Fokus Evakuierungstraining «Code 99, Code 99» Üben für den 12 «aare MAGAZIN» März 2015 Ernstfall Ob Brand oder Bombendrohung: Muss ein Einkaufscenter evakuiert werden, ist eine eingespielte Notfallorganisation überlebenswichtig. Der Müli Märt in Lenzburg ist einer von 40 Standorten, die seit 2012 nach dem neuen Konzept geschult werden. Das «aare MAGAZIN» durfte beim Training hinter die Kulissen blicken. Text: Karin Grossen | Bilder: Thomas Baumann Eine fiese Bise weht an diesem Februarmorgen um die Ecken des Müli Märt in Lenzburg. Drinnen geht alles seinen gewohnten Gang. Doch plötzlich: Beissender Rauch breitet sich im Melectronics aus. Erste Kunden und Mitarbeitende fangen an zu husten. Fachmarktleiter Marco von Burg reagiert geistesgegenwärtig und ruft umgehend den Migros-Kundendienst an… – doch dazu später mehr. Eineinhalb Stunden früher Nein, es ist kein gewöhnlicher Donnerstag. Heute wird im Müli Märt trainiert – und die eingangs beschriebene Szene ist glücklicherweise kein Ernstfall, sondern ein Übungsszenario für eine notfallmässige Evakuierung. Das Ersttraining fand im Mai 2013 statt. Damals war Anton Kapsolli, Migros-Marktleiter und Mitglied der achtköpfigen Evakuierungsleitung, noch nicht dabei. Seine Nervosität kann er kaum verbergen, er ist jedoch guten Mutes: «Ich freue mich auf den Tag. Ich habe im Wynecenter Buchs bereits ein Training mitgemacht, aber jede Übung ist eben wieder anders.» «aare MAGAZIN» März 2015 13 Fokus Evakuierungstraining Beat Allenbach, bei der Migros Aare für die Notfallorganisation verantwortlich, begrüsst im Aufenthaltsraum den Marktleiter und seinen Stellvertreter. «Wir werden Sie heute fordern. Wir sind nicht da, um jemanden blosszustellen, sondern um Ihnen Tipps zu geben, gemeinsam Schwachstellen aufzudecken und diese zu eliminieren», so der stellvertretende Leiter des Sicherheitsdiensts (SIDI). Dabei erwähnt er auch die speziellen InfrastrukturUmstände: «Mit zwei einzelnen Gebäudetrakten, die durch eine Aussenpassage voneinander getrennt sind, und einer Einstellhalle, ist eine Evakuierung im Müli Märt durchaus anspruchsvoll.» Wieso die Übung überhaupt stattfindet, erklärt Christophe Peisl, der als externer Trainer mit an Bord ist, in seiner Einführung. «Menschenleben zu schützen und zu erhalten ist das oberste Gebot in jedem Notfall», so der Sicherheitsexperte. «Indem wir Szenarien immer wieder durchdenken und uns mit dem Schlimmstmöglichen auseinandersetzen, schaffen wir uns einen geistigen Vorsprung. In einem Ernstfall können wir so 60 bis 70 Prozent der gespeicherten Ressourcen hervorholen.» «Was macht Ihnen am meisten Sorgen?», fragt Christophe Peisl. Es herrscht Stille im Raum. Der Experte runzelt besorgt die Stirn: «Hier muss sofort eine Antwort Marco von Burg kommen. Das wäre Fachmarktleiter der Beweis, dass Sie Melectronics sich mit den möglichen Szenarien bereits gut auseinandergesetzt haben.» Marktleiter Anton Kapsolli räumt selbstkritisch ein: «Ich habe mit meinem Vorgänger das Konzept angeschaut, die eigentliche Alarmierung haben wir jedoch nicht im Detail durchbesprochen.» Sein Stellvertreter Fabian Stöcklin ist extra für die Übung aus dem Militärdienst angereist. Er verspricht sich viel vom Training: «Ich habe mit dem Konzept eine theoretische Grundlage. Gut, dass wir heute ein Szenario durchspielen, damit wir Der simulierte Brand ist ein realistisches Szenario. Ich habe heute viel dazugelernt. Jetzt müssen wir schlicht mehr üben. Und ich begrüsse es sehr, dass die Partnermieter künftig enger miteinbezogen werden. 14 «aare MAGAZIN» März 2015 Sicherheit gewinnen.» Beat Allenbach ermutigt: «Genau darum geht es: Ihnen Sicherheit zu vermitteln. Jedes Training gestaltet sich individuell, einen Standardablauf gibt es nicht. Darum: Stellen Sie Fragen und bringen Sie sich kritisch ein.» Rundgang bringt erste Einsichten Das Anschlagbrett ist die erste Station des Rundgangs. Die Notfallkontakte auf dem Infoblatt sind nicht präzise genug, hält Christophe Peisl fest. Nun die Treppe hinunter, ins Lager des Supermarkts. Warum steht hier ein Stapelrolli vor dem Notausgang? Beat Allenbach empfiehlt, die Bodenmarkierungen zu erneuern und immer wieder auf die Wegfreiheit hinzuweisen. Weiter in den Supermarkt: Dort sind die beleuchWir werden am Umsatz und den teten grünen Notzufriedenen Kunden gemessen. ausgangswürfel nicht Heute sind mir neue Sachen zu übersehen. «Das bewusst geworden, die nicht vermittelt den Kunden weniger wichtig sind. Ab jetzt will ein Sicherheitsgefühl», ich meine Mitarbeitenden – und so die Übungsleiter. mich selber – stärker für die NotUm zum anderen Teil fallorganisation sensibilisieren. des Centers zu gelanAnton Kapsolli gen, überquert man Marktleiter Supermarkt eine Passage. Eine eindeutige Bezeichnung für diese gibt es bislang nicht. Christophe Peisl tauft sie kurzerhand auf «Kreuz». «Wenn wir etwas benennen, existiert es danach auch im Gedächtnis.» Und er fährt fort: «Führen Sie sich die Personenflüsse immer wieder vor Augen: Kinder, gebrechliche und behinderte Menschen – sie alle benötigen besondere Aufmerksamkeit. Stehengebliebene Einkaufswagen nehmen viel Platz weg und können Hindernisse darstellen.» 14 Partner sind im Müli Märt eingemietet. Einer davon ist das Schuhgeschäft Tschümperlin. Ein kurzer Test auch hier: Ist die Mitarbeiterin über das Vorgehen im Notfall informiert? Sie hat die Evakuierungsmappe der Migros griffbereit und ist auf das Thema sensibilisiert. Die Experten nicken anerkennend. Vis-à-vis befindet sich der Melectronics. Weil dort der simulierte Brand ausgebrochen ist, übernimmt Fachmarktleiter Marco von Burg heute die Rolle als Evakuierungsleiter und setzt den Alarmierungsprozess in Gang. Brand als Übungsszenario Am Migros-Kundendienst nimmt Madalena Lourenço den Anruf von Marco von Burg entgegen. Als erste Handlung ruft sie ihren Chef an. Die Übungsleiter bitten Anton Kapsolli, den Anruf nicht entgegenzunehmen. Madalena Lourenço überlegt, ob sie die Notfallnummer des SIDI oder den Marktleiter-Stellvertreter anrufen soll. Plötzlich wird ihr klar, dass sie keine Zeit mit Telefonieren verlieren darf. «Code 99» ruft sie zweimal ruhig über die Lautsprecheranlage aus. Mit diesem Code besammelt sich das Evakuierungsteam am vereinbarten Standort, dem Lager. Die Evakuierungshelfer fassen ihre Evakuierungsmappen, ziehen die Leuchtweste an und eilen sofort zu ihren Einsatzorten wie Notausgängen und Treppenhäusern. Erst Minuten später treffen Hauswart Herbert Plüss und Fabian Bugmann, Leiter Migros-Restaurant, ein. Beide gehören der Evakuierungsleitung an – allerdings haben sie die «Code 99»-Durchsage an ihrem Arbeitsort nicht gehört. Beat Allenbach schreibt ins Protokoll: Lautsprecheranlage überprüfen und gegebenenfalls Massnahmen einleiten. Lagebesprechung zurückgerufen. Christophe Peisl erinnert an die zentrale Bedeutung der Alarmierungsphase: «Als Evakuierungsleitung müssen Sie das Problem rasch erfassen und situationsgerechte Massnahmen festlegen. Die Evakuierungshelfer – und das ist wichtig! – sind zuerst über die Situation zu Das Thema ist im Alltag des orientieren, bevor sie Detailhandels weit weg – anders an ihre Einsatzorte als auf einer Baustelle oder in der ausschwärmen.» Denn Industrie. Deshalb war das Traies könnten zum Beining wertvoll. Auch, um wieder spiel Notausgänge bloeinmal allen bewusst zu machen, ckiert sein. «Die Feuerdass keine Sachen im Weg stewehr Lenzburg ist in hen dürfen. Zum Beispiel Palette spätestens zehn Minuim Magazin oder Velos draussen ten da. Diese Zeit müsvor den Notausgängen. sen wir nutzen, um Herbert Plüss eine geordnete EvaHauswart kuierung einzuleiten. Wenn die Blaulichtorganisationen eintreffen, sollen sie ungestört arbeiten können. Sind dann noch Kunden im Center, bricht rasch Panik aus – und das gilt es zu vermeiden.» Die Evak-Taste Time out wird nötig Szenenwechsel – die Übungsleiter ordnen ein Time out an: Das Evakuierungsteam wird zur Zurück zur Übung: Der Fall ist klar, das Center muss evakuiert werden. Durch das Auslösen der sogenannten Evak-Taste würde nun So ist die Notfallorganisation in den Einkaufscenter aufgebaut Aktuell 40 Standorte werden nach dem folgenden Konzept geschult. Phase 5: Anwendungstraining Phase 1: Konzept Phase 2: Schulung Phase 3: Ersttraining Phase 4: Folgetraining Erarbeitung mit Centerleitung und Marktleitung sowie Blaulichtorganisationen Schulung vor Ort durch Sicherheitsdienst (SIDI) Standortbestimmung mit KST-Leitung Standortbestimmung mit KST-Leitung Briefing mit Evakuierungsleitung Rundgang Rundgang Übungsszenario Übungsszenario Übungsszenario Debriefing Debriefing Debriefing +6 Monate +12–16 Monate +4 Monate Rundgang +12–16 Monate Jährlich findet pro Einkaufscenter ein Integraltest statt, bei dem alle technischen Anlagen überprüft werden (z.B. Lautsprecher, Brandschutztüren, Sprinkleranlage). Das passiert an den anderen Standorten In allen Filialen und Standorten der Migros Aare besteht ein Evakuierungskonzept, das den Mitarbeitenden anlässlich einer Schulung vermittelt wird. Trainings finden keine statt, da die Abläufe für Evakuierungen, meist auf nur einer Etage, wenig komplex sind. «aare MAGAZIN» März 2015 15 Fokus Evakuierungstraining im Ernstfall ein vorproduzierter Standardtext über die Lautsprecheranlage abgespielt: «Achtung, Achtung: Das Gebäude wird aus Sicherheitsgründen geräumt. Verlassen Sie das Gebäude durch die Notausgänge. Bewahren Sie Ruhe. Die Aufzüge und das Parking dürfen nicht benutzt werden.» Am meisten Respekt habe ich Der gleiche Text folgt vor einer Bombendrohung, weil in auf Französisch, Italieeinem solchen Fall keine Gewissnisch und Englisch. heit herrscht. Dass wir Szenarien Die besagte Evak-Taste durchspielen, finde ich sehr wichbefindet sich im Büro tig, denn mit der Zeit vergisst im Obergeschoss. Zu man doch einiges wieder. weit weg, sind sich die Madalena Lourenço Experten einig – und Kundendienst, was, wenn es im TrepTeamleiterin Kasse penhaus brennt? Beat Allenbach zückt den Stift: Zweite Evak-Taste beim Kundendienst installieren. Die eigentliche Evakuierung wird nicht live durchgespielt, denn die Kundschaft soll vom Training nichts mitbekommen. Massnahmen werden festgelegt Nun wird Bilanz gezogen. Die Übungsleiter loben das grosse Engagement des ganzen Teams. Man ist sich jedoch einig, dass im Alarmierungsprozess noch zu viele Unsicherheiten herrschten. Auch nötige Anpassungen an Technik und Infrastruktur sind ans Licht gekommen. Beat Allenbach rät ausserdem: «Beziehen Sie Hauswart Herbert Plüss enger in den Prozess mit ein. Er kennt das Gebäude am besten.» Und was passiert, wenn der Hauswart nicht da ist? «Ich werde weitere Mitarbeiter, die sich mit der Technik auskennen, ins Evakuierungsteam integrieren», legt Marktleiter Anton Kapsolli fest. «Der Ball liegt jetzt bei Ihnen. Das Anwendungstraining, das unangekündigt stattfinden wird, baut auf der heutigen Übung auf», erklärt Beat Allenbach. «Wir werden neue Sachen finden – aber darum geht es ja», fügt er mit einem Augenzwinkern an. Mehr Bilder vom Evakuierungstraining im Müli Märt gibt es auf der «aare APP». Ausbildung ist Pflicht Kommt es im Ereignisfall zu einem Personenschaden, wird rechtlich eingehend geprüft, welche vorkehrenden Massnahmen die Migros Aare im Rahmen der Notfallorganisation getroffen hatte. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist die stetige Ausbildung und Sensibilisierung der Mitarbeitenden nicht nur von grosser Bedeutung, sondern auch gesetzliche Pflicht. Neue Mitarbeitende müssen spätestens an ihrem dritten Arbeitstag durch den Sicherheitsbeauftragten (SIBE) geschult werden. In allen Bereichen müssen mehrere Personen ausgebildet werden, zum Beispiel als Evakuierungshelfer, 16 «aare MAGAZIN» März 2015 Sammelplatzverantwortliche usw., damit die Funktionen jederzeit wahrgenommen werden können. Mindestens zweimal jährlich, wenn nötig öfter, ist mit den betreffenden Mitarbeitenden ein gemeinsamer Rundgang durch das gesamte Gebäude (nicht nur durch die Migros-Bereiche) zu machen und deren Kenntnisse zu prüfen. Sobald Personen austreten oder durch längere Abwesenheit ausfallen, muss der Bestand der Hilfspersonen umgehend vervollständigt werden. Beat Allenbach Stellvertretender Leiter Sicherheitsdienst «Eine einheitliche ‹Notfallkultur› bringt nur Vorteile» «aare MAGAZIN»: Herr Allenbach, wie viele Evakuierungsübungen haben Sie schon geleitet? B. Allenbach: In der Migros Aare sind das seit 2012 rund 45 Trainings in den Einkaufscenter. Dazu kommen etwa 15 Alarmierungsübungen, die auf speziellen Wunsch der Evakuierungsleitung erfolgten. Wieso ist es wichtig, dass die Notfallorganisation im ganzen Unternehmen nach dem gleichen Konzept aufgebaut ist? Eine einheitliche «Notfallkultur» bringt nur Vorteile. Wenn Mitarbeitende die Filiale wechseln, sind ihnen die grundsätzlichen Abläufe vertraut. Sie müssen sich dann «nur» noch mit den neuen örtlichen Gegebenheiten und der individuellen Alarmierung vertraut machen. Die Partnermieter sollen zukünftig noch stärker einbezogen werden – wie? Wir sind aktuell daran, alle Partnermieter nachzuschulen. Die Schulung wird durch mich durchgeführt, die Verantwortung liegt bei der Centerleitung. Das Ziel ist eine enge Zusammenarbeit und ein regelmässiger Austausch mit der Evakuierungsleitung vor Ort. Wichtig ist mir dabei: Alle Mitarbeitenden, ob Migros oder Mieter, erkennen die Verantwortung, die sie für die Mitarbeitenden und Kunden tragen. Es gibt auch Unternehmen, die ihre Kunden in die Evakuierung miteinbeziehen. Wieso macht die Migros Aare das nicht? Das Sicherheitsempfinden der Kundinnen und Kunden würde dadurch massiv gestört. Wir sind überzeugt, dass die Abläufe auch ohne Einbezug des Publikums geübt werden können. Die Evakuierungsleitung mit ihrem raschen und koordinierten Handeln steht dabei im Mittelpunkt. Evakuationshelferinnen mit prüfendem Blick: Rahmina Bangoji, Teamleiterin Molkerei, bespricht sich mit Madalena Lourenço. Wie erleben Sie die Veränderung in der Migros Aare, was die Notfallorganisation betrifft? Sehr positiv. In den letzten zwei Jahren konnte die Sensibilisierung verbessert werden. Das freut mich sehr – und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ihr Herzblut für die Notfallorganisation ist förmlich spürbar. Wie würden Sie Ihre Grundhaltung beschreiben? Wenn die Wurzeln eines Baumes erst beim Ausbruch des Sturmes zu wachsen beginnen, ist es zu spät. In die Krise tritt man ein mit dem, was man hat. «aare MAGAZIN» März 2015 17
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