1 Sehr geehrter Herr Botschafter Grinin, Herr Dr. Roik, Dr. Morre

Grußwort von Günter Saathoff,
Vorstand der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“,
zur Freischaltung der Internetdatenbank „Sowjetische Gräber und Memoriale in Deutschland“
am 24. April 2015 um 11:00 Uhr in der Russischen Botschaft in Berlin
Sehr geehrter Herr Botschafter Grinin,
Herr Dr. Roik,
Dr. Morre´,
Herr Taranow,
Herr Botschaftsrat Zhbanow,
sehr geehrte Projektpartner und Förderer dieses Projektes,
sehr geehrte Damen und Herren, die Sie mit Ihrer heutigen Anwesenheit die Bedeutung
einer solchen Initiative für die Erinnerungskultur dokumentieren,
Ich beginne mit einem Beispiel aus unserer Arbeit als Stiftung: die vierjährige Vera
Koplenkowa starb am 6. Januar 1945 in Stuttgart in den Armen ihrer Großmutter. Die Frau
war mit ihren drei Enkelkindern Tamara (13), Galina (11) und Vera (4) 1944 nach
Deutschland deportiert worden. Die Großmutter, Tamara und Galina mussten bei Daimler
Zwangsarbeit leisten.
Vera fragte ihre Großmutter „Wann gehen wir nach Hause?“, und diese antwortete: „Bald!“.
Dann starb Vera. Tamara und Galina haben nach dem Krieg das Grab ihrer kleinen
Schwester auf einem Friedhof in Stuttgart gefunden. 2008 kam Tamara noch einmal dorthin.
Geschichten wie diese gibt es unzählige. Und es gibt ungezählte Orte, an denen die
Deportierten, Ermordeten oder infolge schlechter Lebensbedingungen Verstorbenen beerdigt
oder verscharrt wurden. Es gibt Massengräber und Einzelgräber, mit Namen und ohne,
gekennzeichnet oder unsichtbar. Der Historiker Martin Pollack spricht von „kontaminierten
Landschaften“ und fragt: „Wie leben die Menschen, wie leben wir mit solchem Wissen, wie
richten wir uns damit ein, wie vereinbaren wir das mit unserem Alltag?“
Eine Antwort auf diese Frage ist die Datenbank, die wir heute, pünktlich zu den
Feierlichkeiten zur Befreiung Deutschlands vom NS-Regime, im Internet freischalten: Wir
machen damit Orte bekannt, an denen sowjetische Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge,
Kriegsgefangene und gefallene Soldaten begraben sind oder Denkmäler für sie errichtet
wurden.
Die Datenbank umfasst 4.100 Orte in ganz Deutschland – davon über 1.300 für
Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterkinder. Für die Initiative zu der Datenbank und für
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deren Erstellung danke ich Herrn Dr. Morré, Herrn Dr. Prieß und Herrn Kindler vom
Deutsch-Russischen Museum Karlshorst und Herrn Kukin vom Büro für
Kriegsgräberfürsorge und Gedenkarbeit in der Botschaft der Russischen Föderation und
natürlich der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien und ihren Mitarbeiterinnen als
größte Förderer des Projektes.
Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ hat das Projekt gern und ebenfalls
mit einem namhaften Betrag , aber eben auch ideell gefördert, weil sie es wichtig findet, dass
diese Orte bekannt gemacht und gewürdigt werden. Erlauben Sie mir drei Anmerkungen:
Erstens: Auch wenn die Datenbank die umfangreichste ihrer Art ist, so ist sie doch nicht
vollständig. Wie wir wissen, gibt es gerade zur NS-Zwangsarbeit viele lokale Initiativen.
Diese sind aufgefordert, ihr Wissen um den Verbleib der Toten für die Erweiterung der
Datenbank bereitzustellen.
Zweitens: Wie wir aus unserer Projektförderung als Stiftung wissen, genügt es auch nicht,
eine Datenbank zu erstellen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Damit sie auch
breit genutzt wird, sind didaktische Hilfsmittel wichtig und eine pädagogische Praxis. Solche
Begleitmaterialien z.B. für die schulische Bildung zu erstellen und praktische pädagogische
Erfahrungen damit zu machen, ist eine weitere Aufgabe, die quasi Sie zukommt.
Drittens: Die Datenbank erlaubt es, auf Russisch und Deutsch nach sowjetischen Grabstätten
und Denkmälern in Deutschland zu suchen. Aber sie bietet den Hinterbliebenen noch nicht
die Möglichkeit, nach ihren Toten mit Namen zu suchen. Genau das aber ist erstrebenswert:
Um den Angehörigen Gewissheit und einen Ort für ihre Trauer zu geben, wie ihn immerhin
Tamara, die Schwester von Vera, hat. Und um die Opfer der Anonymität und dem
Vergessen zu entreißen, welche die Täter intendierten. Dieses Anliegen kommt in der
Initiative „Gebt den Opfern ihren Namen zurück“ zum Ausdruck.
Wir sehen – es gibt noch einiges zu tun. Davon, ob sich unsere Gesellschaft dieser Aufgaben
annimmt, wird abhängen, welche Antwort sie auf die Frage nach dem Umgang mit den
„kontaminierten Landschaften“ gibt. Aber auch insgesamt ist die Erinnerungsarbeit und die
Würdigung der Opfer nicht abgeschlossen. Aus meiner Sicht ist es überfällig, dass z.B. der
Deutsche Bundestag die sowjetischen Kriegsgefangenen als NS-Opfer anerkennt.
Ich sehe in der Erinnerungsarbeit eine gemeinsame Aufgabe für Deutschland und für die
Nachfolgestaaten der Sowjetunion, also nicht allein der Russischen Föderation. Denn die
Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge, Kriegsgefangenen und Soldaten, die in Deutschland beerdigt
sind, kamen aus allen Republiken der Sowjetunion.
Diese Geschichte ist eine gemeinsame, die –trotz der derzeitigen politischen Spannungen in
Osteuropa - nicht national atomisiert werden darf. Sie ist je nationale und zugleich
gemeinsame Aufgabe und somit Teil einer europäischen Erinnerungskultur.
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