Der Oberpfälzer Schliemann Helmut Roith gräbt Grafenried wie

Der Oberpfälzer Schliemann Helmut Roith gräbt Grafenried wieder aus
von Bernhard Setzwein
Alle Welt behauptet, Heinrich Schliemann habe Troja ausgegraben. Hat er das wirklich?
Oder ist er nicht vielmehr am Rande gestanden, hat die Oberaufsicht geführt, ansonsten
aber andere machen lassen? Im Falle von Helmut Roith ist das anders. Von ihm lässt sich
mit weitaus mehr Recht behaupten: Er gräbt Grafenried aus. Und das wirklich weitgehend
alleine. Zwar gibt es auch bei ihm Tage, da hat er Helfer, aber die meiste Zeit ist er eben
ganz auf sich gestellt. An Tagen zum Beispiel, wo alle anderen verständlicher Weise etwas Besseres zu tun haben, an den Osterfeiertagen etwa. Nicht so Helmut Roith. Selbst an
solch hohen Feiertagen, wie haben es selbst erlebt, kann man ihn in der lehmverschmierten Arbeitshose inmitten seines „Grabungsprojektes“ finden, eine Herzschaufel in der
Hand oder einen Schubkarren schiebend. Selbst an solchen Tagen, ganz gleich wie das
Wetter ist, gibt es für ihn Wichtigeres zu suchen als Ostereier. Nämlich Reste jenes Lebens, das in der Ortschaft Grafenried einmal ein blühendes war. Rund 800 Jahre lang hat
das gewährt, dann brach, Ende des von den Deutschen angezettelten Zweiten Weltkriegs,
jene kurze Zeitspanne an, die mit dem Begriff „Vertreibung“ belegt wird, und in der ein
ganzer Landstrich auf die radikalste Weise umgepflügt wurde, wie davor vielleicht höchstens noch während des 30jährigen Krieges und der Hussitenzeit. Am Ende dieser verhängnisvollen Jahre war aus Grafenried, das immer rein deutsch besiedelt gewesen war,
das geworden, was Geographen mit dem Begriff „Wüstung“ belegen: Ein Ort ohne jegliches Leben, eine Ruinenstätte mit Gebäuden, die man gesprengt und zerschossen hat, geschliffen bis herunter auf die Grundmauern. Und auch diese letzten Reste verschwanden
schließlich unter Wildwuchs. Man staunt, welch mächtige Bäume in nur 40, 50 Jahren
heranwachsen können, so dass man meint in einen Wald einzutreten, in dem nur noch eigenartige Bodenwellen für das geübte Auge verräterisch sind.
1500 solcher Wüstungen gibt es entlang der bayerisch-böhmischen Grenze. Die allermeisten von ihnen lagen jahrzehntelang in Sperrbezirken, zu denen außer den Grenzwachen niemand Zutritt hatte: Die kommunistischen Machthaber waren peinlichst darauf bedacht, ihre Bevölkerung möglichst weit von der Grenze fern zu halten, jegliche Fluchtversuche über den „Eisernen Vorhang“ hinweg sollten schon im Keim erstickt werden. Nach
der Wende 1989 waren dann diese eigenartigen, mysteriösen Orte eines lückenlos ausgetriebenen Lebens plötzlich wieder erreichbar. So auch Grafenried, das nur einen Steinwurf weit hinter der böhmischen Grenze liegt, im Landkreis Domažlice, ungefähr auf
Höhe der bayerischen Grenzstadt Waldmünchen. Zu Fuß von Untergrafenried in nur wenigen Minuten erreichbar, wurde es zum Ziel so mancher Sonntagsausflügler. So war es
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auch eines Tages im Jahr 2007 für Helmut Roith, wohnhaft in Treffelstein, Ortsteil Edlmühl. Auch er wird sich gedacht haben, schaun wir halt einmal hinüber über die Grenze,
wo früher einmal dieses Grafenried war. Er ging los und landete … in einer Lebensaufgabe, die ihn mit solcher Macht ergriffen hat, dass es für ihn seither keine freie Minute
mehr gibt, die er nicht diesem Ziel widmen würde: Grafenried auszugraben.
Er ging also auf diese auf einer Anhöhe gelegene Siedlung zu und war eigenartig berührt.
Er spürte, so erzählt er das heute im Rückblick, da war etwas Versunkenes, etwas gewaltsam Ausgelöschtes, ihm war nicht recht behaglich in diesem Waldstück. Schnell erkannte
er, da waren ja überall Mauerreste, fast bis zur Unkenntlichkeit zugewachsen. Ging man
weiter, kam man zu einer Stelle, die war eindeutig als ehemaliger Dorfplatz zu erkennen.
Umringt von fünf mächtigen Linden stand da ein leerer Granitsockel, zu dessen Füßen ein
herunter gestoßener steinerner Nepomuk lag (er verschwand übrigens Jahre später und
wurde, von jemanden, der sich auskennt, in einem privaten Vorgarten in Domažlice wiedererkannt).
Helmut Roith arbeitet schon seit vielen Jahren als Tiefbaupolier auf den verschiedensten
Baustellen der Oberpfalz, ja ganz Bayerns. In dieser Zeit hat er es schon öfter erlebt, dass,
wenn man im Boden gräbt, man nicht selten auf Geschichte stößt. Das hat den gelernten
Installateur zwangsläufig mit der Archäologie in Kontakt gebracht. Die hat ihn zunehmend mehr fasziniert, und er hat wohl manches Mal zugesehen, wie herbeigerufene ProfiArchäologen in „seiner“ Baugrube ihre Art von Grabungstätigkeit aufnahmen. Als einfacher Bauarbeiter konnte er dabei freilich nicht mithelfen, obwohl es ihn schon manchmal
gejuckt hätte, wie er sagt. Als er aber inmitten der Wüstung von Grafenried stand, sah er
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plötzlich vor Augen, welche Chance ihm hier geboten wurde: Hier würde endlich einmal
er selber Archäologe sein können. Hier wäre er derjenige, der Grafenried ausgräbt.
Einfacher, genialer Gedanke, nicht so einfache Umsetzung. Immerhin liegt Grafenried auf
tschechischem Staatsgebiet. Da kann nicht einfach ein Bayer daher kommen und zu graben anfangen. Am Fall „Ausgrabungsstätte Grafenried“ lässt sich beispielhaft ablesen,
dass sich Grenzen, selbst im geeinten Europa, eben doch nicht so einfach auflösen.
Schnell fand Helmut Roith Mitstreiter auf bayerischer Seite, etwa in dem in Grafenried
geborenen Hans Laubmeier, Ortsbetreuer der Sudetendeutschen Landsmannschaft für
seine alte Heimatgemeinde, oder auch Franz Reimer, Tourismusführer aus Waldmünchen. Doch ein tschechischer Partner musste unbedingt noch her. Den fand man schließlich in Zdeněk Procházka, einem ungemein rührigen Heimatforscher und Verleger aus
Domažlice, der schon gleich nach der Wende begonnen hat, mit zweisprachigen Publikationen den Kenntnisstand über die Regionalgeschichte dieses Abschnitts der Grenze sowohl bei seinem tschechischen als auch bayerischen Lesern beträchtlich zu vermehren. Er
sorgte nicht nur bei den offiziellen Stellen Tschechiens für eine Erlaubnis zu dieser Aktion, er wurde auch der offizielle Grabungsleiter.
Doch die Hauptarbeit, das räumen auch seine Mitstreiter unumwunden ein, leistet Helmut
Roith. Sobald er Donnerstagabend von seiner jeweiligen Baustelle heimkehrt in sein Haus
in Edlmühl/Treffelstein, gibt es nur mehr ein Thema: Grafenried. Mittlerweile hat er ein
stattliches Archiv zur wechselvollen Geschichte der Gemeinde zusammengesammelt. Bei
seiner Recherche in Archiven und seinen Befragungen von Zeitzeugen, die Grafenried
noch vor der Vertreibung erlebt haben, stieß er sogar auf ein Faktum, das seinem Entschluss, Grafenried ausgraben zu wollen, fast etwas Magisches gibt. Er erfuhr nämlich,
dass seine Großmutter an eben diesem Ort geboren wurde, was er vorher nicht wusste.
Für die Archivarbeit daheim ist aber nur Zeit, wenn es das Wetter partout nicht zulässt,
vor Ort und draußen in Grafenried zu sein. Ansonsten findet man Helmut Roith dort, an
Sonn- und Feiertagen, ob’s windet, graupelt oder regnet. Franz Reimer, der ihn auch logistisch unterstützt, meint: „Ich weiß nicht, wie viele Hundert Kubikmeter Erde der schon
bewegt hat.“ Und das fast ausschließlich mit der Handschaufel. Denn bei der Freilegung
der Mauerreste muss natürlich äußerst vorsichtig vorgegangen werden, damit nichts übersehen oder beim Freilegen beschädigt wird. So wie zum Beispiel jener Steinquader mit
der Jahreszahl 1775, der bei der Grundsteinlegung der St. Georgskirche verbaut wurde.
Die Pfarrkirche wurde 1954 vom tschechischen Militär gesprengt, obwohl sie, wie Franz
Reimer erzählt, vom Denkmalamt in Prag als schützenswert eingestuft worden war. Irgendein Kommandant setzte sich darüber einfach hinweg. So wie der Kirchenbau in sich
zusammenfiel, so ließ man den Geröllhaufen einfach liegen. Über 50 Jahre später fing
Helmut Roith an, ihn auseinanderzunehmen, freizuräumen, den Grundriss der Kirche wieder sichtbar zu machen. Das freigelegte Presbyterium ist erkennbar, die Altarmensa
wurde wieder aufgemauert, ja sogar eine Kopie des Altarbildes der „Schönen Madonna
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von Grafenried“ wurde angebracht. So manches Einzelfundstück könnte eine eigene besondere Geschichte erzählen, wie etwa der Taufstein, den Helmut Roith ebenfalls aus
dem Ruinenschutt hervorzog. Er steht heute wieder im offenen, Wind durchwehten Kirchenschiff, wo alljährlich Anfang Mai eine Messe abgehalten wird, für die „Ehemaligen“
von Grafenried. Einmal beobachtete Franz Reimer, wie eine alte Frau ein paar Tränen
verdrücken musste. Sie hatte das Becken wieder erkannt, über dem sie getauft worden
war.
Franz Reimer und Helmut Roith
Mit St. Georg fing Helmut Roith an. Das war das erste Gebäude, das er freilegte. Es
folgte der Pfarrhof, ein stattliches Gebäude, das wohl nur deshalb so geräumig ausfiel,
weil die Baronin von Grafenried hier ihren Alterssitz nehmen wollte. Dem Einfluss dieser
adeligen Herrschaft schreiben Roith und Reimer es zu, dass Grafenried trotz bescheidener
Einwohnerzahl so gut ausgestattet war. Zum Beispiel mit einer eigenen Brauerei. Sie ist
das dritte Großobjekt, das sich Helmut Roith freizulegen vorgenommen hat. Doch hier
stößt selbst er an seine Grenzen. Denn speziell diese „Hausgeschichte“ ist im wahrsten
Sinne des Wortes so vielschichtig, dass hier unbedingt professionelle Archäologen eingebunden werden müssen – entsprechende Verhandlungen mit Prag laufen auch bereits.
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Denn die Grafenrieder Brauerei ist nur der Endpunkt einer langen Baugeschichte. Darre,
Sudhaus und was alles dazugehört, wurden nämlich direkt über einer ehemaligen Glashütte errichtet. Und auch diese Glashütte scheint auf einer noch älteren „aufzusitzen“, die
dann bereits in die Zeit vor 1500 zurückreichen würde. Und um diese Aufeinanderstapelung der Zeitschichten komplett zu machen, zeigt uns Helmut Roith noch einen in Plattenbauweise erstellten Kleinstbunker, der in den Grundriss der damals wohl zerstörten
Brauerei hineingesetzt wurde. Und zwar von den tschechischen Grenztruppen nach 1945.
Winzig ist diese Stehkammer, ein Soldat konnte darin gerade einmal Platz finden und
durch einen Seh- und Schießschlitz in Richtung Westen, also Klassenfeind, Ausschau halten.
Das ist es, was Helmut Roith so fasziniert an Grafenried, das er zusammen mit seinen
Mitstreitern zu einer Art Begegnungsstätte machen möchte: dass hier Geschichte gebündelt und konzentriert auf einem relativ kleinen Flecken nachvollziehbar wird. Viel kann
man über die Besiedlungsgeschichte des Grenzraumes hier erfahren, zum Beispiel welche
Rolle die Glasindustrie spielte. Ein „gehobenes“ dörfliches Leben in unmittelbarer
Grenze wird hier sichtbar, mit Brauerei und Gasthäusern, in denen die Pascher (=
Schmuggler) saßen und versuchten herauszubekommen, wo und wann die Finanzer (=
Zollbeamte) unterwegs sein würden, um ihnen auszuweichen. Und schließlich ist Grafenried ein Mahnmal der Vertreibung und der Zeit des Kalten Krieges, ein Ort, an dem schon
heute an einem einzigen Wochenende 200 bis 300 Besucher vorbeikommen, und zwar
Menschen gleichermaßen aus Bayern wie aus Böhmen. Und das alles, weil sich ein Mann
in den Kopf gesetzt hat: Grafenried, das wird mein Troja. Grafenried, das versunkene, das
grabe ich wieder aus.
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