Schultasche steht. Demonstrativ bleibt Sophie
an der Tür stehen, als wolle sie es unbedingt vermeiden, mir zu nahe
zu kommen, streckt sich stöhnend zur Seite und erwischt den Umhängeriemen mit zwei Fingern. »Ich finde es unmöglich, dass du so
unfreundlich reagierst«, tadelt sie mich. »Wir machen nie etwas zusammen und nun stehen wir gemeinsam auf der Bühne! Wir konkurrieren sogar um denselben Mann!«
Ja, nur dass im wirklichen Leben sie die Jane Eyre wäre, und zwar
obendrein mit dem Aussehen von Blanche Ingram, und sich Rochester mühelos angeln würde. Ach, hätte ich doch bloß die Rolle der Bertha
Mason ergattert! Mir wäre einiges erspart geblieben.
»Willst du nichts dazu sagen, Molly?«
Du bist ja immer noch da. »Nimm doch einen Strick und erschieß
dich«, knurre ich, woraufhin Sophie mich kurz entgeistert ansieht
und kopfschüttelnd von dannen zieht.
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Luisa und ich schlendern abends nach einer geld- und folglich auch
erfolglosen Shoppingtour durch die Fußgängerzone, die trotz der
längeren Öffnungszeiten am Freitagabend angenehm leer ist. Vermutlich sind die meisten Leute bereits unterwegs zu Partys oder
Clubs und ich halte Luisa von einem Date mit Finn ab. »Ach
Quatsch«, beruhigt sie mich gleich. »Du weißt doch, dass wir es
langsam angehen lassen und nicht ständig aufeinanderhocken wollen … Aber ich muss dir ehrlich sagen, dass ich mich darauf freue,
wenn er in sechs Wochen auch endlich sechzehn ist und wir das alles
etwas … ›offizieller‹ gestalten können.«
»Kommt es denn wirklich darauf an?«, überlege ich plötzlich laut
und richte die Frage mehr an mich selbst. »Die paar Wochen …«
»Na ja«, entgegnet Luisa, »man wird ja auch nicht ein paar Wochen vorm achten Geburtstag getauft, nur weil es ›bald soweit‹ ist …
Wenn der Prophet diese Altersgrenze rät, will ich mich auch daran
halten. Aber«, sie schaut mich grinsend an, »das soll ja nicht deine
Sorge sein, du darfst dir einfach keinen Jüngeren angeln.« Inzwischen habe ich Luisa alles, was Milo angeht und sich über die letzten
zwei Wochen entwickelt hat, haarklein erzählt, und es hat mir richtig
gut getan, meiner besten Freundin das Herz ausschütten zu können.
Nun besteht ihre neueste Masche darin, mich zu motivieren, auf
Männerfang zu gehen – als wenn ich mir mal so eben jemand Neues
anlachen könnte … und wollte.
»Dann ist Dominik wohl keine Option, der ist jünger«, schlussfolgere ich.
»Finn meint, der bändelt eh gerade mit einer Mitschülerin an«,
verrät Luisa mir daraufhin den neuesten Tratsch. »Dich fand er ja
auch süß, aber als dann Milo ins Spiel kam …«
Unfair wie ich bin, kann ich nicht einmal sagen, ob Dominik eine
reelle Chance gehabt hätte, selbst wenn Milo nicht in mein Leben getreten wäre. Vielleicht tue ich ihm jedoch unrecht. Lieb und lustig ist
er auf jeden Fall, und das tolle Geburtstagsgeschenk, das ich seiner
Kreativität zu verdanken habe, werde ich ihm auch nie vergessen.
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»Was hältst du eigentlich von meinem Bruder?«, fragt Luisa dann
aus heiterem Himmel, was mich dazu veranlasst, stehenzubleiben
und sie argwöhnisch zu mustern.
»Was soll das denn heißen?« Macht sie Witze?
»Wieso?« Luisa bleibt stehen. »Er ist nett, sieht gut aus … und
hey, du wärst meine Schwägerin, wie genial wäre das denn!«
»Luisa!« Womit überfällt sie mich denn da plötzlich?! »Er ist Sophie
versprochen«, bringe ich das wohl dürftigste Gegenargument vor,
wobei der wahre Beweggrund, warum ich noch keinen Gedanken an
ihn verschwendet habe, unweigerlich folgt: »Und er ist nicht Milo.«
Ich sehe, dass Luisa etwas sagen will, aber ich komme ihr zuvor. »Ich
weiß, Luisa, ich weiß«, bestätige ich ihr das Unausgesprochene: »Es
wird nie etwas werden. Und ich muss sagen, dass ich ganz gut mit
meinen Gefühlen klarkomme und selbst überrascht bin, wie freundschaftlich wir miteinander umgehen, ohne dass es mir das Herz zerreißt. Aber komplett abstellen kann ich das Verliebtsein auch nicht
von heute auf morgen. Das braucht halt Zeit.«
»Das ist mir doch bewusst, Molly.« Luisas Tonfall ist ruhiger geworden und sie hat sich bei mir eingehakt. »Ich hab nur den Eindruck, dass du das vielleicht beschleunigen kannst, wenn du dich
nicht vor anderen Jungs verschließt, sondern versuchst, neue kennenzulernen.«
»Sagt mir das Mädchen, das ein Jahr Finn hinterhergeheult hat!«
Sie lacht. »Touché!«, meint sie. »Aber: Das hat sich immerhin ausgezahlt. Milo darfst du einfach nicht noch in einem Jahr hinterherschmachten. Ich bewundere dich, was für eine tiefe Freundschaft ihr
entwickelt, aber was die Liebe angeht, da musst du dich jetzt nach jemand anderem umschauen.«
Auch wenn sie recht hat, bin ich nicht überzeugt, dass das in absehbarer Zeit gelingen wird. Dennoch möchte ich sie lieber beruhigen. »Also gut … Stürze ich mich ins nächste Herzeleid«, erkläre ich
daher halb im Scherz, halb im Ernst.
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Sophies Neuigkeiten haben wir nur kurz diskutiert und dann so
schnell wie möglich das Thema gewechselt, damit ich mich abreagiere, und so verdränge ich diese Lächerlichkeit den ganzen Abend und
werde erst am Samstagmorgen leidlich daran erinnert, als ich im
Laufe des Vormittags an Sophies Zimmer vorbeilaufe und höre, wie
meine Schwester hinter verschlossener Tür lauthals ihren Text auswendig lernt. Mir kommt sofort saurer Magensaft die Kehle hoch.
Schnell laufe ich wieder nach unten, und, um mich selbst abzulenken, helfe ich voller Tatendrang Papa und Justus, die eifrig im Keller
beschäftigt sind. »Und wo treibst du ab jetzt deine selbstmörderischen Fitnessübungen?«, frage ich, als Papa einen der Spiegel abmontiert, in denen er sich beim Trainieren immer selbst anhimmelt –
auch wenn er behauptet, er würde lediglich darauf achten, dass er
die richtige Form beibehält. Die Kellerfenster werden nächste Woche
ausgebaut, damit es nicht so düster ist, aber der Raum ist nicht groß
genug, um ihn aufzuteilen, und Waschküche und Vorratsraum müssen natürlich bestehen bleiben. Ich weiß, dass es ein großes Opfer für
Papa ist, aber irgendwann sind wir ja ohnehin aus dem Haus, und
dann können sich unsere Eltern breitmachen, wie sie wollen.
»Wohnzimmer oder Schlafzimmer«, erwidert er seufzend, »wird
schon irgendwie gehen.«
»Vielleicht tut uns Sophie einen Gefallen und heiratet bald«,
schlage ich vor, woraufhin Papa die Arbeit unterbricht und mich ansieht nach dem Motto: »Klang das aus Versehen gehässig oder war
das auch so gemeint?«
»Ich mein ja nur«, füge ich schnell hinzu, »dann kannst du in ihrem Zimmer trainieren und die vergangenen Monate waren nicht
völlig umsonst.«
Leider riecht Papa den Braten. »Wie überaus uneigennützig von
dir, Molly«, sagt er, »dass du nur an das Wohl deines Vaters denkst
und nicht an dein eigenes.«
»Ach, sie ist nur angesäuert, weil Sophie jetzt auch beim Theaterstück mitspielt«, wirft Justus im Unschuldston ein und packt sich
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einen Karton, um ihn ins Arbeitszimmer hochzubringen. Er zwinkert
mir noch zu, was meine Bestürzung verstärkt. Woher weiß er überhaupt davon? Hat Sophie die Neuigkeiten in der Familie bereits herumposaunt? Davon ist wohl auszugehen. Ich kann sie mir förmlich
vorstellen, wie sie gestern freudestrahlend nach Hause gekommen
ist und alle an der frohen Botschaft, dass sie als neue Blanche Ingram
ausersehen wurde, hat teilhaben lassen, und das, obwohl sie bald
von der Schule geht und ja auch sonst so viel zu tun hat. Was wäre
die Welt nur ohne den barmherzigen Großmut meiner Schwester!
»Ich bin fertig für heute«, verkünde ich, klatsche mir die staubigen Finger an den Oberschenkeln ab und düse davon, ehe mir Papa
Fragen stellen kann. Justus lümmelt sich zu Mama auf die Couch,
die gerade irgendeine Serie schaut, und ist bereits in die Handlung
so vertieft, dass er den bedrohlichen Blick gar nicht sieht, den ich
ihm im Vorbeigehen an der offenen Wohnzimmertür zuwerfe. Sophie probt immer noch fleißig, und ich hocke mich in mein Zimmer,
sehne mir einen augenblicklichen Weltuntergang herbei und vermeide es standhaft, mich mit der offensichtlichen Frage auseinanderzusetzen – nämlich warum es mich überhaupt stört, dass Sophie ebenfalls beim Theaterstück mitmachen wird.
Als Milo am Sonntagnachmittag von dem Wochenendtrip bei seinem
Bruder zurückkommt, ist er wie ausgewechselt. Nicht nur die äußerlichen Wunden heilen gut ab, auch innerlich ist er erholt und ausgeglichen. Sein ausführlicher Bericht, den er begeistert heraussprudelt,
versetzt mir Seitenhiebe, denn das liebevolle Verhältnis, das er zu
seinem Bruder hat, ist für ihn derzeit der einzige familiäre Halt,
während ich meine Schwester am liebsten zum Mond schießen
könnte, anstatt für sie dankbar zu sein.
»Wie geht es weiter?«, fragt Mama beim Abendessen. »Hat Roman Kontakt zu euren Eltern?«
»Ein bisschen – und mehr zu unserer Mutter«, erklärt Milo. »Sie
meint, unser Vater würde sich irgendwie fangen, aber das glaub ich
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erst, wenn ich es selbst gesehen habe … Immerhin hat er ihm nicht
den Geldhahn zugedreht, was zumindest bedeutet, dass Roman ihm
wohl nicht völlig egal ist, auch wenn er zu mir steht.« Er schaut zu
Mama. »Aber um zu Ihrer ersten Frage zurückzukommen –«
»Ach, genug von dem blöden Sie«, unterbricht sie ihn gleich mit
wildem Händegefuchtel. »Sag Katha und Matthias zu uns. Wir sind
doch nun wirklich keine Fremden mehr!«
Ich kann Papa ansehen, wie ihm ein »Und wieder einmal eine
›gemeinsame‹ Entscheidung, die ohne mich gefällt wurde!« auf den
Lippen liegt, aber er schmunzelt und stört sich nicht daran.
Milo errötet leicht, greift vorsichtig das Du auf und schildert, wie
er und sein Bruder zwar über mögliche Optionen gesprochen haben,
jedoch noch zu keinem Schluss gelangt sind. Ich merke, dass es ihm
unangenehm ist, weil er uns nicht zur Last fallen möchte und selbst
nicht so recht akzeptieren kann, dass er unsere Gastfreundschaft in
Anspruch nimmt, ohne uns etwas dafür geben zu können.
»Kommende Woche werden die Fenster im Keller umgebaut, und
dann müssen wir noch streichen«, sagt nun Papa. »Dann musst du
Armer nicht mehr in Sophies Bett schlafen, sondern hast ein eigenes
Reich!« Es berührt mich, wie auch er bemüht ist, dass sich Milo wie
zu Hause fühlt.
Milo wird ganz ruhig. »Ich verdiene eure Hilfe gar nicht«, erwidert er beschämt und kleinlaut.
»Milo, selbst wenn wir einmal komplett ausblenden, was du in
den vergangenen Monaten für unsere Tochter getan hast – etwas,
was wir dir niemals zurückzahlen könnten –, bist du wirklich herzlich willkommen hier!«
»Genau, Milo«, bestätige ich, »du bist wie der Sohn, den sie nie
hatten.« Ich kneife Justus in den Oberarm.
»Auf jeden Fall ist er wie der ältere Bruder, den ich nie hatte«,
kontert Justus.
Das Lachen und die kurze Pause, die darauf folgen, nutzt Sophie,
um Milo freudig mitzuteilen, dass sie nun ebenfalls beim Theater-
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stück mitmachen wird. »Ist das nicht toll?«, quiekt sie.
»Voll cool!«, ruft Milo doch glatt und meint es, befürchte ich, auch
noch ernst, jedenfalls sieht die Begeisterung, die ihm ins Gesicht geschrieben ist, echt aus. »Hey, dann können wir sogar zu dritt
proben!«, schlägt er gleich vor.
Ich hebe mein Glas. »Hurra! Auf uns!«, proste ich ihnen zu. »Und
dass Gott all unsere Gebete endlich erhört hat!«
»Molly!« mahnen mich meine Eltern wie aus einem Munde.
Ich nehme einen Schluck und schäme mich.
»Molly kann sich noch nicht so recht damit abfinden«, erklärt Sophie dem verwirrten Milo. »Den Grund weiß allerdings keiner. Vielleicht vertraut sie ihn dir an.«
Krampfhaft wechselt Papa das Thema und berichtet von einem
Wasserschaden im Büro, der nicht unter Kontrolle zu kriegen ist, was
niemanden so recht interessiert, aber die Anspannung beseitigt, die
sich eben breitgemacht hat.
Als ich nach dem Essen in meinem Zimmer hocke und vor mich hingrummele, weiß ich auch nicht so recht, ob ich gerade auf Sophie
wütend bin oder auf mich selbst. Wenigstens ist Milo wieder da, und
irgendwie rechne ich damit, dass er jede Sekunde in mein Zimmer
platzt und wir das Wochenende noch einmal gemeinsam in allen
Einzelheiten Revue passieren lassen. Vor allem interessiert mich, ob
er einen Blick in das Buch Mormon geworfen hat. Hat er Fragen zum
Gelesenen, hat ihn vielleicht etwas berührt, hat er etwas nicht verstanden … ? Und selbst wenn er keine Zeit (oder Lust) hatte, muss
das ja nicht heißen, es könne sich kein Gespräch über das Evangelium ergeben.
Ich warte vergebens. Ich höre von unten Gelächter und bereue,
mich nicht aufraffen und meinen eigenen Stolz überwinden zu können und stattdessen herumzuschmollen wie ein kleines Kind, während sich meine Familie und unser Gast bester Laune erfreuen.
Kurze Zeit später horche ich auf und vernehme Schritte auf der
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Treppe. Ich bin mir sicher, Milos Stimme zu hören, aber niemand
klopft an meiner Tür. Nein, er und Sophie gehen in ihr Zimmer, und
da erklingt auch schon ihre Ukulele. Sie spielt und singt ihm etwas
vor. Diese angeberische Wichtigtuerin!
Ich raufe mir die Haare, weil ich mich so lächerlich aufführe. Ich
habe keinen Besitzanspruch. Milo hat jedes Recht, auch Zeit mit meinen Geschwistern zu verbringen. Das weiß ich alles und rege mich
trotzdem auf, ich stumpfsinniger Einfaltspinsel.
Ehe ich auf der ziemlich schiefen Ebene meines Persönlichkeitsniveaus noch weiter hinunterschlittere, schleiche ich mich schließlich
aus meinem Zimmer. Ein paar Schritte und ich stehe in Sophies Türrahmen; die Tür steht sperrangelweit offen und meine Schwester
und Milo hocken auf ihrem Bett. Er hält die Ukulele fest und sie
zeigt ihm gackernd ein paar Griffe. Alles völlig harmlos, aber ich
rase innerlich vor Wut.
»Molly!«, ruft Milo grinsend aus. Ein bisschen schief war sein Lächeln ja schon immer, aber ich freue mich, dass es nun wieder halbwegs »natürlich« schief aussieht und nicht mehr deformiert wegen
der Schwellungen. »Komm, sing mit uns«, fordert er mich auf.
Ich habe keine Lust, aber ich lasse meine Schwester auch keine
weitere Sekunde alleine mit ihm. Ich sacke vor dem Bett auf den Boden und hocke mich in den Schneidersitz. »Und was singen wir?«,
frage ich.
Milo drückt Sophie die Ukulele in die Hand. »Sing das von eben
noch mal«, sagt er. »Wenn ihr das zusammen singt, klingt das bestimmt hammermäßig.«
Das lässt sich Sophie nicht zweimal sagen. Sie spielt ein paar
Töne und beginnt dann mit dem PV-Lied »Des Heilands Liebe«.
Noch ein Grund, warum ich meiner Schwester das Instrument
entreißen und ihr damit auf den Kopf hauen möchte. Sie singt auch
noch so schön … Sie hat einen sehr hellen, sauberen Sopran mit leichtem Timbre und singt jede Note glasklar. Aber gut, meine Stimme ist
auf jeden Fall nicht schlecht, und wir haben bei den Jungen Damen
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vor einer Weile ein zweistimmiges Arrangement von dem Lied gesungen, dessen Altstimme sich mir gut eingeprägt hat. Sachte stimme ich ein, doch schon nach wenigen Tönen passe ich meine Stimme
an Sophies Lautstärke an.
Ich fühl, dass er mich liebt, wo immer ich auch hingeh.
Sein Geist erwärmt mein Herz durch alles, was ich seh.
Er weiß, ich will folgen ihm, weihe mein Leben ihm.
Ich fühl, dass er mich liebt, ich fühl des Heilands Liebe.
Wir schauen einander kurz an, und peinlich berührt zwinge ich
mich zu einem Lächeln. Da besinge ich die Liebe, die Jesus Christus
für mich hat, während ich das ganze Wochenende schlechte Gefühle
für meine eigene Schwester hatte? Das ist schon ziemlich verabscheuenswert.
»Wow …« Milo ist aus dem Häuschen. »Noch eins, aber sofort!«
Ich fühle mich geschmeichelt, aber ich stehe auf mit der Absicht,
die beiden Turteltäubchen alleinezulassen (oder eher Sophie, das Killertäubchen, und ihr wehrloses Opfer).
»Sing die zweite Strophe doch mit uns!«, schlägt Sophie allen
Ernstes vor. Sie greift ins Regal, zieht ihr Liederbuch für Kinder heraus und hat eine Sekunde später die richtige Seite aufgeschlagen.
»Komm, sing einfach die Melodie mit mir«, spornt sie Milo an und
spielt erneut ein kleines Vorspiel auf ihrem Instrument. Ich bleibe
stehen und auf Sophies aufforderndes Kopfnicken hin singe ich die
Strophe mit ihnen.
Ich fühl, dass er mich liebt, er ist so sanft und gütig,
und knie ich im Gebet, kommt Frieden in mein Herz.
Er weiß, ich will folgen ihm, weihe mein Leben ihm.
Ich fühl, dass er mich liebt, ich fühl des Heilands Liebe.
Sofort applaudiert Sophie. Milos Stimme hat viel rauher geklun-
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gen, als ich erwartet habe, aber er hat sich gut an Sophie orientieren
können und die Töne solide gehalten. Unsere drei Stimmen passen
gut zusammen, und für einen klitzekleinen Augenblick genieße ich
die Situation und das gemeinsame Musizieren.
Genauso schnell, wie diese positiven Gefühle aufgekommen sind,
verschwinden sie wieder – Sophie macht radikal alles zunichte. »Wir
sollten Jane Eyre als Musical aufführen!«, tagträumt sie nun den
größten Mist, den sie in letzter Zeit von sich gegeben hat. »Stellt euch
mal vor, wie die Zuschauer dahinschmelzen würden!«
»Grandiose Idee!«, rufe ich völlig gekünstelt. »Ich sehe Blanche
Ingram vor meinem inneren Auge schon auf Thornfield Hall zu Besuch und wie ich auf der Mitte der Bühne stehe und singe: ›Blödes
Miststück, du bist mir ständig im Weg! Verschwinde, du dumme Kuh!‹«
Schweigen. Es mag daran liegen, dass ich die letzten beiden Sätze
nicht mehr hochtrabend von mir gegeben habe, sondern bissig und
vorwurfsvoll und doppelt so laut.
Milo ist sich, glaube ich, noch nicht schlüssig, ob ich gescherzt
habe oder nicht.
Meine Schwester legt die Ukulele zur Seite. »Okay, raus mit der
Sprache«, sagt sie. »Was ist los? Willst du hier vor Milo jetzt echt eine
Szene machen?«
»Vielleicht«, fordere ich sie heraus. Warum soll er nicht hören,
was ich zu sagen habe? Warum soll er nicht erkennen, dass auch in
unserer Familie nicht alles heile Welt ist?
Milo ist jedoch bereits aufgesprungen und hebt beide Hände.
»Mädels, wenn das irgendetwas mit mir zu tun hat, dann –«
»Hat es nicht«, beruhige ich ihn. »Es geht nicht um dich.«
»Dann … äh … lass ich euch mal reden.« Ehe wir ihn stoppen
können, hat er das Zimmer verlassen und ist die Treppe nach unten
gestürmt.
Sophie ist fuchsteufelswild. »Was sollte das denn jetzt?«, zischt
sie. »Ist dir eigentlich bewusst, was wir da gerade in dem Lied gesungen haben? Und zwei Sekunden später machst du das genaue
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Gegenteil – und dann noch vor Milo? Und ja, als ob das nichts mit
ihm zu tun hätte … Ich verstehe doch genau, was dein Problem ist!«
»Warum hast du mich dann eben gefragt, was los ist, wenn du es
schon weißt?«, setze ich mich zur Wehr. »Dann kannst du dir deine
Frage ja auch selbst beantworten.«
»Ich habe dich doch gefragt, ob was zwischen euch ist, Molly!«,
verteidigt sie sich. »Du hast es verneint und –«
»Und das reicht dir, nicht wahr? Obwohl ich auch in dicken roten
Blockbuchstaben auf der Stirn geschrieben haben könnte, dass ich
Gefühle für ihn habe, würde dich das nicht abhalten, oder? Freundschaft hin oder her, natürlich habe ich nicht das Recht, ihn für mich
zu beanspruchen, aber wie schamlos du ihm Aufmerksamkeit entgegenbringst, auch wenn du wissen müsstest, dass ich ihn mag, ist
schon eine Nummer für sich.« Damit habe ich sie nun zum Stillschweigen gebracht. Aber wo wir schon einmal dabei sind … »Leider
muss ich dich enttäuschen, Schwesterherz. Milo steht nämlich gar
nicht auf Frauen. Und das macht uns beide zum ersten Mal ebenbürtig.«
Sophie klappt die Kinnlade herunter. »Das erfahre ich jetzt erst?«
»Ist doch schon lange kein Geheimnis mehr … Mir ist unbegreiflich, dass du nie gefragt hast, warum sein Vater ihn verprügelt hat.«
»Ich dachte halt, die hätten immer Stress daheim, aber …« Es folgen ein paar unerklärliche Laute, die irgendwo zwischen Gurgeln
und aufgespießtem Ferkel einzuordnen sind. Ihr Blick wandert
durchs Zimmer, während sie die neu gewonnene Information verdauen muss, bis sie schließlich innehält und wieder mich anschaut.
»Aber Moment mal«, sagt sie. »Was meintest du eben damit, dass
wir jetzt zum ersten Mal ›ebenbürtig‹ seien … Wieso zum ersten Mal?
Was ist denn nur los mit dir?«
»Das raffst du nicht, oder?« Ich werde ungewollt lauter und hoffe, meine lauten Zickereien erreichen nicht in all ihrer Klarheit das
Wohnzimmer. »Wir haben beide gleich wenig Chancen bei ihm, aber
würde er auf Mädchen stehen, wäre doch ganz logisch, dass du die
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besseren Karten hättest! Wie immer! Alles kannst du besser, alles
schaffst du besser, immer stichst du mich aus!« Sophie verschwimmt
in den Tränen, mit denen sich meine Augen füllen und nur einen
winzigen Teil der angestauten Frustration ausmachen, die gerade
herausbricht. »Du bist doch in allem immer die Bessere, Sophie …
Nur eine Sache, eine einzige Sache bringe ich mal zustande, nämlich
die Hauptrolle im Theaterstück, und selbst da schaffst du es jetzt,
mitzumischen und die Aufmerksamkeit auf dich zu lenken! Warum
kannst du mir nicht einmal das gönnen, was ich erreicht habe?«
Mir ist schon klar, dass ich ihr völlig ungerechtfertigte Vorhaltungen mache, aber ich bin gar nicht imstande, mich selbst zu stoppen.
Sophie bleibt gelassen, was mich noch rasender macht, und steht
nun vom Bett auf. »Ich weiß nicht, welcher Wahn dich befallen hat,
aber wenn irgendwo in deinem kranken Hirn meine Schwester Molly haust, würde ich ganz gern mit ihr sprechen und mit keiner
Durchgeknallten. Hörst du dich eigentlich selber reden?« Zu allem
Überfluss macht sie, wenn bestimmt auch unbewusst, eine kleine
Schnute, als wolle sie mir überheblich einen Luftkuss zuwerfen.
Ich verliere völlig die Fassung und stoße sie mit beiden Händen.
Sophie ist überrumpelt, kann sich aber dennoch auf den Beinen
halten, sonst wäre sie direkt auf ihrer Ukulele gelandet und hätte sie
vermutlich unter sich zertrümmert.
»Habt ihr den Verstand verloren?!«
Erschrocken drehe ich mich um. Mama steht im Flur. Wann sie
wohl hochgekommen ist? Hat Sophie sie schon vor mir entdeckt?
»Ich habe da unten im Wohnzimmer einen völlig verstörten Jungen sitzen, der momentan in seinem Leben nur zwei Lichtblicke hat
– einen Bruder, den er über alles liebt, und eine Familie, deren christliches Vorbild ihm Kraft gibt. Nun sieht er, wie seine beste Freundin
ausgerechnet mit ihrer Schwester auf offene Konfrontation gehen
muss? Was ist nur in euch gefahren?«
»In Molly gefahren«, betont Sophie.
»Ja, natürlich«, verkünde ich. »Alles ist meine Schuld. Ich habe
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den Familienfrieden zerstört, ich habe Milos letzte Hoffnung zerstört, ich habe –«
»Rede doch keinen Unsinn!«, fährt Mama fort. »Natürlich ist auch
ihm klar, dass es in jeder Familie mal Streit gibt. Aber es gibt für alles
die korrekte Art und Weise, und das hier –«, sie dreht ihren Zeigefinger im Kreis, »ist völlig inakzeptabel!« Nun schaut sie mich an.
»Molly, und wir werden niemals handgreiflich! Bei allem Verständnis,
das ich bei Vicki hatte –« Sie stockt.
Ich senke den Kopf. Ich weiß es ja. Ich bin so dumm. Immer mache ich alles verkehrt … Wäre ich doch bloß wie meine perfekte
Schwester …
Den dunklen, nassen Fleck, der sich auf Mamas Rock bildet, sehe
ich erst, als Sophie aufschreit. Mama ist bleich geworden. Etwas ist
nicht in Ordnung.
»Mama?«, fragt Sophie angsterfüllt.
»Hol Papa«, fleht Mama im Flüsterton, ehe sie vor unseren Augen
langsam zu Boden sinkt.
Ehe sie das Bewusstsein verliert und mich Panik erfasst, habe ich
nur einen Gedanken: Sie hat sich wegen mir aufgeregt. Wieder einmal ist alles ganz allein meine Schuld.
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W
enn in den heiligen Schriften irgendein Kind zur Welt kam,
spielte sich doch meist irgendeine seltsame Geschichte drum
herum ab. Esau war am ganzen Körper behaart, sein Zwillingsbruder Jakob hielt seine Ferse fest. Mose wurde in einem Binsenkörbchen auf dem Nil ausgesetzt, seine Altersgenossen von den Schergen
des Pharaos rigoros abgeschlachtet. Der arme Wicht aus dem solomonischen Urteil wurde beinahe in zwei Hälften geteilt. Sogar aus
der Geschichte Hannas bin ich nie ganz schlau geworden – da
wünscht sie sich ein Kind und verspricht dem Herrn im Gegenzug,
ihm ihren Sohn zum Dank zu weihen? Ist das nicht irgendwie ein
Widerspruch? Wie viel hatte sie denn von Samuel, als dieser dann
geboren war, wenn sie ihn gleich wieder abgab?
Okay, die Geburt des Erlösers war einigermaßen ruhig und besinnlich, aber ideal waren die Umstände in dem stinkenden Stall
auch nicht, ganz zu schweigen davon, dass kurz nach seiner Geburt
ähnliche Schwierigkeiten auftraten wie zur Zeit des Mose.
Aber Jesus wuchs zum Erlöser heran. Mose befreite die Israeliten.
Samuel wurde zu einem der weisesten Männer des Alten Testaments. Jakob zu einem unserer geistigen Stammväter. Ob große Geister aus irgendwelchen Gründen komische Begleitumstände hinnehmen müssen, wenn sie das Licht der Welt erblicken?
Ich hoffe es. Anders ertrage ich das hier alles nicht.
Ich schreibe übermorgen – na ja, technisch gesehen morgen, denn
es ist bereits nach Mitternacht – eine Englischarbeit. Ich kann nicht
schon wieder den Unterricht verpassen. Aber worauf soll ich mich
konzentrieren? Ich werde diese Nacht kein Auge zudrücken können,
es sei denn, dass Papa endlich anruft und durchgibt, dass alles in
Ordnung ist.
Der Krankenwagen war innerhalb weniger Minuten vor der Tür,
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und Papa schwang sich in unser Auto, fuhr hinterher und musste
uns verstörte Kinder zurücklassen. Wir kauerten uns ins Wohnzimmer, sprachen kein Wort, außer um uns gelegentlich gut zuzureden,
und hielten einander an den Händen.
Ich war gar nicht undankbar, dass Papa uns daheim ließ. Ich ertrage Krankenhäuser nicht mehr. Erst Mama, dann Lizzy, nun wieder
Mama … und als Nächstes wahrscheinlich ich, denn wenn das so
weiter geht, begehe ich auch irgendeine Dummheit.
Nach geschlagenen drei Stunden meldete sich Papa und berichtete uns von dem schweren Gebärmutterriss, dem Kaiserschnitt, dem
weiteren Blutverlust, der Not-OP, die gerade durchgeführt wurde,
während unser neugeborener Bruder irgendwo an irgendwelche
Schläuche angeschlossen und nun ebenfalls eingehend untersucht
werden musste.
Papa kam um kurz vor neun heim. Als Justus unseren bleichen
Vater erblickte, konnte auch er nicht mehr an sich halten und begann
wie ein Kleinkind laut zu weinen. Papa selbst versuchte, die Fassung
zu wahren, nahm uns kurz in den Arm, übergab Sophie ohne Weiteres die Verantwortung und machte sich schnell wieder auf den Weg
ins Krankenhaus. Trotzig begann Justus herumzubrüllen, weil er bei
Papa bleiben wollte, ehe er schluchzend in Milos Armen zusammenbrach. Er klammerte sich an seinen neugewonnenen großen Bruder
und schlief mit dem Kopf auf dessen Schoß schließlich ein.
Milo hat ihn vor einer halben Stunde hoch gebracht und ist noch
bei ihm im Zimmer geblieben, Sophie und ich hingegen sitzen am jeweiligen Ende der Couch, schweigen und vermeiden strikt jeglichen
Blickkontakt. Mir fehlen ohnehin buchstäblich die Worte, und sie
verzichtet zum Glück auf Anschuldigungen und Vorwürfe, wohl
wissend, dass diese alles nur noch schlimmer machen würden.
Alles ist verstummt. Die Zeit ist stehengeblieben. Ich höre mich
nicht einmal selbst atmen. Ganz Frankfurt schläft, und erst als Milo
ins Wohnzimmer zurückkommt und die Tür leise anlehnt, muss ich
mir eingestehen, dass das Leben weitergeht. Einfach so. Eine Minute
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nach der anderen.
»So undenkbar es ist, ihr zwei müsst euch hinlegen und ausruhen«, legt uns Milo ans Herz. »Ich wecke euch sofort, wenn ein Anruf kommt.«
»Nein.« Ächzend kämpft sich Sophie von der Couch hoch, als
müsse sie alle Kräfte zusammennehmen. »Ich kann es mir leisten,
morgen zu schwänzen«, sagt sie. »Legt ihr euch hin. Ihr habt beide
diese Woche Arbeiten.« Sie will vernünftig sein, aber kaum hat sie
das gesagt, blickt sie mit feuchten Augen nach oben und schüttelt
den Kopf, als sei ihr bewusst, wie albern der Gedanke ist, zur Schule
zu gehen, während Mama und das Baby mit dem Leben kämpfen.
Meine Schuldgefühle machen sich mit voller Wucht bemerkbar,
aber irgendwie kann ich mich zusammenreißen, obwohl mir nach
Schreien zumute ist. »Sophie …«, bringe ich schließlich hervor.
»Ist gut, Molly«, entgegnet sie gleich. »Sag nichts.« Ich weiß nicht,
ob sie das mitfühlend oder anklagend meint.
Schließlich sage ich das einzig Plausible, das mir in den Kopf
kommt: »Können wir vielleicht zusammen beten?«
Sollte Härte in Sophies Blick gewesen sein, ist diese nun verflogen. »Natürlich«, flüstert sie.
Sie kniet sich hin, während ich von der Couch auf den Boden
gleite. Milo zu fragen, ob er mitbeten möchte, erübrigt sich, da er
sich bereits ebenfalls hingekniet hat und etwas tut, was meine
Schwester und mich überrascht: Er streckt die Hände aus. Er möchte,
dass wir drei uns an den Händen halten.
Als unsere Finger sich umschließen, beginnt Sophie zu schluchzen. »Du musst beten«, fordere ich sie leise auf. Inzwischen strömen
mir ebenfalls die Tränen über das Gesicht. »Du bist die Starke von
uns beiden.«
»Nein, Molly«, erwidert sie. »Du bist die Starke. Das warst du
schon immer.«
Daran zweifele ich, kann ihr die Bitte jedoch nicht abschlagen. Ich
schließe die Augen und ringe um Worte. Was um alles in der Welt
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könnte ich nur sagen – nach allem, worum ich die letzten Wochen
und Monate gefleht habe? Aber hat der Herr mich enttäuscht? Nein,
fährt es mir durch Mark und Knochen, er war immer für mich da …
Seine Antwort hat nicht immer so ausgesehen, wie ich sie mir gewünscht hatte, aber er hat mich nie im Stich gelassen. Auch auf die
dunkelsten Stunden folgten Licht und die Hoffnung, dass alles besser wird. Und so beginne ich nicht mit der obligatorischen Anrede
oder mit einem Bittgebet, sondern mit einem Wort, dass im ersten
Augenschein eher unpassend wirkt: »Danke … Vater im Himmel«,
setze ich schnell hinzu, »du hast uns mit einer so tollen Familie gesegnet, auch wenn nicht immer alles perfekt ist und wir viel falsch
machen … Aber hab Dank, dass Mama und Papa immer alles getan
haben, damit es uns gut geht.« Ich hoffe, dass es Milo nicht verletzt,
wenn ich so etwas sage, weil er ganz und gar nicht mit solchen Eltern gesegnet wurde, aber sein Griff wird fester, was ich als Bestärkung empfinde. »Vater im Himmel, wir haben überhaupt kein Recht,
irgendetwas von dir zu verlangen bei allem, womit du uns segnest
… aber wenn es dein Wille ist … bitte hilf Mama.« Ich halte inne und
unterdrücke ein Schluchzen. »Wir lieben sie. Wir brauchen sie.« Sophies Hand zittert. »Und bitte segne doch auch das Baby … unseren
kleinen Bruder, für den wir sehr dankbar sind.« Wieder stoppe ich,
weil mir einfällt, wie kritisch ich die Neuigkeit von Mamas Schwangerschaft im Winter aufgenommen habe. Und nun? Um keinen Preis
möchte ich meinen kleinen Bruder verlieren … meinen Bruder, den
ich noch nicht einmal sehen durfte.
Mich verlassen die Kräfte, und ich beginne, hemmungslos zu weinen und auch Sophie kann die Anspannung endgültig nicht weiter
zurückhalten. Unkontrolliert entfahren laute Schluchzer ihrer Kehle.
Ich lehne mich rüber zu meiner Schwester und unsere Hände lösen
sich voneinander. Sophie und ich umarmen uns und benetzen einander die Schultern mit Tränen. Auf meinem Rücken spüre ich Milos
Hand und, ohne hochzuschauen, weiß ich, dass seine andere auf Sophies Rücken ruht.
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»Bitte … segne uns alle mit Kraft.«
Ich will die Augen aufreißen, um zu sehen, ob ich mir das gerade
eingebildet habe, da spricht Milo schon weiter.
»Segne uns mit Liebe. Und mit Zuversicht. Und mit dem Wunsch,
einander zu helfen. Und bitte segne die Bachs dafür, dass sie so
freundlich sind und immer helfen. Dein Wille geschehe.«
Ungewöhnlich routiniert beendet Milo das Gebet, das ich begonnen habe, im Namen Jesu Christi, so wie er es nun schon etliche
Male gehört hat.
Sophie und ich schauen erst einander ins völlig verrotzte Gesicht
und dann fragend, aber gleichermaßen überwältigt zu Milo. Er ist
gefasst und hat sich der Heulorgie nicht angeschlossen, ist jedoch
sichtlich berührt. »Es … es hat sich einfach richtig angefühlt«, möchte er sich herausreden, obwohl gar kein Anlass dazu besteht.
Meine Schwester und ich sind uns selten einig, aber in diesem
Augenblick wissen wir beide, dass keine Notwendigkeit besteht, irgendetwas zu sagen. Stattdessen schließen wir Milo in unsere Umarmung ein, vergießen ein paar weitere Tränen und verharren in dieser
Position so lange, bis uns die Knie wehtun und wir uns notgedrungen erheben müssen. Sophie gibt sowohl Milo als auch mir einen
Kuss auf die Wange und schickt uns mütterlich nach oben.
»Meinst du, es ist in Ordnung, wenn ich mit bei dir schlafe?«,
fragt Milo vorsichtig, als wir den oberen Treppenabsatz erreichen.
Ich kenne die Regeln nur zu gut, die uns seit Jahren eingetrichtert
werden, wie man sich dem anderen Geschlecht gegenüber verhalten
soll. Aber ich weiß auch, dass ich Milos Nähe brauche und dass wir
uns in einer Ausnahmesituation befinden – einmal abgesehen davon,
dass es bei Milo wohl auch eher darum ginge, den Anschein zu wahren, als eine Gefahr zu meiden, und jetzt gerade beschäftigen mich
eher andere Sorgen. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, in den
Pyjama zu schlüpfen, sondern lasse mich direkt auf mein Bett fallen.
Milo legt die Matratze, die ich übers Wochenende vor eines meiner
Bücherregale gestellt habe, auf den Boden. Wir verzichten beide auf
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eine Decke und wenden uns stattdessen einander zu. Ich liege auf
dem Bauch, Milo auf dem Rücken, und ich strecke meine rechte
Hand aus, die er sachte nimmt und auf seine Brust legt. Wir lächeln
einander an, dann schließe ich die Augen, nur ganz kurz, denn ich
kann mir gar nicht vorstellen, dass ich einschlafen werde. Kaum sind
meine Augen geschlossen, merke ich jedoch, wie schwer mir die Lider sind, und dass ich gar nicht das Bedürfnis habe, sie wieder zu
öffnen.
Sophie besitzt die Frechheit, uns nicht zu wecken. Als ich erschrocken hochfahre, weil ich mit dem Aufwachen augenblicklich das Gefühl habe, verschlafen zu haben, ist es halb sieben, eine halbe Stunde
später als sonst – eigentlich nicht dramatisch, nur kann ich nicht
glauben, dass sich Papa die ganze Nacht nicht gemeldet hat.
Milo schläft selig, und seine rechte Hand verharrt noch immer auf
seinem Bauch. Meine habe ich wohl beim Aufwachen (oder irgendwann während der Nacht) weggezogen. Ich steige vorsichtig über
ihn hinweg und schleiche auf Zehenspitzen nach draußen. Ich werfe
einen kurzen Blick in Justus’ Zimmer. Mein Bruder schnarcht vor
sich hin, und ich bringe es auch nicht übers Herz, ihn zu wecken, obwohl er bald aufstehen muss, wenn er pünktlich zur Schule will.
Dann gehe ich nach unten ins Wohnzimmer, wo ich Sophie schlafend
auf der Couch vorfinde. Ich setze mich neben sie und rüttle sie sanft
an der Schulter.
Tief kann sie nicht geschlafen haben, da sie sofort reagiert und
wach wird. »Wie spät ist es?«, fragt sie und gähnt unweigerlich.
»Viel zu spät!« Ich merke, dass ich schon wieder schnippisch werde. »Hat sich Papa etwa überhaupt nicht gemeldet?«
Sophie senkt schuldbewusst den Kopf. »Doch«, sagt sie, »aber ihr
habt alle so fest geschlafen, und ich dachte, ich tue euch einen Gefallen, wenn ihr euch ein bisschen ausruhen könnt …«
Nun gut, ich will ihr das mal nicht gereizt vorhalten. »Und?«
»Die OP ist wohl ganz gut verlaufen, aber Mama … war bei sei-
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nem Anruf noch nicht aufgewacht.«
Sie hat sich bewusst einer harmlosen Wortwahl bedient, das kann
ich ihr doch ansehen. »Sie liegt also im Koma?«, schlussfolgere ich.
Die Aufregung, Angst, Sorge und Schuld von gestern kommen
schlagartig zurück und lassen mich am ganzen Körper erbeben.
»Im künstlichen Koma. Die Ärzte haben ihr ein starkes Sedativ
verabreicht, damit sie sich von den Eingriffen erst einmal ausruhen
kann …« Ich zweifle, und Sophie sieht es mir an. »Molly!« Sie hat
mich an beiden Schultern gepackt. »Sie wird sich erholen, verstanden? Etwas anderes kommt nicht in Frage!«
Ich zwinge mich zum Nicken. Sie ist genauso fertig wie ich, und
eine hoffnungslose Aussicht können wir beide nicht gebrauchen.
»Wie geht es … dem Baby?«, stelle ich die zweite Frage, deren Antwort mich ähnlich ängstigt.
»Er ist sehr klein. Und schwach. Aber er lebt, und alle Organe
scheinen normal zu funktionieren.« Das klingt in Anbetracht der
Umstände nach einer guten Nachricht. »Weckst du Justus und Milo?
Ich rufe Papa an und dann sehen wir weiter.«
Justus aus dem Bett zu bekommen, gleicht normalerweise einer
Tortur, aber heute ist er blitzartig hellwach, als ich ihm erzähle, was
Sophie mir eben berichtet hat. Auch Milo erfährt zunächst einmal
alle Neuigkeiten. Es folgt eine Katzenwäsche der beiden Jungs, ich
hingegen zwinge mich zu einer kurzen heißen Dusche, um meinen
leicht benebelten Verstand zu erfrischen. Als ich fertig angezogen
nach unten komme, sitzen die anderen drei am Esstisch. Justus rührt
lustlos mit dem Löffel in einer Schüssel Cornflakes, vor Sophie liegt
ein unangerührter Apfel und Milo hält eine Scheibe Toast in der
Hand, von der immerhin eine kleine Ecke fehlt.
»Papa holt uns gleich ab und fährt mit uns ins Krankenhaus«, berichtet Sophie, als ich mich dazusetze. »Aber wir sollen nachher
trotzdem noch zur Schule.«
»Papa muss dringend schlafen«, werfe ich ein. »Ich hoffe, er
kommt nicht auf die Idee, zur Arbeit zu fahren …«
451
»Nein, aber er meinte auch, er hätte sich im Krankenhaus in einen
Nebenraum legen dürfen … nicht, dass er viel Ruhe bekommen
konnte.«
»Ich werde Frau Ömsen und Dr. Hilmberger über die Situation
Bescheid geben«, bietet Milo an. Interessant, dass er Frau Ömsen vor
dem Schulleiter nennt, aber eigentlich ist sie ja für uns sowas wie die
wahre Direktorin. »Ich kann auch bei Justus in der Schule anrufen,
wenn ihr mir die Nummer gebt!«
»Ich suche sie heraus.« Sophie legt den Apfel zurück in den Obstkorb. »Danke für deine Hilfe, Milo. Ich weiß, das mag jetzt unpassend sein, weil wir dir alle wünschen, in deiner Familie herrschten
bessere Zustände … aber ich glaube nicht an Zufälle, und es ist kein
Zufall, dass du jetzt gerade hier bei uns bist. Wir brauchen dich. Du
bist jedem hier eine echte Stütze.«
Milo nimmt einen weiteren Happen vom Toast, während ihm
leichte Röte in die Wangen schießt.
»Papa hat gesagt, dass Tante Mini schon unterwegs ist. Keine Ahnung, wo sie pennen soll, aber sie wird wohl auch ein paar Tage hierbleiben und mithelfen.«
Papas jüngere Schwester wohnt schon seit vielen Jahren in der
Schweiz, und auch wenn reger Kontakt besteht, sehen wir sie nicht
allzu oft. Ich gehe davon aus, Oma und Opa und Mamas zwei Brüder mit ihren Familien in den nächsten Tagen ebenfalls zu sehen.
Wir hören den Schlüssel im Haustürschloss, und kaum steht Papa
im Flur, rennen wir drei Kinder flugs zu ihm und lassen uns von ihm
drücken. Auch Milo winkt er gnadenlos heran und macht ihn zu einem Teil der Gruppenumarmung, ob er nun will oder nicht.
Nachdem wir uns voneinander gelöst haben, klärt Sophie Papa
kurz auf, was wir eben beim (Pseudo-)Frühstück besprochen haben.
»Milo, das ist wirklich sehr nett von dir, aber ich kann das von
unterwegs machen«, sagt er. »Es ist sicher besser, wenn ich als Vater
da Bescheid gebe.«
»Stimmt auch wieder«, gibt Milo zu. »Sag Bescheid, wenn ich ir-
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gendetwas tun kann!«
»Mach ich. Du bist Gold wert. Danke für deine Hilfe!« Papa nickt
ihm aufrichtig zu, und Milos Röte von eben kehrt zurück.
Aufgrund des dürftigen Frühstücks packen wir uns ein bisschen
Obst zusammen und stecken eine Flasche Wasser ein, damit wir später nicht vom Stuhl kippen, während Papa nach oben läuft und ein
paar Utensilien für Mama zusammenkramt, die er gestern natürlich
in all der Aufregung nicht mitgenommen hat. Trotzdem sitzen wir
keine fünf Minuten später im Auto, winken Milo zu, der sich auf sein
Fahrrad schwingt, und machen uns auf den Weg ins Krankenhaus zu
unserer Mutter und zu unserem kleinen Bruder.
Papa beteuert, ein paar Stunden die Augen zugemacht zu haben,
aber ich glaube ihm kein Wort. Er sieht schrecklich aus. Die vereinzelten silbernen Haare haben sich scheinbar über Nacht vermehrt,
die dicken Augenringe verstärken den trostlosen Anblick. Mir ist allerdings auch klar, dass ihm nicht zu helfen ist, solange sich Mama
nicht auf dem vollständigen Weg der Genesung befindet. Ehe sie
endlich aus der Narkose aufgewacht ist, wird er nicht zur Ruhe kommen. Wir können nichts anderes tun, als ihn im wahrsten Sinne des
Wortes zu stützen und ihm durch unsere Anwesenheit und Liebe
Trost zu spenden und ihm zu zeigen, dass wir diese Situation mittragen können – was Sophie und mir vielleicht gelingen mag, aber Justus ist trotz der sieben Stunden Schlaf, die er bekommen hat, schon
wieder den Tränen nahe, als wir an Mamas Bett stehen. Die Krankenschwestern, die gerade Dienst haben, sind nicht sonderlich begeistert
über die kleine Familieninvasion, können uns aber auch nicht verübeln, dass wir unsere Mutter besuchen wollen, und die behandelnde Ärztin ist sehr zuvorkommend und höflich.
Ich denke an Lizzy und wie betrübt sie sogar im schlafenden Zustand ausgesehen hat. Bei Mama kann ich einige Schläuche mehr als
bei meiner Freundin ausmachen, und dennoch finde ich, dass ihr ein
gewisser Frieden ins Gesicht geschrieben steht, keine seelische Pein
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wie bei Lizzy.
Dr. Hartle, die Ärztin, ist sehr freundlich. Auch wenn sie sachlich
bleibt, zeigt sie sich optimistisch und lobt Mama in den höchsten Tönen. »Sie ist sehr robust«, sagt sie. »Mich wundert es also gar nicht,
dass euer kleiner Bruder auch so einen Überlebenswillen an den Tag
legt.«
Papa, der bisher bei den Geburten dabei war, durfte sich nicht im
OP aufhalten – dafür war die Situation zu brenzlig und hektisch, und
da Mama bewusstlos war, hätte er auch nichts für sie tun können.
Auch das macht ihm sichtlich zu schaffen.
»Möchtet ihr denn euren Bruder gern sehen?«, fragt die Ärztin.
Sophie nickt stellvertretend für uns alle, und schweigend, fast andächtig, gehen wir hinter ihr her, von einem kahlen und sterilen Flur
in den nächsten, bis wir die Neugeborenen-Intensivstation erreichen.
Ich werde nie wieder in ein Krankenhaus fahren, beschließe ich. Sollte ich
selber einmal Kinder gebären, müssen die halt daheim auf die Welt
kommen. Ich habe die Schnauze voll von diesem Ort.
Sobald Mama aufgewacht ist, wird sie ihr Zimmer hier in unmittelbarer Nähe haben, erklärt uns Dr. Hartle. Der Raum, in den sie
uns führt, ist ziemlich groß und genauso ungemütlich wie alles andere in diesem Krankenhaus, obwohl es etliche Sessel gibt, die direkt
neben die Betten und Inkubatoren gestellt wurden. Es ist angenehm
warm, ungeachtet dessen fröstelt es mich. Nicht jedes Bett ist belegt,
aber schon bei den ersten zwei Winzlingen, an denen wir vorbeigehen, zerreißt mir fast das Herz in der Brust.
Unser Bruder liegt ebenfalls in einem der großen durchsichtigen
Kästen mit den runden Öffnungen. Er ist auf eine hellblaue Decke
gebettet. Überall sind Schläuche und Pflaster, sein Mund ist abgeklebt mit einer überdimensional großen Sonde.
Er ist winzig.
Er trägt eine weiße Mütze und die Haut ist stark gerötet. Und
trotzdem sieht er auf seine Weise so perfekt aus … mit seinen langen
Fingern, der Stupsnase, der Augenpartie, in der ich sofort Papa wie-
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dererkenne. Sein Bauch hebt und senkt sich millimeterweise.
»Die Organe funktionieren gut«, erklärt Dr. Hartle. »Die Medizin
heutzutage ist glücklicherweise weit fortgeschritten. Eine Geburt in
der 29. Schwangerschaftswoche ist zwar sehr früh, aber es besteht
momentan kein Anlass zu größerer Sorge.«
Ich möchte ihr glauben, aber das kleine Ding sieht so zerbrechlich
aus wie ein Porzellanpüppchen. Er wiegt nur knapp über ein Kilo,
erfahren wir. Also etwa ein Liter Milch! Mein Bruder wiegt nur so
viel wie ein Liter Milch und alles soll in Ordnung sein?!
»Baby Bach«, steht auf dem Schild, dahinter ist ein kleines Marssymbol abgebildet. In all der Aufregung habe ich völlig verdrängt,
dass der Kleine noch gar keinen Namen hat. Wir haben die potenziellen Vornamen auf vier reduziert – und jetzt, wo ich ihn da um sein
Leben kämpfen sehe, passt keiner von ihnen so richtig.
Wie lange wir dort verharren, ohne dass auch nur einer ein Wort
sagt, nehme ich gar nicht wahr; aber irgendwann kündigt Papa an,
dass er zurück zu Mama will. »Darf ich noch ein bisschen hier bleiben?«, frage ich die Ärztin, die lächelnd einwilligt, mich aber bittet,
mich so ruhig wie möglich zu verhalten.
Justus verlässt mit Papa die Station, Sophie ist ebenfalls am Inkubator stehengeblieben. Während ich unseren kleinen Bruder beobachte, wird mir klar, wie unwichtig alles andere ist, wie albern und
unreif all das ist, was ich Sophie gestern an den Kopf geworfen habe.
»Er ist wunderschön, nicht wahr?«, sagt sie.
»Das ist er«, stimme ich ihr zu. Wem er wohl einmal besonders
ähneln wird – sowohl äußerlich als auch vom Charakter her? Ich hoffe, er hat das Glück und tritt in Sophies Fußstapfen und verzaubert
die ganze Welt. Ach, ich muss mich bei ihr entschuldigen. Ich muss –
»Noch vor den Ferien ist eine Mitschülerin zu mir gekommen«,
erzählt sie plötzlich, ehe ich meine Entschuldigung anbringen kann.
»Sie hat zu mir gesagt: ›Ich will nicht herunterspielen, was da in deiner Familie gerade abgeht, aber ich bin wirklich neidisch auf deine
Schwester.‹ Und weißt du, warum sie neidisch auf dich war, Molly?«
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Ich höre ihr staunend zu und erwidere nichts.
»Vicki Greiser hat sich normalerweise Opfer gesucht, die sie mühelos fertigmachen konnte. Oft waren es welche, denen sie sogar zuerst die Freundschaft angeboten hat, aber dann wurde es ihr zu langweilig und sie hat sich nach Herzenslust bemüht, sie zu vernichten.
Alle meinten, Vicki wäre zu beliebt und zu einflussreich und haben
einfach darauf gehofft, dass es bald ein neues Opfer geben würde,
dem ihre Aufmerksamkeit gilt. Keiner hat sich zur Wehr gesetzt.
Und dann kamst du.« Sophies Blick ist nach wie vor auf unseren
Bruder gerichtet, aber ihr Lächeln gilt mir. »Deshalb war meine Mitschülerin neidisch. Weil du Mumm hast. Weil du Kontra gegeben
hast. Weil du das an unserer Schule Undenkbare zustandegebracht
hast – und nicht nur das, Vicki ist jetzt sogar geflogen. Du kannst
überhaupt nicht ermessen, wie viele dankbare Fans du hast.« Sophie
hebt den Blick, und wir schauen einander an. Langsam kommt sie
um den Kasten herum und nimmt meine Hand. »Molly, du hast keinen Grund, auf mich neidisch zu sein. Die ganze Schule blickt zu dir
auf – wenn jemand neidisch sein sollte, dann ich. Du hast die
Hauptrolle im Theaterstück ergattert – bist du dir eigentlich bewusst,
wie sehr ich dich dafür bewundere? Und dass ich dort mitmache, hat
ganz bestimmt nicht den Grund, dir die Show zu stehlen, sondern
weil es mich mit größtem Stolz erfüllt, an der Seite meiner beliebten
Schwester Theater zu spielen!« Sie rückt noch ein Stück näher an
mich heran. »Und egal, was du dir einredest – würde Milo auf Mädchen stehen, hätte ich keine Chance gegen dich! Ein so tiefes, aufrichtiges, herzliches Band wie eure Freundschaft habe ich noch nie zwischen einem Mädchen und einem Jungen erlebt. Natürlich ist er süß,
und es war rücksichtslos von mir, so schamlos mit ihm zu flirten.
Aber doch nur, weil ich neidisch auf dich war.« Sie seufzt. »Sieh dich
doch an … welchen Wandel du in nur ein paar Monaten durchgemacht hast … wie aus dem Mauerblümchen eine wunderschöne
Rose geworden ist.«
Sophie verliert beinahe das Gleichgewicht, als ich mich um ihren
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Hals werfe. »Es tut mir so leid«, schluchze ich. »Ich hätte dir das alles
nie vorwerfen dürfen … Es ist einfach so viel auf einmal aus mir herausgebrochen …«
»Mir tut es auch leid«, erwidert sie. »Ich hätte mit vielem taktvoller umgehen müssen … Lass es uns von jetzt an einfach anders
handhaben, okay?«
Ich löse mich von ihr. »Du meinst, wir sollen Schwestern und
Freundinnen sein?«, frage ich. »Das widerstrebt aber allem in mir.«
Sie lacht leise. »Wir können ja erst einmal mit Schwestern und
Kumpels anfangen«, schlägt sie vor, »und nach und nach bringen wir
es dann auf eine andere Ebene.« Sie schaut auf unseren Bruder. »Er
braucht zwei starke Schwestern, die ihn so verwöhnen und verhätscheln, dass keine andere Frau jemals gut genug für ihn sein wird.«
Eine Weile beobachten wir ihn wieder. Ab und zu sehen wir eine
Regung in den Fingern oder unter den Augenlidern. Ich bin fest
überzeugt, dass in diesem kleinen, noch schwachen Körper bereits
ein starker Geist steckt. Vermutlich wurde er zu uns geschickt, damit
wir noch viel über das Evangelium und den Vater im Himmel lernen
können. Von ganzem Herzen wünsche ich mir, dass er gesund sein
und sein Leben dem Herrn weihen wird.
»Wieso schmunzelst du?«, fragt Sophie.
Ich schmunzele, weil ich an Hanna aus dem Alten Testament denken muss – und wie ich nie verstanden habe, warum sie ein Kind,
das sie sich so sehnlichst gewünscht hat, aufgibt und dem Herrn
weiht. Dabei gab es in ihrem Leben wahrscheinlich nichts Größeres
und Erhabeneres, als zu sehen, wie ihr Sohn, den sie Gott geweiht
hatte, in dessen Schutz und Obhut aufwuchs und zu einem würdigen, mächtigen und weisen Mann wurde. »Was hältst du von Samuel?«, frage ich Sophie.
Meine Schwester schenkt mir ihr breitestes Lächeln. »Weißt du,
was der Name bedeutet?«, entgegnet sie.
»Nein, und wenn du Streberin das weißt, revidiere ich alle Entschuldigungen von eben!«
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Sie grinst. »Ich weiß es noch aus dem Seminarunterricht, als wir
das Alte Testament durchgenommen haben … Von Gott erbeten. Der
perfekte Name für ein Kind, um das eine Mutter so lange flehen
musste, oder? Irgendwie hat mich die Geschichte berührt … und ich
habe mir den Namen gemerkt, weil ich dachte, dass es mal ein sehr
schöner Name für meinen eigenen Sohn sein würde.«
»O Sophie, ich wollte den jetzt nicht klauen, ich –«
»Molly!«, fährt sie gleich dazwischen. Ihre Händedruck wird fester. »Der Name ist genau richtig für ihn.«
Wer hätte gedacht, dass ich mit meiner Schwester einen so tiefsinnigen, glücklichen Moment verlebe – hier in der Neugeborenen-Intensivstation, während wir noch um unsere Mutter bangen müssen?
Aber unser Bruder – Samuel – hat gerade einen Lichtschein in unser
Leben gebracht, der alles leichter macht. Er hat uns Schwestern zusammengeführt. Er hat unsere Familie bereichert.
Sophie hatte recht, als sie Milo sagte, dass es keine Zufälle gibt.
Alles hat eine tiefere Bedeutung, auch wenn der Vater im Himmel sie
immer vor uns kennt und wir sie manchmal nicht richtig erfassen
können.
Doch hier, jetzt gerade, in diesem kleinen Augenblick, als ein
großer Geist zur Welt gekommen ist, scheint alles irgendwie einen
Sinn zu ergeben.
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459
36
I
ch störe mich nicht an Familientreffen und -feiern, wäre da nicht
immer dieses Gewusel überall, das mich ganz kirre macht, und
natürlich die Verpflichtung, mit jedem ein ausführliches Gespräch
über das Privatleben zu führen, was bei mir in der Regel nur aus einer Frage besteht: »Und? Wie läuft es in der Schule?« Jetzt, wo ich
sechzehn bin, wird beim nächsten Familientreffen im Spätsommer
noch eine weitere dazukommen: »Und? Hast du schon einen
Freund?« Ich habe meine Verwandtschaft gern, aber das treibt mich
dann doch schnell zur Weißglut. Hinzu kommt noch, dass es niemanden in meinem Alter gibt (außer einem Cousin, mit dem ich
noch weniger gemeinsam habe als mit meiner Schwester). Sophie ist
nur zwei Monate auseinander mit einer Cousine, und Justus hat das
große Los gezogen – beide Onkel und auch meine Tante haben Kinder in seinem Alter, und alle sind mindestens genauso hyperaktiv.
Dementsprechend laut ist der Lärmpegel.
Heute warte ich nicht in der Bibliothek, bis auch Milo mit dem
Unterricht fertig ist, sondern fahre so schnell wie möglich nach Hause. Ich habe regelmäßig auf mein Handy gesehen, aber keine Nachricht erhalten. Auf wundersame Weise gelang es mir, wenigstens in
Englisch aufzupassen, wo wir den Stoff für die Arbeit morgen Vormittag durchgegangen sind – zum weiteren Lernen werde ich heute
wohl eher nicht kommen. Und was erwartet mich daheim? Gewusel.
Oma und Opa kümmern sich im Wohnzimmer um Justus, Tante
Mini aus der Schweiz steht in der Küche und kocht, Onkel Boris
(Mamas älterer Bruder) und seine Frau Sarah sind aus Berlin ohne
Kinder gekommen und dort ebenfalls zugange. Onkel Ino (Mamas
jüngerer Bruder) und seine Frau Mirjam, die in Hamburg wohnen,
haben den Jüngsten dabei, sind aber, wie ich erfahre, ins Krankenhaus gefahren, wo sich auch Papa noch befindet, und haben Kian in
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der Obhut der Großeltern zurückgelassen.
Kaum habe ich mich bemerkbar gemacht, werde ich von allen Seiten umringt, und mein erster Gedanke ist ungewöhnlich: Ich wünschte, dies wäre ein richtiges Familientreffen. Die Atmosphäre ist nämlich
schrecklich bedrückend, jedes Lächeln aufgezwungen, jede Berührung vorsichtig und voller Beileid. Ich möchte mich durch das Gedränge kämpfen, nach oben flüchten und mich in meinem Zimmer
einschließen, als Luisa auf mich zustürmt, die ich in dem Tohuwabohu gar nicht gesehen habe. Ich weiß nicht, wer sie angerufen und informiert hat, denn ich war dazu noch gar nicht gekommen, aber ich
pfeife auf eine Erklärung und rette mich in ihre Arme.
Auch wenn ich den anderen gegenüber nicht unhöflich sein
möchte, ziehen wir uns dennoch nach oben zurück. Tante Mini versorgt uns mit Schweizer Schoki und bringt uns etwas zu trinken. Mir
ist gar nicht nach reden zumute, aber kaum sitzen Luisa und ich auf
meinem Bett, sprudelt alles aus mir heraus. Der Streit mit Sophie, die
Fahrt ins Krankenhaus, die anstrengende Nacht und wie Milo mein
Gebet zu Ende gesprochen hat, die Versöhnung mit meiner Schwester am Bett unseres neugeborenen Bruders, die Ungewissheit, ob
Mama genesen wird. »Bin ich reif für die Klapse?«, frage ich.
»Das hättest du wohl gern – einfach wahnsinnig werden. Du bist
Jane, nicht Bertha«, sagt Luisa mit Nachdruck. »Wann geht das denn
endlich in deinen Schädel rein?« Ein Moment des Schweigens folgt,
ehe sie abrupt das Thema wechselt. »Samuel, hmm?« Sie sinniert
kurz über den Namen, den Sophie und ich für unseren Bruder ausgesucht haben. »Gefällt mir. Was sagen denn die anderen zu dem
Vorschlag?«
Ich denke zurück an heute Morgen und wie geisterfüllt Sophie
und ich ins Krankenzimmer unserer Mutter zurückgekehrt sind und
Papa und Justus von der Blitzidee berichtet haben. Papa hat mit Tränen in den Augen genickt, wobei er so müde und labil war, dass wir
vermutlich irgendeinen Schwachsinnsnamen hätten vorbringen können und trotzdem sein Okay erhalten hätten. Die größere Herausfor-
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derung bestand ja ohnehin immer darin, Justus auf unsere Seite zu
bekommen, der eine völlig andere Vorstellung davon hatte, wie unser Bruder heißen soll, und trotz der zahlreichen Vetos, die auf seine
schier endlosen Listen aus allen Trickfilm-, Superheldencomic- und
Anime-Sparten folgten, gab er sich nie geschlagen. Vielleicht bestand
unser Vorteil am heutigen Tage wie auch bei Papa darin, dass Justus
angeschlagen und mit den Nerven am Ende war. Mit großen Augen
sah er uns an und meinte: »Einverstanden.« Unterschwellig schien er
sagen zu wollen: »Aber nur unter der Bedingung, dass Mama wieder
gesund wird!« Wir schlossen den nicht ausgesprochenen Deal mit einer Familienumarmung. Dass Mama der Name gefallen würde –
nein, wird –, daran zweifelt keiner.
Onkel Boris fährt ins Krankenhaus und schafft es aus unerklärlichen
Gründen, Papa zur Heimkehr zu bewegen. Sophie und ich nehmen
ihn, Onkel Ino und Tante Mirjam liebevoll in Empfang und schicken
als Erstes Papa unter die Dusche. »Wir lieben dich, aber du stinkst!«,
raunt Sophie ihm ehrlich zu, »und wenn Mama aufwacht, soll sie
nicht sofort wieder das Bewusstsein verlieren!« Ich will sie ausschimpfen, darüber keine Witze zu machen, aber Papa bringt eine
Art Grunzen hervor, das einem leichten Lachen ähnelt, und daher
verübele ich ihr den Kommentar nicht (und wo sie recht hat, hat sie
recht).
In der Zwischenzeit ziehen wir den Esstisch aus und decken ihn.
Erst als Justus nach Milo fragt, fällt mir auf, dass er noch gar nicht
heimgekommen ist. Ich will ihn anrufen und fragen, wo er bleibt, als
ich sehe, dass er mir vorhin eine SMS geschrieben und mir darin mitgeteilt hat, erst später zurückzukommen. Ob er sich sträubt, der ganzen Sippschaft zu begegnen? Dafür hätte ich vollstes Verständnis.
Luisa verabschiedet sich vor dem Essen. Ich verspreche ihr, sie
auf dem Laufenden zu halten und lasse die Haustür in dem Augenblick ins Schloss fallen, als Papa die Treppe nach unten kommt. Die
Dusche und die frischen Klamotten lassen ihn gleich ein wenig er-
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holter erscheinen. Trotzdem quält er sich mehr oder weniger erst
dann an den Esstisch, nachdem seine Schwester ihn energisch darauf
hinweist, sie wolle nicht umsonst gekocht haben; Papa würde sich
nämlich am liebsten gleich wieder aus dem Staub machen und ins
Krankenhaus fahren. Auch Sophie und ich legen sofort Protest ein.
»Du isst und dann legst du dich hin«, sagt Sophie streng. Ich glaube,
dass Papa sich nur darauf einlässt, weil er (wie auch ich) plötzlich
viel von Mama in ihr sieht, die genauso reagieren würde. »Die Autofahrt dauert fünf Minuten«, argumentiert meine Schwester noch weiter, obwohl er schon eingewilligt hat. »Du bist im Handumdrehen
dort. Aber du kannst dich jetzt nicht selbst kaputtmachen. Wir brauchen dich, Papa.«
Sophies Worte rühren ihn sichtlich, trotzdem ist die Stille, die
daraufhin folgt, eher unangenehm. »Und wer ist der ominöse Hausgast, den ihr bei euch aufgenommen habt?«, wirft Opa daher ein.
»Wo ist Milo überhaupt?«, fällt nun auch Papa auf.
»Er kommt heute später nach Hause«, erkläre ich. »Würde ich
auch, wenn ich wüsste, dass ein Wolfsrudel auf mich wartet, um
mich einzukreisen und dann zu zerfleischen«, füge ich hinzu.
»So ein Quatsch«, entgegnet Sophie. »Milo würde alle im
Handumdrehen für sich gewinnen, so wie ihm das bei uns auch gelungen ist.« Sie wendet sich Oma und Opa zu. »Er ist ein Schulfreund von Molly, und weil es bei ihm daheim ziemlich geknallt hat,
helfen wir ein bisschen aus. Wobei man sagen sollte, dass er eher uns
hilft, so viel, wie er hier tut. Ihr werdet ihn sehr gern haben.«
»So so, ein Schulfreund?«, stichelt Onkel Ino. Genau aus diesem
Grund hasse ich solche Zusammenkünfte.
Tante Mirjam eilt mir glücklicherweise sofort zur Hilfe und verpasst ihm mit dem Ellenbogen einen Seitenhieb, woraufhin der kleine Kian, der neben ihr im Hochstuhl sitzt und das ganze Gesicht voller Gemüsebrei hat, freudig quiekst. »Das ist immer die falsche
Frage!«, tadelt sie ihn und zwinkert mir dann zu.
Ich bin wirklich nicht in Stimmung, auf Milos dramatische Ge-
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schichte einzugehen – einmal abgesehen davon, dass meine Verwandtschaft das einen feuchten Kehricht angeht. Ich glaube jedoch
kaum, dass es mir gelingen wird, einen erneuten Themenwechsel
herbeizubeschwören.
»Er ist ein besonderer Junge«, bemerkt Papa. »Sophie hat völlig
recht, wir profitieren sehr von ihm.«
»Aber getauft ist er noch nicht?«, schneidet Onkel Ino das nächste
schwierige Thema an. Ich weiß ja, dass er lustig sein und die Stimmung auflockern will, aber leider spielt er gerade den berühmt-berüchtigten Elefanten im Porzellanladen.
»Er hat gestern gebetet«, erzählt Sophie und hält sich sogleich ein
wenig erschrocken die Hand vor den Mund. »Es tut mir leid, Molly,
das hätte ich wahrscheinlich nicht erzählen sollen. Ich …« Sie wird
rot. »Es war halt ein besonderes Erlebnis.«
Nachdem wir uns gerade erst so gut ausgesöhnt haben, sehe ich
darüber hinweg. Und es stimmt ja – es war besonders. »Wir zwängen
ihm nichts auf«, sage ich. »Natürlich wäre es toll, wenn er ein Zeugnis erlangt, aber falls nicht, ist das auch in Ordnung. Es ist halt nicht
so einfach. Nicht jeder betet und hat gleich eine Vision wie Joseph
Smith.«
»Nein, das zeichnet Joseph Smith wohl auch aus«, meint Papa.
»Aber das ist das Schöne am Evangelium: Wir brauchen nicht unbedingt die große Säule aus Licht, die aus dem Himmel auf uns herabfällt – oft sind es die kleinen Säulen aus Licht, die uns nach und nach
den Weg erleuchten und uns ein Zeugnis schenken. Wofür auch immer sich Milo im Leben entscheiden wird, vielleicht bilden wir für
ihn eine kleine Säule aus Licht, die ihm einen Stück des Weges erhellt.«
Welch schöner Vergleich! Sogleich kommt mir ein Bild in den
Sinn, wie sich Milo wie einst Joseph in einem Wald niederkniet und
aus verschiedenen Richtungen kleine Lichtsäulen emporsprießen.
Ehe sich jemand dazu äußern kann, klingelt Papas Mobiltelefon.
Das Handy-Verbot am Tisch ist heute selbstverständlich aufgehoben,
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und unverzüglich ist es so, als wäre die Zeit stillgestanden. Niemand
bewegt sich, und als Papa rangeht und sich mit zitternder Stimme
meldet, setzt mein Herz kurz aus. Nur Sekunden später stößt er
einen großen Laut der Erleichterung aus, der dazu führt, dass wir
alle aufatmen und vor Freude aufgelöst sind.
»Danke, Boris«, sagt er ein paar Mal, und dann: »Ich mache mich
sofort auf den Weg.« Er legt auf, und eigentlich braucht er gar nichts
auszusprechen, tut es jedoch trotzdem: »Sie kommt zu sich.«
Außer Papa und uns Kindern kommen nur Oma und Opa mit, damit
es für Mama nicht zu viel auf einmal wird. Wir begegnen Onkel Boris und Tante Sarah im Gang, die sich auf den Weg zurück zum Haus
machen, und erlauben uns, sie vor Freude kurz zu drücken, ehe wir
weiter zum Krankenzimmer laufen. Dr. Hartle kommt gerade heraus
und begrüßt uns. Da Mama, berichtet sie, buchstäblich erst vor zehn
Minuten nach fast vierundzwanzig Stunden Schlaf aufgewacht sei
und einen doch recht dramatischen Eingriff samt Folge-OP bewältigen müsse, sei sie sehr geschwächt und noch benommen. Sie bittet
uns (als wäre das nötig), behutsam und leise zu sein und sie nicht zu
überanstrengen.
»Können Sie bitte unseren Sohn holen?«, fragt Papa. »Sie hat ihn
ja noch gar nicht gesehen.«
»Die Schwester ist schon unterwegs«, versichert die Ärztin ihm
freundlich und zieht sich dann zurück.
Nacheinander betreten wir langsam das Zimmer. Mamas Augen
sind halb geöffnet, sie lächelt matt und versucht, ihre Hand nach uns
auszustrecken, was nicht so richtig gelingen will. Papa eilt an ihre
Seite. Vorsichtig, als wäre sie das Neugeborene, streicht er ihr über
den Kopf und gibt ihr einen sachten Kuss auf die Stirn. Einen kleinen
Augenblick verharrt er in dieser Position, während ihm eine Träne
der Erleichterung über die Wange kullert.
Dr. Hartle hat ihr zwar erzählt, wo sie ist und weshalb sie hier ist,
weil sie nach dem Aufwachen offensichtlich sehr verwirrt und des-
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orientiert war, aber auch Papa erläutert ihr kurz – wenn auch in äußerst abgeschwächter Form, damit sie sich nicht aufregt –, was passiert ist.
»Der Kleine ist da?«, fragt sie ungläubig. »Ich kann nicht glauben,
dass ich nichts davon mitbekommen habe …« Sie schaut Sophie, Justus und mich zweifelnd an. »Hätte mich nicht gestört, wenn ich bei
euch dreien ähnlich wenig gespürt hätte …« Sie möchte über ihren
eigenen Scherz lachen, verzieht jedoch schmerzerfüllt das Gesicht
und fasst sich auf den Bauch. »Keine Witze mehr«, ächzt sie.
»Schhh«, beruhigt Papa sie. »Ruh dich einfach aus. Alles wird gut
und gleich kommt –«
Er braucht den Satz gar nicht zu Ende zu sprechen, denn die Tür
geht auf und die Krankenschwester fährt den Inkubator herein.
Mama hält beide Hände ans Gesicht und muss wohl wie wir alle das
Gefühlschaos verarbeiten, das auf der einen Seite aus purer Freude
über den Nachwuchs besteht, auf der anderen Seite aus dem Schock,
ein so winziges Wesen zu sehen, das auf die Hilfe so riesiger Maschinen angewiesen ist.
Sehr vorsichtig hilft die Schwester, Mama unseren Bruder trotz
der vielen Schläuche auf den Arm zu legen. Kaum hält sie ihn, beginnt sie zu zittern, weil sie weinen muss und noch schwach ist. »Er
wiegt ja nichts«, flüstert sie. »Er ist so klein …«
»Er schlägt sich wacker«, sagt die Schwester. »Es sieht soweit alles
gut aus.« Sie lächelt uns zu. »Ich muss leider darauf bestehen, dass
außer Ihnen und Ihrem Mann ihn vorerst niemand hält. Es wäre zu
viel Aufregung für seinen Körper, und er braucht alle Ruhe, die er
bekommen kann.« Sie geht wieder zur Tür. »Ich muss ihn in ein paar
Minuten wieder holen, aber machen Sie sich keine Sorgen, Frau
Bach. Wir werden ihn so oft es geht zu Ihnen bringen. Alles Weitere
wird Dr. Hartle mit Ihnen besprechen.«
Kaum hat die Krankenschwester das Zimmer verlassen, muss
sich Mama zusammenreißen, um nicht erneut laut loszuweinen.
Auch wenn alles gut aussieht und das, was sie eben gehört hat, ihr
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(und uns anderen auch) Mut macht, ist die Situation trotzdem mehr
als belastend.
Je mehr Mama ihren Jüngsten bestaunt, desto ruhiger wird sie jedoch. Selig schläft er auf ihrem Arm, und ich glaube, dass es uns allen kurz gelingt, das leise Piepen der Monitore und den Kabelsalat
um seinen Körper auszublenden und nur das kleine, reine Geschöpf
zu sehen, das sich seinen Weg auf die Erde erkämpft hat.
»Wir haben ihn Samuel genannt«, unterbricht Justus die Stille
plötzlich naseweis. »Es steht 4 gegen 1, also finde dich lieber schnell
damit ab.«
»6 gegen 1«, mischt sich Opa ein. »Ist zwar nicht unsere Entscheidung, aber Oma und mir gefällt der Name ebenfalls gut.« Er zwinkert mir zu, weil er weiß, dass ich die Idee hatte.
»Samuel«, wiederholt Mama lächelnd, ohne aufzuschauen. »Ich
glaube, damit kann ich mich anfreunden.«
Die bloße Tatsache, wie harmonisch und glücklich sie und Papa
jetzt gerade trotz der dürftigen Umstände aussehen, rührt erneut an
den nagenden Schuldgefühlen in mir. Ich will die friedliche Atmosphäre nicht stören, aber ich kann mich auch nicht länger zurückhalten. »Es tut mir so leid, Mama«, bricht es aus mir hervor, auch wenn
ich mich bemühe, die Stimme nicht zu erheben. »Ich habe mich gestern unmöglich verhalten, und diese ganze Situation jetzt –«
»Molly, bitte mach dir keine Vorwürfe«, unterbricht mich Mama.
»Weißt du, was Dr. Hartle vorhin als Erstes zu mir gesagt hat, als ich
einigermaßen zu mir gekommen war? Dass sie froh ist, dass ich in
der Gegenwart anderer zusammengeklappt bin. Sie meint, es wäre
schon vorgekommen, dass werdende Mütter nachts völlig unbemerkt eine Fehlgeburt hatten und in meinem Zustand wäre ich
wahrscheinlich sogar verblutet. Natürlich möchte ich nicht, dass du
mit Sophie streitest, aber bitte, Molly – es gibt nichts, wofür du dir irgendeine Schuld einreden müsstest!«
»Außerdem haben wir uns doch ausgesöhnt …« Sophie steht an
meiner Seite. »War übrigens Mollys Idee mit dem Namen.«
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Ich sollte mich besser fühlen, weil meine Familie mir so viel Liebe
und Geduld entgegenbringt, aber das allein ruft ja gleich neue
Schuldgefühle hervor. Vielleicht bin ich auch einfach ein hoffnungsloser Fall. »Danke«, sage ich lautlos und lasse mich von meiner
Schwester in den Arm nehmen.
Es können keine fünf Minuten vergangen sein, seitdem die Krankenschwester unseren Bruder hergebracht hat, bis sie mit Dr. Hartle
an der Seite zurückkehrt. Sie ist nach wie vor äußerst freundlich und
geduldig, teilt uns jedoch mit, dass es besser wäre, wenn wir (bis auf
Papa) nun gehen. »Wir müssen besprechen, wie es nun weitergeht«,
erklärt sie, »und es ist wirklich wichtig, dass sowohl eure Mutter als
auch euer Bruder viel Ruhe haben.« Dafür haben wir natürlich Verständnis, auch wenn ich mich nur schwer von ihnen trennen kann.
Nacheinander umarmen wir Mama behutsam, ehe wir mit Oma
und Opa die Krankenstation verlassen und uns auf den Weg nach
Hause machen.
Die kurze Autofahrt verläuft schweigend, aber auch Oma kann es
nicht lassen, mich zu drücken, nachdem wir ausgestiegen sind, und
mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Du hast einen schönen Namen ausgesucht, Molly«, sagt sie. »Du bist eine tolle Schwester und
Tochter!«
»Nur, weil ihr Mama so gut hinbekommen hat«, entgegne ich.
»Immerhin ein Kind, das uns geglückt ist«, scherzt Opa, als Onkel
Boris die Tür öffnet, der die Aussage sofort auf sich bezieht und sich
verwundert bedankt, woraufhin wir übrigen lachen müssen.
Die Lage nach dem Krankenhausbesuch gleicht schon eher einem
traditionellen Familientreffen – alle sind entspannter als vorhin und
auch gleich ein wenig lauter. Milo ist, stelle ich fest, immer noch
nicht zurück.
Da wir ja erst am späten Nachmittag gegessen haben, erübrigt
sich ein gemeinsames Abendessen, und wer Hunger hat, bedient sich
an Brot und Aufschnitt in der Küche. Mir ist ganz und gar nicht nach
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Essen zumute, und gerade will ich nach oben, um Luisa anzurufen
und ihr den aktuellen Stand der Dinge durchzugeben, als Papa nach
Hause kommt. Es geht ihm gut, auch wenn ich keinen Zweifel daran
habe, dass das Krankenhauspersonal ihn nötigen musste, die Seite
seiner Frau zu verlassen. »Es lässt sich schwer voraussagen, wie lange das alles dauern wird«, berichtet er. »Aber Dr. Hartle meint, wir
müssen uns wohl darauf einstellen, dass Samuel einige Wochen –
vielleicht sogar Monate im Krankenhaus verbringen muss, ehe wir
ihn heimbringen können, je nachdem wie er sich entwickelt und an
Gewicht und Größe zunimmt. Zumindest sind die Werte alle im grünen Bereich.«
»Und Mama?«, fragt Justus.
»Bleibt auch erst einmal eine Weile. Die Eingriffe waren schwierig, sind aber glimpflich verlaufen, und weitere Operationen sind,
wie es aussieht, nicht nötig. Außerdem …« Papa zögert. »Also Katha
darf Besucher empfangen, Samuel aber nicht – außer Großeltern und
in diesem Fall auch Geschwister, weil alle schon alt genug sind. Man
sollte es kaum meinen, aber die Wahrnehmung ist auch bei einem
Neugeborenen schon stark genug, dass ihn das aus der nötigen Ruhe
bringen würde, wenn zu viele Leute aufkreuzen.«
»Wir bekommen ihn also gar nicht zu Gesicht?«, hakt Tante Sarah
traurig nach.
»Ich habe natürlich Fotos gemacht … aber in diesem Fall müssen
wir uns einfach an die Regeln halten.«
Onkel Ino klopft ihm auf die Schulter. »Wir wissen ja, wie gern
du ihn wie Simba aus ›König der Löwen‹ der ganzen Welt präsentieren würdest«, sagt er. »Aber schön, dass wir zu Katha dürfen.«
Papa reicht sein Handy mit den paar Aufnahmen herum, die er
gemacht hat, und meine Tanten und Onkel erfreuen sich an den Bildern, auch wenn sie den Kleinen momentan noch nicht persönlich
bewundern dürfen.
Schließlich erfolgt der große Aufbruch – meine beiden Onkel bleiben mit ihren Familien noch bis morgen und übernachten bei Oma
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und Opa, die genügend Platz für alle haben. Tante Mini hingegen
schläft in Sophies Zimmer, was heißt, dass Milo zu Justus umsiedeln
muss. Unser Gast kommt auch prompt nach Hause, als sich die Familie langsam auf den Weg macht, und reißt bei der Flut an Leuten,
die ihm aus dem Haus entgegenkommen, die Augen auf.
»Im Kühlschrank steht ein Teller mit ein paar Schnitten«, teile ich
ihm mit, nachdem wir uns den Weg durch den Flur gekämpft haben
und er sich jedem vorstellen musste. »Ich wünschte, ich könnte die
Lorbeeren dafür einheimsen, aber meine Tante ist mir zuvorgekommen.«
»Ich bin mir sicher, ein Wurstbrot aus deiner Hand wäre genauso
delikat«, witzelt Milo.
Obwohl im Haus ja gleich Stille einkehren sollte, schnappt sich
Milo den Teller und flieht mit mir nach oben auf mein Zimmer, während Papa, meine Geschwister und Tante Mini die Verwandtschaft
verabschieden. Auch wenn ich ihm schon geschrieben habe, dass alles einigermaßen gut aussieht, möchte er alle Einzelheiten erfahren
und hört mir aufmerksam zu, während wir auf meinem Bett hocken.
Ich schildere meine beiden Besuche im Krankenhaus und wie eine
nervenaufreibende Situation mal wieder einen Weg ins Hoffnungsvolle gefunden hat.
Milo ist ruhig und wirkt nachdenklich, als ich fertig bin. Mir fällt
auf, dass er von den vier Scheiben Brot gerade mal eine gegessen hat.
»Milo … Sophie und ich waren gestern wirklich sehr berührt, als du
das Gebet gesprochen hast«, sage ich ernsthaft. »Ich hoffe, du hattest
nicht das Gefühl, das tun zu müssen oder –«
»Nein«, lenkt er gleich ein. »Molly, nach allem, was geschehen ist,
seitdem ich dich kennengelernt habe – das Mobbing, Lizzys Selbstmordversuch und nun die Geburt deines Bruders –, überrascht ihr
mich trotzdem immer wieder damit, dass ihr an eurem Glauben festhaltet und ihn nicht in Frage stellt. Wenn du wüsstest, wie oft ich in
meiner Kindheit gebetet und gefleht habe, dass mein Vater mich
doch liebhaben kann … ich wollte daran glauben, dass einmal alles
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gut wird … stattdessen habe ich meinen Glauben verloren, sollte er
jemals existiert haben.«
»Glaube heißt nicht, dass alles gut wird«, sage ich. »Glaube heißt
nicht, dass andere Menschen aufhören, Entscheidungen zu treffen,
die einem wehtun. Glaube heißt, Gott an die erste Stelle zu setzen
und darauf zu vertrauen, dass letzten Endes alles, was wir erleben,
zu unserem Fortschritt beiträgt. Hast du denn gestern etwas gespürt,
als du gebetet hast?«
»Ja … aber es war auch eine hochemotionale Situation, wer hätte
da nichts verspürt?« Sein innerer Kampf mit sich selbst treibt ihm
Tränen in die Augen. »Als ihr mir ein wenig mehr über eure Kirche
erzählt habt und diesen Joseph Smith, dachte ich, wenn der das
kann, kann ich das auch. Und ich habe es versucht, Molly, ich habe
versucht, zu beten – wenn auch nicht im Wald –, aber irgendwie ist
nicht so richtig etwas passiert. Oder ich hatte falsche Erwartungen.«
Ich muss an das Gespräch beim Essen denken und das schöne
Bild mit den kleinen Säulen aus Licht, das Papa in meinem Geiste gemalt hat. »Meinst du denn, ich hatte schon mal eine Vision?«, frage
ich. »Meinst du, ich habe Gott und Jesus Christus mit eigenen Augen
gesehen?«
Er runzelt die Stirn. »Was genau hattest du denn?«, stellt er die
Gegenfrage. »Wann und weshalb hast du dich entschieden, an Gott
zu glauben?«
»Nun ja, in einer gläubigen Familie groß zu werden, hat mich natürlich geprägt«, antworte ich. »Meine Eltern haben mir das Beten
beigebracht, als ich klein war. Ich bin jeden Sonntag mit zur Kirche
gekommen. Vor ein paar Jahren habe ich gemerkt, dass ich bei alldem eigene Empfindungen habe – dass ich nicht nur vorbehaltlos
annehme, was meine Eltern sagen, sondern dass ich wirklich selbst
etwas spüre, wenn ich mich mit dem Evangelium auseinandersetze.
Dass ich Antworten auf eigene Fragen bekomme, wenn ich in den
heiligen Schriften lese. Dass ich ein friedliches Gefühl im Herzen
habe, wenn ich bete. Dass ich plötzlich Kraft empfange, obwohl ich
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geistig matt bin. Dass ich mich getröstet und verstanden fühle, wenn
ich traurig bin.« Ich beschließe, Papas Vergleich zu klauen. »Eine
phänomenale, überirdische Erscheinung wie Joseph Smith hatte ich
nie. Es war nie eine große Säule aus Licht, die mir die Antwort auf
die Fragen des Lebens präsentiert hat, sondern schrittweise kam hier
und da neue Erkenntnis, und so hat sich das Licht in meinem Leben
über einen längeren Zeitraum vermehrt, ohne dass ich jetzt einen bestimmten Punkt benennen könnte, an dem ich erkannt habe, dass es
Gott wirklich gibt. Aber Milo, wie ich dir schon einmal erklärt habe,
musst du das für dich selbst herausfinden. Wenn du Fragen hast,
sind wir alle für dich da, aber ein eigenes Zeugnis von Gott erlangst
du nur, wenn du das auch willst.«
Milo schaut bedrückt zur Seite. »Ich will, Molly, nur …« Er ballt
die Hände zu Fäusten. »Wenn es einen Gott gibt, finde ich es ein
bisschen unfair, wie er mich behandelt. Was habe ich denn getan,
dass mein Leben so kompliziert und schwierig ist?«
»Gar nichts«, sage ich sofort, »aber siehst du denn nicht, was deine Umstände in dir bewirken, Milo? Du bist so ein guter, aufrichtiger
Mensch – und ich bin fest überzeugt, dass das damit zu tun hat, dass
dein Leben dich immer auf dem Boden der Tatsachen gehalten hat!
Wäre alles immer glatt gelaufen, wärst du jetzt bestimmt ein arroganter Vollidiot und wir wären nie und nimmer Freunde
geworden!« Ich senke den Blick. »Nicht dass du meine Freundschaft
nötig hättest.«
Er lacht, und seine Hände finden ihren Weg zu meinen. »Mehr
denn je, Molly«, betont er, »brauche ich deine Freundschaft.« Auf
einmal sieht er wieder traurig aus. »Zumal ich heute erfahren habe,
dass die … Neuigkeiten über mich ihren Weg in meinen Freundeskreis gefunden haben. Rik, Chris und Timon haben versucht, sich
cool zu verhalten, aber ich habe die Distanz deutlich bemerkt. Ich
weiß nicht, wie es weitergehen soll … allein das blöde Duschen nach
dem Handballtraining wird für Probleme sorgen.« Er schiebt den
Teller zur Seite und rückt ein wenig näher an mich heran. »Und
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dann bin ich nach der Schule nach Bockenheim gefahren«, fährt er
fort. »Ich musste Daniel endlich wiedersehen und habe ihm förmlich
aufgelauert. Zwei Stunden habe ich wie so ein kranker Stalker im
Gebüsch gehockt, bis er heimgekommen ist und ich ihn an der Straßenecke abfangen konnte, von wo uns aus dem Haus niemand hätte
sehen können.« Innere Qual zeichnet sich in seinem Gesicht ab. »Ich
weiß gar nicht, was ich mir erhofft habe … Aber er hat mir ziemlich
klipp und klar zu verstehen gegeben, dass ihm die ganze Sache mit
mir den Stress mit seinen Eltern nicht wert ist und sie ihm den ›Ausrutscher‹ auch schon verziehen haben. Er möchte mich nicht wiedersehen. Und dabei dachte ich, dass er … mich wirklich gern hat.«
»Ach Milo …« Deshalb ist er heute also so spät heimgekommen.
»Ich will wirklich daran glauben, dass irgendwann alles gut für
mich wird und ich erkenne, welchen Sinn es hatte, aber momentan
kotzt mich die Situation eher an, um ehrlich zu sein. Und ich weiß,
dass ich euch nicht zur Last falle, aber gerade jetzt, wo euer Bruder
geboren ist, denke ich, dass ihr ganz andere Dinge im Kopf habt und
vermutlich darauf verzichten könntet, mich mitzuversorgen.«
»Gerade jetzt ist es mir wichtig, dass du nicht allein dastehst«, widerspreche ich ihm. »Und ob du es glaubst oder nicht, für mich ist es
sogar eine Bestätigung, wie gut es ist, dass du bei uns wohnst und
wir für dich da sein können! Oder hättest du eine bessere Lösung?«
Meine Frage war natürlich rhetorisch gemeint, um so mehr beunruhigt es mich, dass er sich von mir löst. »Ich habe mit Roman gesprochen«, sagt er. »Er wird nach Kassel ziehen und dort an die Uni
wechseln. Das Praktikum läuft super und er kann dort weiterjobben,
und die Uni bietet sogar bessere Schwerpunkte für seinen Studiengang.« Er atmet tief durch. »Er hat mir angeboten, zu ihm zu ziehen
und die Schule dort zu beenden … Und ich habe das Gefühl, dass ich
sein Angebot annehmen soll.«
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37
I
ch staune über mich selbst, wie ruhig ich bin. Bei einem Hitzkopf
wie mir sollte man erwarten, dass laute Proteste erschallen, Vorwürfe, Unverständnis, Gegenargumente, Zureden – nichts dergleichen geschieht. Stattdessen lasse ich Milos Worte auf mich einwirken
und versuche, die weittragenden Konsequenzen halbwegs zu erfassen, die auf mich, auf meine Familie und insbesondere auf ihn selbst
warten.
»Ich weiß, wie verrückt das klingt«, setzt er hinzu. »Ich hoffe nur,
dass du mir nicht böse bist oder denkst, ich würde dich verraten
oder wäre undankbar –«
»Milo …« Ich möchte etwas sagen und bekomme nicht einmal ein
vehementes Kopfschütteln wegen seiner unnötigen Sorgen zustande.
Meine Gedankenstarre hat sich auf meinen ganzen Körper übertragen, und ich möchte nichts Falsches sagen, weiß aber auch nicht, was
richtig ist.
War alles umsonst? Das Theaterstück, unsere Freundschaft – war das
alles nur eine schöne Komponente in schwierigen Monaten, die jetzt abrupt
ein Ende nehmen muss?
Milo zieht seine Hände zurück, dreht sich um neunzig Grad und
setzt sich an die Bettkante. Kurz starrt er an die Zimmerdecke, ehe er
die Augen zusammenkneift. »Wenn ich meine Geschichte selbst
schreiben könnte, wäre vieles anders«, sagt er verhalten. »Mein Vater
würde mich vorbehaltlos lieben – oder ich wäre wie Roman und
müsste mir seine Liebe nicht einmal erkämpfen. Vielleicht würde ich
mich auch in eine ganz andere Familie setzen, in einer anderen Stadt
oder in einem anderen Land.« Er öffnet die Augen wieder, blickt jedoch immer noch geradeaus. »Aber du, Molly, würdest in jedem Fall
darin vorkommen. Was auch kommen mag, du bleibst eine Konstante in meinem Leben. Hast du das verstanden?«
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Ich nicke, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er es sieht.
»Ich kann nicht noch ein Jahr an dieser Schule zubringen, Molly.
Auch wenn sich das Gerede mit der Zeit legen mag, bin ich nicht bereit für den Stempel, den man mir verpassen wird. Und ich kann
nicht in Frankfurt wohnen bleiben, wenn ich weiß, dass meine eigenen Eltern nur einen kurzen Radweg entfernt von mir sind und ich
nicht bei ihnen sein kein, weil sie mit mir als Sohn überfordert sind.
Ich brauche einen Neuanfang. Ich muss diese Chance ergreifen.«
Ich rücke neben ihn und lehne meinen Kopf an seine Schulter.
Seine linke Hand fährt über meinen Rücken und verharrt auf der
Hüfte, was bei mir eine Gänsehaut verursacht. »Wehe, wir sehen uns
nicht regelmäßig«, bringe ich den ersten halbwegs vernünftigen Satz
seit fünf Minuten zustande.
»Versprochen.« Ich spüre einen zarten Kuss auf meinem Hinterkopf. »Und es sind ja noch ein paar Wochen. Das laufende Schuljahr
jetzt noch abzubrechen, wäre wirklich mehr als dämlich.«
Ich will nach keinem neuen Strohhalm greifen, aber nur eines
kommt mir in den Sinn: Dann habe ich ja ein paar Wochen Zeit, ihn zur
Vernunft zu bringen.
Ich biete Bengü an, ihr von der Geburt meines Bruders zu erzählen,
wenn sie mich während der Englischarbeit abschreiben lässt.
»Molly, es ist eine reine Grammatikarbeit! Einfacher geht es ehrlich nicht!«, will sie mich beruhigen und löst dabei das Gegenteil aus.
Bei Textaufgaben – besonders wenn kreatives Schreiben gefragt ist –
bügele ich meine sprachlichen Defizite immerhin durch meine kranken Phantasien aus, die mir Extrapunkte bescheren, aber bei einer
grammatikalischen Abfrage wird mir das wohl eher nicht gelingen.
Und wen interessiert es überhaupt, ob ich die if clauses korrekt gebrauche? Die Elders aus der Gemeinde können die garantiert selbst
nicht richtig verwenden, obwohl Englisch ihre Muttersprache ist.
»Du hast gut reden, Mädchen«, entgegne ich. »Die Lehrer schreiben doch unter deine Arbeiten schon eine 1, bevor sie dir die Testbo-
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gen aushändigen …«
»Schlecht geschlafen?« Bengü wirft mir über den oberen Rand ihrer Brille einen leicht genervten Blick zu und mir wird klar, dass sie
noch gar nicht im Bilde ist, wie beschwerlich das Wochenende war.
Dass es Zuwachs gab und die Geburt nicht einfach war, ist alles, was
ich erzählt habe. »Aber gut, wenn du mir keine Details erzählen
willst … bitteschön. Dann werde ich dir auch nicht berichten, dass
Lizzy am Donnerstag zur Probe erscheinen will und ab nächster Woche wieder in die Schule kommt!«
Ich falle aus allen Wolken. »Wie bitte? Das ist ja großartig!«
»Sie kommt heute nach Hause. Sie wird noch eine ganze Weile
Therapiesitzungen haben und zusätzlich einmal in der Woche mit
Frau Dr. Müller zusammenkommen – was ich dir übrigens auch ans
Herz legen würde –, aber sie ist bereit zur Rückkehr.«
Warum empfiehlt mir eigentlich jeder ein Treffen mit der Schulpsychologin? Als wäre mein Leben ein einziges Durcheinander mit
einem Trauma nach dem anderen … Okay, okay, ich werde sie in der
großen Pause aufsuchen.
»Fehlt also nur ein Ersatz für Blanche Ingram«, trällert Bengü
munter weiter, »und dann geht es endlich vollbesetzt weiter.«
Blanche Ingram ist nicht mehr das Problem, Bengü, kläre ich sie in
Gedanken auf. Mr. Rochester hat gerade seinen Darsteller verloren. Und
weil die Darstellerin der Jane mit keinem anderen Darsteller spielen möchte, ist das ganze Stück hinfällig. Frau Ömsen wird am Boden zerstört sein
und kann mich nachher gleich zu Frau Dr. Müller begleiten.
»Molly?«
Gut, vielleicht sollte ich wieder beginnen, meine Gedanken zu artikulieren. »Ich freue mich über Lizzy«, kann ich ehrlich sagen und
äußere den Rest nicht, zumal Milos Pläne erst einmal geheim bleiben
sollen, auch wenn ihm bewusst sein muss, dass er bald mit der
Schulleitung und auch mit Frau Ömsen sprechen sollte.
Ich lenke das Thema auf Samuel, was mir auch die Aufmerksamkeit ein paar anderer Mitschüler bringt, und entscheide mich für eine
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abgespeckte komalose-Mutter-Version, denn mein Leben stand auch
so in letzter Zeit mehr als genug im Mittelpunkt, und ich will nicht,
dass man mir noch Geltungsdrang nachsagt. Das Mädchen auf Klo
reicht mir schon.
»Dein Leben möchte ich haben«, staunt Marvin. »Bei dir wird’s ja
nie langweilig.«
»Ich begleite dich nachher gern auf die Toilette und knipse ein
paar Fotos«, rutscht es heraus, bevor ich mir der Zweideutigkeit meines scherzhaft gemeinten Angebots bewusst werde, aber mein Klassenkamerad lacht nur auf und die anderen stimmen ein.
Ich suche in der großen Pause natürlich nicht Frau Dr. Müller auf,
sondern sitze mit Bengü und Milo im sonnigen Innenhof und gehe
die Grammatikregeln der anstehenden Arbeit ein letztes Mal durch.
»Du machst doch alles richtig«, meint Milo irritiert, »verstehe
nicht, weshalb du solche unnötige Panik schiebst.«
»Molly und unnötige Panik schieben? NIE!«, ruft Bengü, woraufhin die beiden sich erdreisten und in Gelächter ausbrechen, was ich
nicht so ganz akzeptieren kann.
»Milo, hiiiiii!« Ein Junge aus der Elften läuft mit einem Freund an
uns vorbei, wirft Milo einen Kussmund zu, winkt albern und läuft
hinternwackelnd weiter, was seinen Kumpel zu dreckigem Lachen
anstiftet.
»Was hatte das denn zu bedeuten?«, fragt Bengü perplex. Das Getratsche, von dem Milo mir berichtet hat, scheint noch nicht zu ihr
durchgedrungen zu sein, und außer mit Luisa und meiner Familie
habe ich nie mit jemandem über Milos Situation gesprochen.
Ich bin überrascht, wie gleichgültig Milo mit den Schultern zuckt,
denn nach unserem Gespräch gestern bin ich davon ausgegangen,
dass ihm sein guter Ruf und seine Beliebtheit an der Schule nicht
völlig unwichtig sein können, wenn er es hier nun nicht mehr aushält. »Das hatte zu bedeuten, dass meine Zeiten als Schulliebling gezählt sind«, sagt Milo trocken. »Das ist eben der Preis, wenn man
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mal zu Vickis Gefolgschaft gezählt hat.«
Unangenehmes Schweigen.
»Das verstehe ich nicht«, sagt Bengü schließlich, »du hast dich
von Vicki offen losgesagt und dich mit deinen Freunden gegen sie
aufgelehnt – und alle fanden es toll! Von den Team-Molly-Shirts wird
jedenfalls immer noch gesprochen. Erst gestern meinte Patti, wenn
Mathe nicht interessanter wird, fängt sie an, Team-Rank-feuern-Shirts
zu tragen, und Nina Bertram aus der 10c hat letzte Woche –«
Mit einem leichten Schmunzeln unterbricht Milo sie, indem er
sich vorbeugt und Bengü doch tatsächlich in die Wange kneift. »Du
bist so ein kluges Mädchen«, sagt er, »mit Sicherheit kommst du
noch drauf!« Er wirft mir mein Englischbuch zu. »Es klingelt in einer
Minute. Viel Erfolg bei der Arbeit!« Und schon ist er verschwunden.
Bengü bleibt mit offenem Munde zurück. »Was hatte das denn zu
bedeuten?«, wiederholt sie genau den gleichen Satz von eben.
Genau kann ich ihr das gar nicht sagen – ich habe mit Milo nie
darüber gesprochen, wie viel er sich eigentlich daraus macht, der beliebteste Junge der Schule zu sein. Da er immer so einen bodenständigen Eindruck auf mich gemacht hat, bin ich davon ausgegangen,
dass er seinen Ruf ähnlich gelassen sieht, aber gemein gefoppt zu
werden, lässt niemanden kalt. Nur entgeht er seinen Problemen
wirklich, indem er ihnen buchstäblich davonläuft?
Es klingelt und Zeit für eine Erklärung bleibt nicht, weshalb ich
Bengü mit einem Achselzucken vertröste.
Entweder ist die Englischarbeit erstaunlich einfach oder ich setze sie
völlig in den Sand. Jedenfalls gebe ich fünf Minuten vor Ende der
Stunde ab und geselle mich vor dem Klassenzimmer zu Bengü, die
zwei Minuten vor mir fertig war. In der Pause sehen wir Milo nicht,
und ich frage mich, ob das mit der Episode von vorhin zu tun hat,
und Bengü geht das leider auch nicht mehr aus dem Kopf, dabei
wäre ich froh, das Thema nicht erneut anschneiden zu müssen.
»Was genau weiß ich denn nicht?«, fragt sie mehr sich selbst als
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mich. »Jedenfalls habe ich so meine Zweifel, ob er wirklich einen Unfall hatte …«
Unfall? Oh – stimmt, hatte ich ganz vergessen. Die offizielle Version seines zerschundenen Gesichts, wobei nur noch Überreste der
Misshandlung zu sehen sind. Bengü weiß nicht einmal, dass er bei
uns wohnt, obwohl wir Lizzy davon bei dem letzten Krankenhausbesuch erzählt haben. Mich packt das schlechte Gewissen, denn auch
Bengü stand mir während der ganzen Vicki-Sache loyal zur Seite,
und es ist unfair, sie im Dunkeln tappen zu lassen.
»Er hatte gar keinen Unfall.« Ich möchte mich nicht an zu langwierigen Einzelheiten aufhalten und erzähle ihr daher eher kurz und
bündig, was los ist, womit auch die kleine Mobbing-Attacke auf Milo
aus der letzten Pause geklärt wäre. »Es wäre nett, wenn du das alles
für dich behältst«, bitte ich sie in Bezug auf Milos familiäre Situation.
»Es reicht fürs Erste, dass er damit leben muss, das Herz hunderter
Mädchen gebrochen zu haben.«
»Ach Molly …« Auch von Bengü bekomme ich den Mitleidsblick,
der mir nun schon ein paar Mal zugeworfen wurde: Ich-hätte-es-dirso-gegönnt-wenn-es-mit-euch-geklappt-hätte! »Na, immerhin kannst du
dich als Jane mit ihm austoben«, fügt sie dann tröstend hinzu, unwissend, dass dies einen neuen faden Beigeschmack in mir auslöst,
von dem ich ihr wiederum noch nichts sagen kann.
Ich fahre nach der Schule direkt ins Krankenhaus, wo ich gerade
noch Onkel Boris und Tante Sarah erwische, die sich gleich auf den
Heimweg machen wollen; Onkel Ino und Tante Mirjam sind wohl
schon wieder weg. Papa hat sich diese und nächste Woche frei genommen, Tante Mini besteht jedoch darauf, noch ein paar Tage bei
uns zu bleiben und ihm unter die Arme zu greifen, was ich ihr vor
allem deshalb nicht verübele, weil sie den Haushalt komplett alleine
schmeißt und ich mich um sämtliche Aufgaben drücken kann.
Am Mittwochabend wirkt Milo beim Abendessen niedergeschlagen. Zuerst nehme ich an, es liege daran, dass Tante Mini so
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ausufernd über ihre Erkältung lamentiert, aber als wir hoch gehen,
sehe ich im Vorbeigehen, wie er sich seufzend auf die Matratze neben Justus’ Bett fallen lässt und an die Decke starrt. Mein Bruder sitzt
im Arbeitszimmer am PC und daddelt irgendeine Fußballsimulation,
und so geselle ich mich zu Milo und lehne die Tür an. »Das Training
heute war kein Highlight, scheint es?«, erkundige ich mich zaghaft.
»Ich war unkonzentriert, und als mich Frau Horn zu sich gepfiffen hat, habe ich gesagt, dass ich die Mannschaft verlasse … Kannst
dir ja ihre Begeisterung vorstellen.«
Ich muss schlucken. Er meint es ernst, durchfährt es mich.
»Würdest du denn in Kassel weiterspielen wollen?«, frage ich.
»Ich weiß ja, du hast damit wegen deinem Vater angefangen, aber …
du bist gut, Milo. Und es macht dir doch auch Spaß.«
»Mal schauen. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich werde auf jeden Fall nur noch das tun, was ich wirklich tun will.«
Der verbissene Ton, der mitschwingt, bereitet mir Sorgen. Er will
ausbrechen. Er will sich nichts mehr sagen lassen. Ich hoffe, er fällt keine
dummen Entscheidungen – und ich hoffe, sein Bruder ist verantwortungsbewusst und passt auf ihn auf. Dass er in ein paar Monaten
volljährig ist, macht ihn nicht automatisch erwachsen.
»Wie hat Frau Horn reagiert?«, frage ich.
»Wie wohl.« Milo grinst. »Sie hat mich zusammengeschissen, mir
den Wegzug verboten und mich dann an sich gedrückt, geheult und
mir versichert, dass mir keiner das Wasser reichen kann.« Er wird
wieder ernster. »Aber es ist besser so. Chris und Timon verhalten
sich distanziert und merkwürdig … In der Umkleide haben sie kaum
ein Wort mit mir gewechselt, und wie ich befürchtet habe, waren alle
sehr darauf bedacht, mir beim Umziehen den Rücken zuzuwenden,
als ob ich … ach, egal. Also es war echt keiner feindselig oder hat
dumme Sprüche geklopft, aber ich habe das Gefühl, dass da jetzt ein
komischer Keil zwischen uns steckt.«
»Meine Güte, Chris und Timon gehören zu deinen besten Freunden«, rufe ich. »Rede doch einfach mal mit ihnen! Vielleicht wollen
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sie nichts Falsches sagen? Sie wissen es bestimmt einfach nicht besser. Gib sie doch nicht so schnell auf, und Rik auch nicht. Sonst ist es
nicht nur die seltsame Situation, die einen Keil zwischen euch treibt,
sondern auch dein Stolz, mein Lieber!«
»Errm … Molly, versuchst du gerade, mich anzumotzen?« Er
nimmt mich nicht ernst und die Frage klingt obendrein provokant.
Es stimmt – es wäre eine neue Situation, denn bei allem, was wir beide gemeinsam durchgemacht haben, ist eines noch nie vorgekommen: dass wir gestritten haben.
Danach ist mir auch nicht zumute. Ich habe nur das Bedürfnis,
ihn ein wenig wachzurütteln und zum Bleiben zu überreden, während er mehr und mehr Gründe findet, Frankfurt zu verlassen. »Ich
kann doch verstehen, warum du zu deinem Bruder ziehen
möchtest«, beginne ich kompromissbereit. »Nur kannst du nicht anfangen, alles hier schlechtzureden – und ich glaube einfach nicht,
dass dich deine Freunde so hinterrücks liegen lassen würden. Außerdem …« Der Seufzer entfleucht mir lauter als gewollt. »Was ist mit
Jane Eyre, Milo? Ich will dir kein schlechtes Gewissen machen, aber
wer sollte dich jemals ersetzen können? Wenn du gehst, fällt folglich
das ganze Stück ins Wasser … und das ist unfair.« So, nun habe ich
es ausgesprochen. Wir sehen einander an, und ich greife nach einem
Kissen, das ich auf ihn schleudere. »Schau mich nicht mit diesem
Dackelblick an, dann kann ich dir nicht böse sein.«
Milo lacht kurz und hält dann das Kissen vor sich fest. »Du hast
recht. Es ist unfair. Das weiß ich. Und ich fühle mich elend deswegen. Mir fällt nur keine Lösung ein … Ich kann nach den Ferien nicht
zu jeder Probe nach Frankfurt kommen, das ist einfach nicht möglich, und ich kann nicht erwarten, dass Frau Ömsen und Frau Beinker das durchgehen lassen, wenn ich nicht erscheine. Das wiederum
wäre für alle anderen Beteiligten ungerecht.«
»Hast du denn überhaupt schon mit ihnen geredet?«
»Nein … das wollte ich morgen während der Probe. Aber da Lizzy ja wiederkommt und alle deswegen in Jubelschreie ausbrechen
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werden, vermiese ich ihnen die Laune noch mehr …«
»Ich möchte einfach nicht, dass du irgendwann zurückblickst und
Reue empfindest, weil du denkst, davongelaufen zu sein – was ein
Unterschied zu einem Neuanfang ist.«
»Aber wie soll ich das erkennen, Molly?«, ruft er frustriert. »Wie
erkenne ich, was richtig ist?«
Schade, dass die Missionare nicht hier sind – so eine Frage ist ja
ein gefundenes Fressen, dabei habe ich es nicht einmal darauf angelegt, aber jetzt, wo sich die Chance ergeben hat, muss ich sie natürlich auch nutzen. »Frag Gott«, erwidere ich also. »Ja, ich weiß, wie
einfach und billig und bequem das klingt. Das heißt aber nicht, dass
es keine gute Idee ist.« Ich stehe auf, weil ich das Gefühl habe, ihn
mit seinen Gedanken ein wenig allein lassen zu sollen. »Und rede
mit Chris und Timon, verstanden?«
»Ja, Sir …« Milo salutiert.
Hoffentlich nimmt er es sich zu Herzen, auch wenn er darüber scherzt.
Ich laufe die Treppe nach unten und förmlich in Papas Arme, der zur
Tür hereinkommt. Er ist hier, um uns Kinder abzuholen, damit wir
gemeinsam zu Mama fahren können. Tante Mini schimpft mit ihm,
er solle gefälligst erst etwas essen, aber er ist nicht davon abzubringen, dass das bis nach dem Besuch warten muss. »Essen ist überbewertet«, murmelt er in seinen nicht vorhandenen Bart, was eigentlich
ganz und gar nicht nach meinem Vater klingt – aber außergewöhnliche Umstände erfordern eben außergewöhnliche Prioritäten.
Sophie und Justus kommen zur gleichen Zeit hintereinander die
Treppe hinunter, während Papa kurz hochläuft. Das Gedränge im
kleinen Eingangsbereich, bei dem sich alle gleichzeitig hinhocken
und die Schuhe zuschnüren wollen, bewirkt, dass ich die Haustür
öffne, mich draußen auf die Stufe zum Gehweg setze und dort in
meine Sneaker schlüpfe. Kaum bin ich fertig, vibriert in meiner Hosentasche das Handy. Ich hole es heraus und öffne die SMS, als ich
hinter mir die Stimme meiner Schwester höre, die mir gerade unbe-
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merkt über die Schulter lunzen muss: »Freitagabend, 19 Uhr bei mir
– komm allein.« Sie lacht sofort schallend auf. »Was ist denn das für
ein unmoralisches Angebot?«
Im Handumdrehen bin ich aufgesprungen. »Dass wir jetzt einander mögen, heißt nicht, dass wir in die Privatsphäre des anderen eindringen«, sage ich entrüstet und werfe dann einen weiteren Blick auf
das Handydisplay. »Außerdem ist die Nachricht von … Luisa.«
»Uh-oh, Sorgen mit Finn?«, stichelt meine Schwester. Als ich nicht
darauf reagiere, umarmt sie mich von hinten. »Nur ein Witz, Molly.
Ich habe das eben auch nur zufällig beim Herausgehen gesehen …«
»Ich weiß.« Ich bin ihr ja auch gar nicht böse. Mich verwundert
Luisas seltsam direkte Wortwahl, und ich schicke ihr nur drei Fragezeichen gekoppelt mit einem Ausrufezeichen zurück, ehe ich das Telefon wieder in der Tasche verschwinden lasse, gerade, als Justus
und Papa, der sich einen Anzug angezogen hat, aus dem Haus kommen – zusammen mit Milo.
»Es wird Zeit, dass er seinen kleinen Stiefbruder auch mal sieht«,
erklärt Papa, während Milo ein bisschen verlegen zu Boden schaut.
Ich hatte mich schon gefragt, wann er mitkommen würde – und
auch wenn die Vorschriften ganz klar sind, nämlich nur direkte Familie, so gehört er vorläufig doch dazu. Falls die Krankenschwestern
tatsächlich fragen sollten, wer er ist, kann ich mir richtig gut vorstellen, wie Papa ihn als seinen ältesten Sohn vorstellt und ignoriert,
dass er ihm überhaupt nicht ähnlich sieht.
Wir gewähren Milo sogar den Beifahrersitz und begeben uns auf
die Rückbank. »Oma und Opa kommen auch«, sagt Papa, nachdem
er den Motor gestartet hat. »Opa und ich möchten Samuel einen Segen geben, und Mama hat auch um einen gebeten.« Was seine Aufmachung erklärt.
Natürlich freue ich mich darüber, denn die Macht des Priestertums ist ja schließlich dazu da, dass wir sie nutzen, aber als Milo
neugierig zu Papa schaut, frage ich mich, ob mein werter Herr Vater
ihn deshalb gerade heute gefragt hat, ob er mitkommen möchte. Und
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siehe da, sogleich ergibt sich die Gelegenheit, über das Evangelium
zu sprechen und Milo mit dem Konzept des Priestertumssegens vertraut zu machen. »Ein Segen ist mehr als ein Gebet«, erläutert Papa.
»Man gebraucht aktiv die Macht, die Gott dem Menschen verliehen
hat, besondere Handlungen zu vollziehen.«
»Dem Menschen oder dem Mann?«, fragt Milo leicht skeptisch
und kann sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen – genau wie ich.
»Es geht ja nicht um Übervorteilung oder Herabsetzung eines Geschlechts«, erwidert Papa, »sondern um –«
»Verschiedene Aufgaben«, führt Milo den Satz zu Ende und
bringt meinen Vater zum Verstummen. »Ich weiß, das haben Molly
und Sophie mir auch schon erklärt. Ich stelle mir immer nur eine
arme Witwe vor, die mit ihren kranken Kindern irgendwo eingeschneit ist, keinen Besuch empfangen kann und von dieser ›Machtquelle‹ abgeschnitten ist. Gerecht klingt das nicht für mich.«
Wir haben Glück und ein Wagen gibt direkt vor uns einen Parkplatz frei, den Papa unverzüglich in Anspruch nimmt und daher
kurz mit einer Antwort zögert. Nachdem er den Motor ausgestellt
und sich abgeschnallt hat, wendet er sich Milo zu. »Glaubst du, dass
Gott die Kinder dieser Mutter sterben lassen würde, weil es nicht
möglich war, dass ihre Kinder einen Segen erhalten haben?«
»Ich hoffe nicht«, lautet Milos Antwort.
»Ganz sicher nicht. Und glaube mir, ich bin felsenfest davon
überzeugt, dass es kaum etwas Machtvolleres gibt als das aufrichtige
Gebet einer Mutter. Aber wie bei allem geht es nicht darum, irgendwelche Rechte zu beanspruchen oder gar Magie auszuüben, sondern
darum, Gott zu zeigen, dass man bereit ist, seinen Willen anzunehmen. Darin liegt der wahre Glaube verborgen. Wir können beten und
segnen und gesegnet werden, wie wir wollen – wenn wir nicht bereit
sind, das Herz zu öffnen, verbauen wir uns selbst den Weg.«
»Hmm«, erwidert Milo nachdenklich, während wir alle aussteigen. Er äußert sich nicht mehr dazu, ich kann mir jedoch vorstellen,
dass er Papas Aussage auf seine Situation bezieht. Er will das tun,
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wovon er glaubt, es sei das Richtige für ihn – aber sieht Gott das
ebenso? Und kann er überhaupt daran glauben?
Schweigend gehen wir nach oben. Ich habe mir erlaubt, mich bei
Milo einzuhaken, und flüstere ihm lediglich vor Betreten des Krankenzimmers zu: »Lass dir nichts reinpredigen, okay? Ich will nicht,
dass wir dir alle auf den Senkel gehen mit unseren ständigen Vorträgen, wie man ein richtiges Leben zu führen hat …« Dabei meine ich
auch mich selbst – denn ich konnte es ja auch nicht lassen, ihn zu belehren, und zu versuchen, auf ihn einzureden.
»Käse«, erwidert er. »Ich schätze eure Ratschläge sehr, Molly.«
Das freut mich noch mehr, und frohen Herzens betrete ich das
Zimmer. Oma und Opa sind schon bei Mama, es wird einander begrüßt und geherzt, und obwohl sie sich am Montagabend nur ganz
kurz begegnet sind, bekommt Milo von Oma gleich eine dicke Umarmung.
Mama ächzt bei jeder Bewegung, aber schon im Vergleich zu gestern hat sie mehr Farbe im Gesicht und wirkt nicht mehr ganz so erschöpft. »Ich mache ja auch nichts außer mich auszuruhen«, erzählt
sie. »So oft bekomme ich Samuel nicht zu Gesicht, im Fernsehen
läuft nur Schrott und Lesen ist mir irgendwie noch zu anstrengend.«
Sie entdeckt plötzlich Milo, winkt ihn heran und lässt sich von ihm
umarmen. »Wie schön, dass du auch mitgekommen bist!«, sagt sie.
»Jetzt, da du mich ungeschminkt gesehen hast, bist du wohl offiziell
in die Familie aufgenommen!«
Wir lachen, dabei weiß ich gar nicht, worüber sie sich beklagt.
Mama gehört doch ohnehin zur Sorte Frau, die auch ohne Make-up
auskommt und immer schön aussieht – genau wie Sophie und anders als ich, die sich am liebsten mit einem Spachtel die Schminke in
die Hautporen zementieren lassen würde, damit der Teint ein wenig
mehr hergibt.
Lange verharre ich bei dem Gedanken nicht, da Samuel ins Zimmer gebracht wird. Die Krankenschwester ist wieder einmal nicht
begeistert, dass so viele auf einmal erschienen sind, weil es für mei-
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nen Bruder so anstrengend ist, und kündigt daher gleich an, dass sie
ihn nur kurz bei uns lassen kann. Sie schiebt Samuel an Mamas Bett,
woraufhin Mama ihre Hand durch die eine Öffnung des durchsichtigen Kastens hineinschiebt und mit einem Finger sanft Samuels
Handfläche berührt, der ihre Fingerkuppe sofort umschließt.
Milo traut sich auch heran und bestaunt den kleinen Kerl, und ich
sehe ihm an, wie ihm gleich schwer ums Herz wird, als er das winzige Geschöpf sieht, das da unter all den Schläuchen verborgen ist.
»Ein bisschen klein geraten, oder?«, fragt Mama lächelnd.
Milo mustert Samuel für einen Augenblick. »Nein«, widerspricht
er dann entschlossen, »ich glaube, dass er ein ganz Großer ist.«
Dies rührt meine Eltern, und die Atmosphäre, die Einzug gehalten hat, ist jetzt so friedlich, dass es nur richtig erscheint, meinem
Bruder und meiner Mutter einen Segen zu geben. Opa gibt von seinem Ölfläschchen nur einen winzigen Tropfen auf den Zeigefinger,
und er und Papa greifen von der anderen Seite in die Öffnung des
Inkubators und berühren Samuel lediglich mit jeweils einer Fingerspitze.
»Samuel Bach«, beginnt Opa die kurze Salbung, die von Papa mit
einem Segen besiegelt wird. Es ist kurz und undramatisch – Papa
segnet ihn mit Kraft und mit Lebenswillen. Er spricht keine Verheißungen aus, prophezeit keine Wunder – und dies ist auch überhaupt
nicht notwendig. Jeder hier kann spüren, dass Gott mit unserem Bruder irgendetwas vorhat. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass er
imstande ist, die frühe Geburt auszugleichen, und an Größe und Gewicht aufholt, aber jetzt in diesem Augenblick weiß ich, dass – egal,
was geschieht – es richtig ist. Und dass Gott ihn schützt – wie auch
immer das aussehen mag.
Den Segen für Mama spricht Opa. Er lobt sie für ihre Treue und
ihr lauteres Herz, für ihren Wunsch, eine gute Mutter in Zion zu sein
und unser Zuhause zu einem Ort zu machen, wo der Geist herrschen
kann. Auch Mama wird Kraft und Stärke zugesprochen und die nötige Ruhe für alles, was in den nächsten Wochen und Monaten auf sie
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zukommen wird.
Während des Segens tue ich etwas, was sehr ungewöhnlich für
mich ist – ich öffne plötzlich die Augen und schaue zu Milo herüber,
und ich kann nicht einmal erklären, was mich dazu drängt. Er hat
die Augen fest geschlossen, wirkt konzentriert, hat den Kopf geneigt
und die Arme verschränkt.
Auch er ist ein ganz Großer … wenn er nur sein eigenes Potenzial erkennen könnte! Wenn er nur bereit wäre, dem Vater im Himmel mehr
Raum in seinem Leben zu geben! Ich bin mir sicher, dass er seine Lasten
leichter ertragen könnte.
Der zweite Segen ist kaum vorbei, da kommt die Krankenschwester auch schon ins Zimmer und holt Samuel wieder ab. Wir verweilen noch bei Mama, und während die tiefgeistige Atmosphäre sich
ein wenig löst und wir in ungezwungenere Gespräche verfallen, tritt
Milo zu mir und stößt mich an, ehe er sich zu mir runterbeugt.
»Ihr seid echt krass«, flüstert er mir zu.
»Gut krass oder schlecht krass?«, frage ich lachend.
Er bleibt ruhig. »Molly, diese Sache mit dem Segen … darf ich sowas als Nichtmormone auch bekommen …?«
Zuerst möchte ich nachfragen, ob er mich auf den Arm nehmen
will, aber das brauche ich nicht. Ich sehe ihm doch an, dass er es
ernst meint. »Aber natürlich«, erwidere ich. »Das ist das Schöne am
Priestertum – jeder kann davon profitieren.«
Er richtet sich wieder auf und nickt.
Und plötzlich spielt es für mich keine Rolle mehr, ob er bleibt
oder geht und welche Konsequenzen das hat. Ich habe den Wunsch,
dass er erfährt, was Gott für ihn vorgesehen hat. Und ich hoffe, dass
ich ihn dabei unterstützen und ihm helfen kann, diesen Weg zu erkennen und ihn auch zu gehen.
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L
izzy ist erwachsen geworden, wie mir scheint. Das tizianrote
Haar, das sie normalerweise immer in Zöpfen oder frechen
Hochsteckfrisuren getragen hat, fällt ihr glatt über die Schultern. Die
farbenfrohen Klamotten sind einem grauen, unbedruckten Shirt gewichen, dessen Ärmel ihre halben Hände bedecken, die dunkelblaue
Jeans hat keine verwaschenen Stellen und ist eher weit. Viel gewogen
hat sie nie, aber sie sieht im Gesicht noch schmaler aus als letzte Woche – oder sie wirkt jetzt, wo sie nicht im Krankenbett sitzt, sondern
zurechtgemacht vor mir steht, einfach anders.
Sie sieht fröhlich aus – ja, auch ein bisschen angespannt, jedoch
nicht mehr trübselig, auch wenn die Unbeschwertheit, die früher in
ihren Augen gestrahlt hat, verschwunden ist. Etwas ist mit dem tragischen Selbstmordversuch in ihr zerbrochen, was in der kurzen Zeit
noch nicht wieder repariert werden konnte.
Nicht nur Bengü, Milo und ich, auch alle anderen aus der Theater-AG stürmen zu ihr, als sie die Aula am Donnerstagnachmittag
betritt, gerade als Frau Ömsen die Probe eröffnen will. Sogar Kathrin
und Samira haben sich ein paar Schritte in unsere Richtung bewegt,
auch wenn sie bedröppelt zu Boden schauen.
Bengü umarmt Lizzy als Erste, und mir geht das Herz auf, die
beiden Freundinnen wieder vereint zu sehen. Vorbei ist der Stolz,
vorbei die Vicki-Eskapaden, und ich freue mich über Bengü, dass sie
Lizzy vorbehaltlos verziehen hat. Als ich sie begrüße, verliere ich
nicht viele Worte. »Es war Zeit, dass du zurückkommst!«, sage ich lediglich lächelnd. »Du siehst so reif aus …«
»Ein albernes Kind bin ich auch nicht mehr«, beteuert sie. »Aber
dass wir Frauen die Weltherrschaft an uns reißen müssen, davon
werde ich mich nicht so einfach abbringen lassen!« Sie lacht nicht,
sondern zieht nur einen Mundwinkel leicht nach oben, und doch bin
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ich froh, dass die alte Lizzy nicht völlig verloren gegangen ist.
Frau Ömsen und Frau Beinker haben es so eingerichtet, dass Lizzy und ich gleich zusammen proben und die Szene spielen, in der
Jane ans Sterbebett ihrer bösen Tante zurückkehrt, die sie viele Jahre
nicht gesehen hat. Lizzy spielt ja Eliza, Janes Cousine; der Haken an
der Sache ist, dass Samira und Kathrin die anderen beiden Rollen in
dieser Szene spielen, nämlich Tante Reed beziehungsweise Georgina
(Janes andere Cousine). Ich weiß nicht, ob Frau Ömsen Hintergedanken dabei hatte, Lizzy gleich mit Vickis ehemals besten Freundinnen
zu konfrontieren, aber was auch immer sie damit bezweckt hat, es
funktioniert einigermaßen: Da Eliza und Georgina in dieser Szene
streiten, gelingt es Lizzy, ihre Emotionen gut auf die Rolle zu übertragen. Nach einer Weile gewinne ich jedoch sogar den Eindruck,
dass es sich einfach um gutes Schauspiel handelt, denn in den Pausen ist Lizzy zwar distanziert, aber nicht unfreundlich zu den beiden. Wer weiß, was sie in ihrer Therapie alles gesagt bekommt, denke ich.
Möglicherweise tut es ihr ja gut, mit den beiden Zeit zu verbringen. Dennoch ist es sicher besser, dass Vicki nicht mehr zugegen ist.
Für mich ist die Szene ähnlich dramatisch: Obwohl Mrs. Reed
ihre Nichte zeitlebens schikaniert und wie Aussatz behandelt hat
und selbst jetzt, wo sie im Sterben liegt, keine richtige Reue zeigt,
vergibt Jane ihr freimütig, weil sie erkennt, dass schlechte Gefühle
und Hass sie nur davon abbringen, nach vorn zu sehen und mit diesem Kapitel ihres Lebens ein für allemal abzuschließen. Wäre ich doch
nur so weit! Würde ich mich ähnlich verhalten können, wenn ich
Vicki in einigen Jahren erneut über den Weg laufen sollte – oder endet das Ganze wieder einmal mit einem blauen Auge?
Wie immer vergeht die Probenzeit rasend schnell. Nach einer
Dreiviertelstunde wechseln wir die Szenen und Milo stößt zu uns,
und plötzlich wird mir bewusst, dass ich eben zwar engagiert gespielt und mein Bestes gegeben habe, dies aber womöglich alles für
die Katz ist, denn wenn Milo wegzieht und seine Rolle abgeben
muss, sehe ich keine Chance, die Produktion durchzuziehen. Mit ei-
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nem anderen Rochester spiele ich jedenfalls nicht.
Ich beobachte, wie Lizzys Anspannung endgültig nachlässt und
sie ausgelassen mit Bengü scherzt. Mir wird kurz warm ums Herz,
ehe mein Blick auf Milo fällt, der verlegen auf mich zukommt und
vor mir stehen bleibt. Ich ahne, was er will.
Der Besuch im Krankenhaus gestern Abend hat ihm gut getan. Er
fühlt sich wohl, wenn er mit uns zusammen ist, und Mama und Papa
geben ihm wahrhaft das Gefühl, Teil der Familie zu sein. Natürlich
ist mir trotzdem klar, dass es so nicht ewig weitergehen kann – ich
hätte nicht damit gerechnet, dass er für immer bei uns einzieht, sondern habe mir wirklich gewünscht, dass seine Eltern sich besinnen
und er sich mit ihnen ausspricht und vielleicht sogar aussöhnt. Dass
er Frankfurt nun fürs Erste verlassen möchte, kam trotzdem überraschend. Nur will er Klarheit in dieser Entscheidung – er möchte sich
sicher sein. Wie stark sein Bezug zu Gott inzwischen ist, kann ich
nicht ermessen, aber man merkt ihm an, dass er glauben möchte, dass
er von dieser Quelle Gewissheit erlangen kann.
Er fährt morgen übers Wochenende wieder zu Roman, und Papa
wird ihm heute Abend einen Segen geben. Er war sehr angetan, als
Milo ihn gestern danach gefragt hat, aber dass es um eine konkrete
Entscheidung geht, weiß er noch nicht, da bislang nur ich in Milos
Pläne eingeweiht bin. Ich habe jedoch keinen Zweifel, dass der Priestertumssegen in irgendeiner Form Klarheit bringen und Milo Kraft
schenken wird. Wie es dann weitergeht, werden wir ja sehen.
Milo schweigt mich immer noch an, also breche ich das Eis. »Du
willst, dass ich dabei bin, wenn du mit Frau Ömsen redest?«, spreche
ich meine Vorahnung aus, woraufhin er nickt. »Und wenn … du es
dir doch anders überlegst?«, frage ich vorsichtig.
»Ich möchte ihr nur sagen, dass ich darüber nachdenke. Und ratlos bin, wie es mit dem Theaterstück weitergehen könnte. Zum
Glück war sie eben nicht dabei, als ich mit Sophie geprobt habe, ich
war wirklich unkonzentriert. Deine Schwester hingegen hat Talent –
wenn auch nicht wie du«, fügt er schnell hinzu, um jegliches Maß an
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Eifersucht sofort im Keim zu ersticken.
»Also gut, auf geht’s.« Es nützt ja nichts, die unangenehme Offenbarung an unsere Lehrerin länger als nötig hinauszuschieben.
Milo geht zu Frau Ömsen und bittet sie um ein Gespräch unter
sechs Augen, und sie reagiert souverän und teilt die Gruppen gleich
so ein, dass ohne Milo und mich weitergeprobt werden kann.
Auf der Bühne wird die Anfangsszene des Buches gespielt, als
Jane noch klein ist, und Frau Ömsen, Milo und ich setzen uns in den
mittleren Sitzblock der Aula. Ich weiß nicht, ob unsere Lehrerin uns
ansieht, dass es um schlechte Neuigkeiten geht, aber sie wirkt sehr
ernsthaft. »Was habt ihr auf dem Herzen?«, fragt sie. Inzwischen ist
sie es ja auch gewohnt, unsere Ansprechpartnerin bei sämtlichen
Problemen zu sein. Wie sehr ich mir gerade wünsche, ihr etwas Tolles mitteilen zu können! Jetzt, wo Lizzy wieder da ist und endlich
mal alles gut aussieht!
Instinktiv vergrabe ich das Gesicht in den Händen und raufe mir
das Haar. So eine verfahrene Situation …
»Mein Bruder hat mir angeboten, zu ihm nach Kassel zu ziehen
und das letzte Schuljahr dort zu beenden«, berichtet Milo. »Ich habe
den Eindruck, dass das ein guter Neuanfang für mich wäre.«
Frau Ömsen entgleisen im ersten Moment die Gesichtszüge, aber
dann atmet sie durch und fasst sich sogleich wieder. »Ihr beiden
schafft es aber auch wirklich, eine Hiobsbotschaft nach der anderen
zu überbringen«, sagt sie und will lächeln, schafft es jedoch nicht so
ganz. Sie fährt sich durch die Haare und blickt abwechselnd von
Milo zu mir zum Parkettboden.
Ich weiß nicht, wie hoch der Stresspegel für die Lehrer angesichts
der Zustände in den letzten Wochen war – wie sich das Mobbing auf
die andere Seite des Klassenzimmers ausgewirkt hat und wie sehr
ihnen Dampf unterm Hintern gemacht wurde. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass das Theaterstück ein wahrer Lichtblick für
Frau Ömsen war, selbst nach Vickis Ausscheiden, und ich könnte
losheulen, wenn ich die Enttäuschung in ihren Augen sehe, wenn-
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gleich sie sicher mit Verständnis gekoppelt ist.
»Frau Ömsen …« Milo streckt kurz die Hand aus, nur um sie wieder zurückzuziehen. »Ich weiß einfach noch nicht, was ich tun soll.
Sie müssen mir glauben, dass ich, wenn es irgendwie geht, Sie und
das Stück nicht im Stich lassen würde!«
»Das weiß ich, Milo!«, entgegnet Frau Ömsen sofort. »Ich … ich
frage mich nur gerade, welche Möglichkeiten wir haben.« Nun
schaut sie mich an.
Was ich als Nächstes sage, spricht mir eigentlich nicht aus dem
Herzen – denn es ist schließlich die Option, die ich bis eben überhaupt nicht in Betracht ziehen wollte und nur ausspreche, um die Situation für Frau Ömsen ein kleines bisschen leichter zu machen: »Allein die Vorstellung, mit einem anderen Rochester spielen zu müssen, ist völlig absurd … aber: Wenn sich jemand findet, der die Rolle
mindestens genauso überzeugend spielt …«
Frau Ömsen winkt ab. »Das kommt nicht in Frage«, erwidert sie.
»Ihr zwei oder keiner.«
Das rührt mich (und bestimmt auch Milo) zutiefst, nur entschärft
es die Lage ganz und gar nicht.
»Milo, ist abzusehen, wann du deine Entscheidung triffst?«
»Dieses Wochenende«, sagt er, ohne mich anzusehen. Ich wusste
nicht, dass er sich selbst ein Ultimatum gesetzt hat und werde augenblicklich nervös.
»Eine Idee kommt mir gerade in den Sinn«, fährt Frau Ömsen
fort, »aber darüber muss ich erst mit Frau Beinker sprechen. Lasst
uns jetzt weiterproben und optimistisch sein, und wir bereden den
Rest dann nächste Woche, einverstanden?«
Milo und ich nicken gleichzeitig. »Danke«, sagt er. »Ich will nicht
hypersentimental sein, Frau Ömsen … aber Sie waren für Molly und
mich da wie eine zweite Mutter. Haben Sie vielen Dank.«
Werden etwa ihre Augen feucht? Ich glaube, sie hält sich mit aller
Macht zurück, Milo nicht um den Hals zu fallen und ihn mit Küssen
zu bedecken. »Ich kann dazu nur sagen, dass ihr beide mir auf be-
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sondere Weise ans Herz gewachsen seid«, meint sie dann, und sogleich lächelnd: »Auch wenn sich das natürlich nicht auf eure Noten
auswirken kann.«
Ich spüre einen Anflug von Erleichterung und Hoffnung, dass
möglicherweise irgendeine akzeptable Lösung für dieses neue Problem gefunden werden kann. Die einfachste bestünde darin, wenn
Gott Milo deutlich verbietet, wegzuziehen, aber die Erfahrung hat
gezeigt, dass Gott selten die einfachen Lösungen wählt, was mich
wiederum ein wenig verunsichert in die Zukunft blicken lässt.
Milo verlässt die Probe gemeinsam mit Rik, was mich äußerst zufrieden stimmt, und ich fahre mit Bengü zu Lizzy, hauptsächlich, um
den Schulstoff durchzugehen, den sie verpasst hat, aber wir bleiben
keine fünf Minuten bei irgendeinem Fach, ohne vom Thema abzuweichen und über viel Wichtigeres zu sprechen. Bei Lizzy und mir
bin ich nichts anderes gewohnt, aber gerade Bengü brabbelt wie ein
Wasserfall. Gerade wollen wir uns für das Wochenende verabreden,
da fällt mir ein, dass ich ja morgen Abend zu Luisa fahre, ohne den
Grund dafür zu kennen, und sie weigert sich standhaft, sich dazu zu
äußern, und hat mir nur versichert, alles sei in bester Ordnung und
ich müsse mir keine Sorgen machen.
»Vielleicht ist sie ja von Finn schwanger«, überlegt Lizzy laut,
woraufhin ich ihr empört, aber belustigt gegen den Oberarm boxe.
»Oder die beiden haben sich verlobt?«, schlägt Bengü vor.
»Oder sie hat eine Idee, wie ich euch beiden eine Lektion erteilen
kann«, erwidere ich, entschließe mich zu einem spontanen Themenwechsel und widme mich wieder einem der Schulbücher, denn Lizzy
möchte schließlich am Montag wieder zur Schule kommen und hat
eine Menge nachzuholen, und es sind nur noch wenige Wochen bis
zu den Zeugnissen.
Mit Schrecken blicke ich schließlich auf die Uhr: Eigentlich wollte
ich doch noch ins Krankenhaus zu Mama! Lizzy und Bengü haben
natürlich vollstes Verständnis. Ich verabschiede mich von den bei-
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den, rufe kurz zu Hause an und gebe Bescheid, dass ich später als
geplant zurückkomme. Wie sich herausstellt, wäre mein Anruf aber
gar nicht nötig gewesen, denn Mama schlummert tief und fest, als
ich das Krankenzimmer betrete, und ich bringe es nicht übers Herz,
sie aufzuwecken. Ein paar Minuten beobachte ich sie, hinterlasse ihr
eine kurze Notiz und schleiche mich dann wieder aus dem Zimmer.
Würde ich Dr. Hartle über den Weg laufen, würde ich glatt nachfragen, ob ich Samuel besuchen darf, aber das Glück ist nicht auf meiner Seite, und so verlasse ich das Krankenhaus, steige auf mein Fahrrad und mache mich auf den Heimweg. Ich muss zugeben, dass ich
Milo mittlerweile dankbar bin, dass er mich dazu gebracht hat, mir
das Fahrradfahren anzugewöhnen – es entspannt und klart den Kopf
(wenn ich wegen der rücksichtslosen Autofahrer nicht gerade um
mein Leben bangen müsste).
Wie der Zufall es so will, treffen Milo und ich beinahe zur gleichen Zeit ein – kaum habe ich die Schuhe ausgezogen und will hochlaufen, höre ich den Schlüssel in der Haustür und er spaziert herein.
Ich steige die beiden Stufen, die ich mit einem Satz erklommen habe,
wieder herunter. »Wie war es?«, frage ich gespannt.
»Ganz gut.« Er klingt erleichtert. »Chris und Timon sind auch dazugekommen … Tja, du hattest wohl recht, Molly. Ich habe sie wirklich etwas vorschnell verurteilt. Sie hatten einfach keinen blassen
Schimmer, wie sie sich verhalten sollen … Ich glaube, die Lage wird
sich jetzt etwas entspannen.«
»Hast du ihnen erzählt, dass in der Schule die ersten Spottkommentare gefallen sind?«, frage ich. Nachdem die drei so gute Bodyguards für mich abgegeben haben, könnten sie den Job doch eigentlich bei Milo fortsetzen.
»Ja … aber es ist auch egal. Eigentlich kann es mich einen Dreck
interessieren, ob hinter meinem Rücken getratscht wird.« Er sagt das
leichtfertig, als meine er es wirklich so, aber letzten Endes möchte
doch kein Mensch, dass man schlecht von ihm denkt, geschweige
denn spricht. Ich weiß nicht, ob Milo es schafft, dem Ganzen tatsäch-
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lich derart gleichgültig zu begegnen.
Wir gehen gemeinsam ins Wohnzimmer, wo Tante Mini eine Seifenoper schaut und sich mit dem Taschentuch die Tränen aus dem
Gesicht tupft. »Er hat sie verlassen – einfach so!«, ruft sie verzweifelt
und zeigt anklagend auf den Fernseher.
»Ähm … ja. Wo sind die anderen?«, frage ich.
»Dein Vater ist im Arbeitszimmer, Justus spielt, Sophie ist noch
nicht daheim. Essen gibt es in einer halben Stunde.« Sie konzentriert
sich wieder auf ihre Sendung und trauert weiter.
Belustigt laufen Milo und ich nach oben und erwischen Papa, wie
er trotz Urlaub am Computer einen Auftrag bearbeitet.
»Du hast doch frei«, ermahne ich ihn. »Die Zeit, die du nicht bei
Mama verbringst, solltest du dich wenigstens ausruhen …«
»Sagt die zweite Mama«, stichelt Milo. »Oder eher die dritte oder
gar die vierte? Sophie und deine Tante sollten wir nicht völlig vergessen …«
»Die Texte übersetzen sich nicht von selbst und wenn man dann
unter den grammatikalisch unstimmigen Ergüssen der freiberuflichen Mitarbeiter leiden muss … das Dasein eines Teamleiters ist
nicht leicht, Kinder«, verteidigt sich Papa mit erhobenen Händen,
minimiert das Fenster des Übersetzungsprogramms dann jedoch
und wendet sich uns zu.
Das Arbeitszimmer ist winzig, und Milo und ich haben kaum nebeneinander Platz, obwohl wir stehen. Die akribisch geordneten Aktenordner stehen jedoch in Reih und Glied und Papa gelingt es, den
kleinen Raum so sauber und ordentlich zu halten, dass man bei ihm
fast eine Zwangsstörung vermuten könnte. Wenn einer von uns am
PC ist und irgendwelche Sachen auf dem Schreibtisch ausbreitet und
er das mitbekommt, wird er jedenfalls immer gleich unruhig.
»Bereit?«, fragt Papa Milo dann erwartungsvoll und mit vor sich
auf der Tischplatte gefalteten Händen.
Der Segen. Das war gar nicht meine Absicht gewesen, sondern ich
wollte ihn nur fragen, wie es heute bei Mama war, und dann ein
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bisschen mit Milo quatschen, aber die Gelegenheit bietet sich natürlich nun gerade an, wo die anderen beschäftigt und wir ungestört
sind.
Milo tapst nervös von einem Fuß auf den anderen. »Weiß nicht«,
sagt er und betont es fast wie eine Frage.
»Hast du bestimmte Erwartungen? Grundlos hast du nicht darum
gebeten, nehme ich an.«
Da ist sie nun, die Stunde der Wahrheit.
Dessen ist Milo sich auch bewusst, und er beschließt, offen und
ehrlich zu sein, was ihn bedrückt. »Eure Gastfreundschaft bedeutet
mir unendlich viel«, sagt er. »Nicht eine Sekunde hatte ich bislang
das Gefühl, eine Last zu sein oder euch auf den Geist zu gehen … Ihr
seid geduldig und helft mir – und das, obwohl ihr gerade selbst ganz
schön geplagt seid. Mir ist einfach klar geworden, dass das nicht monatelang so weitergehen kann … Na ja, und Roman hat mir nun angeboten, nach Ende des Schuljahres zu ihm nach Kassel zu ziehen. Es
klingt verlockend und auch irgendwie richtig, aber ich weiß eben
nicht, ob es auch wirklich richtig ist …«
Papa nickt verständnisvoll. »Milo, ich finde das sehr reif und sehr
erwachsen von dir, dass du eine solche Hilfe in Anspruch nehmen
willst – sowohl die von deinem Bruder als auch das Priestertum. Genau dazu ist es nämlich da.«
»Ich … ich erwarte auch gar keine konkrete Anweisung, was zu
tun ist«, meint Milo. »Ich bin selbst noch überfordert mit Gott und
allem, was damit zusammenhängt … aber mich beeindruckt euer
Glaube und die Kraft, die ihr daraus schöpft, und irgendwie habe ich
das Gefühl, dass es gut für mich wäre.«
Erneut nickt Papa. »Ich werde dir einen Priestertumssegen
geben«, sagt er dann. »Der unterscheidet sich von dem Krankensegen, den du gestern erlebt hast, insofern, als die Salbung mit Öl wegfällt. Ich möchte mich aber noch kurz dafür umziehen, okay? Bin
gleich wieder da.« Papa verlässt das Arbeitszimmer.
»Ein äußeres Zeichen dafür, dass wir etwas tun, was wir als heilig
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empfinden«, erkläre ich kurz, weil ich damit rechne, dass Papa im
Anzug zurückkommen wird und nicht will, dass Milo denkt, er würde sich jetzt ein Kostüm anziehen oder so. »Das ist auch ein Grund,
warum wir uns sonntags schick machen.«
»Das erklärt auch, warum er gestern einen Anzug getragen hat,
als wir ins Krankenhaus gefahren sind«, murmelt Milo.
Ich habe ja wirklich ein festes Zeugnis, aber das ist einer dieser
Momente, in denen mir wieder einmal bewusst wird, dass wir Mormonen schon ein eigenes Völkchen bilden – obwohl zumindest die
Sonntagskleidung nichts ist, was einzig und allein uns auszeichnet.
Als Papa zurückkommt, schließt er die Tür leise hinter sich und
bittet Milo dann, auf seinem Bürostuhl Platz zu nehmen. »Wäre es
für dich in Ordnung, wenn wir vorher gemeinsam ein Gebet sprechen?«, fragt er dann. »Ich habe oft den Eindruck, dass das die richtige Atmosphäre fördert, oder, um es mormonisch auszudrücken, dass
wir ›den Heiligen Geist einladen‹.« Er muss ein wenig grinsen.
»Natürlich.« Wie selbstverständlich faltet Milo die Hände.
Ich stelle mich an die Tür, damit kein ungebetener Gast hereinstürmt.
»Wärst du vielleicht bereit, das Gebet zu sagen?«, fragt Papa
Milo. »Nur, wenn du möchtest und dich wohlfühlst, falls nicht, tut
Molly das bestimmt gern.«
Milo zögert kurz. »Nee, ist schon in Ordnung. Ich kann das machen«, beschließt er dann.
Erst neigt er den Kopf, dann tut Papa es ihm gleich. Wie gestern
während des Segens erwische ich mich, wie ich nicht die Augen
schließe, sondern die Szene fasziniert beobachte – nicht, um nicht andächtig zu sein, sondern weil ich beeindruckt bin und das Ganze fast
lieber als außenstehender Beobachter aufnehmen will.
Es dauert ein paar Sekunden, bis Milo das Gebet beginnt. »Gott
… Vater im Himmel«, fängt er langsam an.
Da ich automatisch gerührt bin, ihn beten zu hören, schließe nun
auch ich die Augen und verschränke die Arme.
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»Ich … ich danke dir für die Bachs und dass sie mir helfen. Und
dass es Katha und dem kleinen Samuel besser geht. Ich … ich möchte tun, was richtig ist, aber weiß nicht weiter … Wenn ich wegziehe,
hat das blöde Konsequenzen, wenn ich hierbleibe, aber auch … und
ich weiß einfach nicht, was für mich am besten ist. Bitte hilf mir, das
zu erkennen.« Milo beendet das Gebet. Zuerst schaut er zu Papa,
dann zu mir, und ich lächele ihm zu, er bleibt jedoch ernst.
Papa stellt sich nun hinter Milo, legt seine Hände auf dessen
Schultern und fragt ihn nach seinem vollen Namen. Milo muss
schmunzeln. »Miljenko Joŝko Icek Falkenstein«, sagt er und muss den
Namen dreimal wiederholen, bis Papa ihn einigermaßen auf die Reihe bekommt.
Milos Gebet hat tatsächlich bewirkt, dass mich innerlich ein friedliches Gefühl umschlossen hat, doch bereits als Papa ihm die Hände
aufs Haupt legt, beginnt mein Herz ganz aufgeregt zu klopfen, und
erst jetzt wird mir bewusst, wie krass und wie wunderschön es ist,
diesen Augenblick miterleben zu können. Und wie richtig es sich anfühlt.
»Miljenko Joŝko Icek Falkenstein«, sagt Papa sehr langsam. »Mit
der Kraft und Vollmacht des heiligen Melchisedekischen Priestertums, das ich trage, gebe ich dir einen Segen, damit du Kraft empfängst und Gewissheit und erkennst, dass du wahrhaft einen Vater
im Himmel hast, der dich kennt und dich liebt und der auf dich aufpasst, auch wenn du lange Zeit daran zweifeln musstest. Milo, du
bist mit vielen Fähigkeiten und Talenten gesegnet und mit einem gesunden Menschenverstand, mit einer Vielzahl toller Eigenschaften,
die das Leben deiner Mitmenschen bereichern. Sei dir gewiss, dass
der Herr dich in deinen schwierigen und düsteren Zeiten nie verlassen, sondern dich geformt hat, damit du dich zu dem Menschen entfalten konntest, der du bist.«
Mir rinnt die erste Träne über die Wange, und als ich sie fortwische, kann ich nicht anders und öffne wieder die Augen. Ich sehe,
wie auch Milo weint und seine gefalteten Hände zittern.
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»Milo, schließe Gott nicht aus deinem Leben aus«, fährt Papa fort.
»Lass die Liebe Christi dein Herz erfüllen, denn auf diese Weise
musst du dir gar keine Sorgen machen, was dein Weg für dich bereithält. Du wirst abwägen können, was gut für dich ist und was
dich voranbringt. Du wirst erkennen, welche Menschen dir Gutes
wollen und welche Ungutes im Sinne haben. Du wirst erkennen,
dass auch in der finstersten Stunde immer ein Licht scheint, auf das
du zugreifen kannst.
Ich segne dich mit Weitsicht und Verständnis und dass du erkennst, wie du den Einfluss des Heiligen Geistes verspüren kannst
und diesen Frieden dauerhaft in deinem Herzen bewahrst.«
Papa schließt den Segen und ich bringe ein kaum hörbares
»Amen« zustande.
Milo verharrt kurz auf seinem Platz. Papa hat ihm wieder die
Hände auf die Schultern gelegt, und als Milo sich schließlich erhebt
und ein Dankeschön murmelt, breitet Papa die Arme aus und Milo
nimmt die Umarmung mit dankbarem Blick entgegen.
Ich frage mich, wie Milos Lebensweg letzten Endes aussehen
wird. Ich frage mich, ob er den Wunsch entwickeln wird, sich eines
Tages taufen zu lassen, oder ob er sich dazu entschließt, einen Partner zu suchen, mit dem er sich ein gemeinsames Glück aufbauen
möchte. Es schmerzt mich, dass diese Situation den wunderbaren
Geist, der gerade deutlich spürbar ist, ein wenig überschattet. Trotzdem zweifele ich nicht daran, dass alles seine Richtigkeit hat und
Milo das ebenfalls über kurz oder lang erkennen wird.
Als ich ihn am nächsten Nachmittag zum Bahnhof bringe und wir
uns am Bahnsteig voneinander verabschieden, fällt es mir schwer,
mich von ihm zu lösen, obwohl ich ja weiß, dass ich ihn übermorgen
wiedersehen werde. Wie wird seine Entscheidung aussehen? Wie
wird sie sich auswirken? Aber obwohl mich der Gedanke ganz hibbelig machen sollte, bleibe ich doch ruhig und besonnen und vertraue darauf, dass alles gut wird.
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Ich mag mich vom Alltag gar nicht einholen lassen. Es fiel mir schon
schwer genug, mich am Vormittag auf den Unterricht zu konzentrieren, dabei werden die nächsten Arbeiten erbarmungslos durchgezogen, und ich habe alle Hände voll zu tun. Und wenn ich daran denke, was die arme Lizzy alles nachholen muss … Vielleicht sind die
Lehrer angesichts ihrer Situation etwas gnädiger in der Benotung.
Wie sich das Evangelium wohl auf sie auswirken würde? Sicherlich wäre alles mit dem Sühnopfer leichter zu verarbeiten, und ich
schäme mich, dass ich die ganze Zeit so auf Milo fixiert war, dass ich
gar nicht daran gedacht habe, dass meine anderen Freunde der Liebe
Gottes nicht weniger bedürfen.
Aber es ist nicht zu spät. Montag beginnt eine neue Woche, bestärke
ich mich selbst – zumal Bengü, Lizzy und ich mindestens zweimal
wöchentlich pauken wollen. Okay, zugegeben, eigentlich wollen wir
damit nur sicherstellen, dass wir wenigstens einmal wöchentlich auch
etwas Schulisches bewerkstelligen.
Vom Bahnhof fahre ich ins Krankenhaus, um Mama und Samuel
zu sehen, die ich heute auch prompt gemeinsam im Zimmer erwische. Zwar ist es ein totaler Umweg, als wäre ich direkt zu Luisa gefahren, nur da sie mir eine so konkrete Uhrzeit genannt hat, traue ich
mich nicht einmal, dort früher aufzutauchen. Als mir Mama viel
Spaß wünscht und mich fragt, was wir heute vorhaben, wundert sie
sich, dass ich ihr die Frage nicht beantworten kann, nimmt es aber lächelnd hin. Obwohl ich keine Ahnung habe, was gleich auf mich zukommt, bin ich zu allem bereit. In den letzten Tagen habe ich oft den
Geist verspürt, wenngleich die emotionale Last auch schwer wog. Insofern tut der Gedanke sogar außerordentlich gut, abzuschalten und
auf die Pauke zu hauen, wie auch immer das aussehen mag.
Ich verlasse das Krankenhaus also kurz nach halb sieben und
komme so fünf Minuten früher bei den Flemmings an. In gewohnter
Manier klingele ich zweimal kurz hintereinander, höre sogleich
Schritte, und als die Tür aufgeht, steht Luisas Mutter Ines vor mir.
»Molly«, ruft sie überrascht. »Das tut mir leid, aber Luisa ist gar
500
nicht zu Hause, die ist mit Finn unterwegs!«
Hä?
»Ist es möglich, dass sie gleich nach Hause kommt?«, frage ich
vorsichtig. »Technisch gesehen bin ich fünf Minuten zu früh …«
»Hmm, kann natürlich sein, aber es würde mich wundern, weil
die beiden erst vor einer Viertelstunde losgetingelt sind und ins Kino
wollten …«
Nun bin ich völlig perplex. Was soll das denn?! Erst so ein mysteriöser Aufstand und nun versetzt sie mich dreisterweise?
»Hat alles seine Richtigkeit«, ertönt jedoch eine andere Stimme,
und plötzlich steht Luka neben seiner Mutter. »Molly ist mit mir verabredet.«
501
39
B
estimmte Ereignisse im Leben malt sich jedes Mädchen schon
im frühen Kindesalter aus, und jedes, das behauptet, es tue dies
nicht, lügt. Mormonenmädchen sind noch schlimmer, zumindest
hierzulande – die Dating-Kultur in den Vereinigten Staaten ist, was
ich so höre, weitaus lockerer. Junge und Mädchen gehen unverbindlich aus, um einander kennenzulernen – wir Deutsche erwecken hingegen eher den Eindruck, dass die Bitte um eine Verabredung fast einem Heiratsantrag gleichkommt.
Die Träumerei an sich ist weltweit aber wohl die gleiche, denn im
Grunde ist ja nur eines wichtig: dass alles perfekt ist und einem romantischen Hollywoodstreifen nachempfunden – das erste Händchenhalten muss elektrisierend sein, der erste Kuss einen Schwarm
Schmetterlinge mit sich bringen, der einen direkt auf Wolke Sieben
befördert, die erste Beziehung schafft Freundschaft, Vertrauen und
Romantik, die in pure Liebe umschlagen, der Heiratsantrag kommt
überraschend und ist dermaßen kreativ geplant und ausgeführt,
dass es das Mädchen von den Socken haut und mindestens eine Million Klicks bei YouTube einholt, und die Hochzeit an sich gleicht dem
Ende eines Disneyfilmes. Bei der Siegelung im Tempel erscheinen
natürlich Engel, die mit Harfen Liebeslieder spielen.
Ich persönlich schwanke ja immer noch zwischen der Märchenhochzeit in Weiß und der Strandhochzeit auf Aruba – in jedem Fall
werde ich umwerfend aussehen (und der Bräutigam erst!).
Meine Fantasievorstellung vom ersten Kuss hat Milo vor ein paar
Monaten jäh zerstört, wobei ich ihm das nicht mehr verübele, da es ja
ein zugegebenermaßen ziemlich aufregender Moment war. Mein erstes Date hat er auch kaputt gemacht, weil er gar nicht bei der Sache
war und ich ihm sogar noch Fremdgehen mit Kira unterstellen musste, und so habe ich beschlossen (weil es von seiner Seite her ja ohne502
hin eine rein freundschaftliche Verabredung war und nicht mehr),
das kleine Desaster auszublenden und mich in dieser Hinsicht jungfräulich reinzuwaschen. Ich habe mir geschworen, dass das erste
wirklich so richtig echte Date meine tiefen Erwartungen bestimmt erfüllen wird.
Und nun stehe ich Luka gegenüber, dem älteren Bruder meiner
besten Freundin, von dem ich immer felsenfest überzeugt war, dass
er und meine Schwester sich über kurz oder lang ineinander verlieben und eine Familie gründen werden.
Lukas Haar, das gleiche Aschblond wie Luisas, ist strubbelig gegelt, die blauen Augen, die ebenfalls denen von Luisa ähneln, strahlen mich erwartungsvoll an. Er ist ein paar Zentimeter größer als ich
(wenn auch nicht so groß wie Milo), hat die römische Nase seines
Vaters geerbt und das breite, herzliche Lächeln seiner Mutter, wohingegen Luisa ja eher einen schmalen Mund hat. Er trägt ein gestreiftes
Hemd, das das Ozeanblau seiner Augen untermalt. Die Hände hat er
lässig in die Hosentaschen gesteckt, und wie er dort steht und mich
angrinst, wirkt er irgendwie ganz schön selbstgefällig.
Ines Flemming hat sich wieder ins Haus zurückgezogen, dabei
muss sie sich selbst über seinen Kommentar gewundert haben – immerhin schien ich ja zu Luisa zu wollen, zu niemandem sonst.
»Du hast doch sonst immer den passenden Spruch auf Lager«,
durchbricht Luka die kurze, recht peinliche Stille zwischen uns. »Sag
bloß, du bist verlegen?«
»Lassen wir die Spielchen«, erwidere ich forsch und bin mir sicher, dass Luisa mir aus unerfindlichem Grund einen Streich spielt.
»Treffen wir Luisa und Finn irgendwo in der Stadt? Machen wir was
zu viert? Weshalb hat sie nicht auf mich gewartet?«
»Meine Mutter hat dir doch eben erklärt, dass Luisa und Finn im
Kino sind, und ich habe eigentlich nicht vor, mich ihnen anzuschließen. Nachdem du auf Luisas Geburtstag im Disco-Keller so einen
vortrefflichen Eindruck geschunden hast, dachte ich eher daran, dass
wir vielleicht tanzen gehen – was hältst du davon?«
503
»Luka …« Der Typ meint das doch tatsächlich ernst! »Wärst du wenigstens so freundlich, mich aufzuklären, was hier vor sich geht?!«
Es missfällt mir, meine Hilflosigkeit zuzugeben, aber ich habe einfach keinen blassen Schimmer, was mir gerade widerfährt.
Was für ein Spiel er auch mit mir treibt, offensichtlich bereitet es
ihm große Freude. »Ich find dich nett, Molly. Ist es schlimm, dass ich
dich gern besser kennenlernen würde? Du bist seit Jahren Luisas
beste Freundin, aber eigentlich wissen du und ich gar nicht so viel
übereinander.«
Er weicht mir aus. »Luisa hat das hier eingefädelt, oder? Wegen
Milo? Damit ich auf andere Gedanken komme?« Ich würde für Luisa
mein Leben geben, aber jetzt gerade könnte ich sie zum Mond schießen.
»Sie hat es für mich arrangiert«, entgegnet er. »Sie meinte, du
würdest ablehnen, wenn ich dich frage, also dachte ich, dass ich es
einfach so probiere und darauf hoffe, du würdest mitkommen, wenn
ich dir den Plan für heute Abend darlege … Es war also einzig und
allein meine Idee.«
»Es war deine –?« Mir stockt der Atem. Und da erinnere ich mich
an das Gespräch mit Luisa vor einer Woche und wie sie mich gefragt
hat, was ich von ihrem Bruder halte. Ich dachte, sie wollte nur von
Milo ablenken, dabei schien sie tatsächlich auf Tuchfühlung gehen
zu wollen, weil Luka sie darum gebeten hatte.
»Aber ja, Molly, sie hat sich letztlich darauf eingelassen, weil sie
sich Sorgen um dich macht«, fährt er fort. »Als Milo in der Gemeinde
war, hat er einen echt coolen Eindruck gemacht … nur … na ja.« Er
zuckt mit den Schultern. »Du willst ihm doch nicht ewig hinterherschmachten, oder?«
Als ob ihn das etwas anginge! Ich spüre die Überrumpelung langsam in Wut umschlagen. Ich sollte mich vom Acker machen, ehe ich
noch anfange, ihn lauthals zu beschimpfen. »Es rührt mich, dass Luisa und du mich von meinen Gefühlen ›heilen‹ wollt, aber das packe
ich schon alleine!«
504
Ich will mich abwenden, doch Luka streckt die Hand aus und
hält mich fest. »Nein, so war das doch gar nicht gemeint!«, ruft er in
einem weitaus weniger überheblichen Ton. Er lässt mich los und
lehnt sich zurück gegen den Türrahmen. »Vielleicht sollten wir einfach noch mal von vorn starten … Molly, hättest du Lust, heute
Abend was mit mir zu unternehmen? Einfach nur so, damit wir uns
besser kennenlernen und Spaß haben? Bei allem, was bei dir derzeit
abgeht, wird dir das bestimmt guttun … und ich würde mich sehr
darüber freuen, wenn du Zeit mit mir verbringst.«
So schnell, wie mein Zorn aufgekocht ist, verebbt er auch schon
wieder. Weil Luka ja im Grunde genommen recht hat. Nur gefällt es mir
nicht, so überrumpelt zu werden. »Meinst du denn, ich hätte aus
Prinzip abgelehnt, wenn du mich normal gebeten hättest?«, frage
ich. »Ich verstehe dieses ganze Theater nicht …«
»Ich wollte halt auf Nummer sicher gehen.«
Er sagt das so schüchtern dahin, aber ich sehe ihm doch an, wie
sehr er sich in Sicherheit wähnt, und auch, wenn das nach Arroganz
stinkt, muss ich leider gestehen, dass mir sein durchtriebener Plan
ein klein bisschen imponiert. Und wo ich ohnehin schon hier bin …
»Also gut«, lautet meine Antwort. »Was hattest du im Sinn?«
Luka greift sich lediglich seine Jacke von der Garderobe und zieht
dann die Tür hinter sich zu. Mir war gar nicht aufgefallen, dass er
Schuhe an hatte – folglich war er schon bereit zu gehen und hatte
keinen Zweifel daran, dass ich mich darauf einlassen würde. Ist er so
von sich selbst überzeugt oder kann man das als »unerschütterlichen
Glauben« verbuchen? Lieber nicht darüber nachdenken …
»Im Libero lassen sie heute ab 16 rein«, berichtet er dann. »Geht
für Minderjährige natürlich nur bis Mitternacht, aber dafür fängt’s
jetzt schon an. Ich dachte, wir tanzen ein wenig und holen uns dann
noch ein Eis bei Mecces?«
Ich willige ein, ärgere mich nur gerade wieder ein bisschen, dass
ich so gar nicht zurechtgemacht bin. Ich war noch nie in einer Disco
und kann nur hoffen, dass es dunkel genug ist, dass mich niemand
505
erkennen kann. Dann wiederum überkommen mich Zweifel, ob ich
mich überhaupt an einem unbeleuchteten, lauten Ort aufhalten soll
… andererseits weiß ich von Luisa, dass Luka wirklich kein halbherziges Mitglied ist, auch wenn er ab und zu gern auf die Piste geht
und bis in die Morgenstunden feiert. Ich beschließe, ihm zu vertrauen. Wenn es mir nicht gefällt, zählt dies eben auch nicht als das erste
wirklich so richtig echte Date.
Luka schlägt vor, dass wir die Öffentlichen nehmen, um der katastrophalen Parksituation in der Innenstadt zu entgehen, und so spazieren wir gemütlich zur U-Bahn-Haltestelle. Er fragt nach Mama
und Samuel, ich frage ihn nach der Schule, da ich nur weiß, dass er
nach dem Realschulabschluss auf eine weiterführende Schule gewechselt ist. Ihn interessieren Grafik und Design, aber er ist sich
selbst noch nicht sicher, ob er nach dem Abschluss eine Ausbildung
beginnen oder studieren möchte.
Das Gespräch ist unverkrampft, und ich bedaure es fast, dass wir
so schnell bei der Discothek ankommen. Für die echten Partygänger
ist es noch reichlich früh, und dementsprechend leer ist die Stadt,
doch vor dem Club gibt es eine kleine Schlange von Jugendlichen,
die die Chance ausnutzen wollen, tanzen zu gehen, obwohl sie noch
nicht volljährig sind. Wir langen relativ schnell beim Türsteher an,
der mich kaum überragt, aber dreifach so breit ist an Muskelmasse.
Mit dem kahl rasierten Kopf und den vollständig tätowierten Armen
wähne ich einen Profikiller, aber Luka drückt ihm unbeeindruckt das
Eintrittsgeld in die Hand, und der Mann nickt, ehe er mich kurz mit
hochgezogenen Augenbrauen mustert. Ich werde knallrot, weil ich
in Jeans und normalen Halbschuhen einen unübersehbaren Kontrast
zu den beiden Mädchen vor uns bilde, die in meinem Alter sein müssen, aber sehr aufgetakelt sind und Röcke tragen, die kaum ein Drittel des Oberschenkels bedecken. »Ich bin überhaupt nicht schick«, zische ich Luka zu, als wir hineingehen.
»Du bist immer schick«, erwidert er schmierig, und so nett das
Kompliment gemeint sein mag, so ist es doch erstunken und erlogen.
506
Man merkt gleich, dass heute ein besonderes Event stattfindet –
denn die meisten Anwesenden sind definitiv minderjährig. Der LEDBoden ist auf der Tanzfläche in quadratische Kacheln unterteilt, die
im Sekundentakt in verschiedenen Neonfarben aufleuchten, der übrige Boden glimmert im matten Blau, an der Bar in rosa. Die Theke
ist riesig, erstreckt sich bestimmt über zwanzig Meter und ist mit
gleich vier Barkeepern versehen, und rund um die tanzenden Teenager stehen auch ein paar Tische und Stühle mit je einer kleinen
Leuchte. Trotzdem ist es relativ dunkel, auch wenn die Deckenlichter
immer wieder sehr helle Laserstrahlen über die Tanzfläche jagen.
Der Lärm ist ohrenbetäubend. In der ersten Minute kann ich nicht
einmal irgendeine Form von Melodie erkennen, sondern vernehme
nur den dumpfen Bass, dessen Vibration ich im ganzen Körper spüre. Gleich am Eingangsbereich ist in einem leuchtenden Rahmen ein
Hinweis angebracht, dass heute vermehrte Ausweiskontrollen
durchgeführt werden, besonders nach Mitternacht und an der Bar.
Das soll mir vermutlich ein Gefühl der Sicherheit geben, dass hier
nichts ausartet, aber ich fühle mich nichtsdestotrotz ein bisschen komisch und fehl am Platze.
Luka beugt sich zu mir hinunter. »Denk dran, wir sind zum Tanzen hier«, brüllt er und verteidigt damit die lärmende Musik. »Mach
dir keine Sorgen und amüsier dich!«
Er zieht mich um die Ecke zu einem kleinen Garderobenbereich,
der mir vorher noch nicht aufgefallen war. Er nimmt mir meine Jacke
ab, zieht seine aus, und gibt beide an das Mädchen, das dort steht,
woraufhin er einen Chip erhält. Kaum hat er ihn eingesteckt, fasst er
meine Hand und zieht mich auf die Tanzfläche.
Ja, ich tanze gern … aber was ich hier machen soll, ist mir schleierhaft. Wie Berserker bei einem epileptischen Anfall hüpfen Jungen
und Mädchen ekstatisch um mich herum. Ich habe kaum Platz zum
Bewegen, und wahrscheinlich würde ich mich bei Luka und allen
anderen Anwesenden komplett lächerlich machen, startete ich einen
Versuch, Discofox mit ihm zu tanzen. Abgesehen davon ist er bereits
507
in seinem Element, bewegt sich rhythmisch zum Beat, bleibt jedoch
direkt vor mir, und so überwinde auch ich mich und beginne, mich
zu bewegen – so gut es geht jedenfalls. Ich fürchte, dass ich eher aussehe wie eine unhandliche Marionette.
Mit jeder Minute werde ich jedoch lockerer, was aber auch daran
liegt, dass Lukas Zähne mich im gelegentlichen Schwarzlicht konsequent weiß angrinsen. Ab und zu zieht er mich sogar heran, macht
eine Drehung mit mir, ehe er mich wieder meinen eigenen Tanzkünsten überlässt. Dennoch bin ich im Vergleich zu den meisten hier
etwas versteift, dabei kann ich es ja nicht einmal darauf schieben, als
einzige keinen Alkohol intus zu haben, wenn hier wirklich so streng
kontrolliert wird, und wahrscheinlich bleibt den Betreibern nichts
anderes übrig. Wenn sie sich keinen rechtlichen Ärger einhandeln
wollen, sollte schließlich der Großteil der Anwesenden nüchtern
sein.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, ehe Luka und ich uns an den
Rand begeben und Zuflucht an einem Tisch finden, wo ein Pärchen
sitzt, uns jedoch die beiden freien Plätze auf der anderen Seite gewährt. Luka entschuldigt sich kurz und kehrt nach ein paar Minuten
mit zwei Getränken zurück. Während er mir einen opulenten Cocktail mit Orangenspalte und zwei Kirschen am gezuckerten Rand
überreicht, begnügt er sich mit einer großen Limo und leert sie mit
einem Zug bis zur Hälfte. »Wie gefällt es dir?«, fragt (schreit) er.
Er schwitzt noch mehr als ich, und als er sich zu mir herüberbeugt, landet ein Schweißtropfen auf meinem Arm, worüber er lachen muss, ehe er ihn wegstreicht und sich entschuldigt.
»Es ist … okay«, gröle ich zurück und sauge an dem Strohhalm.
Der zitronig-fruchtige und nicht zu süße Geschmack erfrischt mich
augenblicklich. »Ich bin … das einfach nicht so gewohnt!«, erkläre
ich und finde es peinlich, in Hinblick auf meine Gefühle und Bedenken so lauthals herumzukreischen. Das Pärchen uns gegenüber beginnt hemmungslos zu knutschen.
»Boah, das Lied ist genial!«, ruft Luka plötzlich, auch wenn ich
508
nicht erkennen kann, dass sich musikalisch irgendetwas verändert
hätte, nimmt noch einen Schluck und zieht mich dann zurück auf die
Tanzfläche. Diesmal bemüht er sich um einen regen Wechsel zwischen Freestyle und Partnertanz und zieht mich öfter an sich, dreht
mich und überlässt mich wieder mir selbst. Ein klassischer Tanz, wie
ich ihn von Kirchenveranstaltungen kenne, ist natürlich nach wie vor
nicht möglich.
Irgendwann leeren wir unsere Getränke, und als wir schließlich
unsere Jacken holen und den Club verlassen, kann ich beim besten
Willen nicht ermessen, wie viel Zeit vergangen ist. Luka wirft sich
lässig die Jacke über die Schulter. »Du erkältest dich noch«, warne
ich ihn beim Anblick des komplett nassgeschwitzten Rückens, aber
er winkt ab.
»Nicht mein erstes Mal, Honey«, rechtfertigt er sich schäkernd.
Ich verspüre einen unangenehmen, dumpfen Druck auf den Ohren, und meine Kehle kratzt, obwohl wir gar nicht so viel kommuniziert haben. Es tut gut, wieder in normaler Lautstärke reden zu können. »Du gehst da also jedes Wochenende hin?«, frage ich neugierig.
»Nicht jedes Wochenende. Und nicht immer ins Libero. Aber es
hat sich halt angeboten. Hattest du denn wenigstens ein bisschen
Spaß?«
»Ein klitzekleines bisschen«, sage ich und halte Daumen- und
Zeigefingerspitze direkt übereinander, »aber ob ich mir das regelmäßig antun könnte …« Es ist ja nicht so, dass ich mich langweile, wenn
ich mit meinen Freunden unterwegs bin – aber jeder Spieleabend mit
Luisa, Finn und Dominik sagt mir mehr zu als so ein Lärmpegel und
eine Menschenmasse auf engstem Raum.
Auch zum Milchshake im nächstgelegenen McDonald’s lädt er
mich ein, obwohl ich bereitwillig mein Portemonnaie gezückt habe.
Wir setzen uns in eine leere, gemütliche Ecke, und die große runde
Uhr an der Wand gegenüber verrät mir, dass wir um die zweieinhalb
Stunden tanzen waren – und ich muss mir selbst eingestehen, dass
mir das tatsächlich nicht so lang vorgekommen ist.
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»Es ist halt nicht ganz so meine Welt«, setze ich das Gespräch von
eben fort. »Ich bin ruhigere Abende mit meinen Freunden gewohnt
… aber: Es war mal was anderes.«
»Ich find’s jedenfalls cool, dass du über deinen Schatten gesprungen und mitgekommen bist«, meint er. »Ab und zu sind Veränderungen doch gar nicht verkehrt, oder?«
Da hat er recht, aber eine waschechte Discogängerin werde ich sicherlich nicht werden. »Ist das mit Alkohol und Drogen denn so gar
kein Problem für dich?«, frage ich vorsichtig und füge rasch hinzu:
»Versteh mich nicht falsch – mir ist schon klar, dass du das nicht zu
dir nimmst, und vielleicht ist mein Bild von der Partyszene auch völlig falsch …«
»Na ja, man muss schon aufpassen«, setzt er entgegen. »Es gibt
solche Clubs und solche. Und Gefahren lauern natürlich überall mal
– aber wenn ich mit meinen Freunden weggehe, die nicht der Kirche
angehören und auch mal einen wegkippen, muss ich trotzdem sagen, dass keiner von denen jemals versucht hat, mich dazu zu bringen, etwas zu tun, was ich nicht möchte. Die sind echt korrekt. Einmal abgesehen davon sind sie doch froh, wenn einer nüchtern bleibt,
der die anderen nach Hause bringen kann.« Er lacht. »Aber ich will
das nicht runterspielen. Die richtige Gesellschaft ist wichtig, dennoch finde ich es schwachsinnig, gleich alles zu verteufeln, was
dunkler oder lauter ist als ein Tanzabend im Gemeindehaus … Wobei ich sagen muss, dass mir Partnertanz grundsätzlich schon mehr
Spaß macht … aber versuch das mal da auf engem Raum.«
»Du tanzt auch sehr gut«, lobe ich ihn. »Von den Spacken auf der
Tanzfläche eben hast du jedenfalls am talentiertesten ausgesehen.«
Erneut prustet er los. »Welch charmantes Kompliment, Schwester
Bach«, bedankt er sich. »Und du? Hättest du Lust, so etwas mal wieder zu machen? Oder … oder auch etwas anderes?«
Bittet er mich durch die Blume um eine zweite Verabredung?
Ich halte kurz inne und lasse den verrückten Abend und die ganze Situation Revue passieren. »Luka, ich muss dir beichten, dass ich
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immer fest davon ausgegangen bin, du würdest letzten Endes mit
Sophie zusammenkommen«, sage ich und umgehe damit eine Antwort. »Das ist auch ein Grund, warum ich … mir gerade etwas komisch vorkomme. Ich habe das Gefühl, meiner Schwester die vorbestimmte Zukunft zu verbauen, wenn ich Zeit mit dir verbringe.«
»Und wenn ich nun aber Sophies Schwester mag?«, entgegnet er.
Die großen blauen Augen haben schon ihren Reiz – irgendwie
habe ich den Eindruck, darin klar lesen zu können, wie es um mein
Gegenüber bestellt ist, anders als Milos schwarze Augen, in denen
ich immer nur in Ungewissheit versinken konnte. Womit wir aber
beim eigentlichen Problem wären.
»Ich kann davon ausgehen, dass du über die Situation mit Milo
unterrichtet wurdest?«, frage ich.
Er nickt.
»Luka … ich fühle mich sehr geschmeichelt. Und prinzipiell würde ich dein Angebot auch annehmen wollen … Ich brauche einfach
noch ein bisschen Zeit. Das mit Milo ist noch frisch und momentan
geschieht da einfach noch viel, und die ganzen Umstände mit Mama
und Samuel kommen noch dazu … Ich glaube, das muss alles erst
einmal ein wenig abschwellen.«
»Also ein Ja, später?«, hakt er verständnisvoll nach.
»Sowas in der Art«, sage ich.
»Akzeptable Antwort«, beschließt er. »Ich will ja auch gar nicht,
dass du dich stresst. Aber nach Luisas Geburtstag tauchte der Gedanke vermehrt auf, und ich dachte, ich ergreife einfach mal die
Chance, wenn sie sich bietet.«
»Das ist … wirklich süß«, gestehe ich mehr mir selbst als ihm ein,
belasse das Thema jedoch damit auf sich beruhen.
Höflich, wie er ist, bringt er mich nach Hause. Ich versuche, nicht
abgelenkt zu sein, ertappe mich jedoch während der Fahrt dabei,
dass ich mir selbst die Frage stelle, ob ich mir überhaupt vorstellen
könnte, Luka besser kennenzulernen, oder ob ich damit nur einen
kläglichen Versuch starte, endgültig über Milo hinwegzukommen,
511
was momentan ja eigentlich gut funktioniert. Außerdem ist die
Freundschaft, die Milo und mich inzwischen verbindet, für mich
kein mühevoller Fluchtweg, weil der romantische Weg nicht geklappt hat. Ich verschwende meine Zeit längst nicht mehr mit Tagträumereien, und gerade wenn ich an Dates und romantische Augenblicke und meine Traumhochzeit denke, ist das Gesicht des Mannes an meiner Seite doch eher verschwommen und nicht mehr mit
Milos identisch. Vielleicht bin ich emotional schon viel weiter, als ich
dachte? Vielleicht sollte ich wirklich nach vorne blicken und neue
Möglichkeiten in Anspruch nehmen?
Selbst den kurzen Weg von der U-Bahn-Haltestelle vor die Tür
begleitet Luka mich, und nachdem wir uns verabschiedet haben und
ich ins Haus komme, wird mir bewusst, dass die Entrüstung über
Luisas hinterhältiges Set-up verklungen ist und sich zum ersten Mal,
seitdem Milo mir das Herz gebrochen hat, das wohltuende Gefühl
einstellt, dass es auch in meinem komplizierten Liebesleben Lichtblicke und Optionen gibt.
Luisa selbst wird trotzdem erst einmal gnadenlos ausgeschimpft,
und ich beschließe, die beleidigte Leberwurst zu spielen, obwohl ihr
Luka bereits gesteckt haben muss, dass wir uns gut verstanden haben. »Heul herum, wie du willst«, schreibt sie mir spät abends noch,
»eines Tages wirst du mir dafür danken!«
»Ja ja bla bla«, antworte ich, allerdings mit einem zwinkernden
Smiley – sie soll ja wissen, dass ich nicht (mehr) wütend bin. Gleichzeitig sollte sie ihre Hoffnungen nicht zu hoch schrauben, dass ich
von heute auf morgen ihre Schwägerin werde. Und dass wir bis in
alle Ewigkeit Schwestern bleiben, daran wird sich sowieso nichts ändern.
Ich gehe gut gelaunt ins Wochenende, und das trotz der Ungewissheit, welche Entscheidung Milo treffen wird, und die Stimmung
hebt sich, als wir erfahren, dass Mama wahrscheinlich schon in einer
Woche aus dem Krankenhaus entlassen werden kann. Ihr geht es
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von Tag zu Tag besser, und sie freut sich ebenfalls, wenn auch mit einem lachenden und einem weinenden Auge, denn schließlich muss
sie ohne ihr Kind nach Hause kommen. So lästig ihr der Aufenthalt
dort ist, so hat sie Samuel doch rund um die Uhr in ihrer Nähe, was
sich nun ändern wird.
Wann wir unseren Bruder mitnehmen können, steht noch in den
Sternen. »Es ist von Fall zu Fall total unterschiedlich«, erklärt uns Dr.
Hartle. »Seine Werte sind gut und er nimmt an Gewicht ordentlich
zu, aber es fällt mir trotzdem schwer, eine Prognose zu stellen. Die
meisten Säuglinge, die so früh zur Welt gekommen sind, haben wir
gute acht Wochen bei uns behalten – manchmal länger, manchmal
aber auch kürzer, wenn es ungewöhnlich gut ging. Was am wichtigsten ist: Auch wenn das noch lange hin scheint, besteht kein Grund
zur Sorge.«
»Und im Normalfall wäre er dann ja auch erst geboren worden«,
fügt Papa hinzu, womit er natürlich recht hat. Auch er wünscht sich
sehnlich, dass sein kleiner Sohn nach Hause kommen kann, aber momentan beflügelt ihn, glaube ich, auch erst einmal der Gedanke,
Mama endlich zurück an seiner Seite zu haben.
Milo hat mir geschrieben, dass ich ihn nicht vom Bahnhof abholen
soll, da er doch tatsächlich zu seinen Eltern fahren will. Am Sonntagnachmittag bin ich also ein bisschen unruhig, und als er schließlich heimkommt, kann ich es kaum abwarten, zu erfahren, wie es bei
Roman war, wie das Gespräch mit seinen Eltern war – und ob er sich
zu einer Entscheidung durchringen konnte, wie es weitergehen wird.
Das Nervige ist, dass ich ihn inzwischen mit meiner Familie teilen
muss. Tante Mini, die sich morgen auf den Rückweg macht, begrüßt
ihn als den Sohn, den sie nie hatte (was angesichts der Tatsache erstaunt, dass sie buchstäblich einen Sohn in exakt Milos Alter hat),
Justus will ihm sein neues Computerspiel zeigen, Sophie und Papa
fragen ihn nach seinem Wochenende aus, und beim Abendessen
höre ich eher schweigend zu, als zum Gespräch beizutragen. Was
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auch immer geschehen sein mag – ich nehme ihn als entspannt wahr.
Er scherzt, lacht und beginnt plötzlich von allein, über seine Eltern
zu reden. Hier vor allen?, wundere ich mich und merke, dass ich geradezu eifersüchtig bin, weil er alle daran teilhaben lässt und nicht
erst mit mir alleine darüber spricht.
»Roman und ich haben gestern mit unseren Eltern geskypt und
ich war eben bei ihnen«, erzählt er. »Über kurz oder lang muss ja irgendetwas geschehen …« Er schaut zu Papa, der ja von dem etwaigen
Vorhaben weiß, und dann zu Sophie, Justus und Tante Mini. Zu mir
blickt er als Letztes. »Roman hat mir angeboten, dass ich bei ihm
wohnen und dort die Schule beenden kann.«
»Du ziehst weg?«, schaltet sich Sophie sofort ein. »Aber du
kannst uns doch nicht einfach so verlassen!«
»Sophie«, mahnt Papa augenblicklich. Meine Schwester hält sich
die Hand vor den Mund.
»Verlassen wäre das falsche Wort«, fährt Milo fort. »Dazu habt ihr
einen zu großen Platz in meinem Herzen. Aber ich muss auch an
meine Zukunft denken – und an meine Familie. Ich habe …« Er
stoppt kurz, und unsere Blicke treffen sich. »Ich habe viel nachgedacht … und auch gebetet«, gesteht er dann. »Eigentlich tue ich das
schon eine Weile. Wisst ihr, früher habe ich immer den verzweifelten
Wunsch verspürt, dass mein Vater mich doch lieben kann. Inzwischen wünsche ich mir, dass ich ihm vergeben kann. Und als wir
gestern und heute gesprochen haben, hat er sich nicht unbedingt völlig kooperativ gezeigt und das meiste Reden meiner Mutter überlassen, aber ich habe richtig gespürt, wie sich die Wut und Enttäuschung in mir lösen und ich Frieden empfinde … und ich habe den
deutlichen Eindruck, dass ich diesem Frieden am besten Raum geben kann, wenn ich vorerst ein bisschen Abstand zu meinen Eltern
gewinne und nach Kassel ziehe.« Er sieht zu Papa. »Ich fühle mich
gut bei dieser Entscheidung.« Er meint das nicht als Rechtfertigung –
ich glaube, er will damit seine Dankbarkeit für den Segen bekräftigen, den er von Papa erhalten hat. Und offensichtlich hat dieser dazu
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beigetragen, dass sich dieses Gefühl einstellen konnte.
»Lass uns wissen, wie wir dir helfen können«, sagt Papa sogleich.
»Es ist schön, dass du dich gut dabei fühlst. Und wenn sich irgendetwas ändern sollte – du bist hier jederzeit willkommen, ich hoffe, dass
du dir dessen bewusst bist.«
Aus unerfindlichen Gründen beginnt Tante Mini zu weinen und
beklagt das Ende der Ära Milo, und Sophie langt über den Tisch und
legt kurz die Hand auf seinen Oberarm. »Wir werden dich auf jeden
Fall vermissen!«, sagt sie. Offensichtlich kommt ihr gar nicht in den
Sinn, was das für das Theaterstück bedeutet.
Ich entschuldige mich nach dem Abendessen und gehe nach
oben. Ich verstehe meine Flucht selbst nicht ganz. War das kein Zufall, dass sich Luka seinen Weg in mein Leben erschlichen (oder eher
geboxt) hat, nun, da Milo – auch wenn unsere Freundschaft nie aufhören wird – mich zumindest im räumlichen Sinne verlässt?
»Molly, wir werden eine Lösung finden.« Milos Ton ist fest entschlossen, und ich blicke von meinem Bett auf. Milo steht, die Hände
in den Hosentaschen vergraben, im Türrahmen. »Ich hätte diese Entscheidung nicht gefällt, wenn ich nicht deutlich gespürt hätte, dass
wir das irgendwie auf die Reihe bekommen mit Jane Eyre!« Ich richte
mich auf, und er setzt sich neben mich. »Verstehst du nicht, was das
bedeutet, dass ich mich überhaupt dazu entschließen konnte?« Er
wartet meine Antwort erst gar nicht ab. »Es bedeutet, dass Gott Gebete erhört … dass es ihn wirklich gibt.«
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40
V
or knapp drei Jahren, also mit dreizehn, hielt ich in der Abendmahlsversammlung das erste Mal eine Ansprache. Ich hatte
zwei Wochen zuvor von der Bischofschaft den Auftrag dazu erhalten, bereitete mich mit Mamas und Papas Hilfe akribisch darauf vor
und lieferte, wie ich empfand, eine gute, durchstrukturierte und
geistige Botschaft ab. Ich war nervös, aber gut vorbereitet. Zu keinem Zeitpunkt zweifelte ich, dass der Inhalt meiner Ansprache nicht
die Wahrheit des Evangeliums widerspiegelte, auch wenn ich im
Nachhinein nicht sagen kann, dass es ein tiefgeistiges Erlebnis für
mich war.
Mit vierzehn stand ich das erste Mal in der Zeugnisversammlung
auf und ging nach vorne ans Pult. Die Situation war ganz anders. Ich
war nicht darauf vorbereitet. Ich wusste nicht so recht, was ich sagen
sollte. Aber aus Gründen, die ich bis heute nicht kenne, begann mein
Herz bereits beim Abendmahl wie wild zu pochen. So etwas hatte
ich noch nie erlebt, und doch war mir augenblicklich klar, was dieses
Gefühl mir sagen wollte: Geh nach vorne und gib Zeugnis. Auch bei
meiner Ansprache – und zu anderen Anlässen – hatte ich schon
Zeugnis gegeben und den Geist verspürt. Jedoch eigenmächtig nach
vorne schreiten und ohne Konzept sagen, was mir auf dem Herzen
liegt? Das war mir neu.
Nach wie vor weiß ich nicht, weshalb es gerade an jenem Sonntag
geschah, noch sehe ich das Ganze als »Aha-Erlebnis« oder dass ich
zum ersten Mal »richtig« verspürte, die Kirche sei wahr. Dennoch
hat es sich mir sehr stark eingeprägt, wie ich am Mikrofon stand und
mit zitternder Stimme begann, sich die Aufregung dann schnell legte, das Herzklopfen gleichmäßiger wurde und ich einfach wusste,
was ich sagen will. Und dass ich wusste, dass ich ein Zeugnis habe.
Wir verkünden in der Kirche immer so schön, dass ein Zeugnis
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wächst, wenn man andere daran teilhaben lässt. Davon bin auch ich
überzeugt. Ob es nun dieser Sonntag vor ungefähr zwei Jahren war
oder alle späteren Gelegenheiten, die ich wahrnahm, Zeugnis zu geben – jedes Mal loderte die Flamme des Evangeliums in mir ein wenig heller. Und bald darauf stellte sich auch ein anderes Phänomen
ein: Wenn ich hörte, wie jemand Zeugnis gab, und ich die Überzeugung dieser Person spürte, bekräftigte dies auch meine eigene Erkenntnis.
Dieser warme Strom durchflutet mich auch jetzt von Kopf bis
Fuß. Da hocke ich erst mal in meinem Zimmer und trauere um das,
was eventuell nicht werden kann, um wahrlich unbedeutende Nichtigkeiten, als Milo mir kundtut, worauf es im Leben tatsächlich ankommt: dass Gott für uns da ist. Und dass er dies nun selbst erkannt hat.
Wie sich das alles letzten Endes auf ihn auswirken wird, weiß ich
nicht, aber vorerst begnüge ich mich damit, dass der Same des Evangeliums in sein Herz gepflanzt wurde. Alles Weitere wird – muss –
sich irgendwie ergeben.
Ich weiß nicht genau, wann ich meinen Weg in Milos Arme gefunden habe, aber mein Kopf ist an seine Brust geschmiegt, sein
Kinn ruht auf meinem Haar, und ich könnte vor Freude heulen, würde er nicht plötzlich zu lachen anfangen. »Ich stelle mir nur gerade
vor, wie ich allen meinen Freunden erzähle, dass ich zu Gott gefunden habe, und erst einmal eine innige Umarmung als Gratulation erhalte«, erklärt er sein Verhalten, als ich ihn fragend ansehe.
Der Gedanke ist wirklich erheiternd, und trotzdem bedeutet mir
die Situation zu viel, als dass ich mich vom Lachen anstecken lasse.
»Mir ist einfach nur wichtig, dass du glücklich bist«, sage ich dann
unverfänglich. »Und dass du dich von uns nicht zu irgendetwas gedrängt fühlst, was du nicht willst.«
»Molly, Molly …« Ich löse mich und wir sehen uns in die Augen.
Unsere Gesichter sind so dicht beieinander, und unsere Vertrautheit
und Zuneigung und die jetzigen Umstände schreien fast danach,
dass wir uns die wenigen Zentimeter aufeinander zubewegen, bis
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unsere Lippen zueinander gefunden haben. Das Interessante ist, dass
ich den Wunsch danach gar nicht verspüre. Das Wissen, dass es dazu
nicht kommen wird – weder jetzt noch jemals – zerreißt mir nicht
mehr das Herz. Stattdessen überströmt mich ein tiefes Glücksgefühl
und ich verspüre nur den Wunsch nach einem: dass Milo diese
Wahrheit, die er nun für sich entdeckt hat, sein Leben lang festhalten
kann. Egal, was jemals auf ihn zukommen wird, wenn er den neugewonnenen Glauben an Gott nicht verliert, kann er alles meistern,
dessen bin ich mir sicher.
»Ihr werdet nicht glauben, was am Wochenende passiert ist!« Eigentlich sollte ich das lauthals ausrufen, doch es ist Lizzy, die diesen Satz
hervorsprudelt. Bengü und ich sitzen am Montagmorgen vor dem
geschlossenen Klassenzimmer und Lizzy gesellt sich wie selbstverständlich zu uns – auch wenn ein paar Klassenkameraden sie freudig
begrüßen, tut sie so, als hätte sie gar nicht für längere Zeit im Unterricht gefehlt. Den »erwachsenen« Look, der mir schon bei der Probe
aufgefallen war, hat sie sich beibehalten, aber die quirlig-entrüstete
Begrüßung klingt doch verdächtig nach der Lizzy, wie wir sie kennen und lieben.
»Du hast geträumt, dass du Herrn Rank geheiratet hast«, mutmaßt Milo, der ebenfalls bei uns hockt.
»Nicht so laut!«, ruft Bengü gleich. »Es sind nur noch zehn Minuten bis Unterrichtsbeginn, er müsste also jede Sekunde hier sein!«
»Leute!« Lizzy sinkt bei uns nieder. »Ich meine es ernst.«
Mir fällt auf, dass sich noch ein paar andere Mitschüler zu uns
umgedreht haben und mehr oder weniger heimlich lauschen, zumal
die meisten Lizzy seit ihrem Auftritt bei der Schulversammlung
nicht mehr gesehen haben. Sie lässt sich jedoch nicht beirren und tut
so, als wäre sie mit Bengü, Milo und mir allein.
»Mein Vater hat gestern mit Vickis Vater telefoniert«, berichtet sie
dann. »Der Typ hat uns – na ja, sogar mir – Geld angeboten, damit
wir die ganze Sache unter den Tisch fallen lassen!«
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»Woah, nun mal langsam«, sage ich aufmerksam. Ich weiß, dass
sich Papa ebenfalls um eine Anzeige kümmern wollte, aber nachdem
sich die Ereignisse in den vergangenen Wochen derart überschlagen
haben, habe ich nicht mehr nachgefasst, weil wir verständlicherweise
wichtigere Prioritäten setzen mussten.
»Den Greisers droht ohnehin eine satte Geldstrafe in Höhe von
ein paar tausend Euro, meinte unser Anwalt«, erklärt Lizzy weiter.
»Aber was natürlich noch viel wichtiger ist: Vicki droht Jugendhaft.
Ihre Eltern würden das gern umgehen und haben uns weitaus,
weitaus mehr Geld geboten, als ich in einem Strafverfahren jemals zugesprochen bekäme.«
»Wie viel?«, fragt Bengü unverblümt.
Nun sieht sich Lizzy um und beugt sich vor, damit nur wir drei
sie hören können. »25.000 Euro«, flüstert sie dann. »Zieht euch das
mal rein! So viel Kohle!«
Und doch ein Nichts im Vergleich zu dem, was Lizzy beinahe geraubt
wurde, kommt es mir augenblicklich in den Sinn. Mir wird ganz
schlecht bei dem Gedanken, dass sich die Greisers so schamlos freikaufen wollen. Nur ob Lizzy das auch so sieht? »Und?«
»Und was?«, entgegnet sie. »Kommt mir nicht in die Tüte! Also
ist schon ein gewaltiger Batzen, aber darum geht es doch nicht. Ich
weiß inzwischen von drei anderen, die sich bei der Schulleitung gemeldet haben und die ebenfalls von Vicki schwer gemobbt wurden.
Mit dir sind wir zu fünft, Molly. Die wird sowas von bluten …« Unverzüglich richtet sich Lizzy gerade auf, schließt die Augen, atmet
tief durch und hebt leicht die Hände, als wolle sie meditieren. »Nein,
Lizzy, darum geht es auch nicht«, schilt sie sich selbst. Sie schaut uns
wieder an. »Meine Therapeutin sagt, dass Rachegefühle letztlich nur
bewirken, dass es mir schlechter geht. Sie sagt, dass ich loslassen
muss«, erläutert sie. »Aber es gibt Rache und es gibt Gerechtigkeit,
und Vicki kann den Konsequenzen für ihre Taten nicht entkommen.
Ich muss nur lernen, ein wenig … lockerer damit umzugehen.«
Sie sagt das so einfach dahin, dabei würde niemand es ihr übel
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nehmen, wenn sie mit dem Finger auf Vicki zeigen oder diese gar
auslachen würde, falls sie tatsächlich in die Jugendhaft muss oder
eine ähnlich drastische Strafe bekommt. »Jedenfalls solltet ihr da am
Ball bleiben, Molly«, fährt sie fort. »Wir haben keinen Grund mehr,
Angst vor ihr zu haben, aber völlig beendet ist die Sache noch nicht.
Die Greisers haben, munkelt man, einen Top-Anwalt angeheuert,
aber die Beweislage ist so vernichtend, dass er vielleicht einen Vergleich vorgeschlagen hat, auch wenn das Angebot eher wie ein Bestechungsversuch rüberkam …«
»Und wie wird es nun konkret weitergehen?«, frage ich.
Lizzy zwirbelt mit den Fingern eine ihrer roten Haarsträhnen.
»Zuerst lasse ich mir die Haare schneiden«, verkündet sie. »Dann rocken wir Jane Eyre. Parallel dazu wird Vicki für ihre Sünden büßen
müssen.« Sie beißt sich auf die Zunge. »Schon wieder«, schimpft sie
sich selbst aus, »ich muss mich zurückhalten! Aber im Ernst …« Sie
streckt uns die Hände entgegen. »Ich bin so froh, dass du mich zur
Theater-AG überredest hast«, meint sie dann zu mir. »Es tut mir gut,
mit Kathrin und Samira spielen zu müssen, und es tut mir gut, überhaupt etwas in künstlerischer Richtung zu tun.«
Mein Blick fällt auf Milo, der jedoch peinlich berührt zur Seite
schaut. »Apropos«, sagt Bengü, »ich habe gestern eine etwas seltsame E-Mail von Frau Ömsen bekommen.« Ich werde hellhörig. »Sie
hat mich gebeten, ihr kurzfristig eine komplette Bestandsliste aller
Kulissen und Requisiten fertigzustellen, die wir bereits haben, und
was noch an Arbeit ansteht. Sie hat gefragt, ob ich es für machbar
halte, dass alles in den nächsten drei Wochen fertig wird!«
Nun trifft mein Blick auf Milos. Er denkt das Gleiche wie ich. Ich
kann es ihm ansehen.
»Reicht das nicht, wenn der ganze Kram im Laufe des Sommers
fertig wird?«, wundert sich Lizzy. »Gerade die Hauswände für
Thornfield Hall sollen doch die Zuschauer aus den Sitzen pusten,
oder nicht?«
»Eben«, erwidert Bengü. »Es klang fast so, –«
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Sprich es nicht aus, Bengü.
»– also wolle sie das Stück bereits vor den Ferien aufführen.«
Das war also Frau Ömsens Idee. Ich weiß nicht, ob es mich freuen
soll, dass sich diese Option aufgetan hat, denn alles, woran ich denken kann, ist nur dies: Wir ziehen das Stück Monate vor. Und es geht
nicht nur um die extrem geraffte Zeit zum Proben, sondern ganz nebenbei stehen noch einige Arbeiten an, Sophie hat mündliche Prüfung – und das sollen wir alles unter einen Hut bringen können?
Ich schrecke hoch, als ich Herrn Rank auf uns zukommen sehe.
Der Unterricht beginnt gleich. Aber wir müssen doch mit Frau Ömsen
sprechen! »Molly, was ist los?«, fragt Lizzy besorgt. »Weißt du Näheres darüber?«
Milo ist aufgesprungen. Er schnappt sich seine Tasche. »Ich schätze, wir sprechen nachher mit Frau Ömsen?«, schlägt er vor. »Ihr zwei
solltet vielleicht auch dabei sein«, sagt er zu Bengü und Lizzy, ehe er
sich davon macht.
Mir sagt es überhaupt nicht zu, meine beiden Freundinnen im
Unklaren zu lassen, aber wir haben buchstäblich keine Zeit, das Gespräch fortzuführen, und wir können uns jetzt nicht die ganze Zeit
Briefchen zuschieben – Lizzy braucht den Unterrichtsstoff und ich
doch auch. Als wir das Klassenzimmer betreten und sich Lizzys leerer Platz, der uns viel zu lange angegähnt hat, nun endlich wieder
füllt, ist die Versuchung nur zu groß, weiterzuplaudern und den beiden den aktuellen Stand der Dinge zu offenbaren. »In der Pause erzähle ich alles«, biete ich stattdessen an und hoffe auf ihr Verständnis.
»Jedes Detail!« Lizzy streckt mir den Zeigefinger entgegen. »Du
weißt doch genau, was es mit alldem auf sich hat!«
»Ja, aber du und ich wissen nicht, was es mit Mathe auf sich hat,
und das muss jetzt Vorrang haben.«
Das sieht Lizzy ein, Bengü weniger, aber dieser Glückspilz hat
das Zuhören auch gar nicht nötig und tut das nur, um uns nicht abzulenken und bei Bedarf helfend zur Seite zu stehen, wenn uns das
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Fragezeichen offensichtlich auf der Stirn geschrieben steht.
Kaum läutet es zur kleinen Pause zwischen den ersten beiden
Stunden, wenden die zwei sich mir zu und fordern Antworten. Fünf
Minuten sind nicht viel Zeit, vor allem nicht, wenn Herr Rank pünktlich beim Klingeln den Unterricht fortführt, aber ich kann meine
Freundinnen nicht eine weitere Dreiviertelstunde vertrösten. So nenne ich ihnen kurz und bündig die Fakten – Familienprobleme bei
Milo, das Angebot seines Bruders, sein baldiger Wegzug.
Lizzy ist geschockt. »Er zieht weg?« Irgendwie gelingt es ihr, das
nicht laut herauszubrüllen, was zur Folge hat, dass es wie ein hohes
Quieken klingt.
»Daher die Mail«, zieht Bengü blitzschnell den Rückschluss auf
die Nachricht von Frau Ömsen. »O wei. Wie sollen wir das nur
schaffen? Wie sollen –«
»Lasst uns das doch mit Frau Ömsen gemeinsam besprechen!«,
versuche ich sie zu beschwichtigen. »Wenn sie glaubt, dass wir das
packen können … Ich möchte ihr vertrauen. Und ich möchte Jane
Eyre aufführen.«
Es läutet zur Stunde, und wir widmen uns widerwillig dem Unterricht. Ich kann Bengü und Lizzy die Skepsis gar nicht übel nehmen, ich empfinde ja selbst so! Dennoch bin ich der Meinung, wenn
wir die beiden an Bord haben, könnten wir die übrige AG auch überzeugen. Bleibt abzuwarten, was Frau Ömsen uns konkret mitteilen
wird – denn sicher möchte auch sie ihren Standpunkt darlegen und
uns versichern, dass ihr Plan auch wirklich umsetzbar ist.
In der Unterstufe haben wir in der Pause entweder als Mädels Seilhüpfen gespielt, später wurde das durch Fangen und andere Spiele
gewechselt, weil die Jungs da ebenfalls mitmachen wollten. Dann
wurden die beiden alten, verrosteten Tischtennisplatten auf dem
Schulhof gegen neue ausgetauscht, und plötzlich waren wir dort alle
versammelt – es gab aufgrund der Masse keine klassischen Zweierpartien, sondern alle liefen im Kreis, bis nur noch zwei übrig waren,
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zwischen denen dann nach einem kurzen Match ein Gewinner der
Runde ermittelt wurde. Irgendwann trennten sich Jungs und Mädels
wieder, und aus den Spielen wurden allmählich Tratsch, Austausch
von Infos und bisweilen kleine Neckereien zwischen den Geschlechtern. Die »ganz Coolen« trafen sich irgendwo heimlich zum Rauchen. Dass ich irgendwann einmal den Großteil meiner Pausen im
Besprechungsraum des Lehrerzimmers verbringen würde, hätte ich
vor wenigen Monaten für äußerst unwahrscheinlich gehalten. Und
dennoch bin ich wieder hier. Ich sitze stets auf dem gleichen Platz.
Vielleicht sollte ich an der Rückenlehne des Stuhles ein Schild mit
meinem Namen anbringen?
Ich sitze ziemlich gelassen da, Milo ebenso – Bengü und Lizzy
sind eher diejenigen, die leicht aus dem Häuschen sind. Lizzy, weil
sie gerade erst in die Schule zurückgekehrt ist und immer noch viel
seelisch zu verarbeiten hat, Bengü, weil sie nicht nur Perfektionistin
ist, sondern eigentlich auch immer alles perfekt macht – sie hatte das
Bühnenbild fest im Griff und eine genaue Vorstellung, wann was wie
fertig wird. Diese Pläne kann sie nun über den Haufen werfen.
»Jane Eyre ist seit Jahren mein Traum«, sagt Frau Ömsen. »Ich
habe nie geglaubt, dass es mit einer Schul-AG umsetzbar ist, aber
Frau Beinker und ich haben uns einfach getraut. Wir dachten, wenn
wir statt dem regulären Schulhalbjahr zwei Jahreshälften aufwenden, sollte das gut klappen. Wir haben eine Traumbesetzung, die
Proben laufen super – das können wir einfach nicht über den Haufen
werfen.«
Bilde ich mir das ein, oder werfen Lizzy und Bengü Milo einen
vorwurfsvollen Blick zu? Immerhin war nur kurz Zeit, sie mit den
Fakten vertraut zu machen, und alle Hintergründe kennen sie nicht.
Ob sie sich von ihm ein wenig verraten fühlen?
»Und um ganz ehrlich zu sein, war das nicht das erste Mal, dass
mir der Gedanke kam, das Stück vorzuziehen«, gesteht Frau Ömsen
dann. »Die Darsteller kennen den Text und wir arbeiten schon jetzt
nur noch an den Feinheiten. Die Kulissen sind ebenfalls fortgeschrit-
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ten, und ich dachte, dass es vermutlich für alle leichter wäre, wenn
wir uns die Proben in den Sommerferien sparen – aber dann nach
sechs Wochen wieder reinzukommen … Warum also nicht die Ärmel
hochkrempeln und das Stück zum Schuljahresende aufführen? Wir
haben drei bis vier Wochen, um Werbung zu machen, die letzten Unsauberheiten auszubügeln, das Bühnenbild fertigzustellen.« Sie
klingt aufgeregt, und zwar im positiven Sinne, wird aber beim Anblick unserer steinernen Gesichter wieder ruhig. »Ich weiß doch, wie
viel ihr zu tun habt«, räumt sie ein. »Wir müssten die Proben auf
zweimal die Woche erhöhen, obwohl ihr viele Hausaufgaben aufhabt
und lernen müsst. Die Frage ist: Haltet ihr das für machbar? Können
wir das Halbjahr mit einem bombastischen Jane Eyre beenden, das einer Aufführung, wie wir sie im November hätten, in nichts nachstehen würde?«
Interessanterweise schaut sie als allererstes zu Bengü. »Mir ist bewusst, was ich da von euch verlange«, gibt sie zu. »Meinst du, die
AG könnte das packen?«
Ihr ist vermutlich klar, dass Bengü noch am ehesten in der Lage
ist, die Emotionen beiseite zu schieben und das Ganze abgeklärt und
mit dem reinen Verstand zu durchleuchten. »Rein realistisch betrachtet nicht«, erwidert meine Freundin schließlich. »Unabhängig davon,
wie das Stück wäre, wenn wir es in einem knappen Monat aufführen, wäre es zwangsläufig besser, wenn wir bis zum Herbst damit
warten. Mehr Zeit, mehr Proben, mehr Professionalität.« Sie grübelt.
»Die Kulissen wären gut, aber durchaus abgespeckter als geplant.
Hmm.« Ihr Blick schweift durch die Runde und bleibt auf mir ruhen.
»Die Darsteller sind solide genug, aber wir bräuchten externe Hilfe
bei den Kostümen«, überlegt sie weiterhin laut und schaut dann zu
Frau Ömsen. »Es ist verrückt und wir halsen uns einen riesigen Berg
Arbeit auf, aber ja, es ist machbar.«
»Aaargh, ich fühle mich so elend«, wirft Milo ein. »Das alles wegen mir … die anderen aus der AG werden mich hassen.«
»Vielleicht habe ich auch einfach aus kreativen Gründen diese
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Entscheidung gefällt«, sagt Frau Ömsen. »Wie gesagt, der Gedanke
ist mir nicht völlig neu, und vor allem Sophie wird es zugute kommen, die ja ebenfalls von der Schule geht. Stellen wir uns doch darauf ein und besprechen am Donnerstag mit den anderen alles weitere – Aufführungstermine, Zusatzprobe und so weiter.«
Wir erklären uns einverstanden. Ich bin dankbar für das Vertrauen, das Frau Ömsen in uns setzt, auch wenn ich mir gar nicht ausmalen möchte, was da an Arbeit auf mich zukommt. Dann jedoch spüre
ich, wie Milo seinen Arm um mich legt und Lizzy von der anderen
Seite, und Bengü hat sich bei Lizzy eingehakt. Ist der innere Druck
etwa in Heiterkeit umgeschlagen? »Wir sind völlig verrückt«, meint
Bengü. »Andererseits hätte ich gar nichts anderes erwarten sollen. Es
ist doch typisch, dass wir mal wieder einen komplett durchgeknallten Plan auf die Beine stellen.« Sie sagt das gar nicht abwertend, sondern eher belustigt. Ich freue mich, dass sie »wir« gesagt und nicht
alles auf Milo und mich geschoben hat.
»Das zeichnet uns eben aus«, verkündet Lizzy. »Das Leben wäre
doch langweilig, wenn man nicht ein wenig risikofreudig ist – auch
wenn ihr euch an mir vielleicht nicht unbedingt eine Scheibe abschneiden solltet …« Sie lacht, aber angesichts dessen, was sie in letzter Zeit durchgemacht hat, können wir nicht richtig miteinstimmen.
»Danke, dass ihr das unterstützt«, sagt Milo. »Ich weiß das wirklich zu schätzen, dass ihr hinter mir steht.«
»Hallo, du bist der heißeste Junge der Schule«, ruft Lizzy. »Ist mir
doch egal, ob du mit Molly gehen willst oder mit Chris. Ich tue alles
für dich, okay?«
Nun hat sie es doch geschafft, dass wir mit ihr lachen, und das
große Projekt, das uns direkt bevorsteht, erscheint gleich viel machbarer.
Als Milo und ich heimkommen, macht sich Tante Mini auf den Weg.
Sie versichert Papa, dass sie mühelos auch noch eine weitere Woche
bleiben könnte. »Auch wenn ich gerade eine Grippe aufziehen spü-
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re«, klagt sie.
Papa bedankt sich bei ihr, beteuert jedoch, er und wir Kinder werden es schon packen. »Deine Familie braucht dich auch mal wieder«,
legt er ihr ans Herz, als sie sich zum Abschied umarmen. »Aber danke, dass du gekommen bist. Du warst uns eine große Hilfe.«
Uns Kinder drückt sie auch herzlich, obwohl ich den Eindruck
habe, dass sie Milo am längsten festhält und ihm etwas wie »Ruf
mich an!« ins Ohr flüstert, aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur
ein.
»Übrigens bittet Luka um Rückruf«, teilt Papa mir mit, bevor wir
uns ins Haus zurückziehen. Musste er das jetzt wirklich vor allen
sagen?
Luka und ich haben uns übers Wochenende durchaus ein paar
SMS hin- und hergeschickt. Milo habe ich von der Verabredung natürlich erzählt, es jedoch weniger als Date verpackt, auch wenn ich
ihm nichts vormachen konnte. So grinst er auch jetzt über das ganze
Gesicht und stupst mich leicht an. »You go, girl«, raunt er.
»Mir geht das zu schnell«, verteidige ich mich, obwohl ich damit
doch das Gefühl von gestern Abend, über Milo hinwegzusein, ein
bisschen verleugne. »Ruf du ihn doch an«, necke ich ihn.
»Würde ich, wenn er Interesse hätte«, kontert er, »aber ich bringe
bestimmt nicht noch mehr Aufruhr in deine Familie und deinen
Freundeskreis. Jetzt, wo sich alles ein wenig zu ebnen scheint …«
Wir gehen nach oben und bringen seine Sachen in Sophies Zimmer, wo er jetzt, da Tante Mini heimgefahren ist, wieder wohnen
wird. Die verbleibenden wenigen Wochen …
»Es wird also tatsächlich mit Jane Eyre klappen«, bemerke ich zwischendurch und kann es selbst kaum glauben, dass wir eine Lösung
gefunden haben, so aufwändig sie auch sein mag.
»Natürlich«, erwidert er. »Das war doch mein Deal mit Gott. Ich
ziehe weg, aber dafür macht er es möglich, dass wir das Theaterstück trotzdem aufführen können.« Er spricht das in aller Ernsthaftigkeit und ohne den Funken eines Zweifels aus.
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Und wie damals, als ich das erste Mal in einer Versammlung
Zeugnis gegeben habe, fängt mein Herz an zu pochen, und ich spüre
den unnachgiebigen Wunsch, Milo an meinem persönlichen Zeugnis
teilhaben zu lassen – obwohl ich ihn, wie es mir scheint, in letzter
Zeit ständig damit überhäuft habe. »Ich bin so glücklich, dass du das
so siehst«, sage ich. »Milo, ich bin eine Null in Mathe, hangele mich
auch gerade so durch Geschichte und Bio, und ständig beneide ich
Bengü, wie sie diese Art von Wissen förmlich in sich aufsaugt. Aber
wenn ich eines mit Bestimmtheit weiß, dann, dass Gott uns nie im
Stich lässt. Dass er dich nie im Stich lässt. Und mehr als alles andere
hoffe ich, dass du dir diese Erkenntnis immer bewahren kannst.«
Er legt einen kleinen Stapel Wäsche auf das Bett. »Danke, Molly.«
Er lächelt mir zu. Mehr braucht er auch gar nicht zu sagen, da ich sehen kann, dass er den gleichen Wunsch wie ich verspürt.
Jane Eyre wird den würdigen Abschluss eines turbulenten Schulhalbjahres bilden, und genau wie Jane werden auch Milo und ich allen zeigen, dass es sich immer lohnt, voranzugehen und niemals aufzugeben.
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I
ch bete darum, dass Sie beim Anblick Ihres Spiegelbildes über Mängel
und Selbstzweifel hinwegsehen und erkennen können, wer Sie wirklich
sind: herrliche Söhne und Töchter des allmächtigen Gottes …«
Präsident Uchtdorfs Worte schwirren mir schon seit Tagen im
Kopf herum. Wie ich noch vor einem halben Jahr vor dem Spiegel
stand und unter dem gelitten hab, was mich dort anstarrte, ist inzwischen fast wie ein Traum von vor langer Zeit. Schon vor ein paar Wochen ist mir bei dem Blick in den Spiegel bewusst geworden, dass
das hässliche Entlein verschwunden ist und ich in den vergangenen
Monaten eine innerliche und auch äußerliche Transformation durchlebt habe. Wer hätte gedacht, was ich innerhalb kürzester Zeit über
mich und über das Leben an sich lerne? Zugegebenermaßen waren
viele äußere Umstände daran beteiligt, die ich nicht alle eigens verursacht habe. Ob das Leben deshalb so spannend ist – und schön
und frustrierend und traurig und dramatisch? Weil man einiges
selbst steuert, anderes aber eben nicht kontrollieren kann? Oder weil
es darum geht, dass man eigentlich nie selbst am Steuer stehen sollte,
sondern es stets dem Vater im Himmel überlassen muss, voller Glauben in die Richtung blickt, in die er das Schiff leitet, und sich bemüht, trotz Nebel und Stürmen und Seeungeheuern den sicheren
Hafen auf der paradiesischen Insel zu erspähen?
Das war auf jeden Fall die Einstellung Jane Eyres. Ich weiß nicht, wie
viel von Charlotte Brontë in ihrer Romanfigur steckt, aber ich bin
schon ganz begierig darauf, eines fernen Tages in einer anderen Welt
mit ihr zusammenzusitzen und sie auszufragen, wie sie diese gottesfürchtige Frau erschaffen hat, die nie, auch nicht in der finstersten
Stunde, den Lebensmut verlor, sondern sich nach jedem tragischen
Schlag wieder aufrappelte.
Erneut schaue ich in den Spiegel. Meine Haare sind sehr streng
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zurückgesteckt. Am liebsten wäre ich gänzlich ungeschminkt, aber
Esmeraude, die für die Maske zuständig ist, meinte, ein wenig Augen-Make-up sei bei jedem Darsteller wichtig, da es den Zuschauern
helfe, die Mimik besser zu erkennen. Sie hat mir dünn die Lider umrandet und das Gesicht gepudert. Ich trage ein biederes, wenn auch
eng anliegendes graues Kleid mit hochgeschlossenem weißem Kragen aus Seide, das mir Luisas Mama genäht hat. Mein zweites Kostüm, das wunderschöne perlenbestickte Hochzeitskleid, hat sie
ebenfalls angefertigt. Sie und fünf weitere FHV-Schwestern aus der
Gemeinde haben in den letzten drei Wochen endlose Stunden geopfert, um bei den Kostümen zu helfen. Frau Ömsen hatte bei der Generalprobe vorgestern Tränen in den Augen, weil sie nicht fassen
konnte, wie hilfsbereit diese Frauen waren. Noch besser: Sie möchte
am Sonntag in die Gemeinde kommen, um sich bei jeder persönlich
zu bedanken, auch wenn ein paar von ihnen heute bei der Premiere
anwesend sein werden.
»Bist du bereit?«
Milo hat die Haare in den letzten Wochen bewusst wachsen lassen, und sie sind jetzt so lang, dass sie beinahe die Schulter erreichen. Er trägt einen Seitenscheitel, und die Koteletten reichen fast bis
zum Kinn. Auch sein Kostüm sieht phantastisch aus: Über dem weißen Hemd mit dunklem Halsband trägt er eine braune Weste und
ein braunes Sakko, und die hochgeschlossene schwarze Hose verschwindet in den konservativen Lederstiefeln, die er sich von seinem
Bruder geborgt hat.
Ich werfe einen kurzen Blick auf die Wanduhr. Noch zwanzig Minuten. Die anderen laufen nebenan in der größeren Garderobe herum oder auf dem Flur oder überprüfen zum letzten Mal, ob die Kulissen und Requisiten alle am richtigen Ort sind. Bis eben war ich allein in dem winzigen Raum; ich erhebe mich von dem unbequemen
Hocker und gehe einen Schritt auf Milo zu. Kurz beäugen wir einander neugierig und fasziniert vom Endergebnis unserer Kostümierung.
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»Du siehst wirklich aus wie sie.« Milo lächelt.
Auch er könnte keinen besseren Mr. Rochester abgeben.
»Ich kann gar nicht fassen, dass es wirklich soweit ist«, murmele
ich. »Weißt du, wie viele gekommen sind?«
»Es ist brechend voll«, berichtet er begeistert. »Sie haben sogar
auf der Empore Stühle für etwaige Zuspätkommer aufgestellt. Die
anderen Vorstellungen werden vermutlich nicht bis auf den letzten
Platz besetzt sein, aber das ist doch auf jeden Fall ein gelungener Anfang.«
»Ist Roman gekommen?«, frage ich.
Er nickt, zuerst glücklich, dann betrübt. Ich weiß, was das bedeutet: Er freut sich, dass sein Bruder erschienen ist, aber seine Eltern
sind nicht da.
»Schön«, sage ich trotzdem.
»Luka sitzt in der ersten Reihe«, informiert er mich dann und
zieht ein paar Mal hintereinander schnell die Augenbrauen hoch.
»Und warum sollte mich das interessieren?«, gebe ich brüsk zurück und tue unbeeindruckt. Ich wende mich ab, damit Milo nicht
sieht, wie rot ich werde, aber da er mich über den Spiegel beobachten kann, mache ich mich mit meiner aufgesetzten Ignoranz nur
noch lächerlicher.
Dabei waren Luka und ich im vergangenen Monat nur ein einziges weiteres Mal aus. Na gut, zweimal, wenn man mitzählt, dass er mir anstelle von Luisa in Mathe ausgeholfen hat und wir anschließend noch
ein wenig in der Stadt umhergeschlendert sind. Na gut, viermal,
wenn man noch die beiden Kinobesuche gemeinsam mit Luisa und
Finn zählt, und beim zweiten Besuch waren Milo, Lizzy und Bengü
auch mit.
Ich will mich da gar nicht reinsteigern. Luka drängt zu nichts,
aber inzwischen, gestehe ich mir ein, freue ich mich auf die täglichen
SMS und gelegentlichen Telefonate. Wenn die Aufführungen geschafft und endlich Ferien sind, habe ich einfach mehr Zeit, mich mit
meinen Gefühlen für Luka auseinanderzusetzen, daher bin ich red-
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lich bemüht, nicht ununterbrochen daran zu denken. Andererseits
vermeide ich es wiederum strikt, Gedanken an den Ferienbeginn zu
verschwenden, weil dieser mit Milos Wegzug aus Frankfurt einhergeht. Ich habe meinen Frieden damit geschlossen, aber ihn nicht
mehr jeden Tag sehen zu können, kommt mir immer noch unwirklich vor.
»Ich necke dich doch nur«, sagt er, und ich muss kurz nachdenken, worauf er sich bezieht, weil ich schon wieder gedankenverloren
war. Luka. Milo freut sich von ganzem Herzen. Er sagt, er wäre jederzeit dazu bereit, das Team-Molly-Shirt wieder anzuziehen, um mich
vor nervigen Umwerbern zu schützen, aber Luka hätte seinen Segen.
Das könnte man als Scherz abtun, würde ich nicht tatsächlich viel
Wert darauf legen.
»Ich halte die Aufregung nicht mehr aus!« Sophie stürmt herein.
»Wie könnt ihr nur so ruhig sein?«
Ich kann zwar sagen, dass Sophie und ich uns besser verstehen
als je zuvor, aber seit ein paar Tagen geht sie mir wieder furchtbar
auf die Nerven. Vor dem mündlichen Abitur war sie zumindest
mehr auf Schule als auf Theater konzentriert, aber seitdem sie nun
alle Prüfungen hinter sich gebracht hat (mit Bravour, versteht sich),
denkt sie an nichts anderes mehr als Jane Eyre und spricht auch von
nichts anderem mehr – wenn man von ihr überhaupt mal etwas anderes hört als den Text, den sie allerorts aufsagt, sei es in der Küche
beim Ausräumen des Geschirrspülers oder auf Klo.
Nichtsdestotrotz: Sophie sieht aus wie einem Märchen entsprungen. Ihre braunen Haare sind auf beiden Seiten zu zauberhaften
Schillerlocken frisiert, die ihr über die Schultern fallen und mit kleinen cremefarbenen Schleifen verziert sind. Auch ihr Kleid ist ein Design von Ines Flemming, wenngleich eine andere FHV-Schwester die
Näharbeiten erledigt hat. Der Ausschnitt am Rücken mag etwas tief
geraten sein, aber ich glaube, ich habe noch keine Verfilmung von
Jane Eyre gesehen mit einem so keuschen Blanche-Ingram-Outfit –
die Schultern sind bedeckt, der Brustausschnitt so hoch, dass man
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keinerlei Ansatz sieht. Mit dem gelben Stoff erinnert sie mich spontan an Belle im Ballkleid aus dem Film »Die Schöne und das Biest«,
wobei der wirre Nervositätsblick das Gesamtbild etwas zunichte
macht.
»Ich halte es nicht mehr aus.« Sie hebt die Arme, an denen sie seidene Handschuhe trägt, die ihr bis zum Ellenbogen reichen, und fächert sich Luft zu. »Vielleicht hätte ich mich doch nicht so vorlaut anbieten sollen«, überlegt sie, als ob das irgendeinen Unterschied machen würde.
Milo hat ein zu gutes Herz und sagt ihr genau das, was sie hören
will: »Du packst das schon, Sophie. Du hast das Abi gemeistert,
kannst deinen Text und: Du flirtest auf der Bühne mit mir!«
»Und verlierst gegen mich«, piesacke ich sie, weil ich nicht anders
kann.
»Und du gegen Frau Beinker!«, entgegnet sie in Anspielung auf
die geplatzte Hochzeit wegen Bertha Mason, meiner einstigen
Traumrolle. Ich muss zugeben, dass unsere Lehrerin den kleinen
Auftritt bravourös hinbekommt und wahrhaft wirkt wie eine Neandertalerin beim Amoklauf.
»Auf geht’s!« Frau Ömsen ist hereingestürmt. »Kommt ihr noch
einmal rüber?«
Es böte sich fast an, in der großen Gruppe gemeinsam zu beten
und den Vater im Himmel um seine Hilfe zu bitten, aber damit werde ich wohl kaum rechnen können. Stattdessen zwängen wir uns allesamt in die zweite Garderobe, die zwar größer, wenngleich nicht
sooo riesig ist, und Frau Ömsen lobt uns noch einmal überschwänglich. »Ein Traum wird wahr!«, verkündet sie. »Mein ganz persönlicher, aber ich hoffe, dass es auch für euch ein unvergesslicher Abend
wird. Ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen, wie stolz ich auf
das bin, was ihr innerhalb so kurzer Zeit geleistet habt!«
In gewisser Weise können wir uns alle auch selbst auf die Schulter klopfen. Frau Ömsens Bekanntgabe, das Theaterstück bereits vor
den Sommerferien aufzuführen, brachte einen Tumult mit sich, ge-
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folgt von Protesten und Gegenargumenten, aber sie ließ sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen und schaffte es binnen kürzester
Zeit, alle auf ihre Seite zu bringen. Sogar Kathrin und Samira stellten
sich mit keinem Wort quer, wobei ich mir bei den beiden sogar vorstellen kann, dass sie froh sind, wenn das alles vorbei ist und sie keine Zeit mehr mit uns verbringen müssen. Andererseits sehe ich ihnen doch auch an, dass sie Spaß haben und sie jetzt, wo Vicki weg
ist, mehr aus sich herauskommen und eindeutig nicht mehr so
fremdbestimmt sind. Man könnte glatt meinen, dass sie eine eigene
Persönlichkeit entwickeln.
Frau Ömsen spricht ein besonderes Lob dem Bühnenbild-Team
zu, das unter Bengüs Anleitung wirklich Unglaubliches zustandegebracht hat. Ich hatte ihr die Hilfe der Jungen Damen und Jungen
Männer aus der Gemeinde angeboten, aber sie meinte, alles wäre unter Kontrolle.
Ich weiß nicht, wie fantastisch die Kulissen aussehen würden,
wenn Bengüs Team noch ein paar Monate mehr dafür gehabt hätte –
ich weiß nur, dass das Bühnenbild trotz weniger Zeit super aussieht
und die Zuschauer umhauen wird. Es gibt drei große Hintergrundkulissen: eine für das Haus der Reeds, eine für Lowood (die Schule),
eine für Thornfield Hall. Die erste Kulisse wird in der zweiten Hälfte
des Stückes, nachdem Jane von Mr. Rochester geflohen ist und bei
Verwandten Unterschlupf findet, leicht abgewandelt erneut eingesetzt. Bengü und die anderen Bühnenhelfer haben mit Acryl Bilder
erschaffen, die fast fotografisch auf mich wirken. Da macht es auch
gar nichts, dass wir vor den Kulissen nur ein paar wenige Möbelstücke zur Verfügung haben.
Auch Frau Beinker äußert sich ebenfalls kurz und bedankt sich,
was ich aber kaum ernst nehmen kann bei ihrer skurrilen Aufmachung mit der völlig verfilzten Perücke, dem verdreckten Gesicht
und den Lumpen, die sie trägt. Optisch hätte ich eine solche Bertha
wohl wirklich nicht hinbekommen.
Neben mir steht Lizzy, die während der Rede unserer Lehrerin-
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nen meine Hand ergreift. Sie trägt ebenfalls eine Perücke, weil ihr
»Makeover zur Frau«, wie sie es selbst nennt, nicht noch bis nach dem
Stück warten konnte und sie nun einen frechen Kurzhaarschnitt
trägt, der ihr allerdings hervorragend steht. Lizzy steht in der allerersten Szene auf der Bühne, aber dass sie meine Hand hält, ist (wenn
überhaupt) der einzige Anflug von Lampenfieber bei ihr. Ich hingegen schaffe es kaum, ruhig zu stehen, und wippe von einem Bein auf
das andere.
»Ich gebe der Technik Bescheid!«, ruft Frau Ömsen schließlich
und klatscht in die Hände. »Wir beginnen!«
Dass wir nicht gemeinsam beten, heißt ja nicht, dass ich nicht ein
kurzes Gebet im Herzen sprechen kann, und so schicke ich Gott ein
Flehen, dass er jedem Beteiligten helfen möge und alles so klappt,
wie wir uns das vorgestellt haben.
Keine Minute später erklingt über die Lautsprecher leise, aber
eindringlich eine melancholische Melodie, auf die ich besonders
stolz bin: Es handelt sich nämlich um eine orchestrale Instrumentalversion des Kirchenliedes »Ein armer Wandrer«. Auch wenn das
Lied textlich nicht unbedingt passt, kann man doch sagen, dass Gott
einen besonderen Stellenwert in Janes Leben einnimmt, und das ruhige Arrangement baut die Stimmung gut auf.
Lizzy, Kathrin, Rik, Samira sowie Samantha aus der 5., die die
junge Jane spielt, gehen auf Position. Noch während die Musik
spielt, öffnet sich der Vorhang, die Scheinwerfer erhellen langsam
die Bühne, das Lied wird ausgeblendet – und dann geht es los.
Mein erster Auftritt erfolgt erst in etwa fünfundzwanzig Minuten.
Ich sollte meine Freunde unterstützen und dem Stück backstage lauschen, aber ich bin viel zu aufgeregt, um mich darauf zu konzentrieren und übertrumpfe inzwischen sogar meine eigene Schwester, die
sich wieder halbwegs beruhigt hat und gemeinsam mit Bengü und
Milo zuhört.
Als ich meine Freunde hinter den Kulissen sitzen sehe, während
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die junge Jane auf der Bühne gerade eine außergewöhnliche Freundschaft zu einem Mädchen namens Helen Burns aufbaut, die in ein
paar Minuten einen tragischen Tod sterben muss, merke ich, wie sich
meine Nervosität zeitweise legt. Helen hat einen großen Einfluss auf
Jane, und dieses Band der Freundschaft legt in Jane das Fundament
für ihre Kraft und Stärke, das harte Schulleben durchzustehen und
zu zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt ist.
Und ich?
Mein Blick fällt auf Lizzy. Beinahe hätte ich sie unter den tragischsten
Umständen verloren … Sie hat sich aufgerappelt und neuen Mut gefasst. Die Lehrer waren äußerst großzügig, auch wenn ihr Notendurchschnitt wirklich nicht besonders erwähnenswert geworden ist,
aber sie ist motiviert, sich nächstes Jahr ins Zeug zu legen und sich
zu verbessern. Sie hat sich für mich geopfert. Wie könnte ich diesen Augenblick jemals vergessen? Sie fühlte sich von mir verraten und löste
die Freundschaft, fand jedoch glücklicherweise wieder zu uns zurück. Sie bildet ein ähnliches Fundament für mich wie Helen in Janes
Leben.
Von Bengü ganz zu schweigen. Bengü hat mir in den letzten Monaten stets zur Seite gestanden. Ich glaube, mir war nie bewusst, wie
selbstlos sie ist – immer hat sie sich meine Sorgen und Probleme geduldig angehört und war bemüht, eine Lösung zu finden. Auch sie
gehört zum Fundament meiner Seele.
Und Milo … ich sollte gar nicht über ihn nachdenken, sonst fange
ich an zu heulen und das ganze Make-up verläuft.
Ich zucke zusammen, als Frau Ömsen mich von hinten anspricht.
»Dein Auftritt, Jane«, flüstert sie mir zu. Janes Auftritt. All das, wofür
ich lange und hart gearbeitet habe, zahlt sich nun hoffentlich aus …
oder ich vermassele es. Nein!, bestärke ich mich sofort. Es gibt nichts,
wovor ich mich zu fürchten brauche!
Ein paar Mädchen, die mehr oder weniger als Statisten fungieren
und von Szene zu Szene in unterschiedliche Rollen schlüpfen,
schnattern angeregt, während Samantha die Bühne verlässt. Fünf Se-
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kunden später trete ich hervor. Jane ist erwachsen geworden, begrüßt die Mädchen freundlich, aber bestimmt, ehe sie sich hinsetzt,
um ein wenig zu zeichnen (die fertigen, handgezeichneten Bilder
wurden von Multitalent Bengü zur Verfügung gestellt). Ich riskiere
einen Blick ins Publikum, aber die Scheinwerfer sind so hell, dass ich
nur Umrisse erkennen kann. Gut so. Das hilft mir, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Und schon versinke ich in Janes Welt – und
in ihre Gedanken.
Ich schwebe. Die Zeit vergeht rasend schnell, und doch koste ich jede
Sekunde genüsslich aus. Kaum habe ich Lowood den Rücken gekehrt und wandere am Bühnenrand auf und ab, wird die prächtige
Kulisse von Thornfield Hall aufgestellt. Ich kann es kaum abwarten,
dort anzukommen – Jane kann es kaum abwarten.
Als sich vor mir Milo auf einem aufwändig zurechtgebastelten
Steckenpferd aufbäumt und dann stürzt, muss ich den Schrecken
nicht einmal spielen. So plötzlich tritt Mr. Rochester in Janes Leben –
auch wenn sie noch nicht weiß, wer er ist.
Aber war es bei mir und Milo nicht genauso? Ich hatte ihn schon
wahrgenommen, bevor ich der Theater-AG beigetreten bin, aber ich
wusste nicht, wer er eigentlich ist. Er war ein fremder Reiter, mir
überlegen und weit voraus, unnahbar, und löste Faszination bei mir
aus.
Mir gefallen die Gespräche zwischen Jane und Mr. Rochester –
wie er sie neckt und sie kontert, wie er zeigt, welcher verletzliche
Geist unter der rauen Hülle verborgen ist, und wie kein schnelles inbrünstiges Feuer der Liebe ausbricht, sondern die beiden eine feste,
unerschütterliche Freundschaft aufbauen, die die Grundlage für alles
bildet, was darauf folgt, auch wenn sie von argen Bedrängnissen geprüft wird:
Zum einen haust da ein dunkler Schatten hoch im Turm von Rochesters Haus, ein Geheimnis, das er verschweigen und für alle Zeit
begraben möchte. Doch Rochester muss erkennen, dass er letztend-
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lich nur Befreiung und Seelenfrieden findet, wenn er zu sich selbst
ehrlich ist und zu denen, die er liebt.
Ich bin froh, dass Milo sein Geheimnis offenbart hat – er mag
dazu ähnlich genötigt worden sein wie Rochester, und sicherlich hat
es alles verändert, aber unsere Freundschaft ist nur noch mehr gewachsen und stärker geworden. Auch glaube ich, dass er mit sich
selbst viel glücklicher ist und seinen eigenen Weg nun besser erkennen kann.
Zum anderen wäre da Blanche Ingram, die Mr. Rochesters Herz
für sich beanspruchen möchte, und Sophie geizt auf der Bühne
wahrhaft nicht mit ihren Reizen. Und dennoch: Auch wenn ich schon
auf Sophie eifersüchtig war, galt die Rolle der Blanche eigentlich
Vicki, und von Anfang an ging es immer um sie.
Als Blanche Mr. Rochester umgarnt, werde ich wahnsinnig vor
Wut: ihre herablassende Art, gegen die sich eine Angestellte von Janes Stand nicht ohne ernsthafte Konsequenzen wehren darf, ihre
pure Schönheit und Anmut, die Jane niemals haben wird.
Nie hätte sie eine Chance gegen jemanden wie Blanche.
Nie hätte ich eine Chance gegen jemanden wie Vicki – doch was
geschah? Milo liebt mich zwar nicht auf romantische Art, aber allein
die Art der Freundschaft, die wir führen, ist über das erhaben, was er
jahrelang mit Vicki hatte. Ich meine das nicht selbstgefällig und schadenfroh, sondern dankbar.
Milo konnte nicht wissen, wie es sich letzten Endes auf ihn auswirken würde, dass er mich vor Vicki in den Schutz nahm – dass er
damit nicht nur seinen Ruf, sondern die Beziehung zu seinen Eltern
gefährdete. Und doch hätte er ahnen müssen, dass man sich nicht
mit Vicki anlegt, ohne auf gewisse Art dafür zu bluten. Es berührt
mich, dass ihm die Freundschaft zu mir wichtig genug war.
Ich habe Vicki vor zwei Wochen wiedergesehen. Das Verfahren
gegen sie ist nun in vollem Gange, und ich musste vor einem Richter
aussagen. Vickis Vater und ihr Anwalt waren anwesend, ihre Mutter
nicht. Ich kann es schlecht abstreiten: Irgendwo tief in mir war ein
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Fünkchen Hoffnung, dass Vicki um eine Aussprache bittet. Dass sie
sich entschuldigt. Dass sie einsieht, welchen Mist sie gebaut hat.
Doch eines konnte Vicki schon immer: eine eiserne Miene aufsetzen und sich nach außen hin von nichts berühren lassen. Vielleicht
bleibt ihr auch nichts anderes übrig – von den Eltern ungeliebt, von
den Freunden verschmäht, und wer weiß, wie es ihr an ihrer neuen
Schule geht. Irgendwie bezweifle ich, dass sie imstande war, sich in
Nullkommanichts einen ähnlichen Ruf aufzubauen. Bestimmt wurde
die Schulleitung im Vornherein informiert, wen sie sich da angelacht
hat, und beaufsichtigt Vickis Verhalten streng. Sie war schön und
von vornehmer Blässe wie eh und je. Im Gegensatz zu früher spiegelte sich in ihren Augen jedoch nicht nur Kälte, sondern vor allem
Leere.
Ich sah sie bei meiner Aussage nicht an. Ich blieb sachlich, und
der Richter war sehr verständnisvoll und mitfühlend. Ich musste
mich keinen Fragen von Vickis Anwalt stellen, sondern die Sachverhalte aller Opfer wurden offen dargelegt, und als ich fertig war, durfte ich gehen und zögerte keine Sekunde. Auf dem Weg nach draußen
trafen sich Vickis und mein Blick ein einziges Mal. Schnell sah sie
wieder weg. Ich weiß nicht, welche Strafe auf sie wartet, aber mir
geht es nicht darum, dass sie gerecht bestraft wird, sondern dass ihr
irgendwann die Augen aufgehen und sie erkennt, was sie da eigentlich im Leben anderer angerichtet hat.
Und so verschwand Vicki aus meinem Leben, genauso schnell
wie auch Blanche aus Janes Leben verschwindet, als sie Rochester
schließlich gegenüber steht und alles infrage stellen muss, was in ihr
und ihm vorgegangen ist.
Die Aufregung steigt wieder. Mit dieser Szene begann alles.
Mr. Rochesters Liebesgeständnis und der Heiratsantrag bilden
das Ende des 1. Aktes, auch wenn, noch während der Vorhang fällt,
Bertha Mason ein grässliches Lachen von sich gibt, das die Zuschauer zwar während anderer Szenen bereits gehört haben, ihnen nun
aber eine Vorahnung darauf gibt, dass das neue Liebespaar noch ei-
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niges wird ausstehen müssen. Dies ist jedoch jetzt noch nicht von Belang – vielmehr geben sich Jane und Rochester ihrem Glück und ihrer Liebe hin, und so routiniert es für mich inzwischen sein mag,
mich von Milo überschwänglich küssen zu lassen, so brennt mir um
Janes willen doch das Herz in der Brust, und die Träne, die mir über
die Wange läuft, ist echt.
Nichts wird uns jemals voneinander trennen – schon gar nicht die
läppische zweistündige Bahnfahrt von Frankfurt nach Kassel. Und
so ignoriere ich Frau Beinkers schrilles, unheimliches Gelächter, versinke in Milos Blick und werfe mich ihm in die Arme, während sich
der Vorhang mit tosendem Applaus schließt.
Wir verharren kurz in unserer Position, ehe wir nach hinten verschwinden, um etwas zu trinken, das Gesicht nachpudern zu lassen
und nach Luft zu schnappen, weshalb in der Garderobe auch rigoros
die Fenster aufgerissen werden.
»Ihr wart alle fantastisch!«, ruft Frau Ömsen enthusiastisch.
Sophie und ich rennen uns förmlich in die Arme. Blanche taucht
im 2. Akt nicht mehr auf, und vom Lampenfieber meiner Schwester
ist nichts mehr zu spüren. »Molly, du warst erste Sahne«, lobt sie
mich. »Deine Mimik, deine Haltung, die Überzeugung in deiner
Stimme … man könnte glatt meinen, das seist du jeden Tag, wüsste
ich es nicht besser!«
Sie hat recht und auch wieder nicht, denn die Parallelen, die sich
zwischen Jane und mir erschließen, scheinen kein Ende mehr zu
nehmen. Auch wenn das Liebesgeständnis und der Heiratsantrag
den emotionalen Höhepunkt der ersten Hälfte bilden, schlaucht
mich die zweite Hälfte des Stückes inzwischen mehr – die Konfrontation mit dem Dämon Bertha sowie die schwere Entscheidung, die
Jane trifft, Thornfield Hall zu verlassen, gehen an die Substanz. Letzteres vor allem deshalb, weil Jane Mr. Rochester verlässt, um ein
rechtschaffenes Leben zu führen. Sie liebt ihn mehr als alles andere,
aber sie weiß, dass es in Gottes Augen nicht recht ist, mit einem ver-
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heirateten Mann zusammenzuleben, wie die Umstände auch sein
mögen. Diese Kraft und dieser Mut, die sie aufbringt, um sich von
der Liebe ihres Lebens loszureißen, schleifen ihren Charakter zu einem Diamanten. Ich wünsche mir, dass ich auch einen solch edlen
Charakter entwickeln kann.
Nachdem Jane mit Bertha, der Ehefrau Rochesters, konfrontiert
wird, und erfahren muss, dass ihr geliebter Edward bereits verheiratet ist, findet ein letztes Gespräch zwischen Jane und Rochester statt.
Er fleht sie an, bei ihm zu bleiben, doch sie könnte eine solche Situation nicht mit sich – und mit Gott – vereinbaren.
Und ich?
Würde ich die Liebe wählen oder das rechtschaffene Leben? Und
wie sähe es aus, wenn es gar nicht um mich persönlich geht – wie
würde ich handeln, wenn Milo sich für einen Weg entscheidet, von
dem ich weiß, dass er nicht rechtschaffen ist? Würde ich unter dem
Deckmantel der Toleranz alles akzeptieren, was er tut? Würde ich
versuchen, ihm ins Gewissen zu reden? Wäre ich imstande, ihn mit
Gottes Augen zu sehen und ihn als Menschen unter allen Umständen bedingungslos zu lieben, selbst wenn mich seine Entscheidungen enttäuschen?
Wieder denke ich an Präsident Uchtdorfs Worte. Ich muss nicht
nur über meine Mängel und Selbstzweifel hinwegsehen, sondern
auch über die anderer – ich muss in jedem den herrlichen Sohn oder
die herrliche Tochter Gottes sehen, die sie sind.
Gott formt den Menschen durch Prüfung und Leid und Schmerz,
und auch wenn ich das Endprodukt vor Augen haben sollte genau
wie er, ist dies im Augenblick des Schmerzes doch fast unmöglich.
Und so verlasse ich als Jane meinen geliebten Mr. Rochester mit einem Stechen in der Brust, am Ende meiner Kräfte, am Boden zerstört. Wie Ijob habe ich alles verloren, was mir lieb und teuer war. Ich
habe keinen Besitz mehr, keine Familie mehr, keine Freunde mehr,
nur mich selbst in der weiten und unbarmherzigen Natur Gottes.
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Der Vater im Himmel lässt keines seiner Kinder im Stich. Und genau
wie Ijob wird Jane für ihre Standhaftigkeit und Tugendhaftigkeit
doppelt und dreifach belohnt. Sie findet nicht nur liebe Menschen,
die sich um sie kümmern, sondern diese entpuppen sich sogar als
Verwandte – sie findet Arbeit und sie erhält ein reiches Erbe, das sie
in ihrer Großzügigkeit mit ihrer neuen Familie teilt. Doch nicht jedes
Loch in Janes Herz kann damit gefüllt, nicht jeder Riss geheilt werden.
Ich frage mich, wie es mir ergehen wird, wenn Milo weggezogen
ist. Natürlich läuft er nicht vor mir davon und wir werden Kontakt
halten, aber ich fürchte, dass ein gewisser Trennungsschmerz unvermeidbar ist. Wie sehr ich mich jetzt bereits auf ein Wiedersehen
freue, wie ich auf ihn zulaufe, ihm in die Arme springe und mich
von ihm herumwirbeln lasse.
Das Wiedersehen zwischen Jane und Rochester spielen wir ein
wenig ruhiger und ehrfürchtiger, aber in dem Augenblick, in dem
der nach einem Brand auf Thornfield Hall erblindete Rochester seine
geliebte Jane wiedererkennt und weiß, dass sie zu ihm zurückgekehrt ist, entweicht Milo ein so herzzerreißender Seufzer, dass ich
gar nicht anders kann, als mich an ihn zu pressen. Aus dem Publikum vernehme ich Schluchzer. Garantiert meine Mutter.
»Ich heiratete ihn«, verkünde ich dem Publikum. »Die Hochzeit
war sehr ruhig, nur er, ich, der Geistliche und der Küster.« Ich beschreibe kurz unsere ersten Ehejahre, unser gemeinsames Glück, den
Segen, dass Rochester auf einem Auge die Sehkraft zurückerlangt
hat, und unseren Sohn, den mir Milo bringt und auf die Arme legt.
Das Licht ist gedämpft, und zum ersten Mal kann ich meinen
Blick über das Publikum schweifen lassen. Es berührt mich, meine
Familie und meine Freunde zu sehen, und sofort beginnt meine
Stimme ein wenig vor Glück zu zittern.
Mama und Papa sitzen ganz vorne. Wie erwartet strömen Mama
die Tränen das Gesicht hinunter, während sie ein zerfleddertes Papiertaschentuch mit beiden Händen festhält. Sie und Papa waren
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sich unsicher, ob sie gemeinsam erscheinen können oder ob einer lieber auf Abruf zu Hause bleiben sollte, falls das Krankenhaus anruft.
Dr. Hartle beruhigte die beiden und legte ihnen ans Herz, die Premiere gemeinsam zu besuchen. Samuel geht es gut. Wir haben erfahren, dass wir ihn, wenn alles weiterhin so verläuft wie bislang, in
drei Wochen nach Hause holen können. Das klingt noch nach einer
langen Zeit, aber es ist ein handfester Zeitpunkt, und das lange Warten hat endlich ein Ende in Sicht. Mama hat mir versprochen, mindestens zwei Aufführungen anzuschauen. Papa strahlt mich stolz an,
auch wenn ich weiß, dass diese Art Literatur nicht ganz sein Ding ist,
aber er freut sich für mich und Sophie und lässt nichts unversucht,
uns zu unterstützen und für uns da zu sein.
Luisa hat sich an Finns Schulter geschmiegt. Auch sie sitzen in
der ersten Reihe. Nachdem Finn letzte Woche sechzehn geworden ist
und alles mehr oder weniger »offiziell« zwischen den beiden ist,
übertreiben die beiden es ein wenig mit den Streicheleinheiten, aber
da Luisa lange genug darauf warten musste, sei es ihr gegönnt. Auch
ihre Mutter ist gekommen, die uns bei den letzten Vorbereitungen so
tatkräftig unterstützt hat, und Luka sitzt dort ebenfalls. Ich riskiere
es kurz, ihn direkt anzuschauen, woraufhin er breit lächelt, und ich
kann nicht abstreiten, dass mein Herz ein wenig schneller klopft.
Neben ihnen sitzt Dominik mit seiner Freundin Collien. Ich freue
mich für ihn, auch wenn ich nicht weiß, wie konkret seine Schwärmerei für mich jemals war. Collien gehört der Kirche nicht an, macht
aber einen lieben, offenen Eindruck.
Der Pärchen-Alarm nimmt keine Ende, denn ein paar Reihen weiter sitzt Julia, die seit Kurzem mit dem JM-Leiter Michi zusammen
ist. Sie hat sich verliebt an ihn gekuschelt und lässt sich von ihm den
Rücken kraulen. Auch ein paar andere Mitglieder aus der Gemeinde
sind gekommen, um sich das Stück anzuschauen.
Ich entdecke auch Milos Bruder Roman, der begeistert nach vorne
schaut. Wie schön es wäre, wenn auch seine Eltern gekommen wären
– aber wer weiß, vielleicht rafft sich zumindest seine Mutter zu einer
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der anderen Aufführungen auf. Und falls nicht, hoffe ich, dass Milo
nicht allzu enttäuscht ist, auch wenn ich mir da etwas vormache. Wie
könnte er nicht enttäuscht sein? Ich fühle mich angesichts der regen
Unterstützung meiner Familie und Gemeinde äußerst gesegnet. Für
sie mag es selbstverständlich sein, für mich nicht.
Auch wenn uns noch weitere Aufführungen bevorstehen, scheint
für mich in diesem Augenblick etwas zu Ende zu gehen. Nein, nicht
nur die Arbeit für dieses Theaterstück – auch mein Inneres schließt
mit dem ab, was ich in den letzten Wochen und Monaten durchlebt
habe. Auf gewisse Weise werden mich die Erfahrungen natürlich immer begleiten, denn sie haben mich ja stark geprägt, aber es ist an
der Zeit, nach vorne zu schauen und den Blick auf neue Möglichkeiten und Gelegenheiten zu richten. Ich weiß nicht, was auf mich zukommen wird, aber ich weiß bestimmt, dass ich eine herrliche Tochter Gottes bin und dass mein Weg mit ihm gar nicht fehlgehen kann.
Milo und ich stehen mit unserem Plastikbaby engumschlungen
und glücklich am Bühnenrand und treten langsam zurück, während
sich der Vorhang schließt und das Publikum zu applaudieren beginnt. In meinem Herzen klingt es nicht nur wie Beifall für unsere
Leistung – irgendwie verspüre ich in diesem euphorischen Moment,
dass sich der Vater im Himmel freut, dass ich mich angestrengt und
nicht aufgegeben habe und ich mich nicht nur auf ihn verlassen
kann, sondern er sich auch auf mich. Auch wenn ich unvollkommen
bin, ist mein Wunsch, ihn nicht zu enttäuschen, stärker und inbrünstiger denn je.
Milo und ich sitzen auf dem Schulhof und schauen in den Sternenhimmel. Nur zwei Minuten frische Luft, haben wir von meinen Eltern
erbeten.
»Bist du zufrieden?«, fragt er.
»Mit dem Stück?«, entgegne ich beinahe naiv.
Er lacht. »Womit denn sonst?«
Mit allem, Milo. Mit allem. »Ja«, sage ich. »Und du?«
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»Hm-m«. Er wendet sich mir zu. Und ohne etwas zu sagen, beugt
er sich vor und gibt mir einen sanften Kuss auf den Mund – er ist nur
sehr flüchtig, und dennoch bin ich überrascht. »Ich habe dich so ins
Herz geschlossen, Molly«, entfährt es ihm. »Ich hoffe, du weißt, dass
sich diesen besonderen Platz niemand jemals mit dir teilen wird.«
»Ich wünschte, du würdest nicht gehen«, sage ich.
»Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit … und dann wiederum nicht. Es ist der richtige Weg für mich.«
»Milo … ich war so frei, dir die Adresse des Zweiges in Kassel
herauszusuchen, falls du –«
Erneut lacht er. »Ja ja, missioniere mich ruhig weiter.« Er wird
wieder ruhig. »Aber danke. Ich werde gern vorbeischauen. Weißt du
… das Beten fühlt sich tatsächlich immer realer an. Und ich kann
nicht abstreiten, dass ich immer mehr persönliche Bezüge finde,
wenn ich im Buch Mormon lese … aber ich weiß noch nicht, welchen
Weg ich gehen will, Molly. Ob die Kirche der Ort ist, der für mich bestimmt ist, oder nicht. Ich hoffe, das kannst du verstehen … Aber – «
Er hebt feierlich die Hände. »An dem Glauben, den ich für mich entdeckt habe, werde ich immer festhalten!«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Wir umarmen uns, und ich fühle mich leicht wie eine Feder. Es ist
spät, aber morgen können wir ausschlafen, und obwohl ich völlig
ausgelaugt bin, ist an Schlaf ohnehin noch nicht zu denken.
»Milo?«
Wir zucken beide zusammen, als eine Gestalt aus dem Schatten
tritt. Ich weiß nicht, wie lange sie schon dort gestanden und ob sie
uns beobachtet hat, aber das spielt auch gar keine Rolle, weil mein
Herz vor Freude einen Sprung macht. Und Milos Gesicht nach zu urteilen hat er gerade ähnliche Empfindungen. »Mama?«, fragt er ungläubig.
Frau Falkenstein kommt auf uns zu. Sie hat die Hände in ihre
Jackentaschen gesteckt und schaut etwas verlegen zu Boden, ehe sie
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ihren Sohn ansieht. »Ich war etwas zu spät«, berichtet sie. »Ich saß
auf der Empore. Ich …« Sie kämpft mit sich. »Ich bin stolz auf dich,
Milo. Ihr habt das toll gemacht.«
Weder Mutter noch Sohn regen sich, aber ihre Worte gehen Milo
ins Herz. Vielleicht noch mehr, wäre sein Vater ebenfalls hier, aber es
ist doch zumindest ein Anfang.
»Ich gehe schon vor«, sage ich. »Bis gleich!« Beim Vorbeigehen
streife ich ihren Arm. »Schön, dass Sie gekommen sind!«
Als ich zu meiner Familie stoße, wundern sich alle über mein verdächtiges Grinsen. »Ein Neuanfang«, meine ich nur kurz und ohne
näher darauf einzugehen. Ändert das was an Milos Plänen? Nein.
Aber wer weiß, welche Richtung die Beziehung zwischen ihm und
seinen Eltern letztlich nehmen wird.
Ich erinnere mich an Julias JD-Klasse vor langer Zeit, in der wir
davon sprachen, dass es im Evangelium niemals ein Happy End gibt,
sondern immer Happy Beginnings. So ist es für Milo, und so ist es für
mich. Und ich freue mich auf das, was kommt!
»Alles gut?«, fragt Papa und legt seinen Arm um mich.
Ich lächele ihn an. »Es könnte nicht besser sein.«
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Weitere Werke des Autors
»DER ENGEL VON WINTERHAVENS« –
Nichts läuft für Cary Hudson so, wie er sich
vorgestellt hat. Als seine Zieheltern wegen seines rebellischen Verhaltens und seiner
schlechter Noten schließlich keinen anderen
Ausweg mehr sehen und ihn auf das renommierte Internat Winterhavens schicken, gibt er
die Aussicht auf ein besseres Leben auf – wäre
da nicht sein Zimmernachbar Gavin, dessen
Welt unterschiedlicher nicht sein könnte, der
ihm jedoch etwas vermittelt, was er schon lange nicht gespürt hat:
Hoffnung. Ein Jugendroman über Freundschaft und Religion. Ab Dezember 2014 in komplett überarbeiteter Fassung erhältlich.
»MILA« – Wer kennt sie nicht, die Mutter aller Animes? In den 90ern entfachte in
Deutschlands Schulen nach Ausstrahlung von
„Mila Superstar“ ein regelrechtes Volleyballfieber. „MILA“ ist nicht nur die Fortsetzung
der Serie, sondern ein Roman, an dem Benjamin Matern zehn Jahre gearbeitet hat – mit 13
Jahren begonnen, mit 23 beendet. Das gerade
anfangs noch nicht ganz durchwachsene, aber
dennoch humorvolle Werk spiegelt hervorragend wieder, wie sich sein Schreibstil im Laufe der Jahre entwickelt
hat; empfehlenswert ist das Buch aber vor allem für Fans der Serie,
die sich gefragt haben, wie es mit Mila nach den 101 im TV ausgestrahlten Folgen eigentlich weiterging.
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»DAS GLÜCK DER LEILANIE« – In Kooperation mit Anna Wiborny erschien Weihnachten
2009 für einen ausgewählten Leserkreis dieses
Buch mit den drei bezaubernden Märchen
»Das Glück der Leilanie«, »Die Magd des Königs« und »Sturmkinder«; Geschichten über
Mut, Herzenswandel und Voranschreiten trotz
schwerer Umstände, beruhend auf der Lebensweisheit Demokrits: »Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.«
»TRÄNEN AUS MARMOR« – Materns Erstlingswerk aus dem Jahre 2000, das in Zusammenarbeit mit einer Mitschülerin entstand.
Rückblickend mag die ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einem aufstrebenden
Künstler und einer erfolgreichen Anwältin
noch sehr unausgereift wirken, bildete jedoch
die Grundlage für vieles, was darauf folgte.
2002 fand die Geschichte mit der Fortsetzung
»Das Licht des Morgens« ein Ende.
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NEW AGE SHORT STORIES – Voller Insider und für die breite Masse wohl eher weniger nachvollziehbar, bilden diese Kurzromane (jeweils zwischen 30 und 70 Seiten) ein Sammelsurium urkomischer
Meisterwerke, die der Autor exklusiv für bestimmte Personen aus
seinem Freundeskreis verfasst hat. Darunter:
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»The Great Apostasy«
»Besessen«
»Der Fluch von Boitzenburg«
»The Emerald Rose«
»Magic Tripod«
»The Lord of the Parks«
»Dead Letters«
THE AGENT DJUMAN SERIES:
• »The Curse«
• »Die Stadt aus Glas«
• »Das Vermächtnis«
• »Angel of Darkness«
• »Eternity«
THE SUMURU SERIES:
• »Sumuru«
• »Die Verschwörung (Return from Sumuru)«
THE FSM SERIES:
• »Mord im Innovationspark«
• »Der goldene Pömsel«
• »Die Rache der Katfische«
THE AGENT MATZE SERIES:
• »Das Inka-Dilemma«
• »Lichtfresser«
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