Magazin SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT

1
Schwindel
der Wirklichkeit
17.9.–14.12.2014
3
4E d i t o r i a l
6
To Rearrange the Scene
Manos Tsangaris im Gespräch mit Johannes Odenthal
K ann die Kunst
die Wirklichkeit
verändern?
9–10
Statements von Klaus Staeck, Jutta Brückner,
Wulf Herzogenrath, Birgit Hein
A u ss t e l l u n g
11 Schwindel der Wirklichkeit
Wie die Besucher die Kunst neu erfinden
14–27
Die Künstler und Werke
21
Visibility Machines
Niels Van Tomme
21
28
Statement von Jan Distelmeyer
Statements von Siegfried Zielinski, Anna-Catharina Gebbers, Manos Tsangaris
29–35
Metabolisches Büro
zur Reparatur von Wirklichkeit
33
34
Statement von Andres Veiel
Statement von Wilfried Wang
M u s i k
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Musik im SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT
Der groSSe elektronische Schwindel
38
Hören und Sehen
Musikwoche mit ensemble mosaik
40
41
MIDI-KLAVIER Präsentationen
Peter Ablinger
Das Wirkliche als Vorgestelltes
S c h a u s p i e l
42
43
Warum spielt der Mensch?
Wenn sich plötzlich die Zeit öffnet
Über Schauspielen heute
Junge Akademie
45
DOUBLE PROJECTION The folder is empty – we are present
45
K u n s t w e lt e n
T a n z
46
Mistral
hkeit.de
www.schwindelderwirklic
B a u k u n s t
48 Metabolische TherapieN zur Reparatur
von Stadt-Wirklichkeit M e d i e n k u n s t
50
51
53
Franz Reimer, The Situation Room, 2013
Im Taumel. Auf der digitalen Schwelle
S y m p o s i u m NG B K
Der Metabolismus des sozialen Gehirns
Kirmes und Kritik
Monika Rinck
54Medienpartner
55Impressum
4
5
Editorial
Editorial
Kann die Kunst
die Wirklichkeit
verändern?
Christian Falsnaes, Syntax Error, 2013
Ist das, was wir sehen, wirklich? Und was ist alles wirklich,
ohne dass wir es sehen oder hören? Können wir unseren Sinnen
trauen, ist ästhetische Erfahrung noch relevant für die Auf­
klärung von Wirklichkeit? Diese und ähnliche Fragen stehen
am Anfang des Projekts SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT,
das nach der gesell­schaft­­lichen, politischen und kulturellen
Relevanz der zeitgenös­sischen Künste fragt. Insbesondere
durch die Entwicklung der neuen Medien von der Fotografie
über das Video bis zur Digitalisierung aller Informationen
ist die Reflexion von Wirklichkeit in den Künsten zu einem
zentralen Experimentier­feld geworden. Geht es doch um eine
Schlüsselfrage: Wie kann sich die ästhetische Wahrnehmung
gegenüber naturwissenschaft­lichen und technischen Ent­
wicklungen behaupten? Diese Frage hatte der Philosoph
Alexander Gottlieb Baumgarten im 18. Jahrhundert zum
Ausgangspunkt der Ästhetik als Wissenschaft gemacht.
Exemplarisch beschreibt er die Betrachtung eines Sonnen­
aufgangs als gleichberechtigte Erfahrung neben den natur­
wissenschaft­lichen Erkenntnissen von Erdumdrehung und
Gravitation in der modernen Astronomie. Auf die Gegenwart
angewandt haben sich in den letzten Jahrzehnten die
technologischen und medialen Möglichkeiten potenziert.
In Anbetracht der modernen Kriegsführung, der Finanzkrisen
oder ungeahnter Möglichkeiten der Überwachung durch die
Digitalisierung von Information und Kommunikation, befindet
sich die ästhetische Erfahrung des Individuums im freien Fall.
SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT ist eine Untersuchung der
Akademie der Künste zu den Interventionen und Strategien
zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler im Wechselspiel
von künstlerischen, politischen und indivi­duellen Wirklich­keiten. Kunst wird zum Raum der Neudefinition von Bezie­
hungen zwischen Betrachter und Welt, von Wahrnehmung und
Wissen, von Ohnmacht und Verantwortung. Der Betrachter
selbst wird zur Schnittstelle, zum substan­ziellen Zentrum der
künstlerischen Arbeit. Die aktuelle Musik, das Schauspiel,
Medien-Installationen, die Game Art oder die partizipativen
Performance-Projekte erstellen neue Versuchsanordnungen,
in denen sich das Individuum mit seiner Wahrnehmung,
mit seiner digitalen und analogen Vernetzung oder seinen
Vorstellungen von Wirklichkeit in Frage gestellt sieht und sich
immer neu bestimmen muss. Wirklichkeit entzieht sich der
festen Definition als wechselnde Konstruktion zwischen
Wahrnehmung und Wirkung. Dieses Experimentierfeld in den
Künsten wird durch exemplarische Positionen reflektiert.
Dabei werden zeitge­nössische Arbeiten auch in eine historische
Perspektive bis in die 1960er-Jahre gestellt. Künstler greifen
damals wie heute auf hochentwickelte Technologien zurück,
um die verborgenen Machtstrukturen auch in demokratischen
Gesellschaften sichtbar zu machen.
In einem gemeinsamen, intensiven Prozess haben sich alle
Sektionen der Akademie diesem Themenkomplex über ein Jahr
lang gewidmet, um sich der Wirklichkeit von verschiedenen
Seiten aus zu nähern.
Die Akademie der Künste ist Partner der Berlin Art Week.
Das Programm Schwindel der Wirklichkeit wird
gemeinsam mit der diesjährigen Berlin Art Week am
Hanseatenweg eröffnet.
Trevor Paglen, KEYHOLE IMPROVED CRYSTAL from Glacier Point
(Optical Reconnaissance Satellite; USA 186), 2008
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hkeit.de
www.schwindelderwirklic
To rearrange the scene
Manos Tsangaris im Gespräch mit Johannes Odenthal
Johannes Odenthal Die Ausgangsfrage ist, wie sich die
aktuelle Kunst in den gesellschaftlichen, politischen Raum ein­
mischen kann, welche Möglichkeiten der Intervention, der Verän­
derung durch Kunst existieren? Welche Strategien gibt es, den
politischen Raum mit ästhetischen Mitteln herauszufordern?
Manos Tsangaris Ich halte das für ein problematisches Feld.
Sehr oft ist gerade die Kunst, die sich als politisch gebärdet, als Kunst
und als vermeintlich politische Intervention gefährdet. Denn politisch
wirksame Kunst setzt einen emphatischen Kunstbegriff voraus. Gerade
wo sie sich gezielt in den Elfenbeinturm zurückzieht, kann sie politisch
werden. Aber heute dürfen wir in keinem Fall die Situation subkomplex
betrachten. Ich glaube nämlich, dass Avantgarde grundsätzlich
nur gesellschaftliche Avantgarde sein kann. Davon auszugehen, dass
irgendeine künstlerische Ausrichtung vorne liegt, fortschrittlich ist,
erscheint mir sehr problematisch. Solange die Künste in gesellschaftlichen Systemen, die von Diktaturen bestimmt sind, sich oppositionell
verhalten, ist das gesellschaftliche Avantgarde, aber künstlerisch
nicht unbedingt wegweisend. Das wird sichtbar, wenn autoritäre
Systeme zusammenbrechen. Als die gesellschaftliche Opposition
1989 in der DDR wegfiel, da gab es in den Künsten eine große Orien­tie­rungs­schwierigkeit.
Der Kapitalismus hat unheimlich elaborierte Techniken entwickelt,
alles, was als ästhetische Benutzeroberfläche brauchbar ist, zu vereinnahmen und umzuwenden. Das bedeutet: Um in irgendeiner Form
noch gesellschaftlich relevant arbeiten zu können – und auch mit
einem gesellschaftspolitischen Bewusstsein, das ich jetzt mal in den
Künsten voraussetze –, wird die Situation ungemein schwieriger.
Wenn du für Gerechtigkeit eintrittst oder für die Sprachentwicklung
der Künste, damit sie sich befreien, wie das bis Mitte der 1960erJahre geschehen ist, zu einem Zeitpunkt, wo die Gesellschaft wenigstens noch gezuckt hat, wenn sie akupunktiert wurde, konntest du
dich als Künstler politisch gebärden. Danach ist meines Erachtens die
einzige Chance, einen Zugriff auf das Politische zu finden, die konkrete
Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Grammatiken der
Sprachmittel, die im Spiel sind. Es geht darum, deren Zusammenspiel
zu beobachten und zu untersuchen, welche Formen von Subversion,
von Unterwanderung der Sprachmittel, die von gezielten Machtinteressen geleitet werden, überhaupt noch möglich sind.
Das moderne Dogma einer immer weiter fortschreitenden Avant­
garde, einer Ideologisierung von Kunst, ist Geschichte. Die Frage
ist nicht mehr, welche neuen Sprachen in den Künsten entwickelt
werden, sondern es stellen sich eher Fragen der Rezeption, der
Beziehungsgefüge, der Machtverhältnisse, der Strukturen. Alles
steht heute zur Verfügung, es gibt Referenzen, Ironie, den komple­
xen Umgang mit diesem Steinbruch. Auf der anderen Seite ist das
Verhältnis zwischen Betrachter und Werk auf den Kopf gestellt und
untersucht worden. Das künstlerische Werk als materielles Objekt,
als definierte Form entzieht sich zunehmend der Fixierung. Wie
im Tanz spielt das Werk im Betrachter, wird durch den Besucher
oder Betrachter erst Wirklichkeit. Das ist ja ein Weg, den du mit
deinen szenischen Kompositionen auch erforschst, um zu diesem
kritischen Engagement wieder zurückzufinden.
Manos Tsangaris, Beiläufige Stücke: Mauersegler (2013)
Dann stellt sich die Frage der Rezeptionssituation, also die Frage
nach dem Rahmen als Teil des Prozesses der Wahrnehmung von Kunst.
Denn alle Rahmen sind gesprengt worden. Und wo findet sich Werkhaftigkeit, der emphatische (beinahe religiöse) Kunstbegriff, wenn man
ihn nicht mehr anhand äußerer Merkmale bestimmen kann?
Um das einmal auf die Musik zu beziehen, wo ich mich auskenne: Da
ist es ja so, dass die Gefäße, die geschaffen worden sind, zum Beispiel
das Gefäß Konzertsaal, in ihrer Ritualisierung dazu führten, dass
Musik überhaupt als autonome, als sogenannte absolute Kunstmusik
wahrnehmbar wurde. Die Versuchsanordnung war so organisiert, dass
der Rahmen komplett in den Hintergrund trat, damit eine vermeintlich
leere Mitte entstehen konnte, in der dann die Musik stattfinden konnte,
Musik eben als autonome Kunst, die keinen funktionalen Einbindungen
verpflichtet war, wo es um tönend bewegte Form ging, wie Eduard
Hanslick das gesagt hat. Das ist ja eine historische Errungenschaft,
das ist ganz wichtig. Aber was ist damit passiert? Man konnte im
Konzert­saal die Augen schließen. Alles andere als die Musik zu hören
war nicht mehr wichtig. Dann setzte die technische Reproduzierbarkeit
Gespräch
ein. Das Augenschließen wurde gleichsam verab­solutiert. Und innerhalb von wenigen Jahren passten alle diese autonomen Kunstwerke in
die Reproduktionsgeräte. Das heißt: Die Werkhaftigkeit des musikalischen Kunstwerks wurde radikal unterminiert. Du hörst zum Beispiel
eine Beethovensymphonie, die als Zeitspanne durchkomponiert ist.
Es klingelt das Telefon, du drückst auf Pause und unterbrichst das
Stück, führst das Telefonat, drückst dann wieder auf Play. Die Frage
„Wo ist das Kunstwerk?“ löst sich dann komplett ab von dem Objekt.
Die Konzeptkunst war ursprünglich eine Protestbewegung gegen den
Kunstmarkt. Was ist mit einer Kunst, die nur noch im Betrachter stattfindet, die nicht mehr käuflich ist? Eine Wanderung von Richard Long
mit einer Fotografie eines Steins am Ende. Wenn ich an Musik, an
Komposition interessiert bin, an einem bestimmten Werkzeugkasten,
der in Europa entscheidende kulturhistorische Bedeutung hat, dann
frage ich mich ab einem bestimmten Moment: Wo liegt jetzt das kompositorische Denken? Wo liegt der Wert des Komponierens an sich?
Und das hat bei mir Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre dazu
geführt, die Rezeptionsverhältnisse diametral umzudrehen. 1980 habe
ich ein Stück für nur eine Person im Publikum geschrieben, ein Stück,
nu r no ch im Be tra ch ter
Wa s ist mi t ein er Ku ns t, die
?
die nic ht me hr kä ufl ich ist
sta ttf ind et,
das auch nur einmal aufführbar war. Da habe ich einige Monate an
dieser Partitur geschrieben. Das Ensemble ist um diese Person herum
gruppiert. Zum Teil noch verdeckt, und die Person wusste auch nicht,
dass das stattfinden würde. Ich habe versucht, die europäische Tradition des Komponierens, was die Werkhaftigkeit angeht, zu erhalten,
auf der anderen Seite aber die Versuchsanordnung (d. h. die physischräumliche Erscheinungs- und Rezeptionsform des Werks) vollkommen
umzudrehen. Es gibt keine Ab-Strahlung mehr von Kunst – so ist
ja die Idee von Öffentlichkeit gestaltet, spätestens seit der Antike –
sondern es gibt eine Ein-Strahlung. Und das entspricht dem konvexen
Charakter von Öffentlichkeit, wie wir sie alle heute erleben. Wir haben
alle unsere Monitore in der Küche, in der Tasche, allgegenwärtig.
Die Öffentlichkeit hat nicht mehr eine konkave Gestalt, die sich öffnet,
und wir können unsere politischen oder künstlerischen Ereignisse
in dieser Höhlung stattfinden lassen. Sondern sie ist eher konvex, sie
dringt auf uns ein, sie ist permanent aktiv. Sie fordert dich und befragt
dich. Alleine schon der Smartphone-Gebrauch zeigt das sehr deutlich.
Ich meine das zunächst wertfrei.
Du komponierst ja immer noch in der traditionellen Form.
Du schreibst Partituren.
Die Idee, Partituren zu schreiben, halte ich immer noch für außer­
ordentlich nützlich.
Aber du suchst keine politischen Themen. Wenn wir Helmut
Lachenmann als Beispiel nehmen, Das Mädchen mit den Schwefel­
hölzern, oder Luigi Nonos ideologischen Ansatz, eine kämpfe­
rische Position, also den politischen Widerstand, der die Gesell­
schaftskritik durch das autonome Kunstwerk in den Konzertsaal
bringen will …
Ich sehe aktuell ein Abschiednehmen von diesen Traditionen einer
Ideologisierung in den Künsten. Eins kann man in jedem Fall sagen,
dass eine Bewegung wie die Linke als Übereinkunft einer Kunstentwicklung nicht mehr existiert.
Ich kenne andererseits keinen jungen Künstler, der für sich nicht einen
politischen Aspekt seiner Arbeit beansprucht. Genau das halte ich
aber für sehr schwierig. Ich kann da eigentlich nur über mich selbst
sprechen. Ich beginne jetzt im Zusammenhang mit dem Metabolischen
Büro zur Reparatur von Wirklichkeit, mit SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT, bestimmte Dinge auch politisch zu benennen. Die Stücke, die
ich schreibe, sind übrigens durch die Bank Musiktheaterstücke –
es gibt kein einziges Konzertstück von mir –, weil sie eben immer den
Rahmen, die Machart, den Gebrauch reflektieren. In diesen Werken
habe ich das politische Thema vermieden, weil dieser Fingerzeig des
Politischen die ästhetische Benutzeroberfläche auf eine bestimmte
8
Weise einfärbt, die dann immer dominant ist. Die Wörter haben eh den
Hang zur Dominanz. Dann verschwindet die Schärfung des Ästhetischen, um die es ja vor allem auch geht.
Ende der 70er-Jahre begann ja das Mediencrescendo. Bis dahin gab
es nur ein Erstes Programm, die ARD, dann das Zweite und es war eine
Revolution, dass es mehrere regionale Dritte Programme gab, nur
was das Fernsehen betraf. In der Musik bedeutete das vor allem bei
den jungen Menschen die Popmusik, die ja auch den „Geruch“ des
Politischen hatte. Die Musik bedeutete eine komplexe theatrale
Schaltung. Dieses Jugendgefühl, das Jugendbewegte, das sich in der
Nachkriegszeit auf eine ganz bestimmte Weise zuspitzte und akku­
mulierte, war auch bestimmt durch das, was ich die Party-Schaltung
nenne. Man brauchte die richtige Clique, den richtigen Raum, oft
Keller­räume, Matratzen und vor allem die richtige Musik. Die Gruppen­
bildung fand über die Musik statt, ob über die Beatles oder mehr über
die Rolling Stones. Weil ich ja in einer Rockband spielte, habe ich
gemerkt, dass ich diese Sicherheit des „Das ist jetzt Musik“ verloren
habe. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Was ist
denn dann Musik, wenn ich sie jederzeit abrufen kann, wenn dadurch
stereotyp bestimmte Verhaltensweisen abgerufen werden. Genau
in diesem Moment begannen auch die machtpolitischen Interessen,
auch die Parteien, andere Kommunikationsstrategien zu entwickeln,
die sich an die technischen Medien banden. Da gab es einen Kurzschluss in mir. Wenn dann die bessere Werbeagentur entscheidet, wer
die politische Verantwortung übernimmt, dann geht es um die Benutzer­
oberflächen, die Einfluss nehmen auf die Entscheidungen. Und dann
habe ich mich dafür interessiert, wie sehen diese Schaltungen aus,
und zwar in diesem kleinen Kunstbereich. Wie kann man mit ganz
einfachen Mitteln die Räume so gestalten, dass neue Wirklichkeiten
entstehen, phänomenologische Untersuchungen von Grundsituationen.
Was ist ein Mensch in einem Raum mit einem anderen Menschen ihm
gegenüber und drei Lichtquellen?
sik hö re, da nn de nk e ich ja
We nn ich im pro vis ier te Mu
eh un gs pro zes s mi t.
soz ial e Dy na mi k, de n En tst
die
So wie das Bauhaus: Was ist eine Bühne, was ist der Mensch auf
der Bühne?
Ja, wir haben ja eben keine Bühne mehr. In der Antike ist das griechische Theater eine Schüssel, die zum Himmel geöffnet ist. Und mit der
Barockbühne klappt diese Bühne hoch, mit dem Bühnenportal beginnt
ein Objektivierungsprozess, wir sind hier, ihr seid da. Wo ist die Schnitt­
stelle denn heute? Man kann uns Menschen ja Schnittstellen auf
Beinen nennen. Die Schnittstelle ist in uns hinein verlagert. Der didaktische Zeigefinger wird verborgen zugunsten des Spielerischen. Es
geht um Aufklärung. Aufklärung ist nicht nur etwas, was mit Wörtern
abgespeichert wird, Aufklärung ist eine Erfahrung.
In diesem Sinne wäre Kunst dann ein Experimentierfeld, eine
Versuchsanordnung, um die Bausteine von gesellschaftlicher
Wirklichkeit, von Kommunikation zu untersuchen und um die
Sinne zu schärfen.
Ich würde das für meine Arbeit so sehen, vielleicht das Spielerische
hierbei etwas verstärken. Wichtig ist mir nur, die vorhandene Vielfalt
nicht zu vereinnahmen. So gibt es wunderbare Konzertmusik, die auch
immer so weiter existieren wird. Es geht ja um die Kompetenz des
geschulten Rezipienten. Der Betrachter ist im Bilde, die Hörerin mitten
im Kompositionsprozess. Der Rahmen wird mitgedacht. Genauso
sehen wir ja ein Tafelbild und genauso hören wir Radio. Wenn ich improvisierte Musik höre, dann denke ich ja die soziale Dynamik, den Entstehungsprozess mit, ob eine Gruppe wirklich kommuniziert, welche
energetischen Momente entstehen.
Ich war improvisierender Musiker, ich habe zwar auch Bach gelernt,
aber ich habe mich gegen die soziologischen, die hierarchischen
Implikationen des Komponierens auf dem Papier ab einem bestimmten
Moment klar gewehrt und dagegengestellt. Im Orchester steht vorne
jemand, in 99 Prozent aller Fälle ein Mann, gibt die Eins und der ganze
Laden muss im Akkord funktionieren, und zwar nach einem schriftlich
Gespräch
geregelten System. Die Trompete zählt 137 Takte, zwei, drei, dafür
wird sie bezahlt. Mir ist einfach nichts Besseres eingefallen, um die
Verdichtung dieser Situation herzustellen. Partitur schreiben war die
optimale Möglichkeit, in sich medial komplexe Situationen zu struk­
turieren und eben zu komponieren. Letztlich sind die Komponisten die
Erfinder der Medienkunst, was die Binnen-Medialität angeht, Korri­
gieren, Streichen, Wegwerfen, Wiederholen, am nächsten Tag weiter
daran arbeiten. Und Reflektieren zwischen diesen beiden Sinnes- und
eben auch Sprachebenen, dem Klang und dem Schreiben. Das hat
zu einer Explosion geführt, in Europa, bereits in der Renaissance.
Für mich war das eine bewusste Entscheidung, auf dieses kritisch zu
sehende, fragwürdige Medium Partitur zurückzugreifen, um damit
im Idealfall wieder vorauszugreifen.
Lass uns noch einen Moment über das Metabolische Büro
zur Reparatur von Wirklichkeit sprechen. Büro assoziiert
natürlich Beuys, das Büro für direkte Demokratie. Wir schließen
an eine bestimmte Zeit an. Ein ironischer Zitatengrund, der aber
einen sehr ernsthaften Ausgangspunkt hat, nämlich die Idee der
sozialen Plastik noch einmal zu befragen: Metabolismus, Verwand­
lungsprozesse, die aktenkundig gemacht werden.
Eine Verkettung von Einzelbegriffen, von denen jeder für sich ein
eigenes Thema bildet. Metabolismus bedeutet Durchlässigkeit, Veränderung. Und gerade politische Ideologien müssen veränderbar sein.
Ich habe einen Satz von Willy Brandt gelernt in den letzten Monaten,
der von Egon Bahr zitiert wurde. Wenn eine Situation sich im Konfliktfall verhärtete, wenn die Situation verfahren war, dann muss Brandt
gesagt haben, und zwar auf Englisch: „We have to rearrange the
scene.“ Wir müssen im Metabolischen Büro in der Lage sein, die
Versuchsanordnung immer wieder zu ändern. Wir müssen das Lebendige suchen. Das zweite ist das Büro. Im Büro wird gearbeitet, es
ist zudem etwas sehr Westliches, es ist ein Ort des Gestaltens. Büro
gehört irgendwie auch mit einer gewissen Soziabilität zusammen.
Es gibt auch Büros, in denen allein gearbeitet wird, aber in der Regel
geht es um und für eine soziale Gemeinschaft.
Dann die Reparatur. Es ist die Vorstellung, irgendetwas funktioniert
nicht mehr. Und wir kümmern uns darum, dass es wieder funktioniert.
Wir können nur in einer Wirklichkeit reparieren. Es heißt ja auch
„Reparatur von Wirklichkeit“, nicht „der Wirklichkeit“.
Das Ganze ist als Labor gedacht, als energetisch dynamisches Modell.
Da kann auch mal nichts sein. Wir haben so viele verschiedene Leute
und deren Versuchsanordnungen eingeladen, so verschiedene Formate,
dass eine Vielgestaltigkeit der Aktivitäten zu erwarten ist. Unsere
Aufgabe wird es sein, dass immer wieder auf neue Weise der Boden
geschaffen wird zwischen ästhetischer Arbeit und politischem Raum.
Ästhetische Benutzeroberfläche schließt die Kunstwerke ebenso
ein wie mein Smartphone. Es geht um gesellschaftliche Verantwortung
und die Reflexion der Wirklichkeit gesellschaftlicher Machtausübung.
Aber das geht nur, wenn die Kunst an sich frei ist.
Manos Tsangaris ist Komponist und Direktor der Sektion Musik.
Johannes Odenthal ist Programmbeauftragter der Akademie der Künste.
Kann die Kunst
die Wirklichkeit
verändern?
Klaus Staeck
Die Satire ist ein
Angriff auf
die Wirklichkeit.
Und die Wirklichkeit
ist die Satire.
Es war 14 Tage vor den Bundestagswahlen 1998, als ich
auf einem Straßenständer ein Plakat mit dem Slogan
„Blühende Landschaften wählen! CDU“ las. Zuerst
dachte ich an einen satirischen Mitstreiter im Geiste.
Ein Blick auf das klein gedruckte Impressum ließ
jedoch kaum noch Zweifel zu. Es handelte sich tatsäch­
lich um ein Originalplakat der CDU.
Längst war die von Helmut Kohl seit 1990 hartnäckig
wiederholte Verheißung von „blühenden Landschaften“,
in die sich die neuen Bundesländer verwandeln würden,
zum Running Gag des gesamten Wahlkampfes ge­worden.
So war mein zweiter Gedanke: Jetzt versuchen sie schon,
die Attacken der Gegner satirisch zu kontern.
Fünf Tage vor den Wahlen nahm ich dann eine Ein­
ladung zur ARD-Fernsehtalkshow Boulevard Bio an,
auch wenn die Runde reichlich exotisch zusammen­
gesetzt war. Meine Mitstreiter waren der Spaßmacher
Ingo Appelt, die Pornoproduzentin Dolly Buster und
der ehemalige TV-Moderator Gerhard Löwenthal.
Ich nutzte meinen Redebeitrag in diesem eigenwilligen
Kreis, um vor laufender Kamera ein vermeintliches
Geheim­nis zu lüften. So wenige Tage vor der Wahl
könne ich es jetzt ja verraten: Das Plakat von den „blü­
henden Landschaften“ stamme in Wahrheit von mir.
Um es nicht auf eigene Rechnung kleben zu müssen,
hätte ich es den einzelnen CDU-Untergruppen erfolg­
reich untergeschoben. Für deren bereitwillige Mithilfe
bei der Verbreitung meiner Ideen würde ich mich gern
auf diesem Wege in aller Form öffentlich bei den Uni­
onsparteien bedanken.
Am Tag nach der Sendung stand das Telefon in mei­
nem Heidelberger Büro nicht mehr still. Neben zahl­
reichen Journalisten, die meine Behauptung zunächst
für bare Münze genommen, dann aber doch Zweifel
bekommen hatten, meldeten sich vor allem verun­
sicherte CDU-Mitglieder. So wollte der Frankfurter
CDU-Geschäftsführer völlig entnervt wissen, ob denn
seine Partei tatsächlich auf mich hereingefallen sei. Die
Realität war die Satire.
Mein Plakatmotiv Die neue Weltregierung hatte 1981
ganz andere Reaktionen ausgelöst. Ein Geschäfts­führer des Chevron-Konzerns wollte die satirische
Aussage gern wörtlich genommen wissen. Es wäre
doch eine durchaus begrüßenswerte Lösung für die
Zukunft, wenn die Ölmultis tatsächlich die Weltregie­
rung stellten.
In Reden und Interviews habe ich oft behauptet, dass
ich den Artikel 5 unserer Verfassung zum Beruf gemacht
habe. Er schützt die Freiheit der Meinung und der
Kunst. Dennoch habe ich mich bei den 41 Versuchen,
meine Arbeiten juristisch zu verbieten, nicht auf den
Kunstvorbehalt berufen. Denn ich halte diese Schutz­
klausel nicht nur für ein Kunstprivileg. Sie muss nach
meiner Überzeugung für alle gelten. Trotzdem war
es mir wichtig, mich nicht aus dem Kunstkontext
drängen zu lassen, während die politischen Gegner zeit­
weise aufs Heftigste versuchten, meine künstle­rische
9
S tat e m e n t
Tätigkeit pauschal als Agitation und Propaganda zu
denunzieren. Das Credo der Satire lautet: die unverschuldet Schwachen vor dem Übermut der Starken zu
schützen. Das geht nicht ohne Risiko. Ich habe mein
Leben lang darum gekämpft, dass die Kultur keine
Ausnahmeerscheinung ist, sondern ins Zentrum gehört.
Kunst und Leben gehören zusammen.
Deshalb lasse ich mich im Streit mit der Politik nicht
damit abspeisen, wenn man sagt: Was willst du denn?
Deine Buchpreisbindung schenken wir dir! Ich habe die
Weltherrschaft der Konzerne im Blick. Ich engagiere
mich heute mit aller Kraft gegen das geplante Freihandels­
abkommen, das zwischen Europa und den USA auf
bisher völlig intransparente Weise ausgehandelt werden
soll, weil es ein Angriff auf die Fundamente unserer
Demokratie ist und unser gewachsenes Kulturverständ­
nis mit all seinen Förderungsmöglichkeiten zum Erhalt
kultureller Vielfalt infrage stellt.
Klaus Staeck ist Grafiker, Verleger
und Präsident der Akademie der Künste.
Jutta Brückner
Die Optimierung des
antiquierten Menschen
Kann Kunst auf die Gesellschaft wirken? Gesellschaft
ist ein Abstraktum, die Kunst ist konkret und sie richtet
sich immer an den Einzelnen. Der ist Mann oder Frau,
lebt in Europa, Amerika oder Asien und er oder sie
hört eine CD mit koreanischer Musik, steht in einem
Museum vor den Bildern eines afrikanischen Künstlers
oder sieht einen Film. Jede kunstphilosophische
Aussage über „die“ Kunst stößt sich an dieser Verschie­
den­heit. Aber der kleinste gemeinsame Nenner unserer
schönen, neuen, digitalen Welt, die Wahl zwischen 0
und 1, arbeitet erfolgreich an der Verflüssigung aller
Unterschiede. Und so ist die erste Aufgabe der Kunst,
auf diesen Unterschieden zu beharren und sie wahr­
nehmbar zu machen. Danach kommt eine weit schwie­
rigere. In den Laboren der Wissenschaft und Technik,
auf den kapitalistischen Märkten und in den globalisierten Büros von heute wird an dem gearbeitet, was
die totalitäre Utopie ersehnt hatte: ein neuer Mensch.
Aber nicht als moralisch-politische Veredelung, wie die
sozialistische Utopie es erhofft hatte, sondern als bio­
politisches Forschungs- und Anwendungsfeld für die
Um- und Neuschöpfung dieses fehlerhaften Wesens,
das sich Mensch nennt. Dieser neue Mensch soll sich
lustvoll der Verführung der universellen Maschinen
unter­werfen und die Einpassung in die kybernetischen
Modellwelten als selbst gewählte Entscheidung begrei­
fen. Traditionelle Gewalt und Hierarchie werden so hin­
fällig. Es geht nicht mehr um Veränderungen von Welt­
verhalten und Moral, die Norbert Elias als Schritte im
Prozess der Zivilisation beschrieben hat, sondern um
Eingriffe in die geistige und körperliche Substanz des
Menschen durch seine Vernetzung mit den Maschinen.
Endziel ist der Cyborg, der kontrollier- und steuerbar
ist. In den USA, die uns immer voraus sind, was die
Überführung von Lebensgefühl in die Medien und
damit in das Bewusstsein der Masse angeht, hat man
das begriffen. Nun könnte man sich mit dem Gedanken beruhigen,
dass die blutigen totalitären Utopien gescheitert sind
und es der Dystopie im Gewand der Verführung genau­
so gehen wird. Denn wir alle sind noch analoge Wesen,
die man nicht durch einen Knopfdruck an- und ab­
stellen kann wie eine Maschine, Kreaturen mit einem
Körper, dessen Lebenszeit der Bogen einer Existenz ist
zwischen dem ersten blutigen Schrei und dem oft eben­
so blutigen Tod. Aber die Versuche, dieses Kreatürliche
in einem Optimierungsprozess zum Verschwinden zu
bringen, sind total, weil sie weitgehend unsichtbar und
geheim sind. Niemand von uns kann überblicken,
was in den Laboren gemacht wird und welche Folgen
das haben wird. Und hier beginnt die zweite Aufgabe
der Kunst. Sie muss diese bedrohten, analogen Wesen,
die wir noch sind, verteidigen, ihre Schmerzen, Schwer­
fälligkeiten, Unberechenbarkeiten, ihre Sehnsüchte und
ihr Scheitern. Die menschliche Existenz ist defizitär,
unrein, und an ihrem Ende steht als letztes Scheitern der
Tod. Der Cyborg scheitert nicht, er stellt höchstens sein
Funktionieren ein. Wenn man der Kunst eine solche
Aufgabe des Bewahrens stellt, dann hat das nur schein­
bar etwas Konservatives. Denn Begriffe wie konservativ
oder avantgardistisch werden von der digitalen Revolu­
tion ebenso verflüssigt wie alle Verhältnisse. Man wird
mehr denn je neu denken müssen, was das ist: „Avant­
garde“, „autonome Kunst“ und „politische Kunst“. In
der Umwertung aller Werte durch das digitale Zeit­alter
muss ein Maßstab bleiben: der Mensch als Individuum,
nicht als Anhängsel oder Bestandteil einer Maschine.
Schon vor 50 Jahren hat man von der „Antiquiertheit
des Menschen“ gesprochen. Mit noch mehr Recht kann
man das heute tun. Dieser antiquierte Mensch ist
unser einziger Garant für eine menschliche Zukunft,
denn von ihm kann man sagen, dass er immer mehr ist
als das, was er gerade von sich weiß.
Jutta Brückner ist Filmemacherin und Direktorin
der Sektion Film- und Medienkunst.
Wulf Herzogenrath
Kunstwerke sind im wirklichen Raum – im Raum des
Betrachters. Nur dort existieren sie und sind wahr­
nehmbar. Wenn man auf die Entwicklung der Kunst
im 20. Jahrhundert blickt, ist eine der entscheidenden
Neuerungen die Einbeziehung des Betrachters, der
immer mehr zu einem aktiven Teil des künstlerischen
Prozesses wird. Im 21. Jahrhundert kann man die
Tendenz zur Auflösung des materiellen Kunstobjekts
zugunsten der Installierung des Betrachters als Reali­
sator und Vollender des Kunstwerks feststellen. Es geht
also nicht mehr nur um Fragen der Wahrneh­mung von Wirklichkeit, sondern überhaupt auch um
die Existenz und Wirklichkeit des Kunstwerks selbst.
Der erste Schritt wurde um 1910 von Marcel Duchamp
geleistet, der den Kontext des Kunstwerks als konstituierend für den Kunstcharakter eines Objekts
definierte: das objet trouvé – die Unterscheidung eines
Objekts von anderen, industriell oder handwerklich
gefertigten im Zusammenhang seines Gebrauchs oder
auf einem Sockel in einem Kunst-Kontext. John Cage
hat dies dann auf die Nicht-Kunstobjekte erweitert
und gefragt, wer denn diese Unterschiede überhaupt
10
Kann die Kunst
it
die Wirklichke
verändern?
definiere und wer sie wahrnehmen könne – ein Geräusch
oder ein Musikstück sind nicht von grundsätzlich
unters­chiedener Herkunft: Das Vogelgezwitscher im
Wald kann schöner und künstlerisch wertvoller sein
als das Geigeüben der siebenjährigen Tochter. Der Be­
trachter entscheide sich für seine Wertung und Einord­
nung – das Objekt tut dies nicht von sich aus. Hier lern­
ten wir die Wirklichkeit auf völlig neue Weise kennen:
Sogar das Nicht-Existieren (die „Stille“) von Materiel­
lem könne im künstlerischen Tun des Betrachters als
solche wahrgenommen werden.
Künstler vollendeten ihre Werke. Sie malten immer
wieder kleine Hilfen für den „Einstieg ins Bild“, in die
Komposition: Eine Figur, meist am Rande, führte in
die Komposition und den Inhalt des Bildes ein. Im 15.
Jahrhundert erschien die Rückenfigur oder im 17. Jahr­
hundert die Person, die uns direkt aus dem Bild ansah
und damit in das Geschehen im Bildraum einleitete. Im
19. Jahrhundert schien sich unser Raum in die Bild­
fläche fortzusetzen, während wir seit Malewitschs
Schwarzem Quadrat (1913/15) und den ProunenBildern (1920er-Jahre) eines El Lissitzky glauben, dass
die gemalten Objekte auf den Bildern in unseren realen
Raum hinausragen. Doch die Bilder – auch die Traum­
spuren der Surrealisten oder die Realien der Neuen
Sachlichkeit – blieben immer in der Bildfläche und
zogen den Betrachter in Bann.
Erst die neuen technischen Möglichkeiten der Elek­
tronik ermöglichten hier eine substanziell andere
Möglich­keit der Einbeziehung des Betrachters. Da
waren die Objekte mit Spiegeln seit den 1920er-Jahren
erste Schritte, die den Betrachter direkt einbezogen –
allerdings in eine immer vom Künstler schon fertig­
gestellte Komposition –, gedanklich in Die Hochzeit des
Giovanni Arnolfini von Jan van Eyck (1434, National
Gallery London) vorbereitet! Künstler wie Michelan­
gelo Pistoletto, aber in den letzten Jahren auch Olafur
Eliasson oder Jeppe Hein haben immer neue Variatio­
nen geschaffen, die den Betrachter als Teil des Werkes
erscheinen lassen – aber diese Werke sind immer fertig
und auch ohne Betrachter vollwertig existent.
Die Video-Technik ermöglichte einen grundsätzlich
neuen Schritt: Anders als beim Film, dessen belichtetes
Zelluloid eingeschickt und entwickelt werden muss, ist
das gefilmte Abbild der Video-Elektronik – zumindest
für das Auge – zeitgleich als Abbild auf einem Monitor
oder von einem Projektor auf einer Wand projiziert zu
sehen. Realität und künstlerisches Abbild existieren in
demselben Raum in einer Zeitgleichheit. Diese ClosedCircuit-Videoinstallationen entstanden seit den spä­
ten 1960er-Jahren: Bruce Nauman, Peter Campus,
Nam June Paik, Dan Graham, aber auch Richard
Kriesche haben eindrucksvolle Werke geschaffen, die
erst in der Wahrnehmung durch den Einzelnen existent
werden. Der Betrachter ist Vollender des Werks, das ei­
gentlich nur als eine Art Versuchsanordnung im Aus­
stellungsraum steht. Werke von Marina Abramovi´c seit
der Mitte der 1980er-Jahre benötigen den Betrachter
als Teil des Werks, wenn dieser dem Videobild gegen­
übersitzt und zu spüren beginnt, wie die reale Zeit der
Wahrnehmung dieser besonderen Gegenwart vergeht.
Performance-Künstler wie Christian Falsnaes oder
Tino Sehgal beziehen noch direkter den Besucher ein,
es gibt kaum etwas zu sehen oder hören – „nur“ das­
jenige, was durch die Besucher selbst oder den nicht
direkt als „Fremden“ definierbaren Performer, der eher
11
S tat e m e n t
als anderen Besuchern gleichwertig empfunden wird,
entstanden ist – und im Falle von Sehgal weder fotogra­
fiert noch anders materiell festgehalten werden soll.
Selbst beim Kauf darf sich außer dem Geldtransfer
nichts materialisieren.
Eine weitere Stufe der hier angedeuteten aktuellen
Entwicklung sehen wir in der Wandlung des Betrach­
ters zu einem User im weiten Feld der elektronischen
Möglichkeiten des Spiels mit seinen Wahl- und Entschei­
dungs-Varianten, die heutzutage den Spieler zu einem
aktiv eingreifenden und die vorhandene Realität kraftund fantasievoll verändernden Nutzer werden lässt.
Diese Entwicklungsspur, das heißt die Wandlung des
passiven Bild-Betrachters zum aktiv eingreifenden Teil­
nehmer und damit auch Vollender des Kunstwerks,
dessen Autoren sich immer weiter zurückziehen, bis
hin zu dem User der elektronischen Möglichkeiten des
Internets und der neuen Spielewelt, ist Inhalt unseres
Ausstellungsteiles von „Schwindel der Wirklichkeit“.
Wulf Herzogenrath ist Kurator und Direktor
der Sektion Bildende Kunst.
Birgit Hein
Das ist die Frage nach Kunst und Gesellschaft, die in
der Zeit vom Ende der 1960er- bis Ende der 1970erJahre unter dem Thema Avantgarde und Politik hoch
emotional verhandelt wurde. Dabei zielten die heftigsten Angriffe auf die zeitgenössische AvantgardeKunst und ihr Ausstellungs- und Vertriebssystem.
Vor allem die formale und die gegenstandslose Kunst
galten als Repräsentanten reaktionärer spätbürgerlicher Ideologie.
Als so geächtete Avantgardistin habe ich mich 1977
in einer Veröffentlichung zu verteidigen versucht, aus
der ich hier zitiere: „Das Problem liegt in dem Wider­
spruch zwischen der künstlerischen Arbeit und der
Funktion, die sie erfüllen soll: Sie soll die Ideale verkör­
pern – z. B. die echte Freiheit, die reine Wahrheit – die
in der Gesellschaft nicht verwirklicht werden können,
die diese aber braucht, um sich moralisch zu rechtfer­
tigen. [...] Im Grunde kommen die Angriffe auf die
Avantgarde aus der Überzeugung von einer direkten
Wirkungsmöglichkeit der Kunst. [...] Dabei sind alle
Versuche der klassischen und zeitgenössischen Avant­
garden, die Kunst mit dem Leben zu verbinden,
gescheitert. Denn entweder wird aus der Anti-Kunst
wieder Kunst oder die Kunstproduktion wird zugunsten direkter gesellschaftlicher Aktivitäten aufge­
geben. [...] Die Fortschrittlichkeit einer politischen
Kunst hängt von der Fortschrittlichkeit des Inhaltes ab.
Damit wird eine Diskussion notwendigerweise zu einer
Diskussion über die richtigen Inhalte. Dann muß man
konsequent fragen, ob Inhalt allein Kunst sein kann.
Auf jeden Fall ist klar, dass man, um die richtigen
Inhalte zu vermitteln, noch keine Kunst braucht.“1
Bis heute hat sich das Problem nicht erledigt. In
einem Gespräch mit Johannes Odenthal sagt Rabih
Mroué 2013: „Als Künstler muss ich all meine Ideen
und Überzeugungen auf den Tisch legen und sie viel­
leicht auch verraten. In der Kunst stellt man Fragen und
gibt keine Antworten. Wenn du Aktivist bist, gibst du
bereits Antworten. Du weißt, was richtig und was falsch
ist. Ich kann keine Kunst machen, wenn ich genau weiß,
was falsch ist und was richtig. Versteh mich bitte nicht
falsch, ich habe nichts gegen Aktivisten, ich rede hier
lediglich über Aktivismus und Kunst. Wenn ich einer
Aktivistengruppe angehören würde, würde ich einfach
keine Kunst machen.“2
Die russischen Formalisten in den 1920er-Jahren
sahen den einzig möglichen Ansatzpunkt zur Lösung
des Konflikts „Kunst und Revolution“ in der Ausein­
andersetzung mit der Form. „Es bedurfte vieler Revo­
lutionen, um durch sie den Künstler von den Verpflich­
tungen des Moralisten, des Erzählers, des Hofnarren
zu befreien, damit er klar seinem schöpferischen Ruf
folgen und den Weg der Konstruktion gehen konnte,“
schreibt El Lissitzky 1920.3
Sie verstanden Kunst als Arbeit im ästhetischen und
formalen Bereich, der nur graduell von anderen Spezial­
bereichen, wie beispielsweise dem der Wissenschaft, ver­
schieden ist. Durch diesen vermittelt die Kunst Informa­
tionen, die von keinem anderen Informationssystem
übernommen werden können, und die sogar außerhalb
ihrer eigenen Sprache nicht vorhanden sein können.
Angesichts der weltweiten Produktion und Ver­
breitung digitaler Bilder wird in der bildenden Kunst
heute in der Frage nach dem Verhältnis von Bild
und Abbild die Wahrheit erneut zum Thema. Das gilt
besonders für den Bereich des Dokumentarischen, der
sich seit den 1980er-Jahren enorm erweitert hat.
„Die ständige Unsicherheit darüber, ob dokumentari­
sche Wahrheit möglich ist, oder ob sie von vornherein
verworfen werden muss, der ständige Zweifel, ob das,
was wir sehen, auch mit der Wirklichkeit übereinstimmt,
stellen keinen Mangel dar, der verleugnet werden muss,
sondern im Gegenteil das entscheidende Charakteris­
tikum dokumentarischer Formen. Ihr Merkmal ist
die oft unterschwellige, aber trotzdem nagende Verun­
sicherung, die sie erzeugen mit der Frage: Ist dies wirk­
lich wahr?“4
Für mich hat sich seit Ende der 1970er-Jahre Avant­
garde als künstlerische Strategie erledigt. Das Politi­
sche in der Kunst äußert sich heute in der Subversion.
Sie muss immer neu entstehen und kann nicht kommer­
zialisiert werden. Sie setzt dort an, wo die Gesellschaft
über das Leben hinweggeht.
Nicht die Kunst verändert die Wirklichkeit, sondern
die Wirklichkeit verändert die Kunst.
Birgit Hein ist Filmemacherin, Filmwissen­schaftlerin
und stellvertretende Direktorin der Sektion Bildende Kunst.
1
2
3
4
Birgit Hein, „Avantgarde und Politik“, in: Frauen machen
Kunst, Ausstellungskatalog, Bonn 1977, unpaginiert.
Rabih Mroué, „Kein Bild ist hunderprozentig real“,
in: Johannes Ebert et al. (Hg.), Zeitgenössische Künstler –
Arabische Welt (Positionen 7), Göttingen: Steidl 2013, S. 168.
El Lissitzky, „Der Suprematismus des Weltaufbaus“,
in: Sophie Lissitzky-Küppers, El Lissitzky. Maler, Architekt,
Typograf, Fotograf, Dresden: Verlag der Kunst 1967, S. 327.
Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit – Dokumentarismen
im Kunstfeld, Wien / Berlin: Turia + Kant 2008, S. 9, 11.
Schwindel
der Wirklichkeit
Wie die Besucher
die Kunst neu erfinden
hkeit.de
www.schwindelderwirklic
Nach Fotografie, Film und Video sind es seit den 1990er-Jahren vor allem die digitalen Medien, die das Verständnis von Kunst grund­legend
verändern. Bis Ende der 1980er-Jahre nutzten Künstlerinnen und Künstler die Computertechnologie als Werkzeug, nur selten als Medium.
In der digitalen Medienkunst wurde insbesondere die Interaktion zu einer der zentralen ästhetischen Dimensionen. Digitalisierungsprozesse
betreffen demnach also nicht nur die Speicherung, die Vermittlung und die Kommerzialisierung von Kunst, sondern auch und vor allem
künstlerische Produktions- und Rezeptionsprozesse. Die digitale Schwelle – der Übergang zwischen digitaler Information und analogem
Nutzer – gerät dabei systematisch ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Schlüsselbegriffe Partizipation und Interaktivität basieren
auf dem unausgesprochenen Versprechen der Teilhabe aller im Sinne einer Beuys’schen Demokratisierung von Kunst. In der Ausstellung
SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT stellt die Akademie der Künste künstlerische Strategien und Arbeitsweisen vor, in denen die Wahrnehmung
und die Aktivität der Besucherinnen und Besucher ins Zentrum rücken und das Kunstwerk sich jenseits des Objekthaften gleichsam
nur in ihnen und durch sie verwirklicht. Dabei stehen die aktuellen Entwicklungen der Game Art in einer Tradition künstlerischer Auseinandersetzungen seit den 1960er-Jahren, insbesondere mit den Closed-Circuit- Videoinstallationen, aber auch den partizipativen und PerformanceProjekten. In den so zusammengestellten Konfigurationen von Digitalem und Analogem zeigt sich, dass die mediale Schwelle längst
zu einem dia­lektischen Schlüsselmotiv der Gegenwartskunst geworden ist.
Im Zentrum von SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT stehen die
Besucher­innen und Besucher mit ihrer individuellen Wahrnehmung,
die mit sich selbst und ihren Handlungen konfrontiert werden. Was
ist wirklich, was ist Simulation und wo manifestiert sich das Subjekt
der fortgeschrittenen Moderne? Mit der Auflösung des klassischen
Kunst-Objekts und des Betrachter-Subjekts hat sich der Kunstbegriff
in den letzten Jahrzehnten radikal verändert und damit auch das
Konzept von Museum und Theater. Indem die Ausstellung diese neuen
„Bühnen“ in den Fokus nimmt, führt sie vor, wie die Kunst­produktion
zum Forschungsfeld von soziokulturellen Strukturen geworden ist.
Darin geht sie einen Weg der ästhetischen Aufklärung.
Mit einer Werkauswahl von „historischen“ und aktuellen ClosedCircuit-Installationen, Spiegelarbeiten, Partizipationsprojekten,
Game Art und Projekten an der medialen Schwelle widmet sich die
Akademie der Künste diesem Themenfeld an der Grenze zwischen
Wirklichkeit und Simulation. Bemerkenswert ist, dass die neuen
technischen Abbildungs- und Kommunikationsmöglichkeiten von Film
und Fernsehen schon in den 1960er-Jahren massiv ins Blickfeld
von künstlerischen Arbeitsprozessen rückten, wie die Nutzung des
elektronischen Modulationssystems TEEM im Rahmen der Auffüh­
rungen der 9 Evenings in der Armory Hall in New York im Jahre 1966
zeigt. Solche künstlerischen Methoden sind in einer Linie mit zeit­
genössischen Arbeiten zu sehen, in denen eine jüngere Künstler­
generation die exponentiell gewachsenen medialen Möglichkeiten
nutzt – von Browser-Skript und App über Hard- und SoftwareModifikation bis hin zu Computerspiel, virtueller Realität und Netzwerk-Intervention. Nicht nur der experimentelle Gebrauch vorhandener
technologischer Möglichkeiten, sondern auch deren ästhetische
Weiterentwicklung eröffnet den Künstlern der Ausstellung eine
innovative Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und Manipulation
von Realität: Das Verhältnis von Raum und Zeit, Künstler und Besucher,
Bild und Abbild, Klang und Abklang, Code und Körper, Wirklichkeit und
Simulation wird in den Arbeiten neu erprobt und ausgelotet.
Closed Circuits
Die unmittelbare Verfügbarkeit von Videobildern sowie deren zeit­
gleiche Manipulationsmöglichkeiten und/oder die räumlich getrennt
zu steuernde Wiedergabe des Bilds oder Spiegelbilds ermöglichte
Künstlern wie Bruce Nauman, Nam June Paik, Peter Campus und
Richard Kriesche, den Betrachter selbst als Zuschauer und als aktiven
Performer an der Installation oder Situationsanordnung partizipieren
zu lassen. The Situation Room (2013) von Franz Reimer verdeutlicht
anhand eines Nachbaus des gleichnamigen Pressebilds von Pete
Souza, dass die Grundlage für jede Closed-Circuit-Installation bis
heute die Simultanität des Realen ist, also das Spiel zwischen dem,
was in Echtzeit stattfindet, und dem, was als Abbild einer Situation
zeitgleich zu sehen ist. Die Möglichkeiten der Gegenüberstellung
erscheinen heute endlos, in den 1960er-Jahren jedoch ging es um
eine simple Subjekt/Objekt-Gegenüberstellung, um deren Verhältnis
zueinander und um die Synchronizität der Handlung: wenn etwa der
Partizipient mit seinem eigenen Abbild konfrontiert wird, aber nicht
im spiegelbildlichen Sinne seitenverkehrt, sondern seitenrichtig. Die
manipulierte Darstellung von Wirklichkeit entzieht dem Besucher die
gewohnte Selbstwahrnehmung. In Dan Grahams Present Continuous
Past(s) (1974) werden in einem Intervall von acht Sekunden asynchron
zahlreiche Abbilder des Besuchers geschaffen und projiziert – Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich, die Grenzen verschwimmen. Darüber hinaus bietet das Zeit-Raum-Gefüge der Installationen
die Möglichkeit einer zeitversetzten Wiedergabe. Der Partizipient findet sich so in einem Zeit-Raum-Feld wieder, das nicht mehr allein in
seiner Gegenwart angesiedelt ist und diese dokumentiert, sondern in
einem Gefüge, das die Wirklichkeit und deren Manipulation zugleich
wiedergibt. In den Closed Circuits und Spiegel-Verfahren finden sich
die Besucher mit neuen Wahrnehmungserfahrungen von Wirklichkeit
in einem sich stetig aktualisie­renden Raum-Zeit-Körper-MedienGefüge konfrontiert. Sowohl die Spiegelbilder als auch die
12
Videobilder hängen von den Bewe­gungen der Körper im Raum sowie
der Positionierung des Spiegels beziehungsweise der aufzeichnenden
Kamera und den Einstellungen des Manipulations­mechanismus ab.
Diese Art der medialen Inszenierung von Wirklichkeit entzieht dem Besucher die gewohnte Selbstwahrnehmung.
Partizipation
„I don’t know what I will do for the rest of my life. It can’t get any better
than this!“1 In der Weiterführung des Fokus auf die Closed Circuits
und das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Künstler,
Besucher und Akteur stellt sich auch bei dem zweiten Strang der Ausstellung die Frage nach der radikalen Veränderung des Verhältnisses
zwischen Kunstwerk und Betrachter in den 1960er-Jahren. Die Minimal
Art hat die Beziehungen aus dem Werk extrahiert und die Rolle der
Wahrnehmenden im Ausstellungsraum gestärkt. Die Partizipationskunst räumt den teilnehmenden Menschen nun eine weitere Möglichkeit ein: Sie nehmen als Performer an kommunikativen, interaktiven
und Wirklichkeit konstruierenden Prozessen teil. Kunst findet seitdem
nicht mehr allein im Ausstellungsraum statt, sondern weitet sich
zunehmend (wieder) in den gesellschaftlichen und politischen Raum
aus.2 Das Projekt SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT stellt mit exemplarisch ausgewählten objektfreien Kunstprojekten die Frage nach
den im Kunstwerk angelegten Machtverhältnissen: Wer kontrolliert
die ästhetische Erfahrung? Künstler, Kurator, Kritiker oder Besucher?
Im Bereich der von Joseph Beuys geprägten „Sozialen Plastik“
und der Partizipationskunst kontrollieren alle Faktoren gemeinsam das
Werk und jedem ist eine Teilautorenschaft zuzuschreiben. Bei den
Closed-Circuit-Installationen dokumentieren Richard Kriesche oder
Marina Abramović die Schnittstelle zwischen dem ersten und zweiten
Strang der Ausstellung. Die Reduktion auf das Objektfreie und Immaterielle soll wiederum von Hamish Fulton, Tino Sehgal und Christian
Falsnaes vermittelt werden. Das Ausstellungsprojekt begibt sich
damit in den Bereich der performativen Künste und bezieht an dieser
Stelle den Aktionsraum auf den sozialen und öffentlichen Raum. In der
choreografischen Installation von Tino Sehgal werden die AkademieBesucher zur Sozialen Plastik, zum Teil eines Werks, das sich der
Objektivierung systematisch entzieht und eine radikale Erfahrung von
Gegenwart bietet. Hierbei wird die radikale Auflösung von sicheren
selbstreferenziellen Positionen mit der unhintergehbaren Verflechtung
eines jeden Subjekts in Raum und Zeit kontrastiert. „Wir erwarten zu
viel von Objekten, zum Beispiel, dass sie Subjektivität generieren“,
beteuert Tino Sehgal 2012. Diese Subjektivität, so der Künstler weiter,
„entsteht aber durch Arbeit an sich selbst und Interaktion mit anderen.
Und nicht dadurch, dass man sich irgendeinen Gegenstand kauft
und anheftet.“3
Game Art
Der Fokus auf Game Art ergibt sich wie von selbst aus den ersten
beiden Strängen der Ausstellung, da Computerspiele stets aus geschlossenen Kreisläufen bestehen, die erst durch die partizipative
Performanz des Spielers aus der Potenzialität in die Aktualität treten.
Nur wenn sich die Ausstellungsbesucher auf das programmierte
Regelwerk eines Spiels einlassen und mit ihm über das Interface
in einen zirkulären Informationsaustausch treten, nur wenn sie an
diesem kybernetischen Kreislauf partizipieren, können sie an der
angebotenen ästhetischen Erfahrung teilhaben, in der Reales, Symbolisches, Imaginäres und Virtuelles miteinander gekoppelt werden.
Seit zirka 1995 wenden sich Künstler dem Computerspiel zu
und ergründen die ästhetischen Potenziale des Mediums. Das Etikett
der Game Art hat sich im Zuge der Arbeit von Künstlern wie JODI
(Joan Heemskerk, Dirk Paesmans), Cory Arcangel, Margarete Jahrmann, Bill Viola, Lynn Hershman Leeson oder Pierre Huyghe ent­
wickelt, die Computerspiele als Material und Medium in ihrer künstlerischen Praxis etabliert haben. In der Zwischenzeit haben sich in
diesem Feld zahlreiche Positionen ausdifferenziert, die für die Ausstellung SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT von erheblicher Relevanz
sind. Während frühere Künstler sich häufig mit der visuellen Repräsentation der Spiele beschäftigten, legen zeitgenössische Game Artists
ihre Aufmerksamkeit vor allem auf das Eigentliche des Mediums: die
13
A u ss t e l l u n g
interaktiven Strukturen der Programme, die Spielmechanik, die den
Spielern klar definierte Handlungsoptionen vorschreiben. Dabei subvertieren sie etablierte Interaktionsmuster zugunsten ungewohnter
Modalitäten des In-der-simulierten-Welt-Seins.
So drehen sich die ausgewählten Arbeiten alle um das Verhältnis
von Raum, Körper und medialem Arrangement. Die zentrale Spiel­
mechanik von Bill Violas Night Journey (2010) besteht im Reisen und
Reflektieren. Ausstellungsbesucher werden dazu eingeladen, eine
virtuelle Verkörperung anzunehmen und an einer simulierten Reise
teilzunehmen, die weder hier noch dort, sondern in einer medialen
Schwellensituation stattfindet, in der Aufmerksamkeit und Besinnlichkeit belohnt werden. Alexander Bruce’ Antichamber (2013) dreht
sich ebenfalls um die Erkundung im Raum, wobei gewohnte Interaktions- und Navigationslogiken durch die nicht-euklidische Spielwelt
radikal in Frage gestellt werden und sich ein räumlicher Schwindel
beim Spielen einstellt. Durch die simulierte Verdopplung von Raum,
Körper und symbolisch strukturierter Liebe in Auriea Harveys und
Michaël Samyns in ihrem Studio „Tale of Tales“ entwickelten Spiel
Bientôt l’été (2012) wird ein sozialer Schwindel mit einem anonymen
Gegenüber evoziert. Während Paolo Pedercinis / Molleindustrias Spiel
Unmanned (2012) den Spieler an dem Wirklichkeitsschwindel parti­
zipieren lässt, den die transformierten Raum- und Körperbezüge von
Drohnenpiloten mit sich bringen. Und die Künstlergruppe gold extra
lädt in ihrem Spiel Frontiers (2008) dazu ein, sozio-politische Räume
an den Grenzen Europas in zwei asymmetrisch kodierten virtuellen
Körpern zu durchschreiten.
Die Frage nach der Verkörperung im Raum geht grundsätzlich
von der virtuellen Realität aus – der multisensorischen Interaktion mit
Datenstrukturen –, zu der Computerspiele zweifellos zu zählen sind.
So werden in der Ausstellung auch VR-Arbeiten gezeigt, die schwindel­
erregende ästhetische Erfahrungen bieten, wie Daniël Ernsts The
Great Gottlieb oder Robin Arnotts Soundself. Diese Arbeiten stellen
Grenzpositionen im Feld der Game Art dar, da sie die Frage aufwerfen,
ob sie noch Spiele sind. Dies gilt auch für die drei Arbeiten des Paidia
Institutes aus deren fortlaufender Serie Laboratory: feedback, die den
Gedanken hinter Closed-Circuit-Installationen auf die Spitze treiben,
indem sie den Partizipienten aus dem Spielkreislauf hinausnehmen.
Welche Partizipation ist noch möglich mit einem medialen Arrangement,
das mit sich selbst spielt? Hier wird die Frage nach den Machtverhältnissen unter digitalen Bedingungen neu gestellt. Wer spielt? Homo
ludens, universelle Maschine oder kybernetische Schaltkreise?
Die mediale Schwelle
Der letzte Fokus der Ausstellung liegt auf der medialen, insbesondere
der digitalen Schwelle. Mit dem Begriff der Schwelle wird zuallererst
die Übergangszone zwischen Künstler, Werk und Besucher adressiert.
Die Betonung der medialen Schwelle hebt die zentrale Eigenschaft des
Medialen selbst hervor, die den Medienbegriff für die Beschäftigung
mit der Kunst so wertvoll macht: Als eben das, was „dazwischen“ liegt,
was als Instanz, Material, Technik und Praktik zwischen dem Herstellen
und dem Rezipieren von Kunst vermittelt, wird das Medium selbst zur
Schwelle der Kunst. Dies erlaubt eine neue Perspektivierung aller bisher
aufgeführten Arbeiten und Ausstellungsstränge, ob Closed-CircuitInstallation, Partizipationsprojekt oder Game Art. Bei den historisch
frühen Arbeiten der Ausstellung ist diese Schwelle noch vollkommen
analog. So besteht die mediale Assemblage bei den Closed-CircuitInstallationen aus der Abbildungssituation im physischen Raum, den
Körpern von Partizipienten, Videokameras und Spiegeln sowie den
von ihnen erzeugten Bildern, den Manipulationsmechanismen und
Bildschirmen oder Projektoren. Bei den Partizipationsprojekten kann
ebenfalls – trotz der Reduktion auf das Objektfreie und Immaterielle –
von einer analogen medialen Schwelle gesprochen werden, die von
den Körpern der Performer und Besucher sowie den vorformulierten
Interaktionsarchitekturen und spontan durchgeführten Improvisationen
gebildet wird.
Mit der wachsenden künstlerischen Nutzung der Computertechnologie in den letzten Dekaden wird die mediale Schwelle zunehmend
vom Digitalen durchsetzt. Dabei sind die möglichen Konfigurationen
des Analogen und Digitalen endlos. Mit dem Begriff der „digitalen
Schwelle“ soll dieser Entwicklung Rechnung getragen werden, ohne
dass damit eine Opposition zum Analogen evoziert wird. Vielmehr soll
die neue ästhetische Situation – die sich mit der Game Art ankündigt,
in der das Digitale ins Zentrum des Interesses rückt – konstatiert
und gleichzeitig die unauflösliche Verwobenheit des Digitalen mit dem
Analogen im Blick behalten werden. Im Falle der Game Art adressiert
der Fokus auf die mediale beziehungsweise digitale Schwelle die
Interfaces, an denen die digitalen Spielmechaniken für die analogen
Körper der Spieler erfahr- und bearbeitbar werden. Für jedes einzelne
Spiel kann dabei von einer einzigartigen Konfiguration des Analogen
und Digitalen gesprochen werden.
Der Fokus auf die mediale Schwelle hat hier aber auch einen eigenen Kernbestand, der direkt an die vorherigen Stränge der Ausstellung
anschließt. So bildet Newstweek von Julian Oliver und Danja Vasiliev
eine Schnittmenge mit Closed-Circuit-Installationen, Partizipationsprojekten und Game Art, indem die Installation von der Partizipation
der Besucher an einem kybernetischen Kreislauf lebt und daraus eine
schelmische Freude erwächst. Während hier die Anfälligkeit von
Daten in drahtlosen Netzen für das Überschrieben-Werden vorgeführt
wird, zeigt der verlassene Arbeitsposten der Men in Grey wiederum
die Schutzlosigkeit des unsichtbaren Datenverkehrs vor dem GelesenWerden. Beide Arbeiten können mit dem Spieltheoretiker Richard
Schechner als „dark play“ charakterisiert werden – also ein Spiel, das
sich nicht als solches ausweist –, insofern sie sich um Simulation und
Dissimulation drehen.4 Dabei stellen sie die Vertrauensfrage an unsere
Datennetze und bieten eine ästhetische Erfahrung an, in der das,
was längst zu unserem Alltag gehört, aber nicht sinnlich wahrgenommen
werden kann, in Erscheinung tritt.
Die Arbeiten von Harun Farocki und Trevor Paglen bewegen sich
wie die beiden vorher beschriebenen Werke an der medialen Schwelle,
um unsichtbare Sachverhalte sichtbar zu machen – darin sind sie
Visibility Machines, wie sie trefflich in einer Ausstellung in Maryland /
Baltimore County zusammengefasst wurden. Beide untersuchen Formen militärischer Überwachung, Spionage, Kriegführung und Waffen­
technik und erforschen die täuschenden und verdeckten Methoden,
mit denen militärische und nachrichtendienstliche Projekte unsere
Beziehung zu Bildern und Realitäten, die sie zu repräsentieren scheinen,
transformiert und politisiert haben. Ebenso kann Herman Asselberghs’
Dear Steve als eine Maschine der Sichtbarmachung betrachtet
werden, wenn auch in anderer Hinsicht, da ihre dekonstruktive Performanz die libidinöse Beziehung zur digitalen Technologie, mit der wir
arbeiten und spielen, in Erscheinung treten lässt.
Während die bisherigen Arbeiten dieses Strangs sich um die Sichtbarmachung von Unsichtbarem drehten, widmen sich Bjørn Melhus,
Lohner Carlson, Thomas Demand und Thomas Wrede der medialen
Schwelle des Bilds, indem sie verschiedene Manipulationsprozesse
in ihren fotografischen Scheinwirklichkeiten manifestieren. Melhus’
Rollenspiele sind paradigmatisch für das Leben im Zwischenreich
des Medialen: Er spielt mit dem Übergang zwischen Ego zu Alter in
seinen mannigfachen Figurationen – ob in den Cutouts oder in den zahlreichen Selfies. Demand, Wrede und Lohner Carlson erheben wiederum
einen Realitätsanspruch für ihre Bilder, denn sie gehen von konkret
existierenden Situationen oder Landschaften aus. Während Demand
sich auf Presse- und Fernsehbilder konzentriert, diese detailgetreu mit
Papier und Pappe nachbildet, erreicht uns als Betrachter lediglich das
Medium der Fotografie. Zu diesem Zeitpunkt ist das Modell selbst
schon zerstört. Wredes Bildern ist hingegen eine fast „romantische“
Sehnsucht nach Naturgewalten und Landschaft zu eigen, die sich
Caspar David Friedrichs Gemälden zu nähern scheint. Die Fotografien
selbst eröffnen uns dann aber ein Spannungsfeld zwischen dieser verehrten natürlichen Realität und einer künstlich kreierten Landschaft.
So verweist der letzte Strang der Ausstellung auf die zeitgenössische mediale Situation, in der vermeintlich geschlossene Kreisläufe
geöffnet werden, Wirklichkeit sich verflüchtigt und Unsichtbares
sowie Unvorhergesehenes in Erscheinung tritt. Und sie bestärkt die
These, dass „das Spiel die Handlungsweise schlechthin sei, sich in
Simulationen zu bewegen“.5 Der Schwindel der Wirklichkeit verdichtet
sich im Rückblick in den Closed Circuits, Spiegelarbeiten, Games,
Partizipationsprojekten, Performances und verschiedenen digitalanalogen Experimenten. Der Einsatz der jeweiligen zeitaktuellen
technischen Möglichkeiten seit den 1960er-Jahren bis heute wurde
und wird genutzt, um das Selbst- und Weltverhältnis von Künstler/-in
und Betrachter beziehungsweise Partizipient in dem je aktuellen
medialen Feld zu erkunden. Dabei ergeben sich zahlreiche Differenzen,
die es in den medialen Konfigurationen der ausgestellten Arbeiten
A u ss t e l l u n g
zu erfahren gibt, sowie unzählige weitere, die es noch zu erfinden gilt.6
SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT ist eine Einladung dazu, sich
der zeitgenössischen medialen Situation und den von ihr ausgehenden
Herausforderungen zu stellen.
Mark Butler Kurator, Kultur- und Medienwissenschaftler
Anke Hervol Kuratorin und Sekretär der Sektion Bildende Kunst
Wulf Herzogenrath Kurator und Direktor der Sektion Bildende Kunst
1
2
3
4
5
6
Kiki Smith, nachdem sie als „lebende Ikone“ durch Manhattans Straßen getragen wurde,
in Francis Alÿs’ Modern Procession (2002), New York: Public Art Fund 2004, S. 133.
Zahlreiche Ausstellungen haben sich diesem Thema gewidmet, z. B. The Art of
Participation: 1950 to Now, die 2008/2009 am San Francisco Museum of Modern
Art von Rudolf Frieling realisiert wurde und alle Facetten des Themas beleuchtete –
ein Anspruch, dem die Akademie der Künste in dieser Ausstellung nicht nachkommen
kann oder möchte.
Sabine Weier, „Erfahrungen in der Kasseler Black Box: Künstler Tino Sehgal“, in:
Die Zeit, 27.6.2012, www.zeit.de/kultur/kunst/2012-06/tino-sehgal-documenta.
Vgl. Richard Schechner, The Future of Ritual: Writings on Culture and Performance,
London/New York: Routledge 1993, S. 36 ff.
Natascha Adamowsky, Spielfiguren in virtuellen Welten, Frankfurt a. M.: Campus
Verlag 2000, S. 18.
Vgl. auch Hans Dickel, „The Medium is the Medium – Zur Kunst von Peter Campus“,
in: Wulf Herzogenrath, Barbara Nierhoff (Hg.), Peter Campus. Analog + Digital.
Video + Foto. 1970–2003, Bremen: Kunstverein Bremen 2003, S. 26 ff.
17.9.–14.12.
Di–So 11–19 h
hkeit.de
www.schwindelderwirklic
Ausstellung
Eröffnung: 16.9., 19 h
Gemeinsame Eröffnung mit der Berlin Art Week
Akademie der Künste, Hanseatenweg
Eintritt: Euro 7/5 (dienstags 15–19 h
und bis 18 Jahre Eintritt frei)
Führungen (ohne Anmeldung, zzgl. Euro 2)
18.9. bis 14.12.,
sonntags 11.30 h und donnerstags 18 h
Sonderführungen
für Schulklassen ab Klasse 4 und Gruppen,
auch in englischer, französischer und spanischer Sprache,
mit Anmeldung
Kuratorenführungen
25.9., 18 h; 12.10., 11.30 h; 2.11, 11.30 h mit Anke Hervol
2.10., 18 h; 23.11., 11.30 h mit Mark Butler
23.10., 18 h; 4.12., 18 h mit Wulf Herzogenrath
Gespräche zur Ausstellung
Halle 3
9.10., 19 h
Künstlergespräch mit Bjørn Melhus und Stefan Heidenreich
WE ARE HERE – WE ARE NEAR – WE ARE REAL
15.10., 18 h
Forum: Vortrag und Expertengespräch mit
Slavko Kacunko und Wulf Herzogenrath
Über Bill Violas frühe Closed-Circuit-Videos (1972–76)
30.10., 19 h
Vortrag und Expertengespräch mit Sabine Flach
und Wulf Herzogenrath
Über das Verhältnis von Körper und Bild in
Videoinstallationen
19.11., 18 h
Forum: Vortrag und Künstlergespräch mit Franz Reimer
und Linda Hentschel
Über The Situation Room, Bilder der Macht und die
Macht über die Bilder
3.12., 18 h
Forum: Expertengespräch mit
Horst Bredekamp und Wulf Herzogenrath
Über die Rolle der Bilder in der Grenzaufhebung von privat
und öffentlich. Wie agieren und wirken Bilder?
15
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Künstler
Künstler
Closed Circuits Peter Campus
Alex Hay
„In a closed-circuit video situation one is no longer
dealing with images of a temporarily finite nature.
The duration of the image becomes a property of
the room.“ Peter Campus (1974)
Peter Campus gehört zu den Pionieren der Videokunst,
seine Closed-Circuit-Videoinstallationen der 1970erJahre sind Instrumente der Selbsterkundung. mem existiert
erst mit der Betrachterin: Sobald diese in dem dunklen
Raum das Kamerafeld betritt, wird ein Live-Bild ihres
Körpers auf die Wand projiziert. Kamera und Projektor sind
nahe der Wand angebracht, so dass sich in Richtung
Kamera eine leicht konvergierende Projektionsfläche
ergibt. Das Dreieck zwischen Videokamera, Projektor und
Wand markiert den schmalen Aufnahmebereich. Die
Betrachterin erlebt das Live-Bild ihres Körpers aus einem
anderen Blickwinkel, der Perspektive der Kamera. Bewegt
sie sich, verändert es sich, wird größer oder kleiner.
Sie sieht sich als Video-Closed-Circuit auf der Wand verschwinden und manchmal auch ihr eigenes Schattenbild.
Alex Hays Performance Grass Field fand 1966 im
Rahmen des Festivals „9 Evenings: Theatre and Engineering“ in New York (Armory Hall) statt. Initiiert von Robert
Rauschenberg und Billy Klüver erarbeiteten Künstler (u. a.
John Cage, Merce Cunningham, Yvonne Rainer) und Ingenieure gemeinsam Performances. Erstmals erhielt der LiveAspekt von Elektronik Eingang in die Performancekunst
und ließ „9 Evenings“ zu einem Meilenstein der Medien­
kunst werden.
Grass Field bestand aus drei unterschiedlichen Prozessen,
die, so Hay, „gleichzeitig“ waren: die Tonübertragung, der
Hautfarbton der Kleidung der Performer sowie die Aktion,
den Bühnenraum mit 64 quadratischen Stoffstücken zu
strukturieren und diese am Ende wieder zu entfernen.
Elektroden an Hays Kopf und Körper übermittelten Augen­
bewegungen, Gehirnströme und Muskelaktivitäten über
ein komplexes Verstärkungssystem an Lautsprecher und
machten sie hörbar. Hays Bewegungen auf der Bühne
wurden von seinen inneren Körpergeräuschen begleitet,
er breitete die Stoffstücke auf der Bühne aus und verharrte
regungslos in der Bühnenmitte. Die Projektion eines
Closed-Circuit-Videobildes seines Kopfes in Großaufnahme
machte unkontrollierte minimale Bewegungen sichtbar.
Hay verblieb in dieser Position, während Robert Rauschenberg und Steve Paxton die Stoffstücke der Nummerierung
folgend vom Boden aufnahmen. — MCvL
mem, 1974/75
ART+COM
Zerseher, 1992/2014
Joachim Sauter, Medienkünstler und Mitbegründer des
interdisziplinären Studios ART+ COM in Berlin, realisierte
1991/92 zusammen mit Dirk Lüsebrink die Closed-­CircuitVideoinstallation Zerseher, damals eines der meistzitierten
Kunstwerke im Bereich der interaktiven Medienkunst.
Die Reproduktion des Gemäldes Knabe mit Kinderzeichnung in der Hand von Francesco Caroto wird auf eine
altmeisterlich gerahmte Leinwand projiziert. Verweilt
der Blick des Betrachters auf einer bestimmten Stelle,
zersetzt sich das Bild genau an dieser Stelle. Die Verän­
derung der Bildwirklichkeit erfolgt durch die Rezeption
des Betrachters.
Das hier verwendete Eye-Tracking-System, bestehend
aus Kamera, Computer und Video-Tracking-Software,
analysiert das aufgenommene Auge des Betrachters in
Echtzeit: Die Iris und der Reflexionspunkt eines Infrarotscheinwerfers im Auge werden erfasst. Aus diesen Daten
wird der exakte Blickpunkt errechnet und die grafische
Veränderung des Originals herbeigeführt. Der „Zerseh“Prozess startet, sobald ein Betrachter seinen Blick auf
das Gemälde richtet. Es kehrt in seinen ursprünglichen
Zustand zurück, wenn das Tracking-System 30 Sekunden
inaktiv ist.
Der Zerseher wurde von Sauter und Lüsebrink mit dem
Ziel entwickelt, die Interaktion als eine der wichtigsten
Qualitäten des neuen Mediums provokativ zu propagieren.
Als erste überlieferte Kinderzeichnung der Kunst­
geschichte wurde Carotos Gemälde als Sinnbild für den
damaligen Stand der digitalen Medienkunst eingesetzt.
Da die 1992 verwendete Hard- und Software nicht mehr
existiert, wird eine überarbeitete Version der Installation
gezeigt. — AH
Jochen Gerz
Purple Cross for Absent Now, 1979–1989
Die Installation basiert auf der gleichnamigen Performance
aus dem Jahr 1979. Dem Betrachter bot sich ein abgedunkelter rechteckiger Raum, zweigeteilt durch ein von Wand
zu Wand gespanntes Gummiseil. Quer dazu standen jeweils
an der Stirnwand zwei Monitore auf weißen Sockeln. Als
einzige Lichtquelle waren in der Mitte des Raumes unter
dem Gummiseil vier Schwarzlichtlampen in Kreuzform
installiert. Auf beiden Bildschirmen war der Kopf des
Künstlers bis zum Hals zu sehen, den das gleiche Gummiseil umspannte. Was die Besucher anfangs nicht wussten,
aber im Laufe der Performance ahnen mussten, war,
dass es sich um Closed-Circuit-Videoaufnahmen handelte
und das Gummiseil, das in der Wand verschwand, dahinter
im angrenzenden Raum am Hals des Künstlers endete.
Berührte der Besucher das Seil oder zog er daran, zeigte
ihm die realen Folgen seines Tuns medial vermittelt der
Bildschirm.
Außerhalb der Installation wird eine Dokumentation der
Performance (documenta 8, Kassel 1987) präsentiert und
im anschließenden rechteckigen Raum simulieren das
Schwarzlicht-Kreuz, das gespannte Gummiseil und die
Videoaufnahme des Kopfes des Künstlers die interaktive
Performance. Das Gummiseil im Raum kreuzt auf HalsHöhe das Videobild. Anders als bei der Performance
reagieren Seil und Bild nicht aufeinander. Der Betrachter
wird hier wie da mit seiner (aktiven oder passiven) Rolle
konfrontiert; Fragen nach Täter- und Zeugenschaft,
Manipulation, Verantwortung, Gewissen, aber auch Gewalt­
bereitschaft stellen sich. — MCvL
— MCvL
Dan Graham
Present Continuous Past(s), 1974
In der Rauminstallation Present Continuous Past(s) wird
der Betrachter mit um wenige Sekunden versetzt projizierten und produzierten Abbildern seiner selbst konfrontiert: Die in der verschlossenen Raumbox verteilten Spiegel
bilden die „present time“ ab. Die Videokamera zeichnet
sowohl das Geschehen auf, das vor der Linse stattfindet,
als auch die Reflexion auf der gegen­überliegenden Spiegel­
wand. Die von der Videokamera aufgezeichneten Bilder
werden jedoch erst mit einer Verzögerung von 8 Sekunden
auf dem Videomonitor an der Wand ausgestrahlt. Demnach
sieht der Betrachter sowohl das 8 Sekunden zuvor aufgezeichnete Bild, also auch das 16 Sekunden alte Abbild und
das aktuelle Spiegelbild.
In diesem Zeitkontinuum werden in einem Intervall von 8
Sekunden zahlreiche Abbilder geschaffen und projiziert –
Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich, die Grenzen verschwimmen. „I’m interested in inter-subjectivity“,
erklärte Dan Graham 2002, „exploring how a person, in
a precise and given moment, perceives him / herself while
at the same time watching other people who in turn are
watching him / her.“ — AH
Bruce Nauman
Live-Taped Video Corridor, 1970
„What interested me was to bring these two kinds of
information together: physical information and visual
or intellectual information. The experience lies in the
tension that grows between them, the impossibility of
putting together.“ Bruce Nauman (1986)
Live-Taped Video Corridor gehört zu der Werkgruppe der
Performance-Korridore. Die Spannung zwischen realem
und medialem Raum prägt diese Closed-Circuit-Installation: ein 50 cm schmaler, fast zehn Meter langer Gang, an
dessen Ende zwei übereinandergestellte Monitore stehen.
Der obere zeigt ein Closed-Circuit-Videobild, der untere,
in gleicher Einstellung, den vorab gefilmten Korridor: Vergangenheit und Gegenwart des Raums treffen
aufeinander.
Die Kamera befindet sich über dem Eingang. Betritt die
Besucherin den Korridor, erscheint ihr Bild auf dem Monitor, doch je näher sie diesem kommt, desto mehr entfernt
sie sich von der filmenden Kamera und umso kleiner gerät
ihr Live-Abbild. Die eigene Raumwahrnehmung wird irritiert, zudem sieht sich die Betrachterin auf dem Videobild
nur von hinten, wird so zur Überwacherin ihrer selbst in der
physischen Beengtheit des Raums. — MCvL
Grass Field, 1966
Franz Reimer
The Situation Room, 2013
„Während jedoch die US-Regierung in der Bild-Vorlage
den Tod Osama Bin Ladens betrachten konnte, erkennt
sich der Besucher in der Installation wieder nur als
Zuschauer der nicht sichtbaren Exekution … Seine Problematik wird direkt erfahrbar: Die Installation zeigt uns,
dass das Bild uns nichts zeigt. Wie ein Spiegel wirft sie
unseren Blick auf uns selbst zurück. Hinter ihm bleibt
das Versprechen der totalen Transparenz und Sichtbarkeit in einer digital vernetzten Welt zurück. The Situation
Room zeigt eine bildpolitische Zäsur. Gegen die Macht
der Bilder steht das Bild der Macht. Der Macht über die
Sichtbarkeit.“ (Franz Reimer)
Die begehbare Closed-Circuit-Videoinstallation The
Situation Room von Franz Reimer besteht aus dem Nachbau einer Situation im Weißen Haus, die auf dem gleich­
namigen Pressebild von Pete Souza (1. Mai 2011) während
der Tötung von Osama Bin Laden zu sehen ist. Eine Videokamera filmt den Bildausschnitt der Kulisse exakt wie auf
der Bildvorlage, allerdings mit Besuchern der Ausstellung.
Dieses gefilmte Bild wird auf jenen Bildschirm übertragen,
der in der Originalsituation von der US-Regierung fokussiert
wird. — AH
Jochen Gerz, Purple Cross for Absent Now, 1979
VALIE EXPORT
Raumsehen und Raumhören, 1974, ist das Ergebnis einer
einmaligen Performance im Kölnischen Kunstverein.
In Form einer strukturellen Analyse der Wahrnehmung
von parallelem Bild und Ton behandelt die Videoarbeit die
Beziehung zwischen Körper und Raum. Während EXPORT
die gesamte Zeit bewegungslos an einer Stelle stand, war
auf dem Bildschirm zu sehen, wie sie mit Hilfe technischer
Mittel wie unterschiedlicher Brennweiten oder der Zwei­
teilung des Monitors näher und ferner rückte, kleiner und
größer wurde, von links nach rechts wechselte. Zudem
wurde das Bild mit synthetischen Tönen gekoppelt: Optische Nähe entsprach großer Lautstärke und schneller
Tonrepetition, optische Ferne geringer Lautstärke und
langsamer Tonrepetition. In insgesamt sechs verschiedenen
Abschnitten wurden derart einander zugeordnete Raum­
positionen und Töne in ihren möglichen Kombinationen vorgeführt. Raumsehen und Raumhören konfrontiert die Statik
des realen Körpers im Raum mit den dynamischen Möglichkeiten des technischen Apparats. (www.see-this-sound.at)
Peter Campus, mem, 1974
16
17
Künstler
Nam June Paik
Richard Kriesche
Christian Falsnaes
„I am always not what I am and I am always what
I am not.“ Nam June Paik (1976)
Nam June Paik ist einer der Pioniere der Videokunst und
war einer der wichtigsten Protagonisten der FluxusBewegung. Ausgehend von elektronischer Musik kam
Nam June Paik früh über die Aktionskunst zu einer folgenreichen Auseinandersetzung mit der Medientechnologie.
So kommt es in seinen Medien-Installationen zu Transformationsprozessen, die auf der Interaktion und auf der
Erzeugung von Bewegtbildern beruhen, die sich gegenseitig überlagern. Die Closed-Circuit-Videoinstallation
Three Camera Participation (1969/2000) nimmt die
Betrachterin mit drei nebeneinander stehenden Kameras
auf und projiziert diese drei Abbilder, die leicht verschoben
sind, farbig auf die Wand und gleichzeitig auf einen Monitor.
Die Betrachterin wird nicht nur aktiv in das Werk einbe­
zogen, sondern spielt mit ihren Abbildern, die sich aus
den drei Video-Grundfarben überlappend bunt zusammen­­setzen. — AH
Richard Kriesches Installation Zwillinge zeigt eineiige
Zwillinge in zwei identischen Räumen bei der stillen Lektüre
von Walter Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit. Jeder Zwilling
wird lesend in seinem Raum gefilmt, das von der Kamera
aufgezeichnete Bild wird wiederum in Echtzeit in den
anderen Raum, auf einen Monitor übertragen.
Der österreichische Künstler und Medientheoretiker
verweist mit seiner erstmals 1977 auf der documenta 6
gezeigten Installation auf die Manipulation der Wirklichkeit
durch Medien. Er irritiert die Betrachter, die scheinbar
ohnehin „doppelten“ Zwillinge werden im Videobild erneut
gespiegelt: Was ist Realität, was ist Spiegelung von
Wirklichkeit? Zu welchem Zwilling gehört welches Abbild?
Zur weiteren Verunsicherung trägt ein Zitat Walter
Benjamins bei, das, von Richard Kriesche manipuliert,
neben den Zwillingen an der Wand hängt: „das (der) reproduzierte kunstwerk (mensch) wird in immer steigendem
maße die reproduktion eines auf reproduzierbarkeit angelegten kunstwerkes (menschen)“ (Walter Benjamin
(richard kriesche)). — KH
„Ich behaupte, dass Kunst transformatives Potenzial
hat. Weil ich keine politische Agenda habe, interessiert
mich die Bewegung an sich, die Utopie und das Spiel
mit Ideen und Vorstellungen.“
Christian Falsnaes (2011)
Christian Falsnaes’ Arbeiten untersuchen partizipatorische
Strategien und erkunden die Beziehung zwischen Künstler
und Publikum. In seinen Performances bezieht der dänische Künstler die Zuschauer auf unterschiedliche Weise
ein, so animiert er sie beispielsweise zu tanzen (Opening,
2013), zu malen (One, 2013) oder Ausstellungswände
zu durchbrechen (ELIXIR, 2011). Falsnaes schafft einen
Rahmen für Interaktion, ein Format, in dem frei agiert werden kann. Seine Performances sind für ihn keine Statements, sondern Kompositionen von Aktionen, Events,
Installationen und Videos. Er untersucht das Verhältnis
zwischen Individuum und Gruppe, setzt sich auseinander
mit der Autorität des Künstlers, Gruppendynamiken und
sozialen Ritualen.
Neben der Videoarbeit ELIXIR zeigt die Ausstellung seine
5-Kanal-Audio-Installation und Performance Justified
Beliefs. Hier wird das Publikum zum Hauptakteur: Fünf
Kopfhörer übermitteln unterschiedliche Audiotracks, die
verschiedene Anleitungen für den Besucher bereithalten,
in dem Ausstellungsraum zu agieren. Aufeinander abgestimmt bilden sie eine komplexe Choreografie. Sobald
sich der Besucher einen Kopfhörer aufsetzt, wird er Teil
der Performance. — MCvL
Three Camera Participation, 1969/2000
Servaas
Zwillinge, 1977
Pfft, 1981
Der 2001 verstorbene holländische Medienkünstler
Servaas (Schoone) führt in seiner Closed-Circuit-Installation Pfft auf anschauliche und ironische Weise vor, dass
der Vorgang des Atmens den Menschen zu einem permanenten Austausch mit der Natur anregt: Auf einem Monitor
ist ein Video mit dem Kopf des Künstlers zu sehen, wie
er in Richtung des Betrachters Luft ausbläst. Eine reale
Feder befindet sich vor dem Monitor frei im Raum und wird
durch das geräuschvolle Pusten „Pfft“ offensichtlich in
Bewegung versetzt. Die Täuschung entsteht durch den
Einsatz des bewegten und geräuschvollen Videobildes als
scheinbar realem Auslöser einer Bewegung im Raum –
jener der schwebenden Feder. — AH
Giny Vos
Giovanni Arnolfini en zijn jonge vrouw, 1984
Partizipation In der Ausstellung:
Tino Sehgal, This is Exchange, 2003
Richard Kriesche, Zwillinge, 1977
Christian Falsnaes, Justified Beliefs, 2014
Di–So
11–19 h This is Exchange
13–19 h Zwillinge / Justified Beliefs
Tino Sehgal
This is Exchange, 2003
„I do not ‚invent‘ anything that was not there as a part
of the material in the first place. I look, combine and
I order facts so that the imagination may create a new
reality.“ Giny Vos (1995)
Die niederländische Bildhauerin und Medienkünstlerin
Giny Vos realisierte Giovanni Arnolfini en zijn jonge vrouw
als Closed-Circuit-Videoinstallation in der vergrößerten
Kopie des gleichnamigen Gemäldes von Jan van Eyck
(1434): Vos installierte eine Überwachungskamera am Bild
und einen kleinen Monitor an jener Stelle des Originals,
an der sich der gemalte Spiegel befindet. Die Kamera
zeichnet die Betrachterin so auf, dass sie in der richtigen
Perspektive und Größe als bewegtes Bild in dem kleinen
„Spiegel“ erscheint – wie die gemalten Personen in Frontansicht im Original, jedoch ohne Brautpaar in Rücken­
ansicht. Vos konzentriert sich in ihren Werken auf das
Verschmelzen von offenkundigen Situationen, Objekten,
Räumen etc. mit Medientechnologien, so dass Transformationsprozesse entstehen. Diese münden in einer neuen,
manipulierten Form von Wirklichkeit. — AH
Wie kein anderer Künstler steht Tino Sehgal für den
Transfer choreografischen und tänzerischen Wissens in
die Bildende Kunst. Seine Architekturen der Interaktion, in
denen er ein choreografisches Material mit einer Gruppe
von Interpreten auf die Besucher der Ausstellungsräume
überträgt, sind in der Konzeptkunst oder der Minimal Art
verankert, schöpfen aber doch aus einer tänzerischen und
choreografischen Praxis, die Tino Sehgal durch seine Ausbildung als Tänzer und durch seine Erfahrungen in den
Kompagnien von Jerome Bel, Xavier Le Roy oder auch den
Ballets C. de la B. gemacht hat. In den Installationen von
Tino Sehgal werden die Zuschauer zur „Sozialen Plastik“.
Sie sind Teil des Werks, das sich der Dokumentation, der
„Objektivierung“ systematisch entzieht. Es geht um die
Konstruktion und um die radikale Erfahrung von Gegenwart, jene Möglichkeit, die Verflechtung eines jeden Subjekts in die Konstruktionen von Zeit und Raum sowie die
radikale Auflösung aller sicheren selbstreferenziellen Positionen aufzudecken und wirksam zu machen. Das ist
choreografisches Denken, übertragen auf die Konzeption
eines Kunstraumes, in dem jeder, aber auch jeder Besucher oder Betrachter mit seinem Körper existenziell zum
Teil einer Inszenierung wird: die choreografische Praxis
als Möglichkeit, das Wunder der eigenen Erfahrung von
Existenz in Bewegung im White Cube zu etablieren. — JO
Künstler
Justified Beliefs, 2014
Christian Falsnaes, Justified Beliefs, 2014
Hamish Fulton
Walking East – Walking West, 2014
Seit 1967 konzipiert der englische Künstler Hamish Fulton
Wanderungen in England, Schottland, Irland, Frankreich,
Italien, der Schweiz, den USA, Australien, Indien, Peru,
Mexiko und anderen Ländern. Im Rahmen der Partizipations-­
projekte zum SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT hat er im
Jahr des 25-jährigen Mauerfalljubiläums eine Wanderung
mit dem Titel Walking East – Walking West konzipiert. 800
Teilnehmerinnen und Teilnehmer gehen in zwei Gruppen à
400 Personen im Abstand von 50 Zentimetern langsamen
Schrittes auf einer geraden Linie nach Osten beziehungsweise Westen. Am Ende dieses Transformationsprozesses
treffen sich beide Gruppen auf einer Linie: Ost verschiebt
sich nach West und West nach Ost. Hamish Fulton steht
mit seiner konzeptionellen Kunst und Land Art in der
britischen Tradition der Landschaftsmalerei und sozialen
Plastik, die er mit neuen Mitteln und Ausdrucksformen
zum Leben erweckt. Bei seinen Wanderungen steht
das Erlebnis von Natur, Urbanistik und Gesellschaft im
Vordergrund. — AH
Richard Kriesche, Zwillinge / Twins, 1977
Hamish Fulton:
Marina Abramović
Walking East – Walking West
The artist is present, 2012
Public Walk mit 800 Teilnehmern
auf der Straße des 17. Juni
Anmeldung zur Teilnahme:
www.adk.de/hamishfulton
Die Performancekünstlerin Marina Abramović beschäftigt
sich seit mehr als 40 Jahren mit dem Verhältnis von Performern und Publikum. Dabei benutzt sie ihren eigenen
Körper als Objekt und Medium und lotet physische und
moralische Grenzen aus. Für das Publikum stellen ihre
Arbeiten häufig eine große Herausforderung dar.
Im Jahr 2010 zeigte das New Yorker Museum of Modern
Art eine Retrospektive der Künstlerin. Parallel fand im
Atrium des Museums ihre bisher längste Performance statt:
The artist is present. Marina Abramović saß hier während
der gesamten Laufzeit der Ausstellung schweigend an
einem Tisch, die Besucher wurden eingeladen, sich zu ihr
zu setzen, schweigend mit ihr zu interagieren und auf
diese Weise selbst Teil des Kunstwerks zu werden.
Der Film The artist is present dokumentiert die Performance und begleitet die Künstlerin vor, während und nach
der Ausstellung im MoMA. Neben der Interaktion mit
den Besuchern zeigt der Film auch die Abläufe hinter
den Kulissen und zeichnet ein umfassendes Porträt von
Marina Abramović. — KH
21.9.
14 h, Straße des 17. Juni
Hamish Fulton, Walk 2: Margate Sands, 2010
18
Game Art gold extra
Frontiers, seit 2008
Bill Viola
The Night Journey, 2005–2010
Was sind die Spielmechaniken der Erleuchtung? Der langjährige Pionier der Videokunst Bill Viola (USA) hat mit
The Night Journey – ein Spiel, das er zusammen mit einem
Team des Game Innovation Lab der University of Southern
California 2005 begonnen und 2010 erstmals präsentiert
hat – die Grenzen der Game Art verschoben und seine
früheren Arbeiten in ein digitales Format gebracht. Die
körnige, verschwommene Ästhetik des Spiels erinnert an
eben jene früheren Werke, während die Mechanik des
Spiels der Spielerin erlaubt, diese Bilderwelt zu erforschen.
The Night Journey dreht sich um die individuelle mystische
Suche nach Erleuchtung und ist als interaktive Meditation
angelegt. Im Verlauf des Spiels bereist die Spielerin eine
poetische Landschaft, die vom Leben und Denken herausragender spiritueller Figuren, Dichter, Philosophen und
Mystiker diverser Kulturkreise und geschichtlicher Epochen
inspiriert wurde und eher reflexive und spirituelle denn geografische Qualitäten aufweist. Die zentrale Spielmechanik
besteht im Akt des Reisens und Reflektierens und nicht im
Erreichen bestimmter Ziele. So wird versucht, im Geist der
Spielerin die Erfahrung einer archetypischen mystischen
Reise zu evozieren. Je aufmerksamer und nachdenklicher
die Spielerin mit der Spielwelt umgeht, desto mehr wird
ihr offenbart. — MB
Paidia Institute
Laboratory: feedback (fortlaufend)
Das Künstlerkollektiv Paidia Institute (Deutschland) hat
sich dem Feld der spielbaren Systeme gewidmet, sowohl
als spezifische techné als auch als signifikantes sozio­
kulturelles Phänomen. Ihr Fokus liegt auf dem Spielen als
einer Schlüsselstrategie, um restriktiv-statische sowie
chaotisch-anarchische Zustände dahingehend zu transformieren, dass sie Kreativitäts-, Kollaborations- und
Lernprozesse befördern. Mit ihrer laufenden Serie von
Experimenten Laboratory: feedback untersuchen sie
Computerspiele als geschlossene kybernetische Kreisläufe,
buchstäbliche Closed Circuits – Kontrollketten, die mensch­
liche Elemente enthalten können, aber nicht müssen.
Hierzu modifizieren sie Soft- und Hardware kommerzieller
Spielsysteme und verknüpfen sie zu experimentellen
Anordnungen, wodurch ihr jeweiliges Feedback-Verhalten
in neue Bahnen gelenkt und eine Archäologie ihrer Inter­
aktionsdispositive offen­gelegt wird. — MB
Alexander Bruce
Antichamber, 2013
Alexander Bruce (Australien) ist ein experimenteller Game
Designer, der durch eine Serie von Programmierfehlern
auf Verfahren zur Produktion manipulierbarer Geo­metrie
und rekursiver Räume gestoßen ist, die er mehrere Jahre
lang erforscht und erprobt hat. Seine Entdeckungen mündeten schließlich in Antichamber, einem Explorationsspiel
für einen Spieler in einer gewaltigen nicht-euklidischen
Welt, in der nichts für selbstverständlich gehalten werden
kann. Das Spiel erzeugt seinen Schwindel dadurch, dass
die Architektur der Spielwelt instabil ist. Der Raum – nach
Kant ein notwendiger Parameter der Wirklichkeit neben
der Zeit – ist in dem Spiel nicht mehr zuverlässig. Er konfiguriert sich während des Spielens immer wieder um, so
dass das Unmögliche häufig der einzige Weg nach vorn ist.
Dieses Werk bietet eine tiefgreifende ästhetische Erfahrung, die Spieler dazu veranlasst, ihr eigenes Wissen hinsichtlich der Funktionsweise des (virtuellen) Raums sowie
des Computerspiel-Mediums selbst in Frage zu stellen.
— MB
19
Künstler
Die Künstlergruppe gold extra (Österreich) – ein Netzwerk
von bildenden Künstlern, Regisseuren, Programmierern
und Performern – erforscht innovative künstlerische Ausdrucksformen und kreative Zwischenräume. In dem Computerspiel Frontiers, das als Software-Modifikation eines
kommerziellen Game Engine entwickelt wurde, lassen
sie zwei bis sechs Spielerinnen die Rolle von Flüchtlingen
beziehungsweise Grenzbeamten an den Rändern von
Europa annehmen. Die im Spiel porträtierten Räume und
Figuren basieren auf ausführlichen Feldforschungen
der Entwickler an Europas Grenzen und auf zahlreichen
Interviews mit Flüchtlingen, Hilfsorganisationen, Bewohnern der jeweiligen Region und den zuständigen Behörden.
Durch die erspielte Erfahrung werden etablierte Narrative
zum Thema Flucht und Migration unterlaufen, und es
wird eine virtuelle Erfahrung des sozialen Schwindels
erzeugt, der auf realen Schicksalen basiert. — MB
Tale of Tales /
Auriea Harvey und
Michaël Samyn
Bientôt l’été, 2012
Auriea Harvey und Michaël Samyn (Belgien) erkunden
als Tale of Tales seit 2003 das Computerspiel als künst­
lerisches und expressives Medium. Mit ihren Entwürfen
verlassen sie das einschränkende Paradigma des kompetitiven Spiels, das die kommerzielle Computerspiellandschaft beherrscht. In einem Versuch, das Medium für
andere Arten von Spielen und Spielern zu öffnen, erforschen
sie neue Modalitäten der Interaktion. Mit ihrem Spiel
Bientôt l’été (2012) – ein von Marguerite Duras’ Moderato
Cantabile inspiriertes Werk – laden sie zwei Spieler dazu
ein, die Rollen von zwei Liebenden, die Lichtjahre von­
einander entfernt sind, anzunehmen. Als solche können
sie einsam am Ufer eines simulierten Meeres spazieren
gehen, wo es inmitten einer sehnsuchtsvollen Leere un­
geahnte Schätze zu entdecken gibt. Oder aber sie entscheiden sich, mit dem virtuellen Körper des Anderen in
Kontakt zu treten und mit ihm mittels eines surrealen
Schachspiels zu kommunizieren, in dem vorformulierte
Phrasen und Spielzüge die Interaktion choreografieren.
Diese intensive Interaktion mit einem anonymen Gegenüber,
der genauso gut ein vom Spiel gesteuertes Konversations­
programm sein könnte, ist eine Reflexion auf unser medial
geteiltes Leben im Zeitalter von Internet-Videofonie,
Chatrooms, Liebesbeziehungen zu „Operating Systems“
wie in Spike Jonzes Film Her und auf den Schwindel, der
durch einen Alltag erzeugt wird, in dem Lokalität nicht
mehr eine Kategorie der räumlichen Nachbarschaft ist,
sondern eine affektive Qualität des sozialen Lebens. — MB
Lynn Hershman Leeson
Agent Ruby, 1999–2002
Seit den 1970er-Jahren beschäftigt sich Lynn Hershman
Leeson mit Konstruktionen weiblicher Identitäten. „Ruby“
taucht erstmals als fiktionaler Charakter in ihrem Film
Teknolust (2002) auf, in dem die Wissenschaftlerin Rosetta
Stone aus ihrer DNA drei SRAs (Self Replicating Automatons) entwickelt, eine von ihnen ist Ruby. Im Film arbeitet
Ruby in einem Portal als „e-dream hostess“. Aus der fiktionalen Figur wird in Agent Ruby eine virtuelle, die mit dem
realen Besucher in Kontakt tritt. Interaktion kennzeichnet
die Arbeit, Agent Ruby und der Besucher, „seeker“ genannt,
kommunizieren per Chat, virtuelle Wirklichkeit trifft auf die
reale. Besucher-Fragen erwidert Ruby prompt. Manchmal
stößt ihre künstliche Intelligenz dabei auch an ihre tech­
nischen Grenzen, wenn sie antwortet „My brain contains
more than 22,000 patterns, but no one that matches your
last input.“ — MCvL
Künstler
Paolo Pedercini /
Molleindustria
Unmanned, 2012
Paolo Pedercini (Italien) entwickelt mit dem Künstler­
kollektiv Molleindustria seit 2003 Spiele als „homöopathische Kur” gegen die „Diktatur der Unterhaltung”. Ihre
Werke umfassen satirische Simulationen zeitgenössischer
Geschäftspraktiken, spielerische Modellierungen politischer Konflikte, Meditationen über Entfremdung in der
neoliberalen Arbeitswelt, spielbare Theorien und ReImaginationen des Computerspielmediums selbst. Ihr
Spiel Unmanned (2012) ist ein kritischer Kommentar zum
Einsatz bewaffneter Drohnen in der zeitgenössischen
Kriegsführung sowie zur Überhöhung des Kriegs in den
Produkten der Kulturindustrie. Im Gegensatz zu den
Scharen an kommerziellen Kriegsspielen nimmt der Spieler
nicht die Rolle eines heldenhaften Frontsoldaten ein,
sondern die eines Piloten, der tagsüber aus der Ferne mittels einer unbemannten Drohne den „Feind“ auf einem
anderen Kontinent beobachtet (sowie gegebenenfalls tötet),
und dann den Feierabend mit seiner Familie in einem USamerikanischen Vorort verbringt. Im Verlauf des Spiels
partizipieren die Spieler an dem Wirklichkeitsschwindel
des Soldaten und werden mit seinem zentralen inneren
Konflikt konfrontiert: Welche Störungen zieht es im sonstigen Leben nach sich, wenn man so weit von der Zerstörung
entfernt ist, die man im Arbeitsalltag anrichtet? — MB
Daniël Ernst
Der Grosse Gottlieb, 2014
Daniël Ernst (Niederlande) bezeichnet sich selbst als
interaktiven Illustrator – jemand, der interaktive Erfahrungen konzipiert und erschafft – und lebenslangen Liebhaber der Dreidimensionalität. Gegenwärtig produziert
er Dioramen für die noch in Entwicklung befindliche Oculus
Rift, Speerspitze einer neuen Generation von Datenbrillen
für die virtuelle Realität. Diese Dioramen sind interaktive
Kurzgeschichten, destillierte Momente in Zeit und Raum.
Ihr Detailreichtum stimuliert die Imagination und fordert
dazu heraus, sich ein eigenes Narrativ aus der gebotenen
medialen Umgebung zusammenzupuzzeln. Der Grosse
Gottlieb lädt dazu ein, am simulierten Schwindel zu
partizipieren, der sich mit dem atemberaubenden Blick
von der Spitze eines gigantischen Turms aus Stühlen einstellt, inmitten von Zirkusromantik, virtuellen Wolken
und mit einem Hauch des Realen im Nacken. — MB
Tale of Tales, Bientôt l’été, 2012
Robin Arnott
Soundself, 2014
Robin Arnott (USA) erschafft interaktive Kunst und hegt
ein Interesse für minimalistische emotionale Immersion.
SoundSelf ist ein ästhetisches Explorationsspiel, das
die intrinsische Lust am Spielen den Belohnungen des
Gewinnens vorzieht. Mittels der eigenen Stimme können
Spieler eine hypnotische Welt aus Klang und Licht erforschen, die sich so anfühlt, als würde sie direkt aus dem
eigenen Körper hervorgehen. Diese Arbeit, die für die
nächste Generation der virtuellen Realität erschaffen
wurde, ist das Ergebnis des Aufeinandertreffens von
uralten Meditationstechniken mit der Trancetechnologie
des Computerspielens. Sie macht sich Schlupflöcher der
Wahrnehmung zunutze, um einen introspektiven Zustand
der Ekstase beim Spieler zu induzieren. Besucher –
egal ob erfahrene Psychonauten oder unerschrockene
Novizen – werden dazu eingeladen ihre Stimme zu
gebrauchen, um sich durch eine Landschaft aus Licht
und Leib zu navigieren und Selbst und Welt auf eine
unbekannte Art und Weise zu erfahren. — MB
Gold Extra, Frontiers, 2010
20
21
Künstler
Künstler
Visibility Machines
Kann die Kunst
die Wirklichkeit
verändern?
Wie Trevor Paglen und Harun Farocki mit den Mitteln des Sehens
die unsichtbaren Orte der Macht reflektieren
Visibility Machines
Niels Van Tomme
im Gespräch mit Trevor Paglen
(in englischer Sprache)
Eintritt: Euro 5/3
Harun Farocki, Erkennen und Verfolgen, 2003
17.9.
19 h, Studio
Könnte es sein, dass der Aufklärungsbegriff in seiner ideellen Ausprägung zwar die
Transparenz wissenschaftlicher Forschung und die Ausbreitung des Wissens begünstigt,
dass er letztendlich aber genau das Gegenteil bewirkt hat, nämlich eine systematische
Verschleierung und Unzugänglichkeit von Wissen über einzelne Gegenstände? Und könnte
das in einer Weise geschehen sein, die die wahre Natur dieser Gegenstände für immer
unergründlich macht? Schon der Gedanke an die Enthüllungen des Whistleblowers Edward
Snowden legt die Vermutung nahe, dass die aufklärerische Vorstellung vom voraussetzungslosen Wissen und der aus ihr hervorgegangene Begriff der transparenten Politik
vielleicht gerade in eine absolutistische Doktrin der Staatssicherheit und Willkürherrschaft
umschlagen.1 So mahnt die Philosophin Joan Copjec zur Vorsicht „vor dem ‚Hirngespinst‘
der ‚moralischen Läuterung‘ und allgemeinen Menschenwürde, der Pflege und Wahrung der
Menschenrechte, des Fortschritts und der Universalität“, seien doch „diese Begriffe für
genau die Katastrophen verantwortlich“, die sie vorgeblich abwenden wollten.2 Ungeachtet
solcher kritischer Beurteilungen ist das ursprüngliche Verständnis von Aufklärung aber bis
heute das vorherrschende Paradigma der meisten intellektuellen Anstrengungen, von der
naturwissenschaftlichen und sonstigen akademischen Forschung über die argumentative
Begründung staatlicher Politik bis hin zu weiten Bereichen der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung in den westlichen Ländern.
Mit seinem ikonischen, abbildenden Einsatz hoch entwickelter teleskopischer Objektive – dieser unverzichtbaren Instrumente des wissenschaftlichen Fortschritts und all­
gemeinen Wohlergehens – berührt Trevor Paglen viele dieser Themen. Sein Werk offenbart
einen ähnlichen Wandel vom aufklärerischen Denken zu einer weit ausgreifenden Doktrin
der Geheimhaltung. Indem Paglen geheime militärische Anlagen aus großer Entfernung
ausspäht, entstehen ambivalente Bilder, die als fertige Arbeiten systematisch an der
selbst gestellten Aufgabe scheitern, die verborgene Wirklichkeit angemessen darzustellen.
Das Teleskop wird als technisches Gerät in dieselbe Gewalt eingebettet, die es untersuchen
soll. Es zeigt sich, dass derartige optische Instrumente unentwirrbar mit der historischen
und gegenwärtigen Entwicklung des militärisch-industriellen Komplexes verflochten sind.
Paglen wirft grundlegende Fragen auf, die über Einzelheiten der von ihm untersuchten
Welten hinausgehen. Er zwingt uns zum Nachdenken über die vermeintliche Neutralität
der optischen Medien bei der bildlichen Darstellung militärischen Handelns und, allgemeiner
gesprochen, über die Grenzen, die der Aufzeichnung und Verarbeitung unserer Lebens­
umgebung gesetzt sind. Auch Harun Farockis ikonische Verwendung operativer Bilder,
die von und für Maschinen erzeugt werden, verweist auf eine gleichlaufende Transfor­
mation in unserem Verständnis des Bildes als „Aufklärungsinstrument“: Was genau zeigen
uns diese Bilder und an wen wenden sie sich? Sie dienen nicht mehr dazu etwas dar­
zustellen, sondern als Erkennungs- und Verfolgungstechniken für militärische Zwecke.
Als solche haben sie keinen Erkenntniswert, sondern sind vollständig in das Netz des
Krieges eingesponnen.
Mit der Gegenüberstellung der Arbeiten wird untersucht, wie sich die ursprünglich
hinter dem Begriff der Aufklärung stehenden Gedanken – sowie ihr Bezug zur wissenschaftlichen Vernunft und zur Transparenz des Wissens – in künstlerischen Kontexten
wiedergewinnen lassen. Es stellen sich einige Fragen von unmittelbarer Relevanz für die
Arbeit von Harun Farocki und Trevor Paglen. Inwieweit ermöglicht eine vergleichende
Betrachtung beider Arbeiten ein besseres Verständnis der Wirklichkeit, mit der sich diese
Künstler befassen, nämlich der Sphäre weltweiter Militäroperationen? Wie kann die sys­
tematische künstlerische Erforschung von militärischer Überwachung, Spionage, Kriegführung und Bewaffnung als solche zu aufklärerischem Handeln werden, zu einem Akt
der Rückschau und Erwiderung auf die „Krieger des Sehens“, um hier einen Begriff des
Philosophen und Kritikers Brian Holmes aufzugreifen? 3 Und was lässt sich am Ende daraus
lernen, wenn mutige Künstler sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Militär einlassen?
Finden wir in diesen Gesten vielleicht eine Möglichkeit, die verschiedenen Ausprägungen
von Gewaltherrschaft „aufzulösen“ oder zu transformieren, die unser Verhältnis zu den
Bildern und zu den von ihnen scheinbar dargestellten Wirklichkeiten so stark verzerrt
und politisiert haben? Niels van Tomme Kurator und Kritiker
Auszug aus: Niels Van Tomme, „The Image as Machine“, in: ders., Visibility Machines: Harun Farocki & Trevor Paglen,
Center for Art, Design and Visual Culture, University of Maryland, Baltimore County 2014, S. 25–35. Der vollständige
Essay „Das Bild als Maschine“ von Niels Van Tomme ist nachzulesen auf www.schwindelderwirklichkeit.de.
Übersetzung ins Deutsche: Herwig Engelmann
1
Trevor Paglen, Open Hangar; Cactus Flats, NV; Distance ~ 18 miles; 10:04 a.m., 2007
„Aufklärung“ meint in diesem Zusammenhang die
Gesamtheit der historischen und kulturellen Entwicklung in der westlichen Welt im späten 17. und
18. Jahrhundert, soweit sie Vernunft und Erkenntnis
in Abgrenzung zur Tradition betonte.
2
3
Joan Copjec, Imagine There’s No Woman,
Cambridge: MIT Press 2003, S. 137.
Brian Holmes, „Visiting the Planetarium, Images
of the Black World“, in: Trevor Paglen, Katalog zur
Ausstellung der Wiener Secession, 2010, S. 14.
Jan Distelmeyer
Diese Frage beherbergt drei Fragen, von denen jede für
sich alles andere als leicht zu beantworten ist. Natür­
lich kann Kunst membranhaft übertragen, kann ein
Medium zwischen Individuen und politischer Wirklich­
keit sein – eine (affirmative, deviante, zufällige, absichts­
volle usw.) Vermittlung zwischen uns und politischen
Prozessen, deren Breite oder Tiefe vielleicht erst/anders
durch diesen Vermittlungsprozess erfahrbar wird. Nur
stellt sich damit gleich auch die Frage, wie wir das von
außen erkennen und verhandeln können, wenn wir nicht
auf Selbstaussagen von Künstler_innen pochen wollen
und damit unsere romantisch-idealistischen Ideale (und
im Zweifelsfall auch Ressentiments, Bestätigung und
Ruhe) pflegen. Hier sind wir, scheint mir, immer wieder
zurückgeworfen auf die unabgeschlossene Auseinan­
dersetzung und den Diskurs, in dem wir diese Beziehungen mit der Kunst verfolgen, herstellen und in
Diskussionen verteidigen oder überprüfen. Diese
Aktivierung, die nicht im Werk eingeschlossen ist, son­
dern sich vielmehr mit ihm entfalten kann, wäre auch
schon ein Weg zur Antwort auf die zweiten Frage.
Niemand kann ernsthaft die Möglichkeit der Künste
bestreiten, Wirklichkeit zu ändern (und damit ist hier
ja sicher mehr als die des Kunstbetriebs gemeint).
Genau dieser Common Sense ist ja der Grund, warum
Kunst staatlichen Repressionen ausgesetzt ist, Künstler_
innen mit Verboten belegt oder zu Linientreue verpflich­
tet werden. Die Geschichte der „Deutschen Filmaka­
demie“ von 1938 bis 1940 erzählt davon: Als Joseph
Goebbels im März 1938 die Gründung der „Deutschen
Filmakademie“ in Babelsberg verkündete, war das Ziel
auch der „Filmkünstlerischen Fakultät“ natürlich eine
Ausbildung im Sinne der NS-Ideologie. (Und diesen
auf Veränderung angelegten Bezug zwischen Kunst und
Wirklichkeit hätte man vielleicht bedenken sollen,
bevor 65 Jahre später zur Verleihung der Deutschen
Filmpreise ein Verein gegründet wurde, der offenbar
ahnungslos den alten Namen der Nazi-Filmschule
reaktivierte.)
Die dritte Frage schließlich, wie die Künste Wirklich­
keit verändern könnten, ist sicher die schwierigste. Und
sie sollte, denke ich, auch gar nicht allgemein beant­
wortet, sondern im Einzelfall diskutiert und verhandelt
werden. In dem Allgemeinen steckt hier meines Erach­
tens die Gefahr einer Verpflichtung der Künste und
künstlerischer Praktiken zu einem zuvor bestimmten
Zweck – ein teleologisches Modell, das nicht nur
historische Ausformungen wie etwa die braune Film­
akademie kennt. Der heutige Hype um „Künstlerisches
Forschen“ und „Artistic Research“ hat neben spannen­
den Möglichkeiten auch die Seite einer Verpflichtung
der Künste auf Produktivität im Sinne der ausgerufenen Wissensgesellschaft. In dieser „Knowledge
Economy“ ist (Weiter-)Bildung von hohem Wert.
Damit soll auch die Kunst ihren Platz im kognitiven
Kapitalismus einnehmen. Wollen wir Kunst am Grad
ihrer Effektivität messen? So sehr ich mir wünsche,
die Künste mögen dazu beitragen, diese Welt zu einem
besseren Ort werden zu lassen, so problematisch scheint
mir eine generelle Antwort auf die Frage nach dem
„Wie“ zu sein.
Jan Distelmeyer ist Medienwissenschaftler und
Professor für Geschichte und Theorie der technischen Medien
an der FH / Uni Potsdam.
22
Die mediale Schwelle Visibility Machines:
Harun Farocki &
Trevor Paglen
Der Filmemacher Harun Farocki und der investigative
Fotograf und Künstler Trevor Paglen treten im Rahmen der
Ausstellung in drei Kapiteln in einen Dialog, der einzigartige thematische und formale Schnittmengen kenntlich
macht. Beide sind akribische Beobachter des globalen
militärisch-industriellen Komplexes. Beide untersuchen
mit ihren Mitteln Formen der militärischen Überwachung,
Spionage, Kriegsführung und Waffentechnik. Beide
erkunden, wie militärische Projekte unsere Beziehung zu
Bildern und vor allem zu den Realitäten, die sie zu repräsentieren scheinen, beeinflussen, und bedienen sich dabei wissenschaftlicher Forschungsmethoden. So sind beide
Oeuvres inhärent politische Projekte mit weitreichenden
ästhetischen Konsequenzen.
Harun Farocki deckt in seinen Videoarbeiten Eye/Machine
III, Serious Games IV und War at a Distance grundlegende
Verbindungen zwischen Technologie, Politik und Gewalt
auf, indem er Verbindungen zwischen den Bildern, dem
Bilder-Machen und den Institutionen, die sie produzieren,
offenlegt. Damit werden komplexe Beziehungen zwischen
Menschen und Maschinen, Sehvermögen und Gewalttä­tig­
keit erkennbar. Trevor Paglen nutzt hoch entwickelte
Technologien des Sehens und erkundet geheime militärische Objekte und nachrichtendienstliche Operationen der
USA, die gemeinhin als „Black World“ bekannt sind. „Um
es mit dem Filmtheoretiker Thomas Elsaesser zu formulieren: Nicht nur ist das, was gewusst wird, nicht das, was wir
sehen, sondern es gilt auch: Das, was wir sehen, ist nicht
alles, was gewusst werden kann.“ (Niels van Tomme)
— UR
Der Dialog wurde in erweiterter Form unter dem Titel Visibility
Machines: Harun Farocki & Trevor Paglen erstmals im vergangenen
Jahr im Center for Art, Design and Visual Culture (CADVC) der
University of Maryland, Baltimore County gezeigt, kuratiert von
Niels van Tomme.
Thomas Wrede
Nach der Flut (I) / After the Flood (I), 2012
Dari King Drive In, 2007
„Es ist mir wichtig, in die Welt hinauszugehen und mich
der Landschaft mit ihrer spezifischen Licht- und Wetter­
situation auszusetzen und von ihr anregen zu lassen,
um dann mit geringen und simplen Mitteln neue Bildwelten zu schaffen, die ausschließlich durch die Fotografie, in der Fotografie, als Fotografie existieren.“
Thomas Wrede (2014)
Thomas Wredes großformatige Fotografien wirken in einem
Spannungsfeld zwischen künstlich erzeugter Landschaft
und seiner Sehnsucht nach Natur, die an die Vertreter der
Deutschen Romantik erinnert. Er hinterfragt dabei nüchtern
und humorvoll das Abbilden von Natur und Landschaft,
Wissen und Erinnerung, Wirklichkeit und Manipulation.
Mittels analoger Plattenkamera mit Weitwinkel setzt er
seine Modellhaus-Kulissen in der originären Landschaft
so in Szene, dass die absolute Maßstabsuntreue zur fotografischen Realität wird. Aber auch „tagesaktuelle“ Naturkatastrophen wie eine Flut nutzt er als Thema, das uns an
Berichterstattungen aus Katastrophengebieten erinnert.
Sein Themenfundus scheint uns bekannt zu sein. Beim
genaueren Hinsehen jedoch erliegt man der Täuschung
und nimmt sie als neue künstliche Bildwelt wahr. — AH
23
Künstler
Künstler
Studiengang Europäische Herman Asselberghs
Dear Steve, 2010
Medienwissenschaft
Andrea Clemens, FeTAp 751-1 goes smart
Bastian Schmidt und Lars Harzem, Facebook Misfunct
Sarah Möller, Christian Brinkmann und
David Wiesner, spectRes
Ariana Dongus, Amusement
Rosa Feigs, Box Stories
Im Rahmen vom SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT werden
fünf herausragende studentische Exponate ästhetischer
Forschung aus der Europäischen Medienwissenschaft
gezeigt – einem Studiengang der Universität Potsdam und
der Fachhochschule Potsdam, in dem Studierende dazu
angeleitet werden, mit Medien über Medien nachzudenken.
Diese Arbeiten befassen sich mit der digitalen Schwelle,
der Übergangszone zwischen der internen Welt des Computers, die ausschließlich aus Nullen und Einsen besteht,
und der analogen Welt, die mit ihr über diverse Interfaces
gekoppelt ist. Andrea Clemens hat in ihrer Arbeit FeTAp
751-1 goes smart ein analoges Tastentelefon mit TwitterFunktionalität ausgestattet. Im Umgang mit dem End­
produkt werden für die Nutzerin mittels der ungewöhnlichen,
ins Dysfunktionale tendierenden Interface-Konfiguration
ihre eigenen digitalen Gewohnheiten spürbar. Bastian
Schmidt und Lars Harzem erzielen in Facebook Misfunct
einen ähnlichen Effekt mit anderen Mitteln. Für diese
Arbeit haben sie ein Skript geschrieben, das es ihnen
erlaubt, Funktionalitäten des beliebten Social Network
auszuschalten und zu modifizieren, wodurch die Machtstruktur und die impliziten Vorschriften von Facebook
ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Sarah Möller
beschäftigt sich in ihrer Arbeit spectRes – die sie mit
Unterstützung des Mediengestalters Christian Brinkmann
und des Mediensystematikers David Wiesner realisiert –
mit der visuellen Dimension der digitalen Schwelle, der
schwindelerregenden Flut von Bildern, die im Netz unaufhörlich auf uns zuströmt. Sie treibt diesen Strom auf die
Spitze, indem sie Bilder diverser Nachrichtenquellen in
einem automatisierten Blog bündelt und mit einem für das
menschliche Auge kaum erfassbaren Tempo vorbeiziehen
lässt. Ariana Dongus hat in Amusement ihr Augenmerk auf
die Schwelle zwischen menschlichem und maschinellem
Körper im digitalen Glücksspiel gerichtet und einen Raum
beleuchtet, der sich im Verlauf des Spielens von einer
trennenden Grenze in eine Zone der Verschmelzung verwandelt. Rosa Feigs hat mit Box Stories das narrative
Prinzip digitaler Abenteuerspiele in ein analoges Format
übertragen – in Form von Zettelkästen und Spielkarten.
Dabei knüpft sie an frühere Formen der Hypertext-Kunst
und literarischen Cut-up-Experimente an. — MB
Lohner Carlson
Silences, seit 1990
Lohner Carlsons Silences sind Filmbilder ohne Ton. Es
sind bewegte Bilder, die im Bereich zwischen der Momentaufnahme des Fotos (dem Bruchteil einer Sekunde)
und dem narrativen Langformat eines Films vermitteln.
Lohner Carlsons Silences sind bewegte Fotos, Filme, ungeschnitten, in einer festen Einstellung. Sie zeigen Motive
des Alltags/Alltäglichen, in denen sich der „leise Schock“
des Emotionalen durch die plötzliche Wahrnehmung
kleiner Veränderungen im Ablauf der Zeit ergibt. Was
zunächst wie ein Foto wirkt, wird bei näherer Betrachtung
lebendig, bewegt und bewegend.
– Ein Waldsee: Plötzlich springt ein Fisch aus dem Wasser.
– Eine Wolke: Vor den eigenen Augen nimmt sie eine
andere Gestalt an, aber man sieht die Bewegung nicht.
– Ein Hochhaus aus Glas: Die Reflexionen der Großstadt
verändern sich mit dem Lauf der Zeit quasi unmerklich.
– Eine endlose Wüstenstraße im amerikanischen Westen:
Am Horizont ein Fleck, nach sieben Minuten ist daraus
ein Auto entstanden, das an einem vorbeifährt.
– Der Blick aus einem Hotelzimmer: Nach 30 Minuten
ist es Nacht geworden.
Lohner Carlsons Silences sind der ästhetischen Welt
von John Cage entsprungen; die Aufmerksamkeit gilt dem
Ungewöhnlichen im Gewöhnlichen, dem Zufälligen im
Alltäglichen. — Lohner Carlson
Herman Asselberghs (Belgien) konzentriert sich in seinen
Installationen und Video-Arbeiten auf die Schwellenzonen
zwischen Klang und Bild, Welt und Medien, Poesie und
Politik. In seinem Videobrief Dear Steve adaptiert er das
populäre YouTube-Genre der sogenannten UnpackingFilme, in denen Computer als auratische Kultobjekte
von Kunden vor der Kamera ausgepackt und erstmals in
Betrieb gesetzt werden. Asselberghs’ Videokunst aber
beginnt eigentlich erst dort, wo die klassischen YouTubeVorbilder enden: Dear Steve treibt das Auspacken immer
weiter und zerlegt vor der Kamera den neuen Laptop in
alle Einzelteile. Der eingesprochene Brief an Steve Jobs,
in dem die Aura der Apple-Objekte und ihre Versprechen
ebenso thematisiert werden wie die Gegenüberstellung
analoger Materialität und digitaler Immaterialität, begleitet
die präzise Dekonstruktion des Computers, bis er in all
seinen Einzelfragmenten vor uns liegt. — MB
Thomas Demand
Büro / Office, 1995
Kontrollraum / Control Room, 2011
Vault, 2012
„Die von mir dargestellten Umgebungen sind für mich
etwas Unberührtes, eine utopische Konstruktion.
Auf ihrer Oberfläche finden sich keine Gebrauchs­
spuren, die Zeit scheint in ihnen still zu stehen.“
Thomas Demand (2005)
Thomas Demands Lehrer Fritz Schwegler sensibilisierte
ihn an der Kunstakademie Düsseldorf für den Bau und
Einsatz von Architekturmodellen. Er konstruiert maßstabsgerechte kleine Räume und Objekte aus Papier, die
in der Regel auf Situationen aus Presse- oder Fernseh­
bildern beruhen. Es gibt stumme Zeugen menschlicher
Aktivität, jedoch erscheinen nie Figuren in den Fotografien.
Die Bildwerdung selbst erfolgt erst im Moment des Fotografierens; dann zerstört er das Modell wieder und die
großformatige Fotografie bleibt. — AH
Herman Asselberghs, Dear Steve, 2010
Ulrike Rosenbach
Tanz um einen Baum, 1979
Aktionselemente:
1. Der Ort: ein Park, an einem Hügel, mit Sicht auf die
Stadt. Ein Baum.
2. Die Zeit: kurz vor Sonnenuntergang, 17.00 –17.45 h.
3. Ich habe den Baum zwei Wochen beobachtet. Wenn die
Sonne untergeht, fällt ihr Schein über ihn in die Fenster
der Häuser, der Wolkenkratzer. Das Licht spiegelt sich rot
in den Fensterscheiben.
Ich habe ein Videokabel sechsmal um den Baumstamm
gelegt und die Länge dann auseinandergerollt als Radius
eines Spiralkreises genommen. Die äußere Kreislinie
ist mit länglichen Spiegelscherben im Rasen markiert
(Abstand 90 cm). Das Videokabel ist am Baumstamm
befestigt und führt dann weiter – in die eine Richtung zu
einer kleinen Videomaschine mit Monitor, in die andere
Richtung zu einer kleinen Videokamera, die ich während
der Aktion an meinen Arm gebunden habe.
Ich lege mich auf das Gras, den Kopf in Richtung des
äußeren Kreises, und fange langsam an, mich um den
Baum zu drehen. In den Händen halte ich ein Schwert.
Bei jeder vollzogenen Drehung versuche ich, eines der
Spiegelstücke zu zerschlagen.
Die Kamera nimmt meine Drehung mit dem, was in meinem
Sehradius ist, auf: die Landschaft, die Leute, die Spiegel,
in denen sich alles und mein Gesicht spiegeln, und das
Schwert, das mit der Spitze auf Landschaft und Leute zielt
und dabei die Spiegel zerschlägt. Zur gleichen Zeit wird
dieses Videobild auf die bereitstehenden Videomonitore
übertragen. Indem ich mich um den Baum drehe, werde ich
durch das Kabel, das sich um den Stamm wickelt, herangezogen. Die Sonne geht unter, und als es halb dunkel ist,
schneide ich mit dem Schwert das Kabel los, das meinen
Körper mit dem Baum verbunden hat.“ — Ulrike Rosenbach
Harun Farocki, Ernste Spiele 3, Eine Sonne ohne Schatten, 2010
24
Künstler
25
Künstler
Thomas Demand, Kontrollraum / Control Room, 2011
Giny Vos, Giovanni Arnolfini en zijn jonge vrouw, 1984
Paolo Pedercini / Molleindustria, G20 Summit Pittsburgh, 2009
Alexander Bruce, Antichamber, 2013
26
Bjørn Melhus
Headshots, 1991–2014
Middleclass Family, 2013
Headhunter, 2014
In seinen Filmen, Videos und Installationen beschäftigt
sich Bjørn Melhus mit unterschiedlichen Phänomenen der
Massenmedien und deren vorgegebenen Rollenbildern,
die er in eigenen Figuren spiegelt, verdichtet und rekontextualisiert. Seine Charaktere, denen meist Stimmen
US-amerikanischer Filme oder Fernsehshows zugrunde
liegen, sind fiktional und zitieren häufig bestehende Ikonen
einer Popkultur des 20. Jahrhunderts. Ob als Schlumpf
(verschiedene Arbeiten, 1997–2007) oder Playmobil­figur (No Sunshine, 1997) oder Ayn Rand alias „Randi“
(Freedom & Independence, 2014) verkörpert er als Variable alle Figuren selbst. Diese Form der Aneignung und
Subjektivierung stellt nicht nur die eigene Identität in Frage,
sondern untersucht auch medial konstruierte Wirklichkeiten und die gesellschaftlichen Hintergründe, aus denen
sie hervorgehen.
Mit Headshots (1991–2014) entwirft Melhus eigens für
die Ausstellung ein Tableau zahlreicher Porträts aus
verschiedenen Arbeiten der vergangenen 23 Jahre (Filme,
Fotos, Videos, Installationen), die ihn in unterschiedlichen
Rollen zeigen.
Die Middleclass Family (2013) thematisiert die Kleinfamilie
der Mittelschicht als Werbestereotyp und gehört zu den
„Video-Cutouts“ der Installation Liberty Park (2013). Sie
besteht aus vier flachen, lebensgroßen Holz-Stellfiguren,
die auf die Videoprojektionen zugeschnitten sind. Durch das
projizierte Video-Abbild (verkörpert durch Melhus) erhalten
sie trotz physischer Flachheit einen dreidimensionalen
Charakter und laden zum gemeinsamen Gruppenfoto ein.
Eine weitere Figur, der Headhunter (2014), ist kopflos.
Er trägt seinen eigenen Kopf unterm Arm und gibt so dem
Betrachter die Möglichkeit, der Figur sein eigenes Gesicht
zu verleihen, seine Identität im Wortsinn zu behaupten.
— MCvL
WE ARE HERE – WE ARE NEAR –
WE ARE REAL
Stefan Heidenreich im Gespräch mit Bjørn Melhus
9.10.
Julian Oliver und
Danja Vasiliev
19 h, Halle 3
Newstweek, 2011
Die Critical Engineers Julian Oliver (Neuseeland) und Danja
Vasiliev (Russland) haben mit dem Wirklichkeits-Störsender Newstweek ein System entwickelt, das dem Besucher
der Ausstellung erlaubt, Nachrichten zu manipulieren, die
über WLAN-Verbindungen gelesen werden. Newstweek
unterläuft das vorherrschende Nachrichten-DistributionsModell, das trotz der Möglichkeiten digitaler Netze immer
noch stark zentralisiert ist und von oben gesteuert wird –
weswegen der öffentliche Diskurs sehr anfällig für eine
Manipulation seitens politischer und kommerzieller Interessen ist. Newstweek gibt der breiten Masse die Möglichkeit, sich an der Manipulation der Presse zu beteiligen,
Propaganda zu generieren oder einfach die „Fakten zu
korrigieren“, während sie in einem drahtlosen Netzwerk
ausgetauscht werden. Als solches kann der Sender als
taktische Technologie angesehen werden, die es erlaubt,
die Wirklichkeit mitzugestalten, Netzwerk für Netzwerk.
Diese Arbeit verkündet auch eine Warnung: Eine ausschließlich medienbasierte Realität ist eine sehr unzuverlässige Wirklichkeit. Viele Hände sind an der Distribution
von Nachrichten beteiligt – von ISP-Mitarbeitern über
Server-Administratoren bis hin zu WLAN-Access-PointProvidern. Hinzu kommt, dass mit der zunehmenden Ubiquität von Netzwerken und den dazugehörigen mobilen
Geräten die Ignoranz hinsichtlich ihrer Funktionsweise
zunimmt. Somit wachsen die Möglichkeiten zur Mani­
pulation von Meinungen – von der Quelle bis zum End­
empfänger – ins Unermessliche. — MB
27
Künstler
Men In Grey
Magdalena Jetelová
Men In Grey sind eine geheime Organisation, deren zeit­
liche und räumliche Ausdehnung bislang nur erahnt werden
konnte. Die „Grauen Männer“ tauchen als gespenstische
Manifestation einer Netzwerk-Angst aus einem Zeitgeist
auf, der voll ist von staatlichen Abhörpraktiken, FacebookSpionage, Google-Caches, Internet-Filtern und vorgeschriebener ISP-Aufzeichnung. Bislang sind ausschließlich
die flüchtigen und temporären Aktionen dieser Organisation
gesichtet worden, von denen die klammheim­­lichsten 2010
und 2011 dokumentiert wurden. Noch nie wurde eine solche
Spurensammlung gefunden wie jetzt hier in der Ausstellung SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT. Hier finden die
Besucher eine ihrer flüchtig verlassenen Außenstellen,
eine archäologische Fundgrube ihrer Aktivitäten, die Aufschluss über ihre Ziele und Einblick in ihre Methoden und
Ausrüstung gibt. Doch geben Sie Acht – die gefundenen
Gerätschaften konnten bislang nicht alle ausgeschaltet
oder in Quarantäne gebracht werden, weswegen Datennetze in ihrer Umgebung als kompromittiert, unberechenbar und unheimlich gelten. — MB
Mithilfe hochtechnologischer akustischer Geräte gelingt
es Magdalena Jetelová, ihre eigenen Kompositionen für
John Cage im Raum sichtbar und nicht hörbar zu machen.
Das von ihr entwickelte Raumbild baut sich prozessual
vor dem Betrachter wie ein abstraktes Bild aus verzerrter
Metallfolie auf. Auslöser für das Zittern und Vibrieren des
Bildes ist der Ton, der wie von einer Membran unhörbar
geleitet wird und die Tonsequenzen in Bildlichkeit übersetzt. Im Zentrum des Bildes erscheint in klaren Lettern
gut lesbar und – im Gegensatz zu den anderen Bereichen –
bewegungslos „Komposition für John Cage”, da der Text
von der Vibration nicht betroffen ist. Das Spiegel­bild
selbst verfügt traditionell über eine bedeutungslose Bildlichkeit. Die Künstlerin konterkariert diese Bedeutungs­
losigkeit des Spiegelbildes, indem sie durch die visuelle
Übersetzung von Musik in die Bildwerdung eingreift, dem
Betrachter neuartige räumliche Wahrnehmungsmöglichkeiten anbietet und ein neues Bild von Wirklichkeit ent­
stehen lässt. — AH
Spiegelarbeiten Olafur Eliasson
Concentric mirror, 2004
Folded ellipse 60°, 2008
Spiegeltunnel, 2009 / 2014
„Eliassons Werk ist exemplarisch für ein Denken, dem
es darauf ankommt, das Wahrnehmungsvermögen des
Menschen zu erweitern und auszuloten, das diese Erkundung aber unabhängig von allen heutigen technologischen
Imperativen betreibt.“ (Jonathan Crary, 1997) Die Spiegelarbeiten des Künstlers sind für den Betrachter Wahrnehmungserweiterungen und Reflexionsfläche zugleich:
Concentric mirror (2004) und Folded ellipse 60° (2008)
reagieren direkt auf die Architektur im Ausstellungsraum
und verfremden das Bild des Betrachters. Der Spiegel wird
zur Reflexionsfläche im doppelten Sinne: Einerseits sieht
sich der Betrachter im Spiegel, andererseits wird dieser
Vorgang, den Eliasson „sich sehen sehen“ nennt, Anlass
zur Reflexion. Durch diesen Prozess wird der Besucher
selbst zum Teil der Ausstellung. Die Belebung der Reflexions- und Spiegelfläche erfolgt durch die Mobilität des
Betrachters. Im Buchengarten der Akademie setzt der
Künstler das Spiel mit Reflexion und Perspektive sowie
das Changieren zwischen Rund und Ellipse mit seinem
Spiegeltunnel fort. — AH
Jeppe Hein
Rotating Mirror Circle, 2008
Die Spiegelskulpturen des dänischen Bildhauers Jeppe
Hein spielen mit unserer Wahrnehmung und bringen unsere
Selbstgewissheit ins Wanken. Sie können monumentale
Ausmaße haben, wie die Arbeit 360° Illusion III in St.
Agnes (Galerie Johann König, 2013). Dort waren auf der
Empore zwei lange, rechteckige Spiegel rechtwinklig miteinander verbunden, die sich langsam um ihre Achse
drehten und die Zuschauer wie auch den Kirchenraum in
mehrfachen Perspektiven spiegelten. Die Betrachterin
erfuhr eine Verunsicherung des eigenen Standorts, verbunden mit dem Gefühl des Schwindels.
Die kleinformatige Arbeit Rotating Mirror Circle bringt die
Betrachterin in eine Face-to-face-Situation. Der runde
Spiegel an der Ausstellungswand wird durch einen kleinen
Motor fast unsichtbar in Drehung versetzt und fordert zur
Selbstbetrachtung heraus. — MCvL
Künstler
Komposition für John Cage, 2006
Michelangelo Pistoletto
Sacra Conversazione. Anselmo, Zorio e Penone, 1973
Specchio diviso, 1973 / 78
Sacra Conversazione gehört zur Serie der Quadri
Specchianti (Spiegel-Bilder), die 1962 ihren Anfang nahm.
Michelangelo Pistoletto hatte bereits in seiner Malerei
mit verschiedenen reflektierenden Untergründen experimentiert. Um eine größere Objektivität seiner Bilder zu
erreichen, verwendete er Fotografien, die er auf Lebensgröße vergrößerte und seit 1971 mittels Siebdruck auf
hochglanzpolierte Edelstahlplatten übertrug. Pistolettos
Gruppenbild zeigt drei Künstler der Arte Povera im
Gespräch: Giovanni Anselmo, Gilberto Zorio und Giuseppe
Penone. Der Titel verweist auf eine jahrhundertealte
italienische Bildtradition: „Sacra Conversazione“ (heilige
Unterhaltung) bezeichnet die Darstellung einzelner Hei­
liger, gruppiert um die thronende Madonna. Den starken
Bezug zur Gegenwart hingegen erhalten die Spiegel-Bilder
durch ihre niedrige Hängung. Sie reflektieren den Aus­
stellungraum und beziehen den Betrachter in das Bild ein,
der es verlebendigt. So erhalten die Spiegel-Arbeiten
auch performativen Charakter.
Ausgehend von der Tatsache, dass ein Spiegel alles reflektiert außer sich selbst, entwickelte Pistoletto die Serie
Divisione e Molitiplicazione dello Specchio (Teilung
und Multiplikation des Spiegels). Teilt man einen Spiegel
und richtet beide Hälften entlang der Achse ihrer Teilung
zueinander aus, multipliziert er sich. In dem Prinzip der
Teilung sieht Pistoletto ein universelles Element organischer Entwicklung. Specchio diviso gehört zu dieser
Werkgruppe. — MCvL
Sophia Pompéry
Transient Shade, 2014
Sophia Pompéry entführt die Betrachterin in ihren Rauminstallationen und Wandarbeiten an die Schnittstelle
zwischen Realem und Irrealem, wobei das Unwirkliche
immer ganz konkret vom Physischen ausgeht. Transient
Shade wird zum Spiel mit der Irritation: Zunächst tritt die
Besucherin vor einen scheinbar simplen Spiegel, der jedoch
einen Sensor in sich birgt. Ganz langsam beginnt nun
eine unkontrolliert wachsende Lichtfläche das Spiegelbild
zu zersetzen. Es entsteht ein Lichtschleier, der die Reflexion verdeckt. „Das vermeintlich bekannte Spiegelbild
wirkt wie ein flüchtiger Moment, und die wolkige Weite
wird zum Sinnbild dessen, was wir nicht konkret wissen“
(Sophia Pompéry). Diese Situation wandelt sich wieder zum
ge­wöhnlichen Spiegel, wenn sich die Betrachterin entfernt.
Transient Shade steckt voller Gegensätze und spielt
dabei mit dem Innen und Außen, der Tiefe und Oberfläche
eines Spiegelbildes. Die Betrachterin ist Motor, doch zugleich vergeht ihr Abbild, wenn sie geht und nichts bleibt.
— AH
Michelangelo Pistoletto, Sacra Conversazione. Anselmo, Zorio e Penone, 1973
28
Kann die Kunst
die Wirklichkeit
verändern?
Siegfried Zielinski
Wenn ein neues Bild entsteht, eine Musik komponiert
wird, die es so zuvor noch nicht gegeben hat, wenn ein
Gedicht in die Welt kommt oder ein Film auf die Lein­
wand im Kino, dann ist die Wirklichkeit nicht mehr die­
selbe, die sie zuvor noch gewesen ist. Jede künstlerische
Idee und allemal ihre Vergegenständlichung in Werken
oder Prozessen verändern die Wirklichkeit. Es ist wie
mit dem Bewusstsein. Wir können unmöglich aus ihm
heraustreten und es dann von außen betrachten. Das
funktioniert nur im Modellhandeln, im Als-ob, zum
Beispiel, wenn wir Bewusstseinsprozesse auf einem
Computer simulieren. Oder, einfach und allegorisch
ausgedrückt: Was unser Verhältnis zur Wirklichkeit
betrifft, geht es uns genauso wie dem Fisch im Verhält­
nis zum Wasser, in dem er schwimmt. Er benötigt es,
um zu leben. Es ist sein Element. Verlässt er es, oder
wird er gewaltsam aus diesem Element gerissen, ist er
rasch ein toter Fisch, kläglich verendet.
Die Frage kann also unmöglich lauten, ob die Künste
die Wirklichkeit verändern können, sondern wie, auf
welche Weise sie das verändern, dessen essenzieller Teil
sie sind. Politisch handeln bedeutet dabei für mich das
tägliche Experiment, das, was wir Realität nennen, zu
seinen Gunsten zu verändern. Programme, Parteien,
Polizeien und Bürokratien sind dafür nicht notwendig,
sondern wir benötigen ein Verhältnis der Achtung
gegenüber dem, was nicht mit uns identisch ist, was
uns fremd ist, was wir hartnäckig nicht verstehen. Die
Künste sind hervorragend dafür geeignet, dieses Andere
im uns scheinbar Vertrauten mit ästhetischen Mitteln
auszudrücken. Eine wichtige Voraussetzung für das
Gelingen solcher Unternehmungen ist, dass wir bei
unseren Kompetenzen bleiben.
1974 veröffentlichte ich meine ersten medienkritischen Texte. Einer davon hieß: „Für Medien, die
Medien der Massen sind!“
1984 titelten meine Texte „Krieg im Wohnzimmer“,
„Elektronische Bildschirmschlachten“ oder „Die Ferne
der Nähe und die Nähe der Ferne“; sie befassten sich
mit den damals neuen und heute alten Medien Video,
Bildschirmspiele, Telematik.
1994 übernahm ich die Verantwortung für die Grün­
dung einer neuen Kunsthochschule. Eine der ersten Ak­
tivitäten war die Einrichtung eines öffentlichen Labors
zur kritischen Debatte um die neuen telematischen
Netze und ihrer Bedeutung für die Künste und Kultu­
ren; wir nannten das Labor „Membrane“.
2004, als das Zeitbewusstsein immer flacher und die
politische Ökonomie immer haltloser wurde, begann
ich ein Forschungsprojekt zur Tiefenzeit des Verhältnisses von Künsten, Technik und Wissenschaft.
Es fand vorläufig mit der Gründung eines imaginären
Instituts für südliche Modernitäten (im Englischen:
ISMs) seinen Höhepunkt. Die Gründung erfolgte
in Neapel, einer durch die Mafia verseuchten Stadt,
der zwar viel Vergangenheit, aber keine Zukunft mehr
zugestanden wird.
29
S tat e m e n t s
2014 bereiten wir zwei Ausstellungen vor: Die eine be­
fasst sich mit der Bodenlosigkeit von Existenzen in der
Diaspora, in der Migration, zwischen Sprachen und
zwischen allen Stühlen (am Beispiel des philoso­phischen
Schriftstellers Vilém Flusser). Die andere mit Allahs
Automaten; sie versucht erstmals, arabisch-islamische
Manuskripte zum Bau universeller und programmier­
barer Automaten aus der Zeit zwischen 850 und 1200
an einem Ort zusammenzubekommen. Durch die
Gewalt des historischen Zusammenhangs sind sie im
Verlauf der letzten Jahrhunderte zerrissen, in Bruch­
stücken verkauft, archivarisch zergliedert worden.
Außerdem höre ich nicht auf, für die Kunst einer nor­
malen Schizophrenie zu plädieren: online existieren und
offline sein.
Siegfried Zielinski ist Medientheoretiker,
Medienarchäologe und Mitglied der Akademie der Künste.
eignisse auf der Krim von der Realität überholt,
und Putin fühlte sich durch die internationale Kritik
national sogar gestärkt. Auch Chinas Regierung stört
sich an Ai Weiweis Protestkunst ebenso wenig wie die
Schlingensief-Aktionen Helmut Kohl oder Wolfgang
Schüssel tangierten. Aber dennoch gehören die Werke
zu den Tabubrüchen, die die Gesellschaft zur Denk­
anregung dringend braucht. Und die Frage, was Kunst
(sein) darf, verursacht nachhaltiges Grübeln – so w
­ ie
ein Bewusstsein dafür, dass die Freiheit (der Kunst) kei­
neswegs selbstverständlich ist. Und Thomas Neuwirth
hat mit seiner medienwirksamen Figur Conchita Wurst
und seinem Toleranzaufruf in Österreich sogar einen
Kurswechsel der ÖVP betreffs der Gleichstellung von
Homosexuellen angeschoben.
Kunst fördert Dissens und „spekulative Kollektivi­
täten“ (Peter Osborne), bietet einen Ort der Kritik,
der sich politischen Zugriffen entzieht – und wird in
diesem Entzug selbst politisch. Das gilt auch für die
kritische Betrachtung ihrer eigenen Funktionen und
ihres eigenen Feldes.
Anna-Catharina Gebbers ist Publizistin,
Kuratorin und Dozentin.
Metabolisches Büro
zur Reparatur
von Wirklichkeit
Das Vorbereitungsbüro vom SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT (6. November 2013 bis 2. Juli 2014) wechselt ins Metabolische. Inmitten der
Ausstellung agiert das von Manos Tsangaris entwickelte Metabolische Büro zur Reparatur von Wirklichkeit als permanente Möglichkeit der
Eskapade, des Dialogs, des Widerspruchs und der Auslösung von Prozessen, die sich u. a. an der Ausstellung entzünden. Das Büro ist ein
offenes Labor, eine Werkstatt, hier wird live geforscht und gearbeitet. Es agiert während der kompletten Ausstellungszeit über 12 Wochen.
Eingeladen sind mehr als 160 Gäste aus den Bereichen Musik, Bildende Kunst, Film und Medien, Literatur, Architektur, Performance
und Philosophie. Momente der intensiven Diskussion oder des ästhetischen Experiments wechseln mit Situationen der Arbeit, der Probe
oder ganz einfach der Leere. In den Formaten Forum und Metabolic Office Battle konzentrieren sich die Arbeitsprozesse im Dialog mit
Mitgliedern der Akademie.
17.9.–14.12.
Anna-Catharina Gebbers
Unabhängig davon, welche Wirklichkeit gemeint sein
soll oder welcher Realismusschule man anhängt: Kunst
ist geschichts-, handlungs- und theorieprägend – schon
allein deshalb, weil sie da ist. Ob journalistisch, wissen­
schaftlich oder ästhetisch: Jeder Sprach- oder Bildakt
schafft Fakten, indem er Worte oder Bilder in die
Welt setzt.
Der konkrete Einfluss auf die politische Wirklichkeit
und dessen Nachhaltigkeit ist schwerer zu bestimmen.
Christoph Schlingensief demonstrierte 1998 mit der
Parteigründung von Chance 2000 und den zugehörigen
Aktionen, dass es in der politischen Wirklichkeit vor
allem darauf ankommt, Bilder zu machen. Bilder ha­
ben politische Effekte: Das empirische Beweisma­terial
dazu liefern die Subdisziplinen der politischen Ikono­
logie. Anschaulicher als in Statistiken öffnet sich der
Blick auf die Verschränkung von Politik und Massen­
medien jedoch durch künstlerische Aktionen wie die
von Schlingensief. Nach Chance 2000 versetzte er mit
seiner Container-Aktionsarbeit Bitte liebt Österreich
2000 noch radikaler ein Volk in Aufruhr und erreichte
die internationale Medienöffentlichkeit nachhaltiger
als der Protest von Österreichs Kulturproduzenten. Die
Schlingensiefs künstlerische Praxis charakterisierende
Überaffirmation führte den Österreichern die konkre­
ten Folgen ihrer Wahlentscheidung für Haiders
rechtspopulistische FPÖ direkt vor Augen. Die Regie­
rungsbeteiligung der FPÖ konnte dies allerdings nicht
rückgängig machen. Und die Partei erfreut sich nach
einer Phase der Selbstzerlegung mittlerweile wieder
wachsender Beliebtheit – rechtspopulistische Parteien
sind heute sogar europaweit salonfähig geworden.
Verändern Aktionen wie diese also die politische
Wirklichkeit? Ja, unbedingt!
Das „Punk-Gebet“, mit dem die russische Punkband
Pussy Riot 2012 in der Moskauer Christ-Erlöser-­
Kathedrale gegen patriarchale Herrschaft protestierte,
stellte mit der blasphemischen Überschreitung gesell­
schaftliche Normen in Frage. Zwar wurde der politischkünstlerische Aktivismus inzwischen durch die Er­
Di–So, 11–19 h
in der Ausstellung
Schwindel der Wirklichkeit
Manos Tsangaris
Kann die Kunst?
Aktuelle Informationen zu allen Veranstaltungen unter
www.schwindelderwirklichkeit.de
1
Ich glaube nicht, dass die Kunst etwas, das außerhalb
ihrer selbst liegt, können sollte.
(Kann sie dieses oder jenes? Kann sie der Wirtschaft
auf die Sprünge helfen? Kann sie den Menschen ver­
bessern? etc.) Natürlich könnte sie das alles können,
ob sie will oder nicht. Als Kunst sollte sie das aber auf
keinen Fall wollen, sonst wäre sie hin. Als Kunst (im
emphatischen Sinne) will sie rein gar nichts, das außer­
halb ihrer selbst, ihrer jeweils ureigenen Fragestellung
liegt. Wenn nun aber, und damit wird es etwas kompli­
zierter, die jeweilige Kunstfragestellung sich gerade auf
Dinge und Zusammenhänge richtet, die sehr stark der
Sphäre gesellschaftlicher oder individueller Nützlich­
keit angehören (soziale Fragen, Fragen des Menschen­
bildes, der Durchlässigkeit, der Gerechtigkeit, der
Kritik, der sprachlichen Verständigung, der meta­
sprachlichen Verständigung usw.), kann es durchaus
sein, dass das jeweilige Kunsterleben diese konkreten
Zusammenhänge erhellt, durchleuchtet, verbessert usw.,
nur kommt dies einer Überblendung gleich, wo das eine
Licht, das im Vordergrund leuchtet, ein anderes, das ge­
nau dahinterliegt, verdeckt und überstrahlt. Und dieses
dahinterliegende, entscheidende leuchtet aus einer
zweckfreien, nicht aus einer zweckgebundenen Quelle.
2
Die Künste verändern die Wirklichkeiten,
die sie gestalten.
Manos Tsangaris ist Komponist, Performer
und Direktor der Sektion Musik.
Forum immer mittwochs, 18 h
Im Forum treffen anwesende Künstler und Mitglieder
der Akademie auf eingeladene Gäste, um Themen aus
dem Gesamtprojekt öffentlich zu diskutieren.
„Welcher Begriff von Wirklichkeit soll uns verkauft,
welcher soll uns an den Hals gehängt werden von Leuten,
die es selbst schon viel besser wissen müssten? Wir unter­
suchen, dann demontieren wir die Trägerraketen, bevor
sie zum Einsatz kommen können. Anschließend freier
Verkauf der auseinandergebauten Einzelstücke. Foto­
grafieren erlaubt! In der Debatte steht auch unser TTIPITPPIPT, das Freidenkensabkommen.“ Manos Tsangaris
Einzelveranstaltungen siehe Kalenderübersicht
MOB Alle MOB-Termine unter
www.schwindelderwirklichkeit.de
METABOLIC OFFICE BATTLE
In loser Folge oder in Clustern werden einzelne Gäste
zu Duo-Konstellationen gebeten, entweder mit Manos
Tsangaris oder „gegeneinander“.
„Hierbei geraten wir immer wieder aus dem Gespräch heraus in neue, andere Aggregatzustände, einen wechselnden Modus, das Verfahren des gegenseitigen Umgangs in
Pausen, Störlesungen, Musik, plastisch-räumlicher Darstellung, Aktion und Aktivitäten ohne bisher bekannte Bezeichnung. Welche Wirklichkeit wird (wieder)-hergestellt?
Sind wir auf sie angewiesen?“ Manos Tsangaris
Gäste u. a. Marcel Beyer (Schriftsteller), Neele Hülcker
(Konzeptkünstlerin), Ann Cotten (Schriftstellerin), Ferenc
Jádi (Psychiater und Künstler), Stefan Kraus (Autor,
Kurator), Johannes Kreidler (Konzeptkünstler, Komponist),
Dieter Mersch (Philosoph), Brigitta Muntendorf
(Komponistin, Kuratorin), Navid Kermani (Schriftsteller),
Helmut Oehring (Komponist), Daniel Ott (Komponist,
Kurator), Rebecca Saunders (Komponistin), Tobias Schick
(Komponist, Musikologe), Martin Schüttler (Komponist),
Simon Steen-Andersen (Komponist, Installationskünstler)
The office is open!
30
31
M e ta b o l i s c h e s B ü r o
Sehen und Hören –
Wirklichkeitskonstruktionen
2.10.–5.10.
going into contact_
a permeable
spiral installation
11–19 h
Cornelius Schwehr, Johann Feindt (Leitung)
und Studierende der Hochschule für Musik Freiburg
28.10.–2.11.
Interaktives Labor, Seh- und Hörstationen
Kommentierte Präsentationen von Beispielen
aus Dokumentar-, Spiel- und Experimentalfilmen
tägl. 13 + 17.30 h
11–19 h, Euro 7/5
Installation, Performance, Archiv
Kuratoren: Dieter Heitkamp und Angela Guerreiro
Performer: Finn Lakeberg, Max Schumacher,
Susanne Martin, Andrew Wass, u. a.
8.10.
Gefördert von der Kunststiftung NRW
18 h
Johann Feindt, Filmsequenz, o. J.
Johann Feindt, Filmsequenz, o. J.
Die Kombination von Bild und Ton behauptet in den allermeisten
Fällen, Wirklichkeit abzubilden. Richtig allerdings ist, dass mögliche
(oder auch unmögliche) Wirklichkeiten durch dieses Zusammentreten
erst geschaffen werden. Die Frage ist nur: Welche Wirklichkeit
wird gewünscht?
Hier beispielhaft gewünschte, erzeugte Wirklichkeiten aufzusuchen,
dabei den Übergang ins digitale Zeitalter als qualitativen Sprung,
nicht nur als quantitative Veränderung zu begreifen und begreifbar zu
machen, ist Vorhaben und Arbeitshypothese gleichermaßen.
Um dies erlebbar werden zu lassen, bedienen wir uns unterschiedlicher
Präsentationsformen: Zum einen wird es kommentierte Vorführungen
von Filmausschnitten geben. Hier geht es darum, sich mit in dieser
Hinsicht besonders bemerkenswerten Beispielen filmischer Arbeiten
auseinanderzusetzen. Zum anderen wird an mehreren Seh- und Hör­
stationen die Möglichkeit angeboten, kurze Bildsequenzen mit unterschiedlichen Tonspuren zu kombinieren, gewünschte Wirklichkeiten
also selbst zu erzeugen. Und schließlich wird ein Labor eingerichtet
sein, in dem interessierte Besucher zusammen mit den Initiatoren
an kleinen Ton-Bild-Sequenzen praktisch werden arbeiten können.
RUINEN/GARTEN: In Ruinen und im Garten
kreuzen sich Zerfall und Wachstum, begegnen
sich Belebtes und Unbelebtes, greifen
Ge­staltungs- und Zufallsprozesse ineinander.
Die Ruinen verweisen auf die Vergangenheit,
der Garten auf die Zukunft. Organismen und
Materie bieten gegen die Zeit ihren Widerstand
auf und unterliegen doch stets der Entropie
des Vergänglichen.
Laufzeit des Projekts: 19.9.–12.10.2014
Aufführungen und Installation: 8.10., 20 h +
10.–12.10. im Ruinengarten, Hardenbergstraße
www.klangzeitort.de
Atelier Klangforschung der Universität Würzburg mit Elena Ungeheuer, Kornelius Paede,
Andrea Dubrauszky, Lisa Herrmann, Stefan
Becker, Daniel Bellinger, Kework Kalustian
Stationen: Musiktheater-Analyse I
Manos Tsangaris,
Double/Doppelportrait mit Vase,
Ein-Personen-Kopf-Duschen-Schreiber
19.9. 19 h
21. + 22.9. 11–17 h
Stationen: Musiktheater-Analyse II
Optimierung der Reparatur von Wirklichkeit
23.9. 11–17 h
7.10.
SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT: Künstliche
Ruinen und echte Fragmente – die Zeit ist
aus den Fugen oder das Ganze ist immer das
Unwahre, nur im Bruchstück erkennen wir
den Zusammenhang.
35 Studierende untersuchen die Entwicklung
von interdisziplinären performativen Formaten
im Grenzbereich von Bühne und Installation.
10 Dozierende der beteiligten Kunsthochschulen
begleiten und mentorieren die entstehenden
künstlerischen Arbeiten.
Den mit Perspektivwechseln arbeitenden
Diskreten Stücken von Manos Tsangaris wird
eine Perspektivvielfalt von Analyseansätzen
zur Seite gestellt. Interpreten und Wissenschaftler konfrontieren sich und das Publikum
in der Live-Performance. Dabei schalten sich
Zelte: Wie funktioniert Symmetrie in der
Präsenz? Wie werden Medien auf der Bühne
sozial geschaffen? Wie klein darf eine Geste
sein, die Nähe oder Distanz generiert? Wie
komplex ist die Miniatur? Wo beobachtet der
Feldforscher Fremdheit und Eigenheit in der
Kunst der Gegenwart? Können Modelle Wirklichkeit reparieren?
Werkstattgespräch mit dem klangzeitort
Institut für Neue Musik über RUINEN/GARTEN.
SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT
Ein studiengangübergreifendes Projekt von
UdK Berlin, HfM Hanns Eisler, TU Berlin, HfM
Dresden im Ruinengarten Hardenbergstraße –
in Zusammenarbeit mit der Akademie der
Künste Berlin
Johann Feindt, Kriegssplitter, 1999
Zelte schalten
19.–24.9.
Weitere Angaben unter
www.schwindelderwirklichkeit.de
Forum
Telemach Wiesinger, Augenblicke, 2007–2008
M e ta b o l i s c h e s B ü r o
17 h
Was drängt
den Text zum Bild?
Literatur – Film – Graphic Novel
Dieter Heitkamp, A permeable spiral installation, 2014
Der Fokus der Installation liegt auf der mittlerweile schon über 40
Jahre währenden Entwicklung der Contact Improvisation, der Verbindung zu anderen Bewegungsformen und den spezifischen Arbeits­
weisen, die mit CI verbunden sind. going into contact unternimmt den
Versuch, ein lebendiges Archiv zu kreieren, und untersucht die Frage,
wie Archivmaterial für neue Tanzkreationen, ungewöhnliche Präsentationsformate und neue Vermittlungsweisen genutzt werden kann.
Die Installation bildet außerdem den Recherche-Prozess zu The Live
Legacy Project ab (the-live-legacy-project.com). Ein spezifischer
Aspekt dieser Projekte ist die kollektive Herangehensweise zur
Entwicklung neuer Formen des Schaffens von und des Zugangs zu
Körperwissen. Bestandteil von going into contact sind tägliche
Performances von CI-Praktizierenden, die dafür Scores nutzen. Die
Performer setzen sich in Beziehung zum Raum, zu Objekten, sich
selbst, anderen Tänzern und dem Publikum, zu Konzepten, Methoden
und Arbeitsweisen. Sie finden Spuren und Verbindungen zwischen
Menschen, Ereignissen, Gegenständen, Zeitpunkten und Orten.
Der griechische Schriftsteller
Christos Asteriou und der israelische
Filmemacher Ron Segal – Stipendiaten
der Akademie der Künste im Gespräch.
Moderation Ulrich Peltzer
30.10.
19 h
Über das Verhältnis
von Körper und Bild in
Videoinstallationen
Expertengespräch mit Sabine Flach und
Wulf Herzogenrath
32
33
M e ta b o l i s c h e s B ü r o
Ingo Günther
M e ta b o l i s c h e s B ü r o
Warum bin ich hier?
Ein Gastspiel
aus der Rheinprovinz
4.–8.11.
world processor /
Weltentwickler
11–19 h
1988 bis heute
Kolumba, Kunstmuseum
des Erzbistums Köln
Ausstellung, Tischgespräche, Lesungen,
Vorträge, Performances
Ingo Günther, Shape of Science, 1988–2014
Ingo Günther, Nuclear Range, 1988–2014
11.11. Felix Doese, Der Grafenberg (Frau in grünem Kleid), 1971/72
19 h, Halle 3
Gespräch
World Processor/Weltentwickler:
Der Planet ist billionenfach fotografiert
worden; es kommt mehr und mehr darauf
an, ihn zu entwickeln.
Ingo Günther, Wine Consumption vs. Production, 1988–2014
Ingo Günther und Siegfried Zielinski
disku­tieren die Ideen des World Processors
als eingreifende künstlerische Praxis.
Felix Droese, Der Grafenberg, 1971/72
Die Welt zu interpretieren und sie zugleich zu verändern muss kein
Widerspruch sein. In der Kunst geht das. Ingo Günthers Projekt World
Processor entwickelt nicht nur Wörter. Seit zwei Jahrzehnten generiert
der Künstler bedeutsame Oberflächen für den Globus, der unseren
Planeten (re)präsentiert. Er beschäftigt sich dabei mit vielfältigsten
Motiven, die Themen wie soziale Entwicklungen (beispielsweise
Lebenserwartung, Verteilung von Wohlstand, weltweite Erkrankungen),
ökonomische Veränderungen (beispielsweise Energieverbrauch) oder
militärische Konflikte umfassen. Günther bezeichnet seine Globen
als „Navigationshilfen für das intellektuelle und emotionale Erfassen
der Welt“. Sie provozieren uns, die Welt in ihren geopolitischen und
ökonomischen Vernetzungen zu denken – im Guten wie im Schlechten. Das Partikulare/Widerständige und das Universale treten in eine
kräftige Spannung.
Ingo Günther, Illicit Drug Flows, 1988–2014
Spätestens mit der zum Jahrtausendwechsel gezeigten Ausstellung
Über die Wirklichkeit wurde sichtbar, dass das Kunstmuseum des Erzbistums Köln einer Reflexion über existenzielle Grundlagen mit den
Möglichkeiten der Kunst Raum geben möchte. Die Einladung nach
Berlin begründet sich auch in der seit 1993 bestehenden Verbindung
des Museums zu Manos Tsangaris, der seit 2008 als Gastkurator
Klang in Kolumba ehrenamtlich tätig ist. Das Gastspiel des Museums
in der Akademie der Künste bietet nun die Möglichkeit, einen Ausschnitt der vielfältigen Museumsformate zu diskutieren und sich mit
eigenen Fragen einzubringen. Dazu wird Kolumba mit Werken der
eigenen Sammlung anreisen und mit einer Ausstellung, in abendlichen
Tischgesprächen, Lesungen, Vorträgen und Performances eine Woche
lang im „Schwindel der Wirklichkeit“ kreisen.
Kann die Kunst
die Wirklichkeit
verändern?
Andres Veiel
Kann sie unbedingt, im Sinne ihres Potenzials, die Welt
als eine ver­änderbare wahrzunehmen und zu gestalten –
und damit auch faktisch veränderbar zu machen.
In dem Moment, in dem ich beginne zu gestalten,
beschäftige ich mich mit Wirklichkeit: Wie sieht sie aus?
In welchen Zusammenhängen steht sie? In einem Re­
chercheprozess versuche ich durch Gespräche, Inter­
views und gegebenenfalls auch Archivmaterialien
herauszuarbeiten, in welchem biografischen, politi­
schen, historischen, ökonomischen Kontext diese Wirk­
lichkeit steht. Im Prozess der Montage verschiedener
Material-Texturen betrachte ich Wirklichkeit nicht als
isoliertes Phänomen, sondern in einem Wechselprozess
unterschiedlichster Einflussfaktoren – recherchieren
heißt damit nichts anderes, als in dieses Ursachen­
dickicht vorzudringen. Durch den Montageprozess ent­
steht aus den Materialien ein verdichtetes Destillat, in
das Gesagtes und Ungesagtes in all ihren Widersprü­
chen eingehen. Mit dem Ungesagten meine ich nicht
nur die Verweigerung zu sprechen, d. h. dem Schweigen
einen Raum zu geben. Sondern auch einem erweiterten
Realismusbegriff einen Ort zu geben, in dem Träume,
Wünsche, Sehnsüchte einen Platz haben, ausgedrückt
durch einen stummen Blick, das Zucken einer Ober­
lippe: Make the secret productive.
Entscheidend für mich ist der Prozess der Wiedervor­
lage, die Möglichkeit, auf das scheinbar schon Gesagte,
schon Bekannte anders, verfremdet zu blicken. In einer
Tiefenbohrung dringe ich dann in Schichten vor, um
neue Zusammenhänge zu erarbeiten und damit zu­
mindest eine Irritation zu bewirken. In diesem Verhält­
nis entstehen höchst produktive Zugriffe auf Wirklich­
keit und damit Verschiebungen in diesem unendlichen
Raunen von Daten und Informationen, das uns tagtäg­
lich umgibt.
Inmitten des Terrors der Verfügbarkeit von Informa­
tionen kann gar kein Raum für die Auslotung tieferer
Zusammenhänge entstehen, weil die alten Schlagzeilen
stündlich von neuen ersetzt werden müssen. Genau an
diesem Punkt ist die künstlerische Auseinandersetzung
nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Notwendig­
keit. Sie ist essenziell, weil in dieser Flut von Informa­
tion zwar viel wahrgenommen, aber nichts verstanden
wird.
Dann kann die Kunst mittels dieses zweiten Blicks in
das Ursachendickicht vermeintlich alternativloser Phä­
nomene die Zeit anhalten, Zusammenhänge und Wi­
dersprüche sichtbar machen – und damit Wirklichkeit
in ihren komplexen Bedingtheiten verhandeln. Nichts
muss so sein, wie es scheint.
Andres Veiel ist Film- und Theaterregisseur, Autor
und Mitglied der Akademie der Künste.
hkeit.de
www.schwindelderwirklic
34
Kann die Kunst
die Wirklichkeit
verändern?
35
M e ta b o l i s c h e s B ü r o
Verschaltungen
und Sektionen:
Wie die Wirklichkeit in
die Akademie kommt
Luca Lombardi: Warum?
Wilfried Wang
Die Baukunst verändert die Wirklichkeit. Sie bestimmt
sie sogar; für manche mehr, als ihnen lieb ist. Jedes Bau­
werk spricht Bände; jedes Einfamilienhaus oder Hoch­
haus ist Ausdruck der Weltvorstellung des Bauherren.
Und Bauträger, Baufinanzierer und Architekten
schwindeln mit. Jedes partiell rekonstruierte, entweder
mit moderner Konferenztechnik oder mit einem
Einkaufszentrum vollgestopfte und damit allseits ver­
marktbare Stadtschloss ist Ausdruck der Sowohl-­
als-auch-Haltung einer Bauherrengemeinschaft, deren
Unfähigkeit oder Unwilligkeit, sich bewusst mit der
verheerenden kulturellen Aussage eines solchen Bau­
werks auseinanderzusetzen, den Schwindel der Wirk­
lichkeit überhaupt erst begründet.
Oft übertreibt die Baukunst. Sie gibt mehr vor, als sie
kann. Dazu wird sie durch die Bauherren, und in deren
bravem Gefolge durch die Architekten, gezwungen.
In dieser Diskrepanz zwischen Wollen und Sein, in
dieser „Differenz“ zwischen bedeutungsschwangerem
Anspruch und pathetischer Wirklichkeit öffnet sich ein
kultureller Abgrund. Will man in ihn hineinschauen?
Oder ist der Schein der gebauten Wirklichkeit nicht
doch erträglicher? In der Differenz zwischen Sein und
Wollen liegt der Beleg des Schwindels.
Blicken wir um uns. Was sehen wir? Welche Bauten
sind für sich „ehrlich“? Soll heißen: Welche drücken das
aus, was sie zu dem macht, woraus sie bestehen (und
zwar in allen ihren Bestandteilen)?
So gesehen ist die Baukunst, wenn man sie richtig
zu lesen und deuten weiß, eine „Membran“ zwischen
Betrachter und politischer Wirklichkeit. Aber die Bau­
kunst ist ja in dieser Hinsicht in keiner Weise anders als
andere Bereiche der menschlichen Produktion. Betrach­
ten wir nur einmal das, was wir als „Nahrungsmittel“
bezeichnen, oder reflektieren wir die Medien, die uns
mit „Informationen“ füttern. Es ist alles einerlei.
γνθι σεαυτν
In all unserem Handeln beschwindeln wir uns
zuerst selbst.
Wilfried Wang ist Architekt, Publizist
und stellvertretender Direktor der Sektion Baukunst.
M e ta b o l i s c h e s B ü r o
Partiturausschnitt aus Warum?, 2. Streichquartett von Luca Lombardi, 2006
11.–14.11.
11–19 h
Zürcher Hochschule der Künste mit
Prof. Irene Vögeli, Sønke Gau, Prof. Patrick Müller,
Delphine Chapuis Schmitz sowie Studierende
des MA Transdisziplinarität
7.12.
17 h
Warum?
2. Streichquartett (2006)
Nomos-Quartett, anschl. Gespräch mit
Luca Lombardi, Johannes Odenthal u. a.
Mit freundlicher Unterstützung
des Italienischen Kulturinstituts Berlin
Die Welt hat Probleme, die Universitäten haben Departements –
die Realität stellt Fragen, die Akademien haben Sektionen: Die Wirklichkeit richtet sich nicht unbedingt nach unseren Verschaltungen,
was lebt und tut ist zu vielfältig dimensioniert, um sich in Schubladen
zu fügen. Was aber bedeutet dies für die Künste?
Der Master in Transdisziplinarität, ein überdisziplinärer Studiengang
an der Zürcher Hochschule der Künste, spannt einen Raum auf für
forcierte Entgrenzung und Verfransung – zwischen den verschiedenen
künstlerischen Fächern, Gattungen und Medien, doch auch hin zu
anderen kunstnahen (Kulturwissenschaften zum Beispiel) oder kunstferneren (Naturwissenschaften, Ökonomie) Bereichen, die Anschlüsse
generieren an ästhetische Strategien. Die Disziplinen geraten so in
verschärfte Nachbarschaft, und Transdisziplinarität wird hier verstanden
als eine Anleitung zu „undiszipliniertem“ Denken und Vorgehen. Dabei
verschieben sich gängige Arbeitsweisen, etwa dann, wenn die Schriftstellerei aus kompositorischer Perspektive betrieben wird oder wenn
sich die Künste in Kontexte vorwagen, in denen ihr Selbstverständnis
auf dem Spiel steht.
Im Metabolischen Büro wird über eine Woche hinweg an solchen Verschaltungen gearbeitet, in Bezug gesetzt zu einer Wirklichkeit, die
täglich vor unseren Füßen liegt – und, wo sie nicht schubladisiert ist,
ausgeprägten Schwindel provozieren mag. Die Besonderheiten transdisziplinären Tuns erfolgen über den exemplarischen Einzelfall – und
weniger über eine abstrakte Theoriebildung –, und es sind die konkreten Denkstile, ausgewählten Personen oder exemplarischen Werke,
die sich in der Akademie der Künste versammeln, die den Ausgangspunkt bilden für künstlerische Praxen jenseits disziplinärer Selbstverständnisse, für alternative Schnitte, Fügungen und Sektionen.
In vielen seiner Kompositionen, einschließlich seiner Opern, setzt
sich Luca Lombardi mit den Fragen der Macht und Gewalt auseinander.
Lombardi, der mit deutscher Kultur aufgewachsen ist (er hat die
Deutsche Schule in seiner Heimatstadt Rom absolviert), thematisiert
in seinem 2. Streichquartett Warum? die zwei Seiten der deutschen
Geschichte: die große Kultur und die Barbarei des Nationalismus,
Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus, die schließlich in den
Verbrechen des Nationalsozialismus gipfelten.
Der Titel entstammt dem gleichnamigen Fantasiestück aus Robert
Schumanns op. 12, auf dessen Musik er sich zentral bezieht. Zwischen
die einzelnen Sätze des Quartetts: roBErt SCHumAnn, SHoA, Wilder
Reiter, Shir, Scherzo (SHoA 2), Warum?, SHAlom implantiert er für
diese Veranstaltung literarische und dokumentarische Textpassagen.
Hauptakteur ist das Nomos-Quartett, das zu den meistgefragten
deutschen Quartetten zählt.
Musik und
(An-)Ästhetik
29.11.–3.12.
Marcel Beyer, Jörn Peter Hiekel,
Jacqueline Merz, Manos Tsangaris sowie
Studierende der HfM Dresden
Aufführung, Aussprache, Ausstellung,
Abschlusskonzert am 3.12.
Musik kann irritieren und erhellen – auch beides
zugleich. Und sie kann auf manchmal Schwindel
erregende Weise Perspektivwechsel vollziehen.
Das alles hängt mit ihren „anästhetischen“
Dimensionen zusammen, die als Tendenz
zur Auflösung fest fixierter Eingrenzungen beschrieben werden können – und im vorliegenden
Teilprojekt schlaglichtartig zur Darstellung
kommen sollen. Die Abfolge unterschiedlicher
Diskurs-Formate mündet in ein Konzert, bei
dem die Dresdner Gruppe literarische, theoretische und vor allem kompositorische Beiträge
leistet, einschließlich der (Ur-)Aufführung
neuer Werke. Es geht unter unterschiedlichen
Aspekten um das Wechselverhältnis von
Ästhetik und Anästhetik (nicht nur) im musikalischen Bereich. Aber es geht auch um die
Reflexionspotenziale, die dabei erfahrbar
werden. Dies alles deutet auf einen kreativen
Prozess, der ins Offene, Unvordenkliche
oder Unsichere mündet. Und der – so die Ausgangsthese des Projekts – einen „Schwindel
der Wirklichkeit“ erzeugt, um aus eingefahrenen
Gleisen des (nicht nur) künstlerischen Tuns
herauszuführen.
36
37
Musik
Musik im
SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT
Irgendwann haben die Verhältnisse sich umgedreht, hat sich die Welt der Musik völlig verdreht. Musik muss – scheinbar – nicht mehr
gemacht werden, sie wird bloß noch abgerufen, zubereitet. Wo sie in Wirklichkeit herkommt, spielt für die Wirklichkeit des Musikhörens so
gut wie keine Rolle mehr. Jenes sanfte Schwindelgefühl, das unsere Lieblingsmusik uns schenkt, scheint allerorten und zu allen Zeiten
verfügbar zu sein. PLAY!
Und andersherum: Welche Wirklichkeiten kann sie uns vorgaukeln, ruft sie in uns auf und hervor, die inzwischen allgegenwärtige Musik,
die fürs Unendliche, Unwirkliche, über alles Wirkliche Hinausgehende zuständig zu sein scheint. Sie hat sich von den Wirklichkeiten da
draußen gelöst, um auf engste Weise mit ihnen zu korrespondieren. Es sind „korrespondierende Erfahrungen“* hier wie dort, die einander
in Schwingung versetzen. Daher auch diese überbordende Wirkmächtigkeit, die von allen Seiten so gern benutzt wird – zur Erbauung, zur
Schärfung der Wahrnehmung, zur Einlullung, zur Einschläferung, zum Verkauf, zur Ermächtigung und so weiter fort. Dies alles geht nur
deshalb, weil eine Art Gegenwelt erschaffen wird in tönend bewegter Form, die sich gelöst hat von dem, was sonst unsere Wirklichkeit am
Boden hält, die Realität unserer Alltagswelt. Die Musik spielt sie an, sie ruft diese Erfahrungen ab, sie spielt mit ihnen, sie scheint sie lösen
oder zumindest herauslösen zu können und lässt sie auch hinter sich zurück. Ist es bloß Schwindel, den sie in uns auslöst, oder eher eine
Erfahrung, die wir gemeinsam hochhalten, indem wir sie wahrnehmen?
Am wirkmächtigsten könnte doch die Fiktion sein, auf die wir uns einlassen, um hiermit der Täuschung die Stirn zu bieten.
Manos Tsangaris
Der groSSe
elektronische
Schwindel
In den Jahren um 1980 fand in der Elektronischen Musik eine stille
Revolution statt, deren Auswirkungen erst heute wirklich wahrgenommen
werden: Die Digitalisierung der Tonaufnahmeverfahren hat neben der
fragwürdigen klanglichen Verbesserung vor allem die Möglichkeit
gebracht, Klang in seiner Abhängigkeit vom Zeitablauf völlig zu befreien
und stattdessen mit mathematischen Formeln in vielseitigster Form
zu verarbeiten, ja sogar in Echtzeit wie ein Instrument zu spielen – das
„Sampling“ entstand. Die Tonaufnahme, die bis dahin vorwiegend als
Dokumentation der Wirklichkeit diente, wurde frei transformierbar und
dadurch auch radikal manipulierbar. Der Schwindel war perfekt. In
der Elektronischen Musik fand eine Dekonstruktion der Wirklichkeit zu
Gunsten eines freien, kreativen Umgangs mit dem Medium Klang statt.
Wir fragen nicht mehr danach, was einmal der ursprüngliche
Klang war. Echtheit und Klangtreue sind Begriffe aus einer untergehenden Musikindustrie. Durch die neuen, fast unbegrenzten Möglichkeiten
digitaler Klangverarbeitung wird schnell alles erlaubt, und die neue
Wahrheit ist nun die, welche durch die Rezeption des Jetzt-Gehörten
in unseren Köpfen entsteht und existiert. Aber war das nicht schon
immer so?
Der erste manuell mit doppelter Klaviatur von 88 Tasten spielbare
Sampler war der Fairlight, der Ende der 1970er-Jahre auf den Markt
kam. Damals hat dieses „Computer Music Instrument“, wie es von den
Erfindern treffend genannt wurde, den französischen Schlagzeuger
Jean Pierre Drouet so fasziniert, dass er in der Zusammenarbeit
mit dem Komponisten Thomas Kessler die Komposition Drum Control
schuf, in der er seine Virtuosität auf die zwei Klaviaturen, mehrere
Regler, eine Fader Bank und drei Fußpedale des Computers übertrug.
Als Ausgangsmaterial dienten Samples seiner Stimme, mit der er
fiktive Schlagzeuginstrumente nachahmte. Die Grenzen zwischen
virtuellem Instrument und Körper wurden überwunden. Drum Control
aus dem Jahre 1983 ist vermutlich die erste notierte Komposition für
*Isabel Mundry nennt es so.
Thomas Kessler, Utopia, Berliner Philharmonie 2010
einen Sampler. Heute realisiert der Berliner Schlagzeuger Adam
Weisman Drum Control in einer Softwareübertragung auf Max-MSP
durch Wolfgang Heiniger.
Auf ganz andere Weise spielt das New Yorker MIVOS Quartet
im Streichquartett mit Live-Elektronik von Thomas Kessler mit den
Klängen der Sampler. Die wesentliche Steuerung findet hier durch
den Bogenstrich auf den einzelnen Instrumenten selbst statt. Im
Computer wird dessen dynamische Gestaltung als Hüllkurve in Echtzeit auf die gespeicherten und vorbereiteten Orchesterklänge übertragen. Dadurch kann jedes Quartett-Mitglied sein eigenes, raum­
füllendes Streichorchester, aber auch einzelne Sprachklänge spielen.
Das MIVOS Quartet, ein „versiertes, bewundernswert aufgeschlossenes junges Streichquartett“ (New York Times) interpretiert
in dem Konzert jedoch auch eine Komposition ganz ohne Elektronik:
das 3. Streichquartett lift-tilt-filter-split von Alex Mincek, geboren
1975 in New York. Schon der Titel verrät, dass seine eruptiv-expressive
Geräuschwelt ohne die Erfahrung mit Elektronischer Musik kaum
zustande gekommen wäre. Mincek, der auch ein versierter Saxofonspieler und Bassklarinettist ist und das „Wet Ink“-Ensemble leitet,
gehört zu der Generation von Komponisten, die mit Elektronischer
Musik als selbstverständlichem Ausdrucksmedium aufgewachsen
sind. Sein Streichquartett klingt, als ob es die akustische Bearbeitung
eines live-elektronischen Stückes wäre – tatsächlich hat der um­
gekehrte Prozess stattgefunden.
Das MIVOS Quartet widmet sich der Aufführung von Werken zeitgenössischer Komponisten. Seit der Gründung des Quartetts 2008
haben seine Mitglieder zahlreiche internationale Komponisten aufgeführt, ihnen Aufträge gegeben und eng mit ihnen zusammengearbeitet –
Komponisten, die diverse Ästhetiken des zeitgenössischen klassischen
Komponierens vertreten. Die internationale Konzerttätigkeit des
Quartetts führte zu Auftritten bei den Darmstädter Ferienkursen für
Neue Musik, Wien Modern, dem Asphalt Festival (Düsseldorf), Concerti
Aperitivo (Udine, Italien), HellHOT! New Music Festival (Hong Kong),
Edgefest (Ann Arbor, USA) und Aldeburgh Music (Großbritannien).
Neben der Erweiterung des Streichquartett-Repertoires ist die Zusammenarbeit mit Gastkünstlern sehr wichtig für MIVOS, was sich in
gemeinsamen multimedialen Projekten, Gruppenimprovisation und
pädagogischer Unterstützung junger Musiker äußert. Auf der neuesten
CD von MIVOS (im Frühling 2013 bei Carrier Records erschienen)
befinden sich Werke von Alex Mincek, David Franzson, Felipe Lara
und Wolfgang Rihm.
Während Alex Mincek die elektronische Klangerfahrung auf
akustische Instrumente zurück-überträgt, arbeitet der Brasilianer
und diesjährige Stipendiat der Akademie der Künste Rafael Nassif
mit Konzeptionen, die auf die „optimale Verteilung der Energien in
der Zeit“ abzielen, wie er kürzlich erklärte. Die Verhältnisse zwischen
Klangfarbe und Raum bedenkt er ebenso wie formale, harmonische
oder szenische Komponenten. Sein Stück esboço de pavana für
Violoncello solo (2009), interpretiert von Mariel Roberts vom MIVOS
Quartet, bewegt sich an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit und zeigt
damit gleichsam ein Paradoxon: Es formuliert Spannung und Kraft
nicht durch Laut-, sondern durch Leise-Stärke.
Auch die Berlinerin Neele Hülcker ist derzeit Stipendiatin an der
Akademie der Künste. Von ihr wird eine speziell zu diesem Anlass entworfene neue Arbeit zu erleben sein, eine Tisch-Installation im CaféBereich, mit der sie die Besucher gleich am Beginn des Abends in eine
irritierende, das Alltägliche dezent ver-rückende Situation verwickelt.
Zwei weitere Werke des Abends werfen ein Licht auf das neue
Elektronische Studio der Akademie der Künste, seit Mai unter der
Leitung von Gregorio García Karman. In Zusammenarbeit mit dem
ZKM – Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe entstand
in diesem Sommer im Studio ein neues, live-elektronisches Stück
für Akkordeon des in Karlsruhe lebenden, slowenischen Komponisten
Vito Žuraj, gespielt vom großartigen Teodoro Anzellotti. „Mit meinem
neuen Werk“, so Žuraj, „möchte ich das standardmäßig gebaute
Akkordeon dem Zuhörer als ein Viertelton-tüchtiges Instrument vortäuschen, dessen durchschlagende Zungen so lange wie Harfensaiten
nachklingen. Letzteres erreiche ich durch den Raumklang, den
die Elektronik schafft. Zusätzlich zersplittere ich einzelne Töne des
Akkordeons, die sich in Klangpartikeln durch den Raum verteilen.
Meine Idee der Verwendung von Vierteltönen mit Akkordeonklang hat
seinen Ursprung in meiner letztjährigen Beschäftigung mit einem
speziell für den Zweck der Vierteltönigkeit umgebauten Akkordeon.
Diesen Akkordeon-Viertelton-Klang wird in meinem neuen Werk
die Elektronik simulieren.“ Das Stück erklingt als Kontrapunkt zum
Dialog Imaginär Nr. 7 „Falsche Spiegel“ (2004) für Cello und Tonband,
einem frühen Werk des Studiogründers und Komponisten Georg Katzer,
wiederum interpretiert durch Mariel Roberts. Katzer erinnert die
Anfangsjahre des Elektronischen Studios in der Akademie der Künste
der DDR: „Das amtliche Gründungs-Datum ist 1986, da hatten wir
den offiziellen Segen der Akademieleitung. Aber schon 1980 hat mein
damaliger Meisterschüler Ralf Hoyer ein erstes Zuspielband hergestellt: zwei Band­maschinen, zwei, drei Filter – Punkt! Auch habe
ich seit 1980 Seminare abgehalten und Konzerte veranstaltet.“ Der
Klangregisseur und der Musikinformatiker des Studios für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste betreuen die elek­tronische
Realisation des Abends.
„Schattenspiele“ in den Ecken des Foyers verstecken die live
spielenden Musikerinnen und Musiker hinter einer Leinwand. Sind wir
sicher, wer da wirklich spielt oder erliegen wir einer musikalischen
Täuschung? Die Räume werden mit subversiven Aktionen von Studenten
der Klasse Sound, Art and Technology-poiesis, Universität der Künste
Berlin, bespielt.
Podiumsgespräche, geleitet vom erfahrenen Medienkünstler
und Komponisten Manos Tsangaris, vertiefen die vielseitigen inhaltlichen Aspekte des Programms. Als Ausklang spielen die Solisten des
Abends für jene, die den Vertigo-Taumel noch länger genießen wollen,
in der Cafeteria bekannte Musik in gefälschten Bearbeitungen.
Evelyn Hansen Sekretär der Sektion Musik
Thomas Kessler Komponist und Mitglied der Akademie der Künste
Konzert- und
Performanceabend
22.10.
19 h
mit Werken von Reiko Füting, Neele Hülcker, Georg Katzer,
Thomas Kessler, Alex Mincek, Rafael Nassif, Vito Žuraj,
aufgeführt von
Adam Weisman, Schlagzeug,
Teodoro Anzellotti, Akkordeon,
dem MIVOS Quartet aus New York und
dem Studio für Elektroakustische Musik
der Akademie der Künste
Studio / Studiofoyer / Halle 3 / Cafeteria
Eintritt Studio: Euro 7/5
38
39
Musik
Hören und Sehen
Konzert
Voraufführung
Musikwoche mit ensemble mosaik
25.–29.11.
Öffentliche Proben
25.–28.11.
11–18 h, Halle 3
ensemble mosaik, exit to enter von Michael Beil
Musik
Stefan Prins / Generation Kill Offspring 1
anschl. Gespräch mit dem Komponisten und
Gästen, Moderation: Johannes Odenthal
(in engl. Sprache)
26.11.
Voraufführung
Trond Reinholdtsen / Unsichtbare Musik
anschl. Round Table mit den Komponisten Carola
Bauckholt, Michael Beil, Matthias Kranebitter,
Stefan Prins, Trond Reinholdtsen,
Gesprächsleitung: Enno Poppe
18 h, Halle 3
28.11.
14 h, Halle 3
In präzisem Timing choreografiert Michael Beil das Wechselspiel der
Musiker mit ihren Selbst-Kopien. exit to enter, seine Komposition für
kleines Ensemble, Audio-Zuspiel und Live-Video (2013), verkoppelt
An- und Abwesenheiten zu einem nahezu unauflöslichen Konglomerat,
das unsere Wahrnehmung auf die Probe stellt. Wie in einer Zellteilung
haben sich die Akteure zu virtuellen Existenzen auf den Leinwand­
bühnen vervielfacht und triggern das musikalische Geschehen, von
dem sie ihrerseits belebt und bewegt werden. Das Stück narrt uns in
sympathisch durchschaubarer Weise. Es führt eine Metapher vor über
Geschehnisse, die noch nach Science-Fiction aussehen, doch schon
nah an die Realität herangerückt sind, wenn man einmal unsere DatenAlter-Egos oder die uns künftig begleitenden persönlichen „Assis­
tenten“ mit dem unheimlichen Wissen über jeden im Netz zu ortenden
User als aktuelle Beispiele herausgreift. Michael Beil tariert die
Verhältnisse einigermaßen aus. Seine Instrumentalisten sind in beiden
Welten zu Hause. Sie können zwischen ihnen fluktuieren und nutzen
eine rhythmische Impulsbahn, die sich zunehmend beschleunigt
und in ein strudelartiges Drehmoment mündet, das sie hörbar in einen
quasi schwerelosen Raum katapultiert. An dieser Stelle setzt der
maschinenhafte Rhythmus für eine Weile aus, es breiten sich flächige,
harmonievolle Klänge aus, die jedoch zum Ende hin wieder dem
motorischen Motiv Platz machen und damit an die Ausgangssituation
anknüpfen.
Unsere schöne neue digitale Welt erweist sich zunehmend als ein
Phantom. Unter ihren Oberflächen tritt immer bedrohlicher die Kehrseite der glänzenden, vielversprechenden Münze zutage. Es zeigen
sich Machtstrukturen, die alarmieren und zumindest nachdenklich
machen, ob sie mit den fraglos gigantischen Vorteilen in Kauf ge­
nommen werden. Jüngere Komponistinnen und Komponisten arbeiten,
ebenso wie Künstler anderer Sparten, bevorzugt mit neuen Technologien. Diese erweitern den technischen Materialstand und bringen
eine eigene Ästhetik mit sich. So reflektieren ihre Stücke vielfach die
medientechnologischen, in die Gesellschaft strahlenden Fragestellungen in einem Idiom, das sich ebendiesen Entwicklungen verdankt.
Ihre Herausforderung liegt darin, sich mit eigenen Entwürfen gegen
die inhärente Tendenz zum Entertainment und Design zu wehren.
Generation Kill des Belgiers Stefan Prins war 2012 eines der
Hauptereignisse auf den Donaueschinger Musiktagen. In komplexer
Weise verarbeitete er darin aktuelle politische Vorgänge und Geschehnisse, die ihn erschütterten und diese kompositorische Auseinandersetzung auslösten. Soziale Netzwerke, Überwachungspraktiken,
Videospiele, Drohnenkrieg sind Stichworte dafür, die in dem
„disorienting effect of technology“ als einer grundlegenden Problematik medialer Technologien zusammenfließen. Stefan Prins zitiert
in seiner damaligen Programmeinführung Evan Wright, einen ehe­
maligen „Embedded Journalist“ aus dem Irak-Krieg 2003, aus dessen
Buch Generation Kill er u. a. folgende Äußerung eines Soldaten wiedergibt: „Es ist der ultimative Kick – Du gehst in den Kampf, während im
Hintergrund ein guter Song läuft.“ Die immer stärker sich auflösende
Grenze zwischen Realität und Virtualität erfahrbar zu machen, ist
das zentrale Anliegen des Komponisten. Außer Instrumenten setzt der
auch als Physikingenieur ausgebildete Künstler in diesem Stück
Gamecontroller, Live-Elektronik und Live-Video ein. Im Musikprogramm
kommt die Version Generation Kill Offspring 1 (2012) zur Aufführung.
Fast konträr dazu: das Konzept von Matthias Kranebitter. Seine
Strategie besteht in der rigorosen Auflösung von Zusammenhängen,
Gewissheiten und Traditionen. Der 1980 geborene Wiener mit einer
umfangreichen medienkünstlerischen Kompetenz bekennt sich auf
seiner Suche nach Authentizität dezidiert zur „Störung bzw. Zerstörung“
Trond Reinholdtsen / Unsichtbare Musik
Michael Beil / exit to enter
Carola Bauckholt / In gewohnter Umgebung III
Matthias Kranebitter / nihilistic study no. 7
Carola Bauckholt / Laufwerk
Stefan Prins / Generation Kill Offspring 1
ensemble mosaik, Sopran: Angela Postweiler,
Sprecher: Trond Reinholdtsen, Leitung: Enno Poppe
Euro 10/6
29.11.
19.30 h, Studio
als ästhetischem Werkzeug, mit dem er aus dem Restbestand von
Kulturellem, zufällig Beobachtetem,Trash oder Dilettantischem seine
losen, comicartig überzeichneten Konstrukte fügt. nihilistic study no. 7
für Ensemble und Zuspiel (2013) ist ein Mix aus betitelten Examples,
z. B. Shopping Mall, Beethoven oder The Violin, die Kunst und Alltag
mischen und ihren Witz aus der überraschenden Perspektive und dem
genau kalkulierten Kontrast ziehen. Wie im Kameraschwenk erfasst
er einzelne Momente und spiegelt den medial sozialisierten Hörern die
ihnen vertrauten Erscheinungen satirisch verfremdet zurück.
Noch tiefer auf den elementaren Grund der Dinge begibt sich
Trond Reinholdtsen. Seine Unsichtbare Musik für Sprecher, Sopran,
kleines Ensemble und Zuspiel (2009) ist Musik in der Einheit mit
dem Wort, der Präsenz und Person des Komponisten, der, obwohl es
nichts zu sehen gibt, über die schlichte Nennung von Begriffen quasi
im Zeitraffermodus die Bausteine einer Welt vors innere Auge stellt –
systematisch und chaotisch zugleich, vom Einzelnen zum Komplexen,
vom Konkreten zum Abstrakten. In langer Kette reiht er Worte aneinander, die mit Klang durchtränkt sind, gleich einem Sammler, der
seine Fundstücke sorgsam in einer Wunderkammer birgt, um jedes
Objekt in seiner eigenen exotischen Schönheit betrachten zu können.
Der Norweger ist für den kauzigen Esprit seiner meist szenisch gestalteten Kreationen bekannt. Sein schwarzer Humor zielt auf Profundes.
Am Ende lässt er die gestückelten, atomisierten Einheiten unverhofft
in einen Sinnzusammenhang fließen. Mit Gedichten von Bertolt Brecht,
darunter das weit bekannte Fragen eines lesenden Arbeiters, setzt
er ein poetisches Signal für eine längst vergessen geglaubte Utopie.
Dass das Sehen und Hören im Hier und Jetzt des Realen auch
ohne virtuelle Transformationen noch unerschöpflich viel zu entdecken
bietet, beleuchtet Carola Bauckholt in fast jeder ihrer Arbeiten. Ihre
Kompositionen vermischen oft Elemente aus visueller Kunst, Musiktheater und konzertanter Musik. Für das Programm wurden die Stücke
In gewohnter Umgebung III für Violoncello, Klavier und Video (1994)
und Laufwerk für Ensemble und Zuspielung (2011) ausgesucht. In
ersterem lenkt sie unsere Aufmerksamkeit auf das alleralltäglichste
Geschehen. Per Video zoomt sie banale Gebrauchsgegenstände
überdimensional ins Bild: einen tropfenden Wasserhahn, ein bratendes
Spiegelei, den geöffneten Kühlschrank, und verwandelt sie damit in
gleichsam individualisierte Akteure, aus deren Geräuschen sie einen
teils illustrativen, teils konträren musikalischen Kontext formt.
„Vorgestellt habe ich mir Schleifen von prerecorded sounds, die sich
ins Ensemble hinein und sich wieder herauswinden.“ (C. Bauckholt).
Laufwerk, ein Perpetuum mobile mit Hang zu ausgeprägten
Unwuchten, setzt unterschiedlichste Spiel-Mechaniken in Gang, die
den Eindruck einer betagten, ächzenden Maschine produzieren.
Seltsam eigenwillig verschieben sich die Abläufe, stoppen, geraten
in neue rhythmische Muster und lösen sich schließlich zeitweise ganz
aus dem zwanghaften Prozess heraus – bis am Ende alles zerfällt.
Eine Woche lang, vom 25. bis 28.11, kann den Musikern des
ensemble mosaik bei der Vorbereitung dieses Programms (Kurator:
Enno Poppe) im Metabolischen Büro zur Reparatur von Wirklichkeit
in öffentlichen, frei zugänglichen Proben über die Schulter geschaut
werden. Einige der beteiligten Komponisten werden in eigenen
Veranstaltungen vorgestellt. Das Konzert findet am 29.11., 19.30 Uhr,
im Studio der Akademie der Künste am Hanseatenweg statt.
Evelyn Hansen
41
Musik
MIDI–KLAVIER
Präsentationen
hkeit.de
www.schwindelderwirklic
Musik
Peter Ablinger, The Real as Imaginary, 2012
40
Performance, Gespräch
Im Anschluss an die Performance:
Peter Ablinger und Manos Tsangaris
im Gespräch
MIDI-Automation in einem Sequenzer-Programm
Zweimal täglich erklingt ein halbstündiges, wechselndes
Programm mit Kompositionen
von Annesley Black, Reinhard Febel, Orm Finnendahl,
Erhard Grosskopf, Wolfgang Heiniger, Arnulf Herrmann,
York Höller, Bernhard Lang, Conlon Nancarrow,
Enno Poppe, Cornelius Schwehr, Walter Zimmermann
u. a.
17.9.–14.12.
12 + 17 h, Halle 3
Musical Instrument Digital Interface, kurz: MIDI, ist seit den 1980erJahren eine Konstante in den elektronischen Studios. Die Schnittstelle
gehört seit ihrer Einführung zu den Erfolgsmodellen der Digitalisierung
in der Musikproduktion und hat bis heute kaum an Attraktivität
einge­büßt.
Früher nutzten Komponisten zum Arbeiten ein Klavier, um damit
Klänge zu hören, Akkorde auszuprobieren oder ganze Partituren zu
spielen – je nach ihren pianistischen Fähigkeiten. Diese Arbeit hat
nun, wie in so vielen anderen Bereichen, der Computer übernommen.
Jede mit Computernotensatz geschriebene Partitur kann er direkt
realisieren, völlig unabhängig vom instrumentalen Können des Autors.
MIDI verbindet alle digitalen Musikinstrumente mit dem Computer.
Und es ist ein äußerst seltener Vorgang in der mit unfassbarer
Geschwindigkeit sich vollziehenden Entwicklung der Computertechnologie, dass ein solcher Standard über 30 Jahre lang unverändert
verwendet wird. Woran liegt das? Zum einen in der relativ nüchternen
Tatsache, dass sämtliche Musik-Technologiefirmen weltweit einem
solchen Standard zustimmen müssen. Vor allem aber zeigt sich daran,
dass die Nutzerinnen und Nutzer offensichtlich immer noch zufrieden
sind. Ihre Bedürfnisse scheinen sich hier nicht verändert zu haben,
und die meisten Musikkonsumenten und -produzenten favorisieren
das Bewährte. In einer für den Bereich erstaunlich konservativen
Grundhaltung ziehen sie es vor, mit dem Gegebenen umzugehen und
so ist ein neuer Standard schlichtweg überflüssig.
Doch gibt es natürlich auch Gegenbeispiele, Komponisten, denen die
normierte Syntax der industriellen Unterhaltungsindustrie ein zu enges
und starres Korsett bedeutet, das nur das Vorhandene perpetuiert
und die Fantasie einschränkt. Sie haben die Musik in den letzten Jahr­
zehnten ständig weiterentwickelt und unzählige neue Ideen und
Projekte entworfen, die wir in einer Auswahl vorstellen wollen.
Das Disklavier von Yamaha, repräsentativ für diesen Bereich, ist
so gesehen eine moderne Variante des klassischen Selbstspielklaviers,
das früher mit Walzen gesteuert wurde und eher in Kneipen und auf
Jahrmärkten zum Einsatz kam. Von Anbeginn waren Selbstspielklaviere
eine Einsparmaßnahme, da man auf Musiker verzichten konnte.
Während die Walzen allerdings in einem mühsamen Prozess hergestellt werden mussten, kann das Disklavier neben dem Abspielen
fertiger Stücke auch eine Klang-Simulation von Skizzen erstellen,
was den Komponisten eine kaum zu überschätzende Arbeitserleich­
terung verschafft.
Doch was passiert, wenn eine Maschine Musik spielt? Was ist die
Substanz der Musik? Die absolut korrekt wiedergegebenen Noten einer
simulierten Aufführung lassen oft erst erkennen, wie viel Anteil das
Nicht-Notierte an der Wirkung der Musik hat. Ein Pianist kann immer
besser spielen als eine Maschine, denn er vermittelt eine „Interpre­
tation“, die seine gesamte Person einschließt. Seine Version ist das
Ergebnis eines langen Übungsprozesses, während dessen Kopf und
Hände, Geistiges und Manuelles eine stets einmalige, authentische
Auslegung prägen. Andererseits kann die Maschine Dinge, die mit den
Händen nicht möglich sind. Alles ist quasi realisierbar, veränderbar,
ohne jegliche musiktechnischen Schwierigkeiten.
Das Selbstspielklavier in einer Ausstellung stellt eine Präsen­
tationsmischform dar, die viele Fragen aufwirft. Am ehesten könnte
man hier von einer Konzertsimulation mit simulierter Musik sprechen,
die neuen Erfahrungskategorien von künftigen Mensch-MaschineProdukten den Weg bereitet.
Peter Ablinger
18–19 h, Halle 3
Das Wirkliche als Vorgestelltes, 2012
Sprecher/in und Rauschen
„[…]
(3)
Aber es geht nicht um Noten.
(11)
Es gibt aber auch keine richtige Frage.
(4)
Es geht um das Wirkliche, die Frage nach dem Wirklichen, es
geht darum, die richtige Frage zu stellen, und lange Zeit hatte
ich die falsche Frage gestellt.
(12)
Denn was mir jetzt erst langsam klar wird, ist, daß alle Fragen,
ob, wie und inwiefern Wirkliches überhaupt existiert – in dieser
Form gestellt – gar nicht zählen.
(5)
Ich hatte gefragt, ob es möglich sei, das Wirkliche jemals zu
erreichen, ob es jemals möglich sein würde, das Gefängnis
meiner Vorstellungen zu durchbrechen hin auf Wirkliches – und
sei es nur für den allerkürzesten Moment, ob es möglich sei
jemals wirklich HIER zu sein, oder ob ich immer – für immer und
immer – gefangen bliebe im Nicht-Hier-Sein, in meinen
Vorstellungen und Gedanken-Konstruktionen, und das Wirkliche
niemals erreichen und immer nur verfehlen würde.
(13)
Wirkliches ausserhalb meines Vorgestellten zählt nicht.
(14)
Oder anders: Ein Wirkliches ausserhalb meines Gefängnisses
zählt nicht.
(15)
Könnte ich die Gefängnismauern einreissen, würde ich nichts
Wirkliches sehen.
(16)
Könnte ich meine Gedanken-Konstruktionen überschreiten,
ohne sie sofort durch neue Gedanken-Konstruktionen zu ersetzen, würde ich dahinter rein gar nichts erkennen können.
(17)
Was dagegen zählt ist, daß Wirkliches überhaupt nur als
Vorgestelltes interessant ist.
(6)
Ein nicht erreichbares Wirkliches aber, was wäre das?
(7)
Wäre das etwas anderes als nur eine weitere meiner
Gedanken-Konstruktionen?
(8)
Wäre das überhaupt etwas?
(18)
(9)
Die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des
Erreichens des Wirklichen ist gleichzeitig die Frage nach dem
Wirklichen selbst, die Frage, ob es es überhaupt gibt, das
Wirkliche, oder ob es tatsächlich nichts anderes gibt als meine
Vorstellung vom Wirklichen.
Und es mag gut und gerne sein, dass Wirkliches überhaupt nur
als Vorgestelltes IST.
(19)
Auf jeden Fall kann dahingestellt bleiben, auf jeden Fall ist
es gleichgültig, ob es es gibt, oder nicht gibt, das Wirkliche
außerhalb meines Vorgestellten. […].“
Aber das ist die falsche Frage.
Auszug aus dem Performance-Text.
Quelle: http://ablinger.mur.at/i+r_the-real.html
Wir danken der Yamaha Music Europe GmbH für die großzügige
Unterstützung.
Enno Poppe Komponist, Dirigent und stellvertretender Direktor der Sektion Musik
30.9.
(10)
43
Schauspiel
Warum spielt
Der Mensch?
Was heißt das: Schauspielen? Aufzutreten und zu behaupten, dass man jemand sei. Ein anderer. Oder man selbst.
Was treibt einen auf die Bühne, was braucht man auf dem Weg, welcher Preis ist zu bezahlen? Und welche Wirklichkeit teilt man dann mit den Kollegen und den Zuschauern? Die der Literatur oder die des Augenblicks? Nimmt man
Rollen ein und legt sie wieder ab? Oder zieht man immer eine über die andere und wird selbst irgendwann unkenntlich?
Aber warum fühlt man sich dabei manchmal so nackt?
Auf Theaterproben wird heutzutage selten explizit über die künstlerischen Möglichkeiten des Spielens im Theater
gesprochen. Auch das Feuilleton streift das Thema höchstens beiläufig, und die Theaterwissenschaft fühlt sich gar
nicht mehr zuständig. Insofern habe ich selbst ein solches Gespräch initiiert und einige herausragende und von
mir persönlich hoch geschätzte Kollegen – man sehe mir nach, dass ich auch dabei bin – dazu angestiftet, mit ver­trauten oder geschätzten Personen über ihre Spielweisen zu sprechen. Über die Momente der Verwandlung, das
Spiel mit den Zuschauern, die inneren und äußeren Welten, aus denen man sich für die Figur bedient, und über die
Grenzen des Darstellbaren.
Im Rahmen von SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT ist eine Reihe von zehn Videogesprächen entstanden, die als
Teil der Ausstellung gezeigt werden und zugleich in einer DVD-Edition erscheinen. Diese Auswahl ist total subjektiv.
Meine einzige Vorgabe war: fünf Frauen, fünf Männer. Natürlich könnten es auch zwanzig andere sein.
Thalia Theater, Hamburg. Videostill Spielweisen
42
Schauspiel
Wenn sich plötzlich
die Zeit öffnet
Über Schauspielen heute
Joachim Meyerhoff
I
Vielleicht könnte man einfach mal sagen: Dieses Jahrzehnt
gehört dem Schauspieler. Ein halbes Jahrhundert lang wurde Theater –
und damit ist das im deutschsprachigen Raum noch immer vorherr­
schende Modell des öffentlich getragenen Ensembletheaters gemeint –
vorwiegend als Regietheater oder als Literaturtheater aufgefasst.
Als Blick in den Kopf eines Regisseurs, der kindkaiserlich die Puppen
tanzen lässt, oder als Offenbarung der Dichtung durch die Sprechkunst.
Seit einigen Jahren aber wird der Schauspieler nun auch als eigen­
verantwortlich Handelnder ernst genommen.
Auslöser dieser Wahrnehmungsverschiebung war eigentlich eine
Krise. Gemeinsam mit den Konzepten des postdramatischen Theaters
ist seit den 1990er-Jahren die Idee der Performance ins Theater
eingezogen und hat neben dem Schauspieler den Performer etabliert.
Wobei das, was man im Theater Performance nennt – und was der
Dramaturg Bernd Stegemann in seinem Buch Kritik des Theaters
(2013) in Abgrenzung vom Schauspielen etwas polemisch als „Schausein“ klassifiziert, als bloßes Dasein auf der Bühne ohne Verkör­
perungsabsicht –, meist ein Hybrid ist. Denn das Gesagte ist natürlich
oft dennoch geprobt und wird nach Spielplan wiederholt. Aber dass
derjenige, der auf der Bühne steht, zumindest vorgibt, selbst die
Geschichte zu sein, die erzählt werden soll, ist neu und macht ihn plötzlich zu einem echten Gegenüber, weil man nicht wirklich weiß, wo
die Kunst aufhört und womöglich das Leben anfängt, ja ob es überhaupt eine solche Grenze noch gibt. Es ist eine Stegreifsituation. Ein
Rückgriff auf die Zeit, als dem Theater nicht nur die vierte Wand fehlte,
sondern auch die anderen drei.
Natürlich wären mehr als zehn Positionen notwendig, um die Frage,
wie und warum Schauspieler Theater machen, auch nur ansatzweise
repräsentativ beantworten zu können. Aber einige Tendenzen lassen
sich aus diesen Beiträgen doch ableiten, mehrere Themen werden aus
verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, und in der Zusammenschau
der rund 300 Minuten dauernden Gespräche ergibt sich durchaus ein
Bild des gegenwärtigen Theaters aus Schauspielersicht. Und dieses
Bild ist, wie nachfolgend in einigen Schlaglichtern skizziert werden
soll, konkret, heterogen, überaus kritisch und von so leidenschaftlichen
Suchbewegungen geprägt, dass man sich um die Zukunft des Theaters
im Augenblick wohl keine Sorgen machen muss.
Di–So
Videopräsentation in der Ausstellung / DVD
Zehn Filme mit englischen Untertiteln
Kurator: Ulrich Matthes
Projektleitung: Petra Kohse
Mitarbeit: Tanja Krüger
Regie und Schnitt: Ingo J. Biermann
Bildgestaltung: Kai Miedendorp, Alexander Haßkerl
Mit: Josef Bierbichler, Edith Clever, Maren Eggert, Jens Harzer,
Fabian Hinrichs, Sandra Hüller, Signa Köstler, Ulrich Matthes,
Joachim Meyerhoff und Wiebke Puls.
Gesprächspartner: Yvonne Büdenhölzer, Matthias Dell,
Sebastian Heindrichs, Nele Hertling, Peter Kümmel,
Matthias Lilienthal, Hans-Dieter Schütt, Anika Steinhoff,
Andres Veiel und Matthias Weigel.
Antworten bereithalten und darüber hinaus eine weiter gefasste Beschäftigung mit der Schauspielkunst anregen
können. Denn das darf man in der performativen Gesellschaft trotz aller Partizipationsansätze auf den Bühnen
und der jahrzehntealten Regietheaterdebatte in den Feuilletons nicht vergessen: Theater, diese hoch arbeitsteilige
Ulrich Matthes
Direktor der Sektion Darstellende Kunst
11–19 h, Halle 2
Spielweisen
gespräche mit Schauspielern
Ich bin sicher, dass diese zehn Gespräche auf die Menschheitsfrage, warum der Mensch spielt, ja spielen muss, viele
Kunstform, wird allabendlich vom Schauspieler vollendet. Er persönlich steht mit Geist und Körper dafür ein.
Wiebke Puls mit Matthias Lilienthal
Maren Eggert
DVD-Edition, AdK, Berlin, 2014
2 DVDs (englische Untertitel verfügbar), 310 Minuten
Booklet (deutsch/englisch), 64 Seiten, 11 Abbildungen
ISBN 978-3-88331-205-7
Best.-Nr. 5042
Euro 22
Signa Köstler
Dieser neu-alte Geist des Performativen, des Entstehenlassens im
Moment, hat nicht nur die Theaterwissenschaft in einen Taumel versetzt, sondern das Theater auch für Soziologen interessant gemacht.
In der Tat wurde der Tod des klassischen Schauspielers schon bald
ausgerufen und der Performer zum Prototyp des Zeitgenossen gekürt.
Aber die Performance ist nicht das einzige Resultat postdramatischer
Entwicklungen im Theater. Auch der nichtprofessionelle Darsteller
hat inzwischen einen Platz auf der Bühne, international arbeitende
Projektemacher, Kollektive sowie eine neue Generation von stärker im
Team arbeitenden Regisseuren und vor allem Regisseurinnen sind
zu den Allesbestimmern alten Schlages hinzugekommen, und neue
Dramatik hat den Alltagston auch mit literarischer Grundlage auf den
Bühnen gut etabliert.
In dieser Gemengelage wurde der klassische Schauspieler stark
auf sich selbst zurückgeworfen. Klare Weisung blieb oft aus, Persönlichkeit wurde ästhetisch relevant. Es ist kein Zufall, dass die meisten
der Schauspielerinnen und Schauspieler, die Ulrich Matthes für die
vorliegende Reihe von Videogesprächen über ihre Spielweisen ausgesucht hat, mittlerweile auch eigene Projekte machen und selbst
schreiben oder Regie führen. Aus dem Schauspieler mit Rollenfach ist
ein nach vielen Seiten hin offener Theatermacher geworden, der auch
als Ensembleschauspieler Verantwortung für das künstlerische Ganze
übernimmt. Was er vielleicht immer getan hat. Aber jetzt, da die Formen
offener sind, hängt das Gelingen noch mehr davon ab. Die Theaterwissenschaft hat mit Symposien und Publikationen bereits darauf
reagiert: Im Rahmen der wissenschaftsbestimmenden Untersuchung
der „Kulturen des Performativen“ kommt auch der klassische Schauspieler wieder vor.
II
Neben neun klassisch ausgebildeten Schauspielern wurde auch
Signa Köstler in der Spielweisen-Reihe interviewt, eine dänische
Performancekünstlerin, die aus der bildenden Kunst kommt und der es
zu Beginn ihrer Laufbahn gar nicht bewusst war, dass die szenischen
Installationen, die sie mit ihrer Gruppe SIGNA realisiert, als Theater
aufgefasst werden könnten. Die Konzepte stammen meist von ihr und
ihrem Mann Arthur, und sie selbst führt Regie, was heißt, dass sie die
Grundzüge der Charaktere mit den Darstellern entwickelt und ihnen
dann freie Hand gibt. Pluralismus und Subjektivität sind in dieser
Arbeit konstitutiv. Jeder Darsteller erzählt einen anderen Teil der
gleichen Geschichte auf so persönliche Weise, dass der Zuschauer
sich der Wahrheitsvermutung kaum entziehen kann und buchstäblich
in das (vor allem im angelsächsischen Raum als „immersiv“ bezeichnete
Theater-)Geschehen eintaucht. Entsprechend schwer tut sich Signa
Köstler im Gespräch mit der Frage, ob sie in einer Spielsituation XY
als Signa oder als Figur reagiert habe. „Oft kann man mit einer echten
Energie richtig gut spielen. Auch manchmal mit Müdigkeit oder
Frus­tration. Es gibt nicht die Seele einer Rolle und die Seele von einem
selbst. Es steckt ja alles in einer Person. Und ich finde es absurd,
wenn man das so trennen will. Wenn ich spiele, gehören alle Impulse,
die ich habe, der Rolle.“
44
Wiebke Puls, Ensembleschauspielerin der Münchner Kammerspiele,
sieht diese Dichotomie durchaus ähnlich: „Das bin ja immer ich. Ich
bilde mir nicht ein, eine fremde Person zu sein. Aber ich verleihe mich
natürlich gleichzeitig einer anderen Person. Die Leute nehmen mich
nicht als Wiebke Puls wahr. Auf der anderen Seite könnten sie die
Figur überhaupt nicht wahrnehmen, wenn ich sie nicht spiele.“
Gleichzeitiges Sein und Nicht-Sein also in diesem Fall, und das
gar nicht mehr als Frage. Ganz egal, ob Rollen tatsächlich etwas mit
der Persönlichkeit eines Schauspielers oder einer Schauspielerin zu
tun haben – „in dem Moment, in dem Körper physisch anwesend sind,
ist es ja eine Art von Authentizität,“ stellt Joachim Meyerhoff fest.
Und Sandra Hüller geht sogar noch weiter: Sie träumt davon, Rollen
ganz aus der echten Begegnung mit den Kollegen auf der Bühne
heraus – gewissermaßen spontan – umzusetzen. „Ich würde mir
wünschen, dass ich […] so zur Arbeit gehen könnte, wie ich bin, und
mit allem arbeiten könnte, was ich bin. Wenn es da kein Korsett gäbe!“
Wobei diese Aussagen wohl kaum als Augenaufschläge in Richtung
eines neuen Naturalismus zu verstehen sind, sondern als klare
Bekenntnisse zu einer Co-Autorschaft.
Sandra Hüller mit Yvonne Büdenhölzer
Fabian Hinrichs
Generell sind Schauspieler für Joachim Meyerhoff greifbarer geworden. Sie sind keine hehren Vorbilder für die Gesellschaft mehr, mit einer Weltanschauung, die sie von oben (von der Bühne) nach unten (in
den Zuschauerraum) vermitteln wollen. Vielmehr sind sie Spielpartner
eines Publikums, das heutzutage Aufmerksamkeit nicht nur spendet,
sondern auch beansprucht, und das keineswegs im Dunkeln sitzt,
sondern bis kurz vor Vorstellungsbeginn im Scheinwerferlicht des eigenen Mobiltelefons. „Da hat sich etwas geändert. Man begegnet sich
viel mehr auf Augenhöhe“, so Meyerhoff. Sowieso werde die Welt
selbst zunehmend theatral verstanden und die Theatersituation sei
dem Leben dadurch einfach ähnlicher geworden. Für den Schauspielerstand bringe das Legitimationsprobleme mit sich. Der Beruf sei für
viele heute eine „nicht enden wollende Schauspielschule“ – man versteht sich im Werden, nicht im Sein. Entsprechend schwer fällt es
nicht nur Joachim Meyerhoff, auf der Bühne still zu sein und nichts zu
sagen oder zu tun, was seiner Beobachtung nach ältere Kollegen, die
aus einem gesellschaftlich klar codierten Kontext kommen wie etwa
dem Schaubühnen-Ensemble aus der Zeit von Peter Stein, noch
meisterhaft beherrschen. Auch Wiebke Puls beschreibt: „Ich habe
ständig das Gefühl, ich müsste mir das noch erkämpfen, das Recht,
auf der Bühne zu sein.“
Josef Bierbichler mit Andres Veiel
Jens Harzer
Ulrich Matthes indessen nutzt Schweigen mitunter als Möglichkeit,
die Konzentration des Publikums einzufangen, Maren Eggert bekennt
sich im momentweisen Nicht-Spielen ganz offen zu für sie unspiel­
baren Szenen und Jens Harzer meint sogar: „Das ist ja hoffentlich allgemein, dass man eher in die Geheimnisse investieren muss als in
das Ausgesprochene, dass Figuren eher aus dem Schweigen kommen
als aus dem Reden.“ Eine Frage der Mentalität – und der Spielweise.
Auch darüber, wie groß der Anteil der Regie an der Rollen­ent­wicklung zu sein hat, gibt es unterschiedliche Ansichten oder
Hoffnungen. Für Fabian Hinrichs ist Regie im Wesentlichen als Partner­
schaft akzeptabel („Die Stücke entstehen zusammen.“), während
Ulrich Matthes sagt: „Ich bemühe mich immer, mich zu fordern und
45
Schauspiel
über meine schauspielerischen Mittel hinauszukommen. Aber das
Entscheidende tragen letztlich die Regisseure bei. Je nachdem, wie
sie einen angucken, wie sie über einen lachen, wie sie einen in die
Schranken weisen.“ Für Edith Clever oder Wiebke Puls
ist es ebenfalls von größter Bedeutung, wie sie von einem Regisseur
gesehen beziehungsweise erkannt und gefordert werden. Wobei es –
darüber herrscht weitgehend Einigkeit – an Regisseuren großen
Kalibers definitiv mangelt. Die Lücke, die der Tod namentlich von
Jürgen Gosch vor fünf Jahren gerissen hat, klafft noch immer spürbar.
Jens Harzer resümiert sogar: „Mit Regisseuren ist man ohnehin allein,
die haben davon eh zu 95 Prozent überhaupt keine Ahnung.“ „Davon“
meint hier: von der höheren Wirklichkeit einer Figur. Dass Wirklichkeit
stets mehrfach codiert ist, ist das Geburtsmerkmal der Kunstform.
Es gibt die Lebenswirklichkeit des Schauspielers auf der Bühne (und
des Publikums im Zuschauerraum), die Wirklichkeit der Rolle und die
Wirklichkeit dessen, was damit eigentlich ausgedrückt werden soll.
Der Übergang von der eigenen in die andere(n) Wirklichkeit(en)
ist für Josef Bierbichler allerdings im Laufe seiner Karriere so problematisch geworden, dass er schon vor einigen Jahren aufgehört hat,
Theaterfiguren zu spielen – aus Scham. „Nicht die Scham, scheitern
zu können. Sondern die Scham, aufzutreten und sich herzuzeigen.
Angst habe ich nie gehabt, ich habe auch ganz selten Lampenfieber
gehabt. Aber die Scham, dass ich jetzt aus der Wirklichkeit heraustrete
und irgendein Getue mache.“ In Thomas Ostermeiers Inszenierung
Tod in Venedig / Kindertotenlieder (2013) füllt er die Bühne denn auch
im ersten Teil ohne Text. Im zweiten Teil singt er.
Das „Eigentliche“ ist bei vielen Befragten eine wesentliche Kategorie. Jens Harzer versteht Schauspielen generell als Infragestellung
der Wirklichkeit, weil es darum gehe, das zu spielen, was nicht zu
sehen und nicht zu hören, aber dennoch das „Eigentliche“ sei: die
Sehnsüchte der Figuren und ihre Fragen aneinander, die, laut gestellt,
ihren Existenzen den Boden unter den Füßen wegziehen würden.
Auch für Edith Clever ist dieser Mehrwert des Eigentlichen essenziell:
„Wichtig ist, etwas ahnen zu lassen von noch etwas anderem! Ich
finde, wenn es so banal ist, ist es wirklich furchtbar, wenn die Wirklichkeit nur so abgebildet wird im Theater, und ich gehe so leer nach
Hause, wie ich gekommen bin.“ Und Maren Eggert sagt: „Was auf
der Bühne stattfindet, hat weder mit dem Umgang hinter der Bühne
etwas zu tun noch mit dem sogenannten wahren Leben.“
Ulrich Matthes
Edith Clever
Ein dritter Zustand, eine dritte Sache, um die es Publikum und Schauspielern gemeinsam geht und der beziehungsweise die hin und wieder
erreicht wird und dann alle Mühen beider Seiten belohnt: „Wenn so ein
Zuschauerraum wirklich an einer Situation oder einem Gedanken dran
ist“, sagt Ulrich Matthes, nach dem Vergleich von Publikumsreaktionen
im DDR-Theater und jetzt gefragt, „ist die Art von Stille keine andere
als die, wenn das Publikum aus politischen Gründen nur mit halber
Pobacke aufrecht auf den Sesseln sitzt. Ob ein Mensch aus politischen
oder auch privaten Gründen von etwas bewegt ist, ist mir egal. Ich
halte beides für gleichermaßen wichtig.“ Und auch Joachim Meyerhoff
beschreibt diese besondere Stille: „Es gibt Momente, in denen man
mit den Zuschauern in Kontakt tritt und in denen sich im Theaterraum –
und das unterscheidet das Theater ja wirklich von allen anderen
Medien – die Zeit öffnet und man tatsächlich so ein Dompteur des
Moments wird. In schönen Augenblicken kann man Wahrheit dann
dreidimensional machen und sie sich von allen Seiten angucken.“
Um diesen Moment geht es allen. Und das Verrückte und Beglückende
ist, dass er mit jedem Angang und in jeder Theatersprache, jeder
Spielweise also, erlebt werden kann. Theoretisch zumindest. Oder
wie Edith Clever sagt: „Es wird einem ja nicht geschenkt. Aber es wird
einem dann geschenkt. Unter Umständen.“
Petra Kohse Sekretär der Sektion Darstellende Kunst
J u n g e A k a d e m i e / KUN S TWELTEN
DOUBLE PROJECTION
The folder is empty – we are present
PerformanceNACHT
10.10. ab 17 h, Halle 3
Das performative Gruppenprojekt der Stipendiatinnen und Stipendiaten
2013 wird eine flexibel ausgestattete Laborsituation zwischen den
Künsten herstellen. Auch das frei sich darin bewegende Publikum ist
aktiv mit einbezogen; denn es gibt keine Bühne, nur lose Stühle und
Kissen. Sie befinden sich alle auf gleicher Ebene, teilen miteinander
einen Raum, eine Anwesenheit und Wirklichkeit. Das Gemeinschafts­
projekt lebt von wechselseitigen Projektionen im Zwischenmenschlichen
wie im Zwischenkünstlerischen. Neue Arbeiten entstehen ad hoc
oder auf dem Prinzip des Dialogs; zwischen den Kunstsparten vor­
produziertes Material wird präsentiert, möglicherweise auch diskutiert.
Wie freie Radikale werden Fragmente in den gemeinsamen Raum
geschickt, wo sie sich mit etwas Anderem verbinden können: Ein Film
reagiert beispielsweise auf eine Komposition, ein Gedicht auf eine
Installation, eine Performance auf einen Romansplitter, die Frage eines
Gastes generiert eine Diskussion … Wir projizieren aufeinander, um
besser sehen zu können – uns und was uns umgibt. Das Gegenüber
als Spiegelfläche oder Widerstand bestimmt solche Wechselwirkungen,
die wiederum die Sinne für die Präsenz im Augenblick schärfen.
Nichts entsteht im luftleeren Raum. Alles bezieht sich aufeinander,
setzt Schwingungen in Gang oder entsteht aus der Interferenz zwischen
inneren und äußeren Wirklichkeiten. Ein Prozess künstlerischer und
sozialer Interaktion stellt sich selbst aus. Singend, Gedichte rezitierend,
Filme projizierend, Räume bauend, Räume tanzend oder Weintrauben
essend – was auch immer wir tun werden, wie wir es tun werden, wird
von höchster Bedeutung sein. Unsere Anwesenheit ist das Thema, der
komplexe Schwindel des Hier und Jetzt. Ziel ist die Reflexion unserer
jeweiligen Wahrnehmungen von Wirklichkeit, indem wir selbst wirklich
sind und immerzu Wirklichkeit herstellen.
Maria Mohr Filmemacherin, stellvertretend für die Gruppe der Stipendiaten 2013
Ein Projekt der Stipendiaten der Jungen Akademie 2013:
Christos Asteriou (Schriftsteller), Farid Fairuz (Performer),
Assaf Gruber (Bildender Künstler), Laurynas Katkus (Schriftsteller),
Gábor Péter Mezei (Komponist, Musiker), Sabelo Mlangeni (Fotograf),
Maria Mohr (Filmemacherin), Bojana Šaljić Podešva (Komponistin),
Ragunath Vasudevan (Architekt, Fotograf) und Elia Verganelaki
(Schauspielerin, Musikerin).
Leiter der Jungen Akademie: Christian Schneegass
Das Projekt wird ermöglicht durch die freundliche Unterstützung
der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.
Kunstwelten
Künstlerinnen und Künstler der Akademie laden Kinder, Jugendliche
und junge Erwachsene ein, sich in Animationsfilm-, Tanz-, Foto­
grafie- und Medienwerkstätten sowie einer Plakataktion kreativ
mit Medien, Computerspielen und Werbung auseinanderzusetzen.
Die Schülerinnen und Schüler vieler Berliner Schultypen stellen ihre
Erlebnisse diesen inszenierten Welten gegenüber, lernen in den
Kunstprojekten ungeahnte Möglichkeiten für die Darstellung ihrer
Wirklichkeit kennen und erleben, wie perspektivenreich, differenziert
und spannend sie ihre eigenen Geschichten erzählen können. In
einem Architekturprojekt untersuchen sehbehinderte Kinder das Haus
der Akademie am Hanseatenweg und bauen ein Modell, das ihre
Entdeckungen zeigt. Alle Schülerwerkstätten finden in der Akademie
der Künste, Hanseatenweg 10, statt. Mit Anmeldung!
Wenn ich ein Superheld wäre, dann …
Animationsfilmwerkstatt für Schüler ab Klasse 4
mit Constanze Witt und Claus Larsen, 22.–26.9., jeweils 9–13 h
Alles Lüge! Selber groß werben
Plakatwerkstatt für Schüler ab Klasse 5 mit Jakob Michael Birn,
30.9.–2.10. sowie 10.11./11.11., jeweils 9–13 h
Einmal Facebook und zurück?
Medienwerkstatt für Schüler ab Klasse 9 mit Kathrin Röggla,
16.10./17.10., jeweils 9–13 h
EchtNichtWahr – Von falschen Nachrichten und echten Gerüchten
Fotografiewerkstatt für Schüler ab Klasse 6 mit Rolf Giegold,
16.10./17.10. sowie 4.11./5.11., jeweils 9–13 h
Tanzende Daten
Tanzwerkstatt für Schüler ab Klasse 4 mit Mareike Franz
und János Kachelmann, 17.–21.11., jeweils 9–13 h
Touch me – Ein Tastmodell der Akademie am Hanseatenweg
Architekturwerkstatt für sehbehinderte Kinder mit Jakob
Michael Birn, 1.–5.12., jeweils 9–12 h
46
47
Ta n z
Mistral
Eine Tanzproduktion von und mit
Susanne Linke und Koffi Kôkô
17./18./19.10.
20 h, Studio
Euro 15/10, es gilt die Tanzcard.
Mein Körper ist der Ort, von dem es kein Entrinnen gibt, an den
ich verdammt bin. Ich glaube, alle Utopien sind letztlich gegen ihn
geschaffen worden, um ihn zum Verschwinden zu bringen.
Der Körper ist der Nullpunkt der Welt, der Ort, an dem Wege und
Räume sich kreuzen. Der Körper selbst ist nirgendwo. Er ist der kleine
utopische Kern im Mittelpunkt der Welt, von dem ich ausgehe, von
dem aus ich träume, spreche, fantasiere, die Dinge an ihrem Ort wahrnehme und auch durch die grenzenlose Macht der von mir erdachten
Utopien negiere. Mein Körper gleicht dem Sonnenstaat. Er hat keinen
Ort, aber von ihm gehen alle möglichen realen und utopischen Orte
wie Strahlen aus.
Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper.
Zwei Radiobeiträge, Berlin 2013
Susanne Linke und Koffi Kôkô, Probe zu „Mistral“, Juli 2014
Was geschieht, wenn sich zwei Performer ausschließlich auf ihr jeweiliges Körperwissen zurückziehen? Welche Ebenen von Kommunikation
können zwischen Körper und Körper auf einer Bühne entstehen? Ein
solches Experiment ist nur zu wagen mit Tänzern, die in ihren Arbeiten
diese Möglichkeit einer radikalen körperlichen Auseinandersetzung
zulassen können. Deswegen setzt das Konzept dieser Produktion
unmissverständlich auf zwei Tänzer, die aus zwei sehr unterschiedlichen, jedoch hochentwickelten Bewegungstraditionen kommen.
Susanne Linke verkörpert wie keine andere Performerin das Wissen
des modernen Tanzes in Deutschland, von Mary Wigman über Folkwang bis zum Tanztheater. Und Koffi Kôkô schöpft aus einer hochentwickelten, jahrhundertealten Tradition von Übergangsritualen der
westafrikanischen Kultur. Beide agieren mit ihren Körpern als einer
jeweils einzigartigen Wissensbibliothek. Und beide sind Ausnahmetänzer, die in ihren Choreografien ihre Biografien, ihre gesellschaftspolitischen, kulturellen oder geistigen Traditionen verarbeitet haben.
Wie behaupten sie mit ihrer Technik, ihrem Wissen, ihrem
Verständnis von Raum, von Energie, von Kraft, von Geschlecht, von
Materie und Transzendenz einen offenen Dialog, der den Körper ins
Zentrum stellt? Denn zugleich erzählen beide eine hoch aufgeladene
Geschichte zwischen Weißer Frau und Schwarzem Mann, zwischen
Tänzerin und Tänzer, zwischen Europa und Afrika, zwischen Tradition
und Moderne. In diesem Spannungsfeld zwischen Erinnerung und
Begegnung entfaltet sich das Tanzstück. Beide Tänzerchoreografen
kennen sich seit vielen Jahren und wissen gegenseitig um ihre tänzerische und choreografische Arbeit. Beide bekennen sich zu einer
abstrakten Bewegungssprache als Basis tänzerischer Kommunikation.
Dabei geht es auch um das Geheimnis der Bühnenpräsenz. Wie kann
ein Tänzer das maximale Bewusstsein seines Körpers entwickeln,
um im Dialog mit dem Raum das Unsichtbare sichtbar zu machen? Wie
entsteht Ausdruck auf einer Bühne, in der die Erinnerungen des Körpers,
die seelischen und emotionalen Dimensionen eines Performers
Gestalt finden? Wie entwickelt der Tänzer seine Aura, durch die er mit
dem Raum, mit dem Bühnenpartner und dem Publikum kommuniziert?
Im Frühjahr des Jahres 2013 trafen sich Susanne Linke und Koffi Kôkô
im Café Mistral am Théâtre de la Ville im Zentrum von Paris, um über
eine mögliche Kooperation zu sprechen. Von Tänzer zu Tänzer, von
Körper zu Körper, wollten sie einen Dialog beginnen, der die geistige
und emotionale Dimension von zeitgenössischer Bewegung syste­
matisch untersucht und das Wissen ihrer jeweiligen Ausbildungen und
Ta n z
Kommunikationsformen zusammenführt. Tänzerische Präsenz, Körper­
gedächtnis, Technik, kultureller Kontext und Geschlecht werden zu
Ausgangspunkten einer einzigartigen Begegnung von performativem
Wissen und gesellschaftspolitischen Fragen.
In der Performancekunst oder dem Tanz schauen wir im Rückblick
auf das 20. Jahrhundert auf eine Körpergeschichte der Moderne.
Der Körper als Widerstand gegen gesellschaftliche Normen, als Medium
der Erinnerung, als Rebellion gegen Vergessen und Unterdrückung,
als Möglichkeit der Grenzüberschreitung. Der Butoh in Japan, das Tanztheater in Deutschland oder der zeitgenössische Tanz in Afrika erzählen
diese Geschichten ebenso wie die Performancekunst.
Zugleich ist der Körper wie nie zuvor der Virtualisierung und der
künstlichen Reproduktion ausgesetzt. In den sozialen Netzwerken,
in der Erschaffung von neuen lebendigen Kunstwelten oder der Reproduktionsmedizin wirkt die Behauptung des Körpers als Wirklichkeit
der Begegnung überholt. Der Tänzer mit seinem Körper auf der Bühne
oder der politische Aktivist mit seinem Widerstand auf der Straße
erscheinen als archaische Behauptungen von Existenz oder hoffnungslose Nostalgie. Dennoch sind es gerade die Menschen mit ihren
Körpern, mit ihrer Präsenz, die gesellschaftliche und individuelle Veränderung auslösen.
Susanne Linke fragt nach den Bezügen zwischen körperlichem Wissen
und emotionalen Zuständen, wie sie sie systematisch in ihrer Auseinandersetzung mit Dore Hoyers Affectos Humanos untersucht hat.
Dafür ist eine große Transparenz und Durchlässigkeit des Körpers notwendig, die nur durch ein einzigartiges Trainingsprogramm, das Susanne
Linke über Jahrzehnte herausgearbeitet hat, möglich geworden ist.
„Ich war lange bei Hans Züllig an der Folkwangschule. Der sagte ganz
banal: Den Fuß vor und das Knie zur Seite. Und das hat er zehn Jahre
lang gesagt. Ich habe mich gefragt, ob dem nichts anderes einfällt.
Indem er aber nichts gesagt hat, hat er uns erfahren lassen, was in uns
steckt, emotional, geistig. Deswegen rede ich im Unterricht auch
nie über diese Themen. Das ist eine andere Seite. Auf der Bühne helfen
kein Reden und kein intellektuelles Wissen. Der Körper muss funktionieren.“ (Susanne Linke)
Der Tänzerchoreograf Koffi Kôkô hält an seinem Weg der zeitgenössischen Interpretation und Erneuerung der afrikanischen Tanztraditionen
fest. Auf der einen Seite nutzt er das immense Wissen seiner traditionellen spirituellen und rituellen Kultur, auf der anderen Seite sucht er
den Ort der westlichen Theatertradition, die Black Box. Für Koffi Kôkô
ist das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Spiritualität, in der unser
Verhältnis zur Welt aus der körperlichen Erfahrung heraus mitbestimmt
wird. „Wie können wir uns dem einfachen Leben zuwenden? Die Einfachheit wird essenziell sein, um einen inneren und äußeren Frieden
zu finden. Das wird ohne die Beschäftigung mit dem Körper nicht möglich sein. Der Körper, der in den großen Religionen aus der spirituellen
Erkenntnis ausgeschlossen wurde, muss eine zentrale Rolle spielen.
Wenn du dir die verschiedenen Zivilisationen anschaust, dann hat
der Körper drei zentrale Funktionen. Der Körper ist die Basis unserer
materiellen Existenz, ist der Speicher unserer Erinnerung und das
spirituelle Medium der Veränderung.“ (Koffi Kôkô)
Johannes Odenthal Programmbeauftragter der Akademie der Künste
Gefördert durch: Hauptstadtkulturfonds
Valeska-Gert-Gastprofessur für
Tanz und Performance 2014/15
Antrittsvorlesung: Koffi Kôkô
In Kooperation mit der Freien Universität Berlin und
dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD)
14.10.
19 h, Halle 3
48
49
Baukunst
Metabolische Therapien
zur Reparatur
von Stadt-Wirklichkeit
Ein Symposium über Globalisierung,
Immobilienblasen und Konsequenzen
für die Stadtentwicklung
Während sich Stadtbewohner, Entwickler, Stadtplaner und Architekten
über die Erscheinungsbilder des öffentlichen Raums und der Fassaden
streiten und die Debatten immer noch in der Stilkritik des 19. Jahr­
hunderts verharren, haben sich die Grundlagen der Stadtentwicklung
seit der Jahrtausendwende komplett verändert.
Diese Grundlagen wurden in den 1970er-Jahren in den angelsächsischen Ländern gelegt: Milton Friedman vertrat mit seiner „Trickle-­
Down“-Theorie die Auffassung, dass durch Steuerminderung bei den
Reichen Mittel frei würden, die nach und nach den weniger Bemittelten
zugute kommen würden. Daraus entwickelten sich „Reagonomics“
und „Thatcherism“ mit der Privatisierung öffentlicher Infrastruktur
und Daseinsfürsorge, einschließlich des sozialen Wohnungsbaus,
sowie der Minderung öffentlicher Ausgaben in diesen Bereichen. Im
Finanzwesen wurde durch den Big Bang von 1986, also die Deregulierung von Märkten und Produkten, eine sukzessiv immer volatiler
werdende Parallelwelt zur Realwirtschaft geschaffen. Der Big Bang
begann nicht nur mit einem Knall am Anfang, sondern erreichte mit der
Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers Ende 2008 einen
Zwischenhöhepunkt. Die Vertrauenskrise innerhalb der Finanzwelt
ist noch nicht überwunden, wie die bis heute verfolgte Geldmarktpolitik
der größten Zentralbanken der Welt bestätigt.
War vor dem Big Bang das produzierende Gewerbe hinsichtlich
des Handelsvolumens ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, so wuchs
sowohl die Bedeutung als auch das Kapital in den neuen Finanz­-
Symposium
Kuratiert von Wilfried Wang
Mit u. a.: Tuncer Çakmakli, Gerd Hille, Barbara Hoidn, Andrej
Holm, Theresa Keilhacker, Engelbert Lütke-Daldrup, Cordelia
Polinna, Thomas Sieverts, Wilfried Wang, Stefan Weber
23./24.10.
ab 19 h
Halle 3
ab 17 h (Teil 1) + 20 h (Teil2)
bereichen und -produkten bis 2007 um ein Mehrfaches dessen an.
Mit dem Absturz im Finanzsektor 2007–2008 gerieten sämtliche
spekulativen Finanzprodukte in den Strudel der Vertrauenskrise. Großund Staatsbanken weltweit konnten nur mit Steuergeldern liquide
gehalten werden. Umfangreiche Kapitalabflüsse von Klein- und Großanlegern aus allen Produktbereichen führten auch bei Staatsanleihen
zu Stabilitätskrisen. Island, Irland, Großbritannien, Griechenland,
Spanien, Portugal, Italien, Zypern und Slowenien wurden vom Finanzmarkt nach dem Prinzip „Greife das schwächste Bindeglied an und
bringe es zu Fall“ behandelt. Die nach außen hin für fiskalische Nachhaltigkeit plädierenden Finanzinstitutionen, insbesondere die eigentlich
ethisch fragwürdigen angelsächsischen Investoren, konnten nun einzelnen Ländern erneut ihr Wirtschaftsmodell diktieren. Mangelnde
Solidarität unter den Politikern führte dazu, dass einzelne Länder dem
gnadenlosen Gebaren der Kreditgeber überlassen wurden, mit dem
Argument, dass jeder seine Hausaufgaben zu erledigen habe. Das Ergebnis hiervon ist, dass einzelne Länder der EU nun über mehrere Jahre
genau nach der veralteten Friedman’schen Theorie überleben müssen.
Baukunst
Nuno Cera, aus dem Zyklus Futureland (beide Abb.)
Alle Personen in der Realwirtschaft, die in dieser Zeit über liquide Mittel
verfügten und noch verfügen, haben sich gut überlegt, bei welcher
Institution, bei welchem „Produkt“ und an welchem Ort dieses Kapital
noch sicher angelegt werden konnte und kann. Staatsanleihen waren
zeitweise verpönt, melden sich aber allmählich wieder als relativ solide
zurück. Gold und Silber wurden unmittelbar nach 2008 hoch gehandelt.
Im besonderen Fokus aber standen und stehen Immobilien als Anlage­
produkt: das sogenannte Betongold.
Mit der anhaltenden Vertrauenskrise innerhalb der Finanzwelt
und der restriktiven Vergabe von Krediten durch die Banken haben die
Zentralbanken den nicht mehr korrigierbaren Fehler gemacht, auf
Dauer billiges Geld in den Markt zu pumpen, anstatt die Politik aufzufordern, den Finanzmarkt neu zu regulieren. Ein Kollateralschaden
dieser Geldmarktpolitik ist die zunehmende Unattraktivität des Sparens. Personen der Realwirtschaft befinden sich also auch deswegen
auf der Suche nach anderen, renditestärkeren Anlagen.
Wurden die Steueroasen in den letzten Jahren allmählich ausgetrocknet, anfangs durch das Aufbrechen des Schweizer Bankgeheimnisses durch die US-amerikanische Steuerbehörde, so mussten viele
Personen in der Realwirtschaft, die liquide Mittel in Steuer­oasen hinterlegt hatten, überlegen, wie diese Mittel, diese Schäfchen, wieder ins
Trockene gebracht und damit weißgewaschen werden konnten.
Fazit: Die Finanzkrise von 2008, die dadurch ausgelöste tiefgreifende Vertrauenskrise in die Finanzwirtschaft, die lockere Geldmarktpolitik der Zentralbanken und das Trockenlegen von Steueroasen
haben weltweit dazu geführt, dass Immobilien zunehmend als sichere
Anlage betrachtet werden.
Das potenzielle Investitionsvolumen in Immobilien übersteigt wiederum jenes des produzierenden Gewerbes. Es steht also eine gewaltige
Liquiditätswelle bevor. Auf Städte wie Berlin, in der einerseits die
Immobilienpreise im internationalen Vergleich lächerlich niedrig liegen
und andererseits das Verkaufspotenzial vergleichsweise riesig ist
(ca. 12 Prozent Eigentumswohnungen im Verhältnis zu 88 Prozent
Mietwohnungen), steuert die Liquiditätswelle mit Hochdruck zu.
Wird eine Stadt wie Berlin zu einem Frankfurt am Main des 21.
Jahrhunderts? Zu einer Stadt, in der Entmietungstrupps unterwegs
sein werden, um alteingesessene Mieter psychologisch zu „betreuen“,
ihnen sukzessive Strom, Wasser und Gas abzudrehen, Fenster zuzumauern, sie mit potenziellen Käufern zu traktieren? Oder über ganz
gesetzliche Methoden und legale Mietsteigerungen ein Haus zu
entmieten? Wie sinnvoll ist es für ein urbanes Leben und für das soziale
Gefüge einer Stadt, Wohnungen an Anleger zu verkaufen, die nur ab
und an für ein längeres Wochenende in ihr übernachten?
Berlin ist wieder Frontstadt. Hier wird es sich zeigen, ob die städ­
tische Gesellschaft den politischen und ökonomischen Durchblick hat,
sich erstens Politiker zu wählen, die nicht nur altgediente Strukturen
und Abhängigkeiten bedienen, sondern auch überzeugende neue
Paradigmen des Gemeinwohls entwickeln, die sich letztlich auch in
neuen städtebaulichen und architektonischen Modellen ausdrücken;
und zweitens sich selbst zu einer kritischen, damit mündigen und
schließlich konsensfähigen Stadt des Volkes zu bilden.
Das zweitägige Symposium behandelt den Verfall der alten Paradigmen und schlägt neue Paradigmen und Leitbilder vor. Zu Vorträgen
und Debatten eingeladen sind Vertreter anderer europäischer Städte,
Immobilienwirtschaftler, Fachjournalisten, Stadtplaner und Politiker.
Wilfried Wang Architekt, Publizist und stellvertretender Direktor
der Sektion Baukunst
50
51
Medienkunst
S y m p o s i u m NG B K
Im Rahmen des Symposiums „Der Metabolismus des sozialen Gehirns“
werden aktuelle politische, kulturelle und ästhetische Diskurse an der
Schnittstelle zwischen Neurowissenschaften, Philosophie und Kunst
untersucht. Neurowissenschaftler und Philosophen haben das Gehirn
stets als ein nach außen gerichtetes kollektives Organ und das Bewusstsein als einen komplexen, mehrschichtigen Simulationsprozess
der Realität betrachtet (Thomas Metzinger). „Das Gehirn sagt Ich,
aber Ich ist ein anderer“, schrieben schon Gilles Deleuze und Félix
Guattari in ihrem letzten gemeinsamen Buch.
Mit dem Symposium sollen das Paradigma des biologistischen
und neurowissenschaftlichen Reduktionismus und deren mediale
Virulenz umgedacht und das Gehirn als politisches Organ par excellence erkundet werden. Die neurowissenschaftliche und philosophische
Entdeckung der Spiegelneuronen durch Vittorio Gallese, der Ansatz
des Enaktivismus (Alva Noë) und die Akan-Philosophie des Menschseins (Kwame Gyekye) werden mit den Künsten in einen experimentellen
Dialog gebracht.
Das Gehirn als soziale Entität spielt auch in der Geschichte des
politischen Denkens eine wichtige Rolle: von Spinoza über die sowjetische Psychologie (Lew S. Wygotski) bis hin zur visionären Denkfigur
des „general intellects der Multitude“ als Kern des zeitgenössischen
kognitiven Kapitalismus (Antonio Negri, Paolo Virno et al.). Die Plastizität des Gehirns (Catherine Malabou) ist zu einem Synonym für die
Forderung nach kognitiver Flexibilität in der alltäglichen Arbeitswelt
des zeitgenössischen Kapitalismus geworden.
Das Symposium ist Teil des Ausstellungsprojekts The Ultimate
Capital is the Sun – Metabolismus in Kunst, Politik, Philosophie
und Wissenschaft der neuen Gesellschaft für bildende Kunst,
20. September bis 16. November 2014.
Symposium
Trevor Paglen, Detachment 3, Air Force Flight Test Center #2, Groom Lake, NV, Distance ~ 26 Miles, 2008
Im Taumel.
Auf der digitalen Schwelle
Reeling/Realing. On the Digital Threshold
Symposium
Kuratiert von Mark Butler und Jan Distelmeyer mit Jutta Brückner, Ulrike Roesen
Vorträge, Präsentationen und Diskussionen mit
A MAZE. / Thorsten S. Wiedemann
Dirk Baecker
Mark Butler
Wendy Hui Kyong Chun
Gabriella Coleman
Jan Distelmeyer
Thomas Elsaesser
Heather Kelley
Evgeny Morozov
Molleindustria / Paolo Pedercini
Julian Oliver / Danja Vasiliev
Paidia Institute / Lasse Scherffig
Anne Quirynen
Atau Tanaka
Simon Vincent
u. a.
In Zusammenarbeit mit A MAZE. sowie dem
Kooperationsstudiengang Europäische Medienwissenschaft
FH Potsdam/Universität Potsdam
Euro 7/5 je Tag , Halle 3
Das Ticket berechtigt zum Besuch
der Ausstellung am selben Tag.
26./27.9.
ab 16 h ab 10 h
Mit der Verbreitung digitaler Medien in allen Lebensbereichen –
ob Kunst und Wissenschaft, Medizin und Ökonomie, Politik und Krieg,
Spionage und Alltag – ist die Kultur der fortgeschrittenen Moderne in
ein dynamisches Zwischenreich eingetreten. Die Welt dieses Zwischen­
reichs ist permanent in Bewegung, getrieben von den rasanten
Transformationen des Digitalen, die zwischen neuen Freiheitsgraden
und einem Zuwachs an Kontrollmechanismen oszillieren.
Vor diesem Hintergrund die digitale Schwelle in den Fokus zu
rücken, kontert die dominante Fiktion, der Siegeszug des Digitalen
habe eine neue Ära eingeläutet (und eine andere damit zwangsläufig
beendet). Auch gegenwärtige Debatten zur NSA-Affäre und zu dem
enttäuschten Abgesang auf das Internet bemühen Visionen einer
Gegenüberstellung, in denen nicht selten die alte Vorstellung vom
Digitalen als Optimierungstechnologie wiederkehrt.
Als Ort des Übergangs, des Austauschs und der Berührung fragt
die Schwelle nach unserem Umgang mit und unserer Beziehung zu
digitaler Technologie. Sie lenkt den Blick auf Prozesse des Verhandelns.
Dieses Interesse an Übergängen, Wechselbeziehungen und diversen
Strategien des Aushandelns prägt die Struktur des Symposiums und
sein Ziel, unterschiedliche Hintergründe, Disziplinen und Ausdrucksformen von Wissenschaft und Kunst miteinander in Austausch treten
zu lassen.
Kuratiert von der nGbK-Projektgruppe Elena Agudio, Dorothee
Albrecht, Bonaventure Ndikung, Matteo Pasquinelli, Eylem Sengezer
in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste
Der Metabolismus
des sozialen Gehirns
Aktuelle Informationen und Programm auf www.ngbk.de und
www.schwindelderwirklichkeit.de
25./26.10.
ab 19 h ab 11 h
Studio, Halle 3
In zeitgenössischer Kunst,
Neurowissenschaften und Philosophie
hkeit.de
www.schwindelderwirklic
Das griechische Wort metabolē bedeutet ursprünglich „verändern“
und wörtlich „umstürzen“. In Zeiten globaler klimatischer und gesellschaftlicher Veränderungen, die von Menschen verursacht werden,
scheint eine Erweiterung der Idee des Metabolismus zentral für das
Verständnis gegenwärtiger und zukünftiger Politiken zu sein. Mit der
Ausstellung wird untersucht, wie das Denkmodell des „Metabolismus“
in der Gegenwartskunst verstanden wird. Dabei wird ein Dialog mit
der philosophischen und wissenschaftlichen Forschung jenseits eurozentrischer Perspektiven eingegangen. Im Hinblick auf das parasitäre
Verhältnis des irdischen Lebens zum Kosmos bezeichnete der franz­
ösische Philosoph Michel Serres in seinem Buch Der Parasit die Sonne
als unseren energetischen Horizont und als das „ultimative Kapital“.
Wie auch viele andere wissenschaftliche Ideen entwickelte das Konzept
des Metabolismus, als es in der Biologie und Chemie des 19. Jahrhunderts auftauchte, eine enorme Anziehungskraft und verbreitete sich
in Kunst und Politik. So konstatierte auch Karl Marx einen durch die
industrielle Revolution hervorgerufenen „metabolischen Riss“ und
entwarf einen sozialen Metabolismus lange vor der Entstehung des
modernen Umweltbewusstseins. Die Ausstellung The Ultimate Capital
is the Sun bringt Künstlerinnen, Philosophen, Wissenschaftlerinnen
und Kuratoren zusammen, um die unterschiedlichen Felder des Metabolismus zu erforschen – ohne ein Gravitationszentrum festschreiben
zu wollen.
52
53
Monika Rinck
Kirmes
und
Kritik
Thomas Wrede
Dari King Drive-in, 2007
Nach der Flut (I) / After the Flood (I), 2012
Muss ich den Schwindel kritisieren oder ist der Schwindel bereits Kritik
an der Situation, aus der er hervorgeht – und zwar die genaueste Kritik,
zu der mein Gleichgewichtssinn und meine Auffassungsgabe in diesem
Moment fähig sind? Halt, was macht denn der Schwindel mit dem definierten Artikel? Braucht oder missbraucht er ihn? In einer zentrifugalen
deiktischen Bewegung lässt sich nur schwer auf definierte Einzel­
heiten weisen, ohne damit automatisch alles im Umkreis Vorhandene
mitzumeinen.
Weitergefragt: Gilt es, (den) Schwindel herauszurechnen oder
erreiche ich Klarheit nur, wenn ich auch die schwindeligen Anteile meines
Aufbaus, meiner Wahrnehmung berücksichtige? Lässt sich Schwindel
im Sinne der Erkenntnis nutzen, kommt er uns zu Hilfe, indem er uns
auf eine bewegungsarme Wirklichkeit auflaufen lässt? Hilft er uns,
endlich herauszustolpern? Ins Licht zu stürzen? Und: Kommt er von
außen oder von innen? Fügt er etwas hinzu oder nimmt er etwas weg?
Diese Fragen kann man gegenüber Schwindelphänomenen jederzeit
in Stellung bringen wie Besteck.
Wir kennen Körperschwindel, der evident wird im Sturz, hier ist
kein Zweifel mehr nötig – und die Schwindelei, die lügenderweise neue
Evidenzen herstellen will.1 Gemäß Umberto Ecos launischer Definition
der Semiotik beschäftigt sich diese mit allem, was als Zeichen taugt,
das heißt, mit allem, was man zum Lügen benutzen kann, denn erst
nach Eintritt dieser Unterscheidung stellt sich Bedeutung her. In dieser
Hinsicht ist es also der Schwindel, der wahrheitsfähige Zeichen erschafft. Schwindel im Dienste der Wahrheit haben sich jeden Moment
aufs Neue als tauglich zu erweisen. Daher könnte Schwindel verwendbar
sein, um zu einem kritischen Bewusstsein des gegenwärtigen Moments
zu gelangen oder nicht.
Rausch- und Taumelspiele steigern schwindelnd die Erfahrung
körperlicher Evidenz. Wir kennen aber auch den geistigen Schwindel,
sagen wir, bei blitzartigen Konversionen. Ich werfe mich aus dem
rasenden Behälter, das Fell meiner Seele in Stromlinien gelegt. Der
Schwindel lässt nach, in kleiner werdenden Pendelbewegungen
des Gemüts. Es schaukelt der Inhalt meines Gedankens – in seinem
bald schon ganz beruhigten Behälter.
Denken wir an eine schwindelnde Hermeneutik – ganz im Sinne
ihres Paten Hermes, der sich erst wenige Tage alt als sprechender
Säugling den Respekt des Pantheons durch besonders dreiste Lügen
erkämpfte2. Ich stelle mir ein quasi bewegungsprismatisches Gelenk
vor, das zwischen zwei Schreib- und Deutungsweisen vermittelt:
zwischen der medizinisch-therapeutischen Schreibweise, die auf feste
Verbindungen zwischen dem Phantasma und seiner Herkunft aus ist,
und der poetischen Schreibweise, für die die Unterscheidung zwischen
Fiction und Non-Fiction überhaupt keine Geltung hat. Dieses Gelenk
sorgt für einen zentrifugalen Schwindel der Deutung oder ein rotie­
rendes Bezugssystem. Wenn ich, was bewegt ist, als Griff ansteuere,
dann muss ich fallen. Wenn ich es als Antrieb nehme, kann es mir
sehr hilfreich sein.
In dieser Weise bewegt, möchte ich auf die Kirmes, das Fest der
beschleunigten Leiber zu sprechen kommen. Am Übergang von der
liturgischen Ordnung der Messe zur nur vordergründig ganz und gar
gegenteiligen „mess“, die uns im Stoßseufzer „What a mess!“ begegnet,
geht es auf die Kirmes, deren kultischer Ursprung in der Kirchmesse
liegt. Wie schon der Abt des Klosters Hersfeld, auf den das Lullusfest
zurückgeht, einst sagte: Lasst bitte immer einen Spalt breit offen
zum Formlosen.
Die Kirmes ist im frühen Mittelalter kultisch eingebettet und
meint die zur Einweihung einer Kirche gelesene Messe und das im
Anschluss stattfindende Kirchweihfest, an dem Gaukler, Händler,
Spielleute und Artisten teilnahmen.3 Der vom jeweiligen Souverän
verbürgte Marktfrieden, genannt „frey zeyt“, der dem sicheren Warenaustausch galt, stellte auch das fahrende Volk unter Schutz.4 Vom
mittelalterlichen Rechtsbegriff „frey zeyt“ leitet sich der moderne
Begriff der Freizeit ab, die ursprünglich keine arbeitsfreie Zeit meinte,
sondern eine Zeit, in der ich nicht befürchten musste, umgebracht
oder überfallen zu werden.
Demnach war das Jahrmarktsvergnügen anfangs religiöses Ritual,
praktische Heiligenverehrung, Ruhe und Schonung, dann aber bald
Aufruhr der Sinne: das Rasen der Reize. Was wurde in der Neudeutung
abgewehrt, was übersteuert, was umgenutzt? Stichworte sind hier:
Profanierung und Wiederverzauberung. Ich nutze die Zentrifugalkraft
zur Herstellung von Nähe. Ihr habt keine Chance.
Eine These des Kirmesforschers Sacha Szabo besagt, Fahrgeschäfte ermöglichten das Erleben des Jenseits, bevor es unwiderruflich
eingetreten sei und konfrontierten auf nicht tödliche, ja vergnügliche
Art mit der Frage des Todes. So gewährt man den Durchgeschüttelten
einen schnellen Blick hinein in das Totenreich zur Charmierung der
Unsterblichkeit, doch manch abgewirtschaftetes Volksfest wirft einen
schlecht geschnittenen Perlon-Schatten auf die Ewigkeit, in der
todlose Menschen mit immer schlechter werdenden Zähnen übersüßte
Dinge zu sich nehmen und jedes Fahrgeschäft zehntausendfach
gefahren ist.
Doch der Jahrmarkt war nur Umweg. Wir sind ja unser eigenes
Taumelspiel im Musenhain. Wir haben den Schwindel gleichsam immer
dabei und um ihn mittels manipulativer Körperdrehung aufzurufen,
sind wir uns selbst genug. Tut denn die Vorstellungskraft etwas anderes? Hier möchte ich den Begriff der proflexiven Blindheit vorstellen,
der mir erstmals bei Marcus Steinweg begegnet ist.5 Steinweg sieht
die Kunst eingeschränkt durch die ihr angetragenen Erwartungen, den
politischen, historischen, ökonomischen Kontext zu reflektieren, und
beklagt, dass „wir der Kunst kaum noch zugestehen [wollen], dass sie
nicht nur kritisch und reflexiv, sondern auch affirmativ und proflexiv
sein muss, um Kunst zu sein“. Denn in der Kunst wie in der Philosophie
gebe es ein Moment der Selbstentsicherung, eben der proflexiven
Blindheit. „Das Subjekt der Kunst und der Philosophie ist Subjekt einer
Selbstüberstürzung und Hals-über-Kopf-Dynamik, die es über sich
hinaus beschleunigen lässt. Wohin? Dorthin, wo es noch nicht war.“6
Heißt das also: Ja-Sagen zum Schwindel? Mehr Jahrmarkt in die
Produktion? Den ganzen Schwindel ausnutzen, als Verbindung zu
den rezeptiven Qualitäten des Körpers und ihrer gegenwärtigen Überlastung? Nehmen wir die innere Kirmes als Aktualisator der Erfahrung,
den Schwindel als Signal, das gedeutet werden will, und schauen
wir, was zu finden ist in den Figuren der Sinnabstinenz und der Sinnverausgabung sowie in der Drehung.
Monik a Rinck ist Schriftstellerin und Mitglied der Akademie der Künste.
1
2
3
4
5
6
Siehe hierzu auch Oscar Wilde, The Decay of Lying. Selected Writings. London:
Oxford University Press 1961; darin: eine ästhetische Verteidigung der Lüge.
Siehe hierzu: Lewis Hyde, Trickster Makes This World. Mischief, Myth, and Art.
New York 1998. Insbesondere das Kapitel „The First Lie“ sowie den Appendix:
„The Homeric Hymn to Hermes“.
Jahrestage von Heiligenerscheinungen wurden ebenso gefeiert, so „Die Herforder
Vision“, ein Jahrmarkt, der auf eine Marienerscheinung im 11. Jahrhundert zurückgeht und der zuletzt im Jahr 2011 gefeiert wurde. Dies entnehme ich der Kultur­
geschichte des Jahrmarkts von Sacha Szabo, Rausch und Rummel. Attraktionen
auf Jahrmärkten und Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte.
Bielefeld: transcript 2006.
Horst W. Opaschowksi: „Geschichte des pädagogischen Freizeitdenkens“, vor
allem Kapitel 3.1. „Freizeit als Friedenszeit (Mittelalter)“, in: Freizeit und Tourismusstudien, Band 1, 1990, S. 100–118.
Marcus Steinweg, Philosophie der Überstürzung, Berlin: Merve Verlag 2013, S. 145.
Marcus Steinweg, a. a. O., S. 146.
54
Ihr Monopol auf
die Kunst
55
M e d i e n pa r t n e r
SCHWINDEL
DER WIRKLICHKEIT
17.9.–14.12.2014
September 2014
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Inter national
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Akademie der Künste
Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
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Projektleitung: Johannes Odenthal
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Mark Butler, Anke Hervol,
Wulf Herzogenrath, Niels Van Tomme
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Projektassistenz:
Katharina Bergmann, Klara Hein, Janina Niendorf
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Ausstellungsgestaltung und Realisation:
Simone Schmaus, Jörg Scheil und Mount Berlin
Medientechnik und Licht:
Kathy Lieber, Wolfgang Hinze, Anja Gerlach,
Vanessa Bahlecke, Janina Niendorf, János
Kachelmann, Frank Kwiatkowski, Bert Günter,
Björn Matzen, Christian Schweiger, visionb
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Projektleitung:
Anke Hervol, Ulrike Roesen, Johannes Odenthal,
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Verlag: INSPIRING NETWORK GmbH & Co. KG, Geschäftsführung: Dr. Katarzyna Mol-Wolf (Vorsitzende), Anke Rippert,
Hoheluftchaussee 95, 20253 Hamburg. AG Hamburg, HRA 114465; Vertrieb: DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH,
Postfach 570402, 22773 Hamburg. Probeabonnement: 1222925
* 20 Cent/ Anruf aus dem deutschen Festnetz, maximal 60 Cent/ Anruf aus dem deutschen Mobilfunknetz. Preise aus dem Ausland abweichend.
09
14
Redaktion: Julia Albani, Nicola Beißner,
Johannes Odenthal (V.i.S.d.P.)
Videopräsentation in der Ausstellung / DVD
Kurator: Ulrich Matthes
Projektleitung: Petra Kohse
Mitarbeit: Tanja Krüger
Regie und Schnitt: Ingo J. Biermann
Bildgestaltung: Kai Miedendorp,
Alexander Haßkerl
In Zusammenarbeit mit dem Studio für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste
Center for Art, Design and Visual Culture,
University of Maryland, Baltimore County
(Künstlerdialog Harun Farocki und Trevor Paglen,
kuratiert von Niels Van Tomme)
Studio für Elektroakustische Musik
der Akademie der Künste
A MAZE.
Leitung: Gregorio García Karman
Gefördert von:
Hauptstadtkulturfonds
Karin und Uwe Hollweg Stiftung
Yamaha Music Europe GmbH
Double Projection.
The folder is empty – we are present
Gesprächskonzert Luca Lombardi
mit freundlicher Unterstützung
des Italienischen Kulturinstituts Berlin
Alle Rechte für die Texte liegen bei den Autoren,
für die Bilder bei den Künstlern, sofern nicht
anders vermerkt.
Mit freundlicher Unterstützung
Bildnachweise
Soweit nicht anders angegeben, stammt das
Bildmaterial von den beteiligten Künstlern.
In Kooperation mit
Center for
Art
Design
and
Visual Culture
Soweit nicht anders angegeben befinden sich
die ausgestellten Werke im Besitz der Künstler.
Medienpartner
Marion Neumann, Denise Baumeister
art-in-berlin
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Brigitte Heilmann, Marianne König
in Zusammenarbeit mit Julia Albani, Ubin Eoh,
Silke Neumann (BUREAU N)
Website
www.schwindelderwirklichkeit.de
Mistral
Moresleep (Programmierung)
BUREAU N (Redaktion)
Andrew Boreham (englische Übersetzung)
S. 4 © Christian Falsnaes, Courtesy of PSM,
Berlin S. 6 © Claus Langer / WDR
S. 15, von oben © Jochen Gerz, VG Bild-Kunst,
Bonn 2014; Courtesy: Gerz Studio, Foto: Gerz
Studio; © Peter Campus, Courtesy of the Artist
and Cristin Tierney Gallery; Kunsthalle Bremen –
Der Kunstverein in Bremen S. 17, von oben © Christian Falsnaes, Courtesy of PSM, Berlin;
© Richard Kriesche, VG Bild-Kunst, Bonn 2014;
© Hamish Fulton / Maureen Paley, London; Foto:
Dan Bass S. 24 unten Foto: Rich Pell S. 25, von
oben © Thomas Demand, VG Bild-Kunst, Bonn
2014, Courtesy Sprüth Magers Berlin London; ©
Alexander Bruce S. 27 © Michelangelo Pistoletto,
Courtesy Cittadellarte, Biella; Foto: P. Pellion S. 32, alle Abbildungen © Kolumba, Köln,
VG Bild-Kunst, Bonn 2014; Foto: Lothar Schnepf
S. 34 © MA in Transdisziplinarität, ZHdK S. 35
© Luca Lombardi, Rom, Rai Trade S. 42–44
Akademie der Künste 2014 © ijb/Kai Miedendorp
und © Alexander Haßkerl (Foto Meyerhoff) S. 46 Foto und © Margarete Redl-von Peinen
S. 48 + 49 © Nuno Cera S. 52 © Thomas Wrede,
VG Bild-Kunst, Bonn 2014, courtesy Galerie
WAGNER + PARTNER
Leihgeber
Mit freundlicher Unterstützung der Gesellschaft
der Freunde der Akademie der Künste
Kunstwelten
Autorenkürzel der Ausstellungstexte:
Mark Butler (MB), Mechthild Cramer von Laue
(MCvL), Anke Hervol (AH), Klara Hein (KH),
Johannes Odenthal (JO), Ulrike Roesen (UR)
Die Akademie der Künste wird gefördert durch
die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur
und Medien.
Kurator: Christian Schneegass
Projektleitung: Maria Mohr, Farid Fairuz
Projektmanagement: Miriam Papastefanou,
Daniela Obkircher
Projekt „going into contact“ gefördert von:
Kunststiftung NRW
Tanz und Choreografie:
Susanne Linke und Koffi Kôkô
Konzeption: Johannes Odenthal
Licht: Lutz Deppe
Bühne: Marcel Kaskeline
Musik / Sounddesign: Wolfgang Bley-Borkowski
Dramaturgische Mitarbeit: Waltraut Körver
Produktionsleitung: Kerstin Diekmann,
Christiane Uekermann, Inge Zysk
Gefördert durch: Hauptstadtkulturfonds
Produktion: BVZ Berliner Zeitungsdruck GmbH
In Kooperation mit myrland films
Kuratoren: Thomas Kessler, Enno Poppe,
Manos Tsangaris
Projektleitung: Evelyn Hansen
Mitarbeit: Petra Krebs
Mit freundlicher Unterstützung
der Botschaft des Königreichs der Niederlande
und JBB Rechtsanwälte Berlin
Gestaltung: Heimann und Schwantes
Spielweisen
gespräche mit Schauspielern
Ausstellungsgrafik:
Heimann und Schwantes
Partnerinstitutionen:
Europäische Medienwissenschaft,
FH / Universität Potsdam
Lektorat: Martin Hager
Korrektur: Claudius Prößer
Ein transdisziplinäres Symposium der neuen
Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste
Musikprogramm
Idee: Manos Tsangaris
Projektteam: Manos Tsangaris,
Julia Albani, Nicola Beißner,
Johannes Odenthal, Simone Odenthal
Produktion: Eva Maria Müller, Martin Schmitz
(littlebit. Produktionsbüro für zeitgenössische
Kunst)
Schauspiel
Tanz
Musiktheater
video news dates online
Herausgeber: Akademie der Künste, Berlin 2014
Symposium
„Der Metabolismus des Sozialen
Gehirns“
Restauratoren:
Dirk Schönbohm und Rüdiger Tertel
Metabolisches Büro
zur Reparatur von Wirklichkeit
art-in-berlin
Kuratoren: Jan Distelmeyer und Mark Butler Projektleitung: Ulrike Roesen
Mitarbeit: Janina Niendorf, Katharina Bergmann
Kuratoren: Elena Agudio, Dorothee Albrecht,
Bonaventure Ndikung, Matteo Pasquinelli,
Eylem Sengezer
Magazin
Dieses Magazin erscheint anlässlich
der Ausstellung und des Programms
Schwindel der Wirklichkeit,
17. September – 14. Dezember 2014,
in der Akademie der Künste.
Konzeption:
Jutta Brückner, Birgit Hein, Nele Hertling, Wulf
Herzogenrath, Ulrich Matthes, Jeanine Meerapfel, Symposium
Ulrich Peltzer, Klaus Staeck, Manos Tsangaris,
„Metabolische Therapien zur
Wilfried Wang
Reparatur von Stadt-Wirklichkeit“
Julia Albani, Mark Butler, Jörg Feßmann, Evelyn
Kurator: Wilfried Wang
Hansen, Anke Hervol, Petra Kohse, Marion
Neumann, Johannes Odenthal, Simone Odenthal, Projektleitung: Carolin Schönemann
Mitarbeit: Jacqueline Saliba
Ulrike Roesen, Carolin Schönemann
Column:
Alanna Lockward
Lassen Sie sich
begeistern!
Gefördert von
In Kooperation mit A MAZE.
With contributions by
Peter Friedl
Trevor Paglen
Paola Yacoub
GRATIS
TESTEN
Symposium
„Im Taumel. Auf der digitalen
Schwelle“
Im p r e ss u m
video news dates online
ART+COM: Joachim Sauter, Dirk Lüsebrink,
ART+COM Studios Jochen Gerz: Kunstmuseum
Liechtenstein, Vaduz / Schenkung des Künstlers
Peter Campus: Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen Dan Graham: Centre Pompidou,
Paris. Musée national d‘art moderne / Centre
de création industrielle Bruce Nauman: Solomon
R. Guggenheim Museum, New York Alex Hay:
Courtesy Experiments in Art and Technology
Nam June Paik: Kunsthalle Bremen – Der Kunst­
verein in Bremen Servaas: Museum Arnhem
Christian Falsnaes: Eigentum des Künstlers,
Courtesy of PSM, Berlin Bill Viola: Bill Viola
Studio Lynn Hershman Leeson: San Francisco
Museum of Modern Art. Gift of bitforms gallery,
Gallery Paule Anglim, and the artist Visibility
Machines. Harun Farocki und Trevor Paglen:
Center for Art, Design and Visual Culture, University of Maryland, Baltimore County Thomas Wrede: Thomas Wrede, Courtesy Galerie
Wagner + Partner sowie Eike Hovermann
Herman Asselberghs: Auguste Orts Thomas
Demand: Courtesy Sprüth Magers Berlin
London Olafur Eliasson: Courtesy of the artist;
neugerriemschneider, Berlin; Tanya Bonkadar
Gallery, New York Jeppe Hein: Kunsthalle
Bremen – Der Kunstverein in Bremen Magdalena
Jetelová: Kunstsammlung der Akademie der
Künste, Berlin, Schenkung der Künstlerin Michelangelo Pistoletto: Cittadellarte, Fondazione
Pistoletto
Programm
16.9.
7.10.
19 h
S. 40
12 + 17 h in der Ausstellung
MIDI-Klavier Präsentationen
Annesley Black, Reinhard Febel, Orm Finnendahl, Erhard Grosskopf,
Wolfgang Heiniger, Arnulf Herrmann, York Höller, Bernhard Lang,
Conlon Nancarrow, Enno Poppe, Cornelius Schwehr, Walter
Zimmermann u. a.
S. 16
Live-Performances
S. 29
Werkstattgespräch mit Niels Van Tomme und Johannes Odenthal
über Harun Farocki
Visibility Machines
11–17 h S. 31
S. 16
zelte schalten
Stationen: Musiktheater-Analyse II
Aufführung und Analyse Diskrete Stücke von Manos Tsangaris durch
das Atelier Klangforschung der Universität Würzburg
18 h
FORUM
Werkstattgespräch mit dem Atelier Klangforschung der Universität
Würzburg
26.9.
ab 16 h, Euro 7/5 je Tag 27.9.
ab 10 h S. 50
Im Taumel. Auf der digitalen Schwelle
Reeling/Realing. On the Digital Threshold
Das Symposium lenkt den Blick auf die digitale Schwelle als Zone
der fortwährenden Veränderung und Verhandlung.
30.9.
18–19 h S. 41
Vortrag und Expertengespräch mit Slavko Kacunko und Wulf
Herzogenrath über Bill Violas frühe Closed-Circuit-Videos (1972–76)
17.10.
Premiere, 20 h Studio, Euro 15/10 (Tanzcard)
18./19.10.
S. 47
20 h FORUM
Werkstattgespräch mit Cornelius Schwehr, Johann Feindt und
Studierenden der Hochschule für Musik Freiburg
11–19 h, Lectures 13 + 17.30 h Sehen und Hören –
Wirklichkeitskonstruktionen
Interaktives Labor, Seh- und Hörstationen, Präsentationen zum
Verhältnis von Bild und Ton im Film, HfM Freiburg
Akademie der Künste, Hanseatenweg
Halle 3 (wenn nicht anders angegeben)
030 20057-2000
Infos zur Ausstellung und Führungen s. S. 13
S. 36 f.
19 h, Euro 7/5 Der groSSe elektronische Schwindel
Konzert- und Performanceabend mit Werken von Reiko Füting,
Neele Hülcker, Thomas Kessler, Alex Mincek, Rafael Nassif, Vito Žuraj,
aufgeführt von Adam Weisman (Schlagzeug), Teodoro Anzellotti
(Akkordeon), dem MIVOS-Quartett aus New York und dem Studio für
Elektroakustische Musik der Akademie der Künste
24.10.
17 + 20 h S. 48 f.
Metabolische Therapien zur Reparatur
von Stadt-Wirklichkeit
S. 34
11–19 h Verschaltungen und Sektionen
Wie die Wirklichkeit
in die Akademie kommt
Zürcher Hochschule der Künste, MA Transdisziplinarität
12.11.
18 h
FORUM
18 h
FORUM
25.–28.11.
11–18 h S. 38 f.
Öffentliche Proben zum Konzert am 29.11.
26.11.
ab 19 h 26.10.
18 h
FORUM feat. Stefan Prins
Voraufführung Stefan Prins /
Generation Kill Offspring 1
14 h
ab 11 h S. 51
Der Metabolismus des sozialen Gehirns
11–19 h, Euro 7/5 anschl. Round Table mit den Komponisten Carola Bauckholt, Michael
Beil, Matthias Kranebitter, Stefan Prins, Trond Reinholdtsen,
Gesprächsleitung: Enno Poppe
29.11.
19.30 h, Studio Euro 10/6
Hören und Sehen –
Konzert mit ensemble mosaik
Leitung Enno Poppe
29.11.–3.12.
11–18 h S. 31
3.12.
18 h
FORUM
Expertengespräch mit Horst Bredekamp und Wulf Herzogenrath
über die Rolle der Bilder in der Grenzaufhebung
von privat und öffentlich. Wie agieren und wirken Bilder?
3.12.
20 h
FORUM
Ein Projekt von Dieter Heitkamp. Installation, Performance, Archiv
Mit Marcel Beyer, Jörn Peter Hiekel, Jacqueline Merz, Manos
Tsangaris sowie Studierenden der Hochschule für Musik Dresden
29.10.
7.12.
18 h
Werkstattgespräch mit dem Choreografen Dieter Heitkamp zur
Entwicklungsgeschichte der Kontaktimprovisation
30.10.
S. 35
Marcel Beyer, Jörn Peter Hiekel, Jacqueline Merz, Manos Tsangaris
sowie Studierende der Hochschule für Musik Dresden
FORUM
S. 30
11.–14.11.
Musik und (An-)Ästhetik
Symposium über Globalisierung, Immobilienblasen und
Konsequenzen für die Stadtentwicklung
25.10.
Künstlergespräch mit Ingo Günther und Siegfried Zielinski
Voraufführung Trond Reinholdtsen
Unsichtbare Musik
Künstlergespräch mit den Komponisten Manos Tsangaris und
Thomas Kessler zu „Der große elektronische Schwindel“
23.10.
World Processor / Weltentwickler
28.11.
FORUM
19 h S. 32
19 h anschl. Gespräch mit dem Komponisten und Gästen (tba),
Moderation: Johannes Odenthal (in engl. Sprache)
18 h
22.10.
11.11.
Hören und Sehen – Musikwoche
mit ensemble mosaik
18 h
going into contact_
Eine permeable Spiralinstallation
18 h
2.– 5.10.
15.10.
28.10.–2.11.
Im Anschluss an die Performance
Gespräch Peter Ablinger und Manos Tsangaris
FORUM
Künstlergespräch mit Franz Reimer und Linda Hentschel über
The Situation Room, Bilder der Macht und die Macht über die Bilder
Transdisziplinäres Symposium der
neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK)
Peter Ablinger:
Das Wirkliche als Vorgestelltes
Stimme und Rauschen, 2012
1.10.
S. 47
19 h 22.10.
S. 31
11–17 h 24.9.
14.10.
Susanne Linke und Koffi Kôkô. Tanzpremiere
Public Walk mit 800 Teilnehmern auf der Straße des 17. Juni
Anmeldung unter www.adk.de/hamishfulton
18 h
19.11.
Mistral
Hamish Fulton
Walking East – Walking West
5.11.
Werkstattgespräch mit Lehrenden und Studierenden des
Masterstudiengangs Transdisziplinarität der ZHdK
FORUM
Aufführung und Analyse Diskrete Stücke von Manos Tsangaris durch
das Atelier Klangforschung der Universität Würzburg
14 h, Straße des 17. Juni 10.–12.10.
S. 30
Ruinengarten Hardenbergstraße Antrittsvorlesung der Valeska-Gert-Professur für Tanz und Performance WS 2014/15. In Kooperation mit FU Berlin und DAAD
zelte schalten
Stationen: Musiktheater-Analyse I
23.9.
S. 45
ab 17 h bis open end Koffi Kôkô
Künstlergespräch mit Trevor Paglen und Niels Van Tomme
Anschl. Erkennen und Verfolgen, Film von Harun Farocki,
2003, 58 min
21.9.
Künstlergespräch mit Bjørn Melhus und Stefan Heidenreich
Aufführungen und Installation: ein Projekt von UdK Berlin,
HfM Hanns Eisler, TU Berlin, HfM Dresden
S. 21 f.
19 h, Studio, Euro 5/3 20./21.9.
WE ARE HERE – WE ARE NEAR – WE ARE REAL
RUINEN/GARTEN
SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT
FORUM. Erste Einrichtung
19 h S. 26
19 h Performance-Projekt der Stipendiaten der Jungen Akademie 2013
18 h 19.9.
Werkstattgespräch mit klangzeitort – Institut für Neue Musik über das
interuniversitäre Projekt Ruinen/Garten, Schwindel der Wirklichkeit
9.10.
Ein Gastspiel aus der Rheinprovinz: Kolumba, Kunstmuseum des
Erzbistums Köln
Werkstattgespräch mit Stefan Kraus,
Kurator und Museumsleiter Kolumba
FORUM
DOPPELPROJEKTIONEN
The Folder is empty – we are present
Tino Sehgal, This is Exchange, 2003
Richard Kriesche, Zwillinge, 1977
Christian Falsnaes, Justified Beliefs, 2014
17.9.
S. 30
18 h 10.10.
in der Ausstellung tägl. oder zu ausgewählten Zeiten
17.9.
8.10.
S. 33
11–19 h Warum bin ich hier?
Künstlergespräch mit dem griechischen Schriftsteller
Christos Asteriou und dem israelischen Filmemacher Ron Segal
(Stipendiaten der Akademie der Künste), Moderation: Ulrich Peltzer
Ausstellungseröffnung, Konzerte von Hunger, BAR, Dena, Performance von Christian Falsnaes, Game Art und Metabolisches Büro
17.9.–14.12.
4.–8.11.
Was drängt den Text zum Bild?
Literatur – Film – Graphic Novel
ERÖFFNUNG Berlin Art Week
und SCHWINDEL DER WIRKLICHKEIT
17.9.–14.12.
56
17 h
19 h
Über das Verhältnis von
Körper und Bild in Videoinstallationen
Vortrag und Expertengespräch mit
Sabine Flach und Wulf Herzogenrath
www.schwindelderwirklichkeit.de
17 h Luca Lombardi
„Warum?“ 2. Streichquartett
Nomos-Quartett, anschl. Gespräch
mit Luca Lombardi, Johannes Odenthal u. a.
10.12.
18 h
FORUM
Carte blanche
14.12.
Finissage
S. 35