Alex Aßmann KLAUS MOLLENHAUER Alex Aßmann KLAUS MOLLENHAUER Vordenker der 68er – Begründer der emanzipatorischen Pädagogik. Eine Biografie Mit einem Nachwort von Michael Winkler Ferdinand Schöningh Umschlagabbildung: Susanna Mollenhauer, Göttingen, ca. 1985 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-78105-5 „Identität gibt es nur als Fiktion […].“ Klaus Mollenhauer INHALT 9 Prolog ERSTES KAPITEL 35 „Schöne Kindheit und versaute Pubertät also.“ Zur Kinder- und Jugendbiografie (1928-1945) ZWEITES KAPITEL 69 „Die vollendete Halbheit.“ Über Schulverweigerung (1945-1952) DRITTES KAPITEL 89 Der Umweg. Über Hamburg zurück nach Göttingen (1952-1959) VIERTES KAPITEL 109 Von der Provinz in die Außenbahn der Protestbewegung. Eine Karriere (1959-1969) FÜNFTES KAPITEL 177 Surrealismus. Frankfurt, der Niedergang der Protestbewegung und die Heimkampagne (1969-1972) SECHSTES KAPITEL 229 Konsolidierung. Über Göttingen, die Tradition und ihre ästhetisch-kulturelle Innovation (1972-1998) 287 Ein Nachwort. Von Michael Winkler 299 Anhang 301 Anmerkungen 323 Literaturverzeichnis 337 Namensregister 341 Danksagung PROLOG I. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir heute Herrn Mollenhauer hier begrüßen können. Wenn ich sage ‚Ich freue mich‘, dann ist das nicht eine der üblichen Floskeln, sondern ich tue es tatsächlich. Herr Mollenhauer war bereits ein bekannter Mann, als ich in Kiel Student war. Das heißt, wenn ich jetzt hier als Dekan Herrn Mollenhauer begrüßen darf, dann gehört das zu den wenigen schönen Augenblicken, in denen man sich freut, Dekan zu sein. Das ist aber nett, sagt Klaus Mollenhauer. Dabei lacht er überrascht. Die Stimme des Mannes, dessen helles und etwas genäseltes Lachen man hier hört – eine knarzende Stimme –, passt nicht ganz zu seiner eher jungen Erscheinung. Zwar ist sein Haar grau. Aber er wirkt jung. Nur seine Stimme nicht. Kurz vor dieser Szene und gleich zu Beginn dieser Videoaufnahme, die all das dokumentiert, wurde für einen Augenblick ein Plakat eingeblendet: „Allgemeine Pädagogik heute, Ringvorlesung an der Universität Osnabrück im Sommersemester 1982.1 Jetzt wissen wir, wo wir sind. Diese gesamte Szene, oder eher: die Inszenierungsform, mit der uns diese Videoaufnahme unvermittelt konfrontiert, hat etwas Klischeehaftes an sich. Eine Art der Pseudofeierlichkeit, die für Universitätsveranstaltungen nicht ganz ungewöhnlich ist, macht sich großzügig auch hier in den Einstellungen breit. Klaus Mollenhauer, um den herum man dieses Theater, das sie da gefilmt haben, veranstaltete – über Jahrzehnte war er die Theorieikone der Sozialpädagogik schlechthin, außerdem handelt es sich um eine Person, die für die Achtundsechziger von großer Bedeutung war –, verfängt sich in diesen Klischees aber nicht. Das Klischeehafte ist zwar ein Merkmal der Szenerie um ihn herum, aber in ein Merkmal seiner Erscheinung verwandelt es sich nicht. Da ist zwar dieser etwas bemüht wirkende Versuch, der Situation mittels einer Tischempore einen feierlichen Anstrich zu geben, obwohl es dann doch besser gewesen wäre, man hätte zuerst einmal den billigen, senffarbenen Gummivorhang im Hintergrund abgehängt. Und wenn es schon um Feierlichkeiten geht – zumindest die amtlich bis mühevoll gestelzt wirkenden Einleitungsworte des Dekans lassen das vermuten –, dann wären wohl auch andere Sitzmöbel als die für die Zeit zwar nicht untypische, für die Aura des Zeitlosen allerdings äußerst ungeeignete Seminarraum- bzw. Gesamtschulausstattung zweckdienlich gewesen. Aber all das färbt auf Mollenhauer nicht ab. Dennoch kommt man aus den Klischees nicht heraus, wenn man sich diese Szene hier anschaut. Einem Tribunal gleich sitzt hier die zeitgenössische Belegschaft des Instituts für Erziehungswissenschaft beisammen – die szenische Komposition lässt an 10 PROLOG das Letzte Abendmahl denken –; Klaus Mollenhauer haben sie in die Mitte gesetzt, unmittelbar links und rechts von ihm die hohen Statusgruppen, je weiter es nach außen geht, desto mehr geht es zu den Mittelbaurängen. Wozu diese Plätze weiter außen überhaupt besetzt wurden? Das bleibt rätselhaft, denn von den Leuten dort – Anfang bis Mitte Dreißigjährige sind zu sehen, äußerlich zumindest nun doch das eine oder andere sozialpädagogische Klischee dabei, aber rein äußerlich nur, anderweitig teilen sie nämlich mit den Statushöheren schon deren betont ernsthafte Sitzhaltung – wird in den nächsten zwei Stunden, so lange dauert die Videoaufzeichnung insgesamt, nichts zu hören sein. Sie sitzen da wie ein Schöffengericht. Manchmal lächeln sie auf, z.B., wenn ihnen eine bestimmte Formulierung besonders hübsch erscheint (oder sie zumindest denken, es sei nun von ihnen erwartet, jetzt einmal erbaut drein zu schauen); doch anderweitig wirken sie spröde und überernst. Diese ganze Szene verrät einiges darüber, wie eine universitäre Disziplin und Kultur sich am liebsten selbst sähe (und welche Möbel und Vorhänge sie hierfür eigentlich bräuchte). So ist es insgesamt doch erstaunlich, dass Klaus Mollenhauer, den man stets in der Bildmitte sieht, trotz der immensen Klischeedichte des Arrangements nicht darin untergeht. Er fügt sich nicht hinein, er assimiliert sich nicht, wenn man so sagen möchte, sondern immer scheint etwas von ihm gleichsam herauszustehen, so als sei er nur zufällig in das ganze hineingeraten und als wisse er noch gar nicht recht, wie man sich darin verhält. Dennoch, er wirkt interessiert und durchaus auch amüsiert bisweilen; degoutiert keinesfalls. Er ist das Gegenmodell zu dem mit gekränkt nach unten gezogenen Mundwinkeln auf dem Podium sitzenden Intellektuellen, dessen Abklatsch man ebenfalls hier oder dort in der Runde erkennt. Das immerzu ernste und von tragischer Empfindlichkeit geprägte Gesicht, das eine Bühnenrequisite vieler Universitätsmenschen ist, man sieht es auch in dieser Runde mehrfach. Aber er ist es nicht, der sich dieser Requisiten bedient. Wie man sich in den Achtzigerjahren noch einen Sozialpädagogen vorstellte, sieht er jedenfalls auch nicht aus, sondern, um die sichtbaren Klischees im Bild mit den zumindest denkbaren zu beantworten, eher wie ein Literat, dessen äußere Erscheinung – ergrautes, längeres Haar, ein legeres dunkles Jackett über einem vergleichsweise unförmlich wirkenden, karierten Hemd – in Kontrast steht zum Gebaren der anderen. Dennoch hebt er sich nicht auf provokative Weise von ihnen ab. Auf eine durchaus heitere und interessierte Art wirkt er an seiner sozialen Umwelt beteiligt; freundlich zugewandt, zuhörend, gelegentlich amüsiert über etwas. Man möchte sagen: Er wirkt in allen Hinsichten so ungekünstelt und vorbehaltsfrei, wie eigentlich ein gewöhnlicher Sozialpartner ebenfalls wirken kann. Und genau das scheint die Pointe zu sein. Denn „gewöhnliche Sozialpartner“ sind in jener Szenerie nicht vorgesehen. Also ist seine Erscheinung eher negativ zu beschreiben, denn sein Verhalten definiert sich in diesem Kontext zu guten Stücken über etwas, das man an ihm vergeblich sucht: Künstlichkeit und Ressentiment nämlich. Diese gewisse Leichtigkeit, die er der Situation zu geben vermag, scheint sonderbarerweise auch seiner körperlichen PROLOG 11 Erscheinung zu entsprechen. Denn in der Bildmitte ist ein schmalschulteriger Mann zu sehen, der zugleich drahtig und elegant wirkt, aber inmitten einer Fraktion der bisweilen etwas bräsig wirkenden, verbeamteten Behäbigkeit sitzt. 1982 ist er Anfang-Mitte fünfzig. Und die meisten, die in seiner unmittelbaren Nähe in der Runde dort sitzen, dürften zumindest etwas jünger sein als er, wenn sie nicht sogar seine Studenten sein könnten. Dennoch wirkt er jünger als die meisten. Da man sein Alter schnell falsch schätzt, sollte es mich eigentlich nicht überraschen, wenn das auch anderen so ging. Als ich aber später einmal eines der Gutachten lesen konnte, das, in Zusammenhang stehend mit der Berufung Mollenhauers auf eben jene Kieler Professur, von der in den Bemerkungen des Dekans anfangs die Rede war, über ihn ausgestellt und an die Berufungskommission geschickt worden ist, da irritierte es mich dennoch, was ich dort lesen konnte. Hier schrieb Professor Rudolf Lennert (und das schon 1965): „Daß Herr Mollenhauer auf dem Gebiete der Theorie der Sozialpädagogik einer der führenden Leute in Deutschland ist und seine Dissertation bereits als ‚Standardwerk‘ gilt, ist Ihnen wahrscheinlich bekannt.“ Aber vor allem über den damals Siebenunddreißigjährigen: „Er erscheint auf den ersten Blick jünger als er nach Jahren und nach Bildung ist, überwindet dieses ‚Manko‘ aber sehr leicht durch die Reife und Energie seiner Persönlichkeit.“2 Aber ein junges Auftreten als „Manko“? Auch in dem Gutachten steht es in apostrophierter Form und Professor Lennert möchte damit wohl zu erkennen geben, dass er selbst nicht ganz glücklich ist mit der Formulierung. Bei dieser eher jugendlichen Wirkung Mollenhauers handelt es sich jedenfalls nicht nur um meinen Eindruck, offensichtlich wurden auch andere darauf aufmerksam, allzumal, als er tatsächlich noch ein junger Mann war. Damals griff vielleicht noch eher als zu einem historisch und biografisch späteren Zeitpunkt die Verwunderung darüber, dass ein noch so junger Mann schon so weit gekommen ist in einer Institution, die weiland eine Altherrendomäne war. Vielleicht galt er deshalb unter manchen sogar als charismatisch und ich meine, man könne auch etwas zu den Gründen, weswegen er vielleicht so wahrgenommen wurde, in der gerade vor meinen Augen ablaufenden Videoaufnahme erkennen. Mollenhauer hebt sich von den anderen ab. Nicht nur durch sein ganz unkompliziert wirkendes Verhalten, von dem ich schon sprach, sondern auch sein Status, von dem er und die anderen wissen, exponiert ihn. Obwohl sehr universitätsuntypisch wirkend, war er dennoch zu Beginn der Achtzigerjahre längst zu einer Legende der universitären Pädagogik geworden. Dass Herr Mollenhauer zu uns kommt, ist für uns wichtig. Eine junge Universität braucht lange Jahre zum Aufbau und zur Konsolidierung. Und es ist wichtig für uns, dass wir so ausgewiesene, etablierte Referenten haben gewinnen können. Unterdessen beschäftigt sich dieser zusehends mit dem vor ihm liegenden Manuskript. Das hilft uns für den Aufbau und die Etablierung der Pädagogik, allgemein der Universität, über dieses Fach hinaus. Dass Herr Mollenhauer bekannt ist, zeigt auch die Größe der Zuhörerschaft heute, die weit über das Übliche hinausgeht. Ich will aber trotzdem ein paar Einführungsund Vorstellungspunkte Ihnen nennen. Herr Mollenhauer hat 1958 in Berlin promoviert. 12 PROLOG Nein, in Göttingen, korrigiert ihn dieser. In Göttingen. Augenblick, ich sag schon, wo ich den Fehler her habe, gleich. Mollenhauer schmunzelt, doch er behält den Dekan jetzt im Blick. Mit aufmerksam nach oben gezogenen Augenbrauen und nach hinten gelegtem Kopf schaut er ihn unter dem Rand seiner Brille hindurch an. Jetzt ist auch zu erkennen, dass er kleiner gewachsen ist als seine Nachbarn. Der Dekan fährt fort: Er wurde 1965 Professor an der FU Berlin. Stimmt das? Nein, an der PH Berlin. Das tönt nun sehr höflich. Noch immer lächelt er, doch man merkt: Das war schon der zweite Patzer. Lachen im Saal. An der Lautstärke des Lachens lässt sich ermessen, dass er tatsächlich sehr gut gefüllt ist. Auch Mollenhauer lacht. Aber jetzt verschränkt er die Arme vor der Brust, während er den Dekan noch immer mit hochgezogenen Augenbrauen und mit aufmerksam hochgerecktem Kopf von der Seite im Blick behält. Er lauscht den Worten des Dekans jetzt nicht mehr bloß, sondern er prüft sie auch. Und dieser scheint das auch unangenehm zu spüren, indessen die allgemeine Erheiterung im Saal, die eher aus Verlegenheit heraus entstanden sein dürfte, es Mollenhauer erlaubt, seinen offen-amüsierten Gesichtsausdruck weiterhin beizubehalten und mitzulachen. Für eine Sekunde wirkte es fast, als hätte er sich scherzhaft konfrontativ zum Dekan gedreht. Dann Professor in Kiel. Der Redner schaut stramm in seine Papiere und nicht mehr zu Mollenhauer hinüber. Richtig, nickt dieser es ab, nimmt wieder eine entspannte Haltung ein und schaut auf sein Manuskript, mit einem Finger an der Wange. Die Einleitungsrede kann also getrost als missraten gelten, doch fährt der Dekan – was will er auch anderes tun – fort, als wäre nun alles wieder planmäßig: Von dorther kannte ich den Namen – Herr Mollenhauer war damals auch für Nichtfachpädagogen eine gewichtige Persönlichkeit –, dann 1969 in Frankfurt und ist seit 1972 in Göttingen. Er gilt als einer der maßgeblichen Köpfe der Rezeption der kritischen Theorie der Frankfurter Schule und des Symbolischen Interaktionismus in die Erziehungswissenschaft hinein. Inzwischen hat Mollenhauer die Verschränkung seiner Arme wieder gelöst. Mit den Ellbogen auf dem Tisch schaut er über die gefalteten Hände vor seinem Gesicht zum anderen Ende des Raums und wirkt dabei etwas abwesend. Als hätte er das Interesse an dieser Veranstaltung inzwischen verloren und als überlege er jetzt, welche Einkäufe er später noch in der Stadt erledigen könne, sitzt er nun dabei. Immer rasanter bewegt sich währenddessen der Vortrag weg vom biografischen Detail (Berlin oder Göttingen? PH oder FU?), hin zur historischen und systematischen Einordnung seines Werks. Begriff e wie Emanzipation oder Kritik des Wertfreiheitspostulats sind Vokabeln, so der Dekan, die mit seinem Namen verbunden sind. Die wichtigsten Publikationen: Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft, 1959. Einführung in die Sozialpädagogik, 1964. Erziehung und Emanzipation, 1968. Jugendhilfe, 1968. Theorien zum Erziehungsprozess, 1972. Methoden der Erziehungswissenschaft, 1977, und noch zahllose Aufsätze in Zeitschriften. Diese Informationen habe ich aus dem Wörterbuch der PROLOG 13 Pädagogik, in dem Herr Mollenhauer nicht nur zufällig auf einer Seite steht mit Justus Möser, Montaigne und Montessori. Da schaut Mollenhauer den Dekan überrascht an, als ob dieser etwas ganz Unerhörtes gesagt hätte, von dem er bislang noch nichts wusste; als ob er gleich Wirklich? Ist doch nicht wahr! sagen würde. Der Dekan: Ob einer von uns später auch einmal in einem so illustren Kreis abgedruckt wird, ist schwer zu hoff en. Herr Mollenhauer, vielen Dank, dass Sie gekommen sind. II. Man kann es dieser Szene anmerken, dass der Name Klaus Mollenhauers 1982 zumindest in der Pädagogik und Erziehungswissenschaft nicht nur ein bekannter Name war, sondern dass ihm bereits da etwas nahezu Klassisches anhaftete. Vielleicht ist das der Grund für die offensichtliche Nervosität des Dekans. 1982: Da ist die zweite Auflage von Christoph Wulfs Habilitation mit dem Titel Theorien und Konzepte der Erziehungswissenschaft noch erhältlich, die dritte wird erst im Jahr darauf gedruckt werden. Hier wird über den Einfluss „der Kritischen Theorie auf die Sozialwissenschaften, die Studentenbewegung und die Liberalisierungstendenzen in den sechziger und siebziger Jahren“ gesagt, er sei zwar nur „schwer einzuschätzen, doch wird man ihn insgesamt relativ hoch ansetzen können.“3 Für Wulf spielt Mollenhauer darin die entscheidende Rolle, weil durch dessen Schrift Erziehung und Emanzipation der für die kritische Theorie zentrale Emanzipationsbegriff hinsichtlich der „damit verbundenen Zielvorstellungen“4 bahnbrechend auf die Erziehung bezogen wurde. Klaus Mollenhauer, ein Klassiker also, dessen Namen man mit der Studentenbewegung und mit gesellschaftlichen Liberalisierungsprozessen ebenso in Verbindung bringt, wie mit den dementsprechenden Tendenzen in Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Ferner wird sein Name in Zusammenhang mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule gesehen. Bemerkenswert an diesen Zeilen ist aber gar nicht so sehr der Befund als solcher, in dem man Wulf zwar nach wie vor zustimmen muss5 – dass die kritische Theorie also einen beträchtlichen Einfluss auf die Sozialwissenschaften, die Studentenbewegung und die gesellschaftlichen Liberalisierungstendenzen hatte –, sondern viel mehr, dass die Siebzigerjahre, über die Wulf wie aus der historischen Distanz heraus schreibt, ja noch gar nicht zu Ende waren, als das Buch 1979 in der ersten Auflage erschien. Geschrieben wurden die entsprechenden Zeilen selbstverständlich noch etwas früher. Aus heutiger Sicht und gegenüber den nunmehr zahlreich vorhandenen Rezeptionsanalysen zur Frankfurter Schule einerseits, andererseits auch zum Phänomen „1968“,6 wirkt der Gebrauch und die Zusammenstellung der Begriffe „Sozialwissenschaften“, „Studentenbewegung“ und „Liberalisierungstendenzen“ etwas holprig oder auch grob, sicher auch wegen der fehlenden historischen Distanz, die den Worten Wulfs wiederum den Anschein einer recht unverfälschten zeitgenössischen Wahrnehm- 14 PROLOG ung gibt. Und so deuten bei genauer Betrachtung diese Formulierungen sogar einen Vorbehalt an – und das bereits in den „Siebzigerjahren“, zumal aus der Feder eines Autors, dem man Sympathien für die kritische Theorie sehr wohl unterstellen darf. Es liest sich zumindest sehr engagiert. Denn erstens schienen sich die Zeiten des glücklichen In- und Miteinanders von „Sozialwissenschaften“, „Studentenbewegung“ und „Liberalisierungstendenzen“ schon damals für Wulf überlebt zu haben (wie sonst wäre der gegenüber den zu dieser Zeit durchaus noch fortlebenden Vorgängen sich so distanziert gebende Gestus zu deuten). Dass zweitens jenes In- und Miteinander von „Versozialwissenschaftlichung“ der Gesellschaftskritik, studentischem Protest, Erziehung, Bildungsreform und universitärer Pädagogik tatsächlich Wirkungen zeigte – und zwar keine kleinen, sondern „insgesamt relativ hoch anzusetzende“ –, ist der noch etwas diff use Eindruck, unter dem Wulfs Befund steht. Wie diese Wirkungen dereinst zu bewerten seien, vielleicht eine seiner Befürchtungen.7 Die Bedeutung Klaus Mollenhauers in dem ganzen rühre, so Wulf, indessen hauptsächlich von Erziehung und Emanzipation 8 her, also von einer Publikation von 1968. Dass dies eine entscheidende Publikation war, verdeutlicht sich auch in der folgenden Ausführung Michael Winklers: „Mit dem Buch Erziehung und Emanzipation gibt Mollenhauer einer Epoche ihre Bezeichnung – offen muss bleiben, ob er einen Schlüsseltext vorlegt. Denn das Buch wirkt unaufgeregt, wer es liest, wundert sich über sein Echo.“9 Diese Publikation machte nicht nur ein Thema – die Bedeutung des Emanzipationsbegriffes für die institutionalisierte Erziehung – über die Grenzen der pädagogischen Fachöffentlichkeit bekannt, sondern auch den Autor. Selbst die Frankfurter Allgemeinen Zeitung rezensierte das Buch sehr beeindruckt.10 Spätestens hiermit erhielt also auch eine außerpädagogische Öffentlichkeit einen Begriff davon, was eine kritische Erziehungswissenschaft sei. Bemühe man sich indessen darum, gleichsam die Geburtsstunde der kritischen Erziehungswissenschaft einzugrenzen, dann, so Heinz-Elmar Tenorth, müsse man aber noch etwas weiter zurückgehen. Nicht 1968, sondern 1964 sei es in der Theoriepublizistik nachweislich vonstatten gegangen, dass erstmals Theoriefiguren aus dem Bestand der Frankfurter Schule so gegen den erziehungswissenschaftlichen Mainstream der Fünfziger- und Sechzigerjahre gerichtet wurden, dass dies anschlussfähig für eine systematische Neuformulierung der gegenstandstheoretischen und methodologischen Grundlagen der Disziplin werden konnte.11 Tenorth bezieht sich in seinem Befund ebenfalls auf Klaus Mollenhauer und die Erstpublikation seines Aufsatzes Pädagogik und Rationalität, der dann – vier Jahre darauf – erneut in Erziehung und Emanzipation abgedruckt worden ist. Wenn nun das Kriterium zur Bestimmung des Beginns der kritischen Erziehungswissenschaft bzw. der kritisch-emanzipatorischen Pädagogik eine dergestalt formulierte Rezeption von Schriften der Frankfurter Schule in die Pädagogik hinein ist, dass sich jene zugleich für eine gesellschaftskritische Positionierung und ein sozialwissenschaftlich ausgerichtetes Selbstverständnis öffnete, dann könnte man sogar noch ein wenig weiter zurückgehen. Doch immer wieder würde man auf diesem Weg PROLOG 15 den Namen Mollenhauers vernehmen. So wird 1961 sein Aufsatz über Anpassung zum ersten Mal veröffentlicht,12 in dem er eine Synthese von Überlegungen Adornos und Marcuses mit entwicklungspsychologischen Kategorien Jean Piagets erarbeitet und diese auf einen gesellschaftskritischen Begriff von „Sozialisierung“ bringt. Bereits hier könnte man mühelos dieselben Kriterien bestätigt finden wie in Bezug auf Pädagogik und Rationalität, nur dass Mollenhauer in Anpassung die Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nicht beim Namen (Herman Nohl) nannte.13 Ginge es indes lediglich um eine rezeptionsgeschichtliche Ermittlung der ersten kritischen Töne, die mithilfe der expliziten Bezugnahme auf Texte der Frankfurter Schule gegen die geisteswissenschaftliche Tradition der deutschen Pädagogik zumindest leise angedeutet wurden, dann stieße man abermals auf ihn und seinen Vortrag mit dem Titel Soziale Arbeit heute – Gedanken über ihre sozialen und ideologischen Voraussetzungen, den er 1959 auf der Jahrestagung der Gilde Soziale Arbeit hielt.14 Auch dort bezieht er sich auf Texte Max Horkheimers, um sie in Beziehung mit einem rollentheoretischen Vokabular zu bringen, das man seinerzeit eher noch exklusiv in strukturfunktionalistischen Kontexten gebrauchte und womit er zumindest andeutete, dass die Ursachen für sozialpädagogische Problemlagen immer in gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen vorzufinden seien und sich nicht auf Erziehungsdefizite reduzieren ließen. III. Je weiter man historisch zurückgeht, desto mehr lockert sich der Zusammenhang zwischen Pädagogik, Sozialpädagogik und Gesellschaftskritik dann doch auf. Einer der Gründe dafür ist, dass sich ein signifikanter Begriff von Gesellschaftskritik und dessen Überführung in alltäglich gegebene Liberalisierungsprozesse – um die Kategorien Wulfs erneut aufzugreifen – erst mit der Studentenbewegung herausbildete. Sobald aber diese Verknüpfung auch mit der Pädagogik und Sozialpädagogik sichtbar wird, beginnt man auch die Stimme Klaus Mollenhauers zu hören. Man hatte Ende der Fünfzigerjahre noch keinen hinreichenden Begriff davon, der, um es so zu sagen, wissenschaftlich anerkannt war. Allenfalls die Frankfurter Schule bemühte sich um dessen Etablierung, doch hatte sie es noch nicht über Studentenbewegung und Bildungsreform bis in die außeruniversitäre Alltagswahrnehmung der Erziehungsmilieus hinein geschaff t. Auch das „Echo“ (Winkler) von Erziehung und Emanzipation bleibt an die Studentenbewegung und an „Achtundsechzig“ gebunden. Mollenhauer war ein Zeitzeuge der Studentenbewegung – beginnend mit der Konstitutionsphase der Außerparlamentarischen Opposition Anfang der Sechziger in Berlin, wo er zunächst Dozent und dann Professor war, bis zu ihrem Niedergang Anfang der Siebzigerjahre in Frankfurt –, aber er war auch einer ihrer bedeutsamen Impulsgeber sowohl im Umfeld der Hochschulreform als auch in Zusammenhang stehend mit der Umstrukturierung der institutionalisierten Erziehungsverhältnisse 16 PROLOG ab den späten Sechzigerjahren. Im Zuge von „Achtundsechzig“ wurde er jedenfalls berühmt. Er war einer ihrer Vordenker, aber ein „68er“ war er nicht. Er wurde 1928 in Berlin geboren und musste 1944, mit gerade erst fünfzehn Jahren, in den Krieg. Das Kriegsende erlebte er als Sechzehnjähriger, danach kam er noch kurz in Gefangenschaft, somit gehörte er zur Flakhelfergeneration. Für diese Generation hat Jürgen Busche einmal sehr trefflich die Bezeichnung „große Brüder“ gefunden; eine deswegen treffende Bezeichnung, weil Busche sie vom Blickwinkel des „68ers“ her findet. So gesehen, gehörten die „großen Brüder“ zur Flakhelfergeneration wohingegen ihre jüngeren Geschwister gleichsam die „68er“ waren. Was sie, um in der recht illustrativen Skizze Busches zu bleiben, gemeinsam haben, das sind Eltern, die während der Machtergreifung der Nazis erwachsen und entscheidungsfähig waren.15 Das ist offenbar ein vielfach spannungsreiches Familienportrait, dessen politischer und kultureller Gehalt in der bundesdeutschen Geschichte der Sechzigerund Siebzigerjahre besonders lebhaft zum Tragen kommt. Die Altersdifferenz zwischen den „Flakhelfern“ und den „68ern“ beträgt zu Teilen etwas mehr als zehn Jahre. Waren diejenigen unter den historisch später sogenannten „68ern“, die noch in den letzten Kriegsjahren geboren wurden, bei Kriegsende gerade einmal vier oder fünf Jahre alt – oder, sofern überhaupt schon geboren, sogar noch jünger –, so waren die „Flakhelfer“ irgendetwas zwischen vierzehn und achtzehn. Zu Teilen hatten sie schon Wehrmachtserfahrung gemacht. Oder sie mussten zumindest für eine gewisse Zeit ihrer Jugend mit der Einberufung rechnen. Mögen auch manche der „68er“noch eine Erinnerung an den Krieg haben, an die Nächte im Bombenkeller, an Vertreibung und Elend, so waren sie aber noch zu jung, um dies in einen bewussten Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Ideologie und den staatlichen Institutionen zu bringen. Eher waren sie in einem Alter, in dem die gesammelten Eindrücke mit biografisch nur schwierig einzuordnenden Wahrnehmungen zusammenhingen. Die NS-Zeit ist der Median in einem Generationenverhältnis, das die „Flakhelfer“ und die „68er“ mit ihren gemeinsamen Eltern verbindet. Wurden die mittleren und älteren Jahrgänge unter den „68ern“ etwa in den letzten fünf Jahren der Nazidiktatur geboren, so kamen die „Flakhelfer“ noch in der Weimarer Republik zur Welt. Können sich die „Flakhelfer“ noch an die Machtergreifung und eventuell an die damit verbundenen Stimmungen im Elternhaus erinnern, so setzen die Erinnerungen der „68er“ erst deutlich später ein, als die häusliche Stimmung schon nicht mehr so sehr durch politische Ambivalenzen den Nazis, sondern inzwischen eher den Siegermächten gegenüber, unterfüttert ist. Seien in dieser Hinsicht die Profile der beiden Generationen auch noch so verschieden, so haben sie dennoch ein wichtiges gemeinsames Merkmal: Nämlich Eltern, deren Geburtsjahrgänge grob zwischen 1880 und 1910 datieren. Zum konkreten Erfahrungsbestand der „Flakhelfer“ gehört z. B. noch, wie die „jüdischen Klassenkameraden […] aus den Schulen“ verschwanden, wo die „68er“ in aller Regel gar keine mehr kennengelernt haben.16 „Als die Synagogen brannten, sahen“ – aus Sicht der „Flakhelfer“ – „die Erwachsenen nur zu. Diejenigen, die in Schu- PROLOG 17 le und Familie die Begriffe von Recht und Ordnung zu vermitteln hatten, versagten, konnten aber von den Schülern, den Sechs- bis Zehnjährigen kaum als Versager auf Distanz zu sich selbst gebracht werden.“17 Daher, nämlich von den gemeinsamen älteren Verwandten, rührt Busches überaus gelungene Formulierung „große Brüder“. Darin deutet sich auch die kultur- und sozialgeschichtliche Bedeutung an, die das Verhältnis zwischen den „großen Brüdern“ und den „68ern“ um 1968 herum gewinnt. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“,18 die mit der räumlichen Gleichzeitigkeit mehrerer miteinander in Kontakt stehenden Generationen verbunden ist, realisiert sich zwischen den „68ern“ und den „großen Brüdern“ Mitte bis Ende der Sechzigerjahre im Kontext von Bildungsinstitutionen, Verbänden und politischen Bewegungen. Der Kontext ihrer vielleicht produktivsten Bezugnahme ist in jenen Jahren aber die Universität. In ihr begegnen sie sich, als die „68er“ gerade ihr Studium aufnehmen, während die „großen Brüder“ dort schon Anstellung gefunden haben und in der Lehre tätig sind: „Für die 68er Generation bedeutete das: Die meisten der jüngeren Professoren und Assistenten, mit denen sie es in den sechziger Jahren zu tun hatten, waren zuvor viele Jahre lang enge Mitarbeiter von Gelehrten gewesen, die, was ihr Wirken in den Jahren der Diktatur angeht, einiges zu verschweigen hatten und die auch nicht sofort von dem abrückten, was sie früher gelehrt hatten. Diese Zusammenarbeit hatte nicht zur Folge, daß die Jüngeren [die „großen Brüder“] etwa darauf verzichtet hätten, neue Wege zu gehen. Auch hatten etliche der neuen Koryphäen verschlungene Pfade zum eigenen Lehrstuhl gewählt und so eindeutige Zuordnungsmöglichkeiten vermieden. Es gab somit unter der Generation der großen Brüder nicht wenige Professoren, die mit herausragenden Büchern für das Studium in den sechziger Jahren Glanzlichter gesetzt hatten. Dazu gehörten sicherlich Dahrendorfs Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, Habermas’ Strukturwandel der Öff entlichkeit, Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens.“19 Und auch Mollenhauers Erziehung und Emanzipation gehörte dazu sowie überhaupt die Darstellung Jürgen Busches eklatant auf ihn zugeschnitten erscheint. Auch er war schon Mitte der Sechziger eine Koryphäe seines Fachs; auch er hatte bei einem Pädagogen promoviert, der, wie sich deutlich später zeigte, einige Anpassungsleistungen in der Nazidiktatur zu erbringen bereit war. Ebenfalls ereilte Mollenhauer spätestens Mitte der Achtzigerjahre ein Schicksal, das er mit anderen „großen Brüdern“ teilt: dass sich die „Achtundsechziger“ von ihm abzuwenden begannen. Als er zu Beginn der Achtzigerjahre damit anfing, kulturtheoretischen und –geschichtlichen Aspekten mehr Geltung zuzuschreiben, wo und wenn es ihm um grundlagentheoretische Verständigungen ging, musste er sich den Vorwurf machen lassen, das sei eine „Treulosigkeit“ nicht nur gegenüber der kritischen Theorie, sondern vielmehr noch gegenüber den „Adoptivkindern kritischemanzipatorischer Pädagogen“.20 Solche sich doch sehr auf die Person richtenden Debatten und Kontroversen sind und waren, zumal in einer solchen biografischen Verdichtung wie bei Mollenhauer, eher selten. 18 PROLOG Klaus Mollenhauer war und ist nicht der einzige Erziehungswissenschaftler, der mit dem Etikett „kritische Erziehungswissenschaft“ in Verbindung gebracht wird. Aber die Rekonstruktion dessen, was man sich programmatisch, systematisch und epochal darunter vorzustellen hat, ist mit keinem anderen Namen dermaßen dicht verknüpft. An keinem anderen Erziehungswissenschaftler wurde so sehr personalisierend Kritik geübt, wie an ihm. Und in gewisser Weise finden wir hier wieder in die ambivalente Geste Christoph Wulfs hinein, der Ende der Siebzigerjahre in einer gleichsam abgebremst idiosynkratischen Diktion meinte, man werde die Einschätzung des Einflusses der kritischen Theorie auf das pädagogische Denken kaum zu tief ansetzen dürfen. Mitte der Achtzigerjahre erschien es gerade deshalb unverständlich, weshalb Mollenhauer, anstatt sozialwissenschaftlich gegebene Theorieprobleme auch sozialwissenschaftlich zu lösen, auf geistes- und kulturgeschichtliche Theoreme zurückgriff, wo man es ihm Ende der Fünfziger- und zu Beginn der Sechzigerjahre noch als Provokation anlastete, sich auf sozialwissenschaftliche Theoreme zu beziehen. Auch der Vorbehalt gegen die kritische Erziehungswissenschaft traf den Erziehungswissenschaftler Klaus Mollenhauer stets am direktesten und härtesten. IV. 1928 wurde er in Berlin geboren. Das habe ich schon erwähnt. Wenn ich nun noch das Todesdatum nenne – Mollenhauer verstarb etwas mehr als ein halbes Jahr vor seinem siebzigsten Geburtstag 1998 in Göttingen –, dann greife ich damit im Grunde einer Frage voraus, die sich im Rahmen der Biografie einer Person, die noch nicht lange tot ist, naheliegenderweise dem Biografen stellen lässt: Nein, ich habe ihn leider nicht mehr persönlich kennengelernt. Hätte ich ihn gerne kennengelernt? Gewiss. Doch weshalb? Ist es denn nicht paradox, jemanden kennen zu wollen, von dem man eben aufgrund der vorausgesetzten persönlichen Nichtbekanntschaft überhaupt keinen Begriff hat? Auf dieses eigentlich paradoxe und in seiner paradoxen Struktur sehr vielschichtige Interesse reagiert die Biografie als Genre, während es auf Seiten der Autoren und Autorinnen solcher Bücher schon vorauszusetzen ist, bevor sie die ersten Sätze über den Lebenslauf einer Person tippen. In meinem Fall könnte dieses etwas sonderbare Bedürfnis, jemanden kennen zu wollen, den man nicht kennt, vielleicht mit Mollenhauers wissenschaftsgeschichtlichem Status und mit seinen Verdiensten in der Erziehungswissenschaft zusammenhängen. Das hätte zu bedeuten, dass mich Personen „mit Verdiensten“ interessieren – zumindest innerhalb der Erziehungswissenschaft –, doch dieser Hypothese misstraue ich. Indes: Ohne Zweifel ist er erstaunlich schnell zum „Klassiker“ geworden. Um einiges rascher sogar als das üblicherweise bei Vertretern seines Fachs, der Pädagogik, vonstatten geht. Vielleicht könnte man den seinen in der Pädagogik mit dem frühen Klassikerstatus von Jürgen Habermas in der Soziologie vergleichen. Bereits im Jahr seines Todes wurde Klaus Mollenhauer in der Erstauflage von Christian Niemeyers PROLOG 19 Buch Klassiker der Sozialpädagogik mit einem ausführlichen Beitrag gewürdigt.21 Damit stand sein Name nicht nur in einer Reihe z. B. mit Johann Pestalozzi, Siegfried Bernfeld und Herman Nohl, also eingereiht in eine komplexe zweihundertjährige Tradition. Zudem wurde Erich Weniger, Doktorvater Mollenhauers, von Niemeyer nicht in den Klassiker-Band mit aufgenommen. Nach eigenem Bekunden habe ihm das zwar die „größten Bauchschmerzen“ bereitet, doch schien es ihm letzterdings deshalb gerechtfertigt, weil Wenigers „Anteil [an der Geschichte der Sozialpädagogik, A.A.] via Nohl abdeckbar schien“22, wobei grundsätzlich das Aufnahmekriterium zählte: „Als Klassiker gilt dabei […], wer Ideen hinterließ, denen der Rang des Zeitlosen zukommt […]“.23 Das hat im entsprechenden Kontext nun zweierlei zu bedeuten. Mollenhauers Theoriehinterlassenschaft stehe einerseits in der Funktion, dass sie formbestimmend sei für das historische und empirische Verständnis der Sozialpädagogik zumindest in Deutschland. Zweitens hat es in Hinblick auf die historische und rezeptionslogische Bestimmung der Sozialpädagogik zu bedeuten, dass man beispielsweise den Beitrag Erich Wenigers zurückführen könne auf den von Herman Nohl. Aber der Beitrag Klaus Mollenhauers lasse sich nicht mehr auf Erich Weniger ausschließlich zurückführen. Der Generationenbruch, der sich bereits auf der Ebene der Kohorten in der Nachkriegszeit zeigte, wird also auch in der historischen Sozialpädagogik wahrgenommen und hinterlässt dort eine Bruchlinie, die scheinbar exakt zwischen Weniger und Mollenhauer verläuft. Ein Bruch allerdings, für den Mollenhauer gesorgt hat und nicht Nohl oder Weniger. Auch wenn all das einen großen Eindruck bei allen hinterlassen muss, die Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik studiert haben – und dazu zähle ich auch –, möchte ich mein Interesse an der Person nicht maßgeblich darauf zurückführen. Denn solch hohe Ehren haben auf mich in aller Regel eher eine einschüchternde als eine vorrangig sympathische Wirkung. Und wenn ich mich auf den in der Tat etwas albernen Gedanken einlasse: Könnte ich wählen, dann würde ich lieber den bereits gealterten Mollenhauer kennenlernen als den jungen. Zumindest glaube ich das. Je näher man sich in den Lebensjahren ist, desto mehr vergrößert ein Gefälle in den wissenschaftlichen Leistungen auch die gefühlte Distanz. Das mag zwar einer der schlechteren Gründe sein, weshalb ich vermutlich dem vierzigjährigen Klaus Mollenhauer eher als dem sechzigjährigen mit gespaltenen Empfindungen begegnet wäre. Der andere, vielleicht nicht ganz so unvernünftige Grund für meine (in der Tat substanzlosen) Vorbehalte dem jüngeren gegenüber ist, dass ich nicht einschätzen kann, wie ich ihn aus der zeitgenössischen Perspektive der Sechzigerjahre heraus wahrgenommen hätte. Möglicherweise hätte ich ihn mit „emanzipatorischem Enthusiasmus“ gesehen. Doch ebenso gut ist es möglich, dass ich – wie so viele der damaligen Studenten dann auch – politisch mehr von ihm erwartet hätte als er zu geben bereit war. Doch zu was führen solche Spekulationen? Allenfalls dazu, sich einen genaueren Begriff von der eigenen Motivlage zu machen, die immer auch eine projektive Stoßrichtung hat. 20 PROLOG In einer Begegnung mit dem gealterten Mollenhauer wäre es mir eventuell leichter gefallen, solchen ziel- und ertraglosen Gedanken aus dem Wege zu gehen. Sicher: Auch der gealterte Mollenhauer hätte sich, was vielleicht gerade für Pädagogen nicht ganz unüblich ist, ebenfalls gut als Projektionsfläche angeboten. Dann aber in anderer Weise, als noch in jungen Jahren, was auch mit den jeweiligen historischen Bedingungen zusammenhängt und nicht primär mit ihm selbst. Mollenhauer, der ältere, war nicht nur einer (in ihrem Selbstverständnis) politischen Pädagogik weitgehend entwachsen, ohne dabei allerdings selbst unpolitisch geworden zu sein. Sondern er war auch längst über die Sozialpädagogik als sein Spezialgebiet hinaus. Die linksliberalen und bisweilen auch revoluzzerhaften Projektionsmechanismen greifen hier nicht mehr so leicht wie noch in den Siebzigerjahren. In Bernd Dollingers Buch Klassiker der Pädagogik, erstmals 2006 erschienen, wird er schon acht Jahre nach seinem Tod ebenfalls ausführlich behandelt. Dort wird Mollenhauer eingeordnet in einen historischen Zusammenhang mit Jean-Jacques Rousseau und Maria Montessori. Aber er wird auch in einer Reihe mit Philosophen und Soziologen wie Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu und Michel Foucault genannt.24 Acht Jahre nach Mollenhauers Tod kann man mithin erkennen, wie sich die Disziplin – die Erziehungswissenschaft – verändert hat; wie sie, zumal in einem „Klassikerband“, fachfremde Intellektuelle als prägende Inspirationsquellen anerkennt. Auch diese Entwicklung ist durch ihn selbst mit angestoßen worden – und er hat sie überlebt, anstatt ihr zum Opfer zu fallen wie zahlreiche andere Pädagogen und Pädagoginnen, die aus den Klassikerreihen eben auch wieder verschwinden. Ungezählte posthume Würdigungen und Nachrufe, auf die ich hier nicht gesondert eingehen möchte, waren Klaus Mollenhauer und seinem Werk gewidmet, sowie die Produktion und Publikation von Einträgen in Fachlexika der Pädagogik oder Erwähnungen und Einordnungsversuche in Einführungsreihen bis heute nicht abreißt. Besonders in der zuletzt genannten Literaturgattung, also der historischen und/ oder systematischen Einführung in die Pädagogik, triff t man auf Mollenhauers Namen immer noch am ehesten in Verbindung mit dem Schlagwort „kritisch-emanzipatorische Pädagogik“ oder auch „kritische Erziehungswissenschaft“; hier ist also Mollenhauer, der jüngere, noch sehr präsent. In den letzten Jahren gesellen sich aber vermehrt Aufsätze dazu, die ihn in Verbindung mit der „kulturellen Wende“ bzw. der „Kulturpädagogik“ sehen; also setzt sich Mollenhauer, der ältere, in der Rezeption nun ebenfalls durch.25 Jene letzte Schaffensphase, in deren Zentrum die Kategorie des Ästhetischen steht – und zwar sowohl als das Ästhetische in den Kulturprodukten, die um das gesellschaftliche Problem der Erziehung herum historisch entstanden sind, als auch in Hinblick auf die Tätigkeit von Kindern und Jugendlichen –, beschäftigt die Erziehungswissenschaft bis heute und bescherte Mollenhauer Mitte der Achtzigerjahre ein Comeback; eine Rückkehr auf die wissenschaftliche Bühne zumal, die dann auch wieder über die Grenzen der Erziehungswissenschaft hinaus wahrgenommen wurde.26 Doch hiermit sind wir im Grunde wieder bei den eingangs geschilderten Szenen angekommen, bei der Osnabrücker Ringvorlesung Allgemeine PROLOG 21 Pädagogik heute. Mit den Vergessenen Zusammenhängen und ihrer Publikation im Jahre 1983 beginnt diese Schaffensperiode nämlich. In Osnabrück, also bei dem Vortrag, mit dem wir hier eingestiegen sind, trug er ein Jahr zuvor erste Passagen aus dem Buch vor. Gegenwärtig könne man nicht sagen, dass es so etwas gibt, wie einen zuverlässigen Zusammenhang von Problemstellungen, wo jeder sozusagen im Grundstudium schon erfährt: „Das ist allgemeine Pädagogik.“ Die Einführungsreferate sind beendet und er ist an der Reihe. In der Videoaufnahme sieht man ihn nun vermehrt gestikulieren. Stimme und Körper scheinen jeweils mit unterschiedlichen Mitteln zu konkurrieren, so als ob sie sich auszustechen hätten und nur einer das Rennen machen könnte. Wenn die Stimme durch rhythmische Ausgewogenheit und gleichförmige Deutlichkeit einen Vorteil gegenüber der leiblichen Präsenz erlangt, pariert der Oberkörper Mollenhauers dies mit gesteigerter Aktivität. Körper und Stimme in ihrer Einheit lassen sehr eindrücklich auf eine ausgedehnte Vortragsroutine schließen. Doch trotz der wachen und regen Gestik, die einen auch in diesem Kontext bisweilen nach an eine außerparlamentarische Diskussion denken lässt, verdeutlichen seine Stimme und die Wahl der Betonungen zuallererst, dass der Redner einer anderen Generation angehört. Er ist der Älteste auf der Bühne. Auch wenn möglicherweise nur wenige Jahre zwischen dem Fakultätsleiter rechterseits, dem Dekan auf der linken und ihm sein sollten, so scheint Mollenhauer aus einer anderen Zeit zu stammen, selbst wenn er nicht so aussieht und wirkt. Seine Sprache und seine Stimme verraten es aber. Also, was Allgemeine Pädagogik sein könnte heute, ist eher ein Problem. Und nun ist die Frage, wie man an die Sache herangeht. Man könnte die gegenwärtige Situation skizzieren. Das ist aber schon vielleicht geschehen bei dem vorangegangenen Vortrag. Oder man könnte so etwas wie eine Programmatik entwerfen. Wie eigentlich sollte Allgemeine Pädagogik betrieben werden – nach meiner Meinung beispielsweise. Oder man könnte viel bescheidener ansetzen und so etwas wie einen Werkstattbericht geben, ausgeführt an einem sehr speziellen Problem. Und dieses dritte will ich machen. Ohne jede Programmatik und ohne jeden darüber hinausgehenden Anspruch. Ich will das versuchsweise Ihnen einmal vortragen in der Hoff nung, dass wenigstens einmal plausibel wird, dass dies ein wesentliches Thema allgemeiner Pädagogik ist. Da ich das mit einer ganzen Reihe von Materialien mache, damit die Sache nicht so abstrakt wird, sondern anschaulich wird, werde ich mit 45 Minuten nicht auskommen und ich bitte Sie um Nachsicht dafür, dass ich Ihre Geduld vielleicht etwas zu sehr beanspruche. Mollenhauer, der ohnehin stark zum Publikum gewandt spricht, seinen Blick mit einigem körperlichem Engagement die Reihen entlang und in den Raum hinein wandern lässt, hält plötzlich inne. Mitfühlend schaut er über den Rand seiner Brille und beteuert (was für den Klassiker zu Lebzeiten, der im Wörterbuch bei Montaigne und Montessori nachzuschlagen ist, eher ungewöhnlich ist): Mir macht es aber nichts aus, wenn Sie mich an irgendeiner Stelle des Gedankengangs unterbrechen und auff ordern, jetzt aufzuhören; jetzt hätten Sie aber genug gehört, jetzt wollen Sie aber selber reden und so. Es ist eigentlich gleichgültig, an welcher Stelle man das Ganze abbricht. 22 PROLOG Wir könnten auch zwischendurch aufhören, ein bisschen reden, dann noch den Rest vortragen, wie Sie mögen. Sie müssen sich äußern, wenn Sie denken, also nun wird’s aber ein bisschen zu viel. Und noch eine Entschuldigung: Ich spreche nicht frei, sondern ich lese vor. Und zwar deshalb, weil es ein Problem ist, mit dem ich mich neuerdings erst befasse und wo ich noch große Schwierigkeiten damit habe, die Formulierungen so zu setzen, dass sie mir selbst als zuverlässig genug erscheinen. Deshalb habe ich es sozusagen Wort für Wort ausformuliert. Ich hoff e, dass das nicht das Zuhören-können oder die Laune allzusehr beeinträchtigt. Ein kurzes Innehalten, um sich geräuschlos die Nase zu putzen. Über Selbsttätigkeit spreche ich jetzt in vier Abschnitten. Nämlich Reden, Rechnen, Malen, Gehen. Das sind die vier Kapitel: Reden, Rechnen, Malen, Gehen. Auch wenn der Aufbau und die Diktion des Referats einen klassischen Zuschnitt haben, spielten, wie man sieht, dennoch die Sechziger- und Siebzigerjahre als prägende Epoche in den Habitus des Referenten hinein. V. Sollte all das – also dieses Diskussionsverhalten – auch eine wissenschaftsgeschichtliche Relevanz haben, wie lässt sie sich dann beschreiben? Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn gab in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen etwas zu bedenken, das auf den ersten Blick trivial anmutet, das sich aber tatsächlich, wenn man es aus wissenschafts- und kulturgeschichtlicher Perspektive betrachtet, als ungemein komplexer Vorgang darstellt. Mir scheint es, als ob das insbesondere an der Biografie Mollenhauers darzustellen wäre. In der wissenschaftlichen Diskussion unterschiedlicher Theorien, so Kuhn, sei deshalb „keine vollständige Verständigung [zu] erzielen“, weil die Vokabulare, in denen Wissenschaftler „solche Diskussionen führen, vorwiegend […] aus denselben Ausdrücken bestehen“27, nichts destotrotz aber die biografischen Erfahrungshorizonte, die sich hinter den Ausdrücken verbergen, in hohem Maße verschieden sind.28 Wenn in wissenschaftlichen Gemeinschaften, die ihren institutionalisierten Ort in aller Regel an einer Universität haben, stets wieder Diskussionen zu aktuellen Problemen auftreten und sich also die Anwendung desselben Vokabulars wiederholt auf unterschiedliche Probleme einstellt, dann wird es auf Dauer umso unwahrscheinlicher, dass ein Konsens erzielt werden kann. Je häufiger sich nämlich Theoriediskussionen wiederholen, umso wahrscheinlicher wird dadurch, dass sich die Erfahrung, trotz eines gemeinsamen Vokabulars Unterschiedliches zu meinen, in den Vordergrund drängt. Oder man könnte auch sagen: Würden sich nicht immer wieder Meinungsverschiedenheiten in Diskussionen einstellen – und dies, obwohl man in den Diskussionen denselben Prämissen folgt –, dann könnte es auch zu keinem Erkenntniszuwachs kommen. Von etwas ganz ähnlichem ist auch Jean Piaget in seinen wissenschaftstheoretischen Schriften ausgegangen. Begrifflich hat Piaget nämlich noch um einiges präziser als Kuhn darauf hingewiesen, dass sowohl die Entstehung der Intelligenz im Individu- PROLOG 23 um auf ein Ungleichgewicht zurückzuführen sein müsse, das sich zwischen der inneren Wahrnehmung des Subjektes und den äußerlichen Sachverhalten seiner Umwelt ergibt,29 als auch dementsprechend die Repräsentation dieses Wissens in den Wissenschaften darauf zurückgeführt werden kann (und nicht umgekehrt). Doch ebenfalls sehr viel differenzierter als Kuhn, der vor allem Physiker war, konnte Piaget, der Biologe und Psychologe war, auf den Zusammenhang der Entstehung von Intelligenz und ihrer symbolischen Repräsentation in der Form von wissenschaftlichem Wissen mit der universitären Ordnung der Natur- und der Human- bzw. Geisteswissenschaften hinweisen. „Jeder Spezialist auf dem Gebiet der exakten und der Naturwissenschaften“, meinte Piaget, „braucht eine ziemlich gründliche Vorbildung in den Disziplinen, die seinem eigenen Fach in jener hierarchischen Ordnung vorangehen, ja oft benötigt er die Mitarbeit von Forschern dieser Fachgebiete, was diese wiederum motiviert, sich für die Probleme der Wissenschaften zu interessieren, die auf ihrer eigenen aufbauen.“30 Doch etwas anders sieht es aus, wenn man sich die Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften anschaut, was insbesondere auf die Struktur der universitären Fakultäten, wenn schon nicht zurückzuführen sei, so doch aber hierdurch massiv begünstigt werde: „Während die Ausbildung jedes beliebigen Spezialisten in der Naturwissenschaftlichen Fakultät mehr oder minder ausgedehnte Kenntnisse verlangt, kann es geschehen, daß ein Psychologe von Linguistik, Wirtschaft oder Soziologie nicht das geringste weiß.“31 Wenn man dieser Einschätzung Piagets folgt, dann liegt auch auf der Hand, dass sich das Problem des wissenschaftsdiskursiv erzeugten Dissenses in den Geisteswissenschaften allgemein, doch insbesondere in der Pädagogik, um einiges forcierter stellt als das vermutlich in der Physik oder in der Mathematik der Fall ist. Wenn man den Vergleich mit der Pädagogik zieht, dann wird es in der Physik oder der Mathematik schätzungsweise relativ selten dazu kommen, dass in Diskussionen die Grundlagen des Faches in Frage gestellt werden. Vergleicht man sie mit den Pädagogen, dann dürften Naturwissenschaftler in aller Regel dementsprechend entspannt mit dem Problem umgehen, dass auch ihre Methoden von grundlagentheoretisch begründeten Prämissen abhängen. Als Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft wird den Naturwissenschaftlern somit die Dignität ihres jeweiligen Faches relativ krisenresistent erscheinen, aber den Pädagogen nicht. Selbst im Vergleich mit Psychologen und Soziologen kommt bei den Pädagogen noch verschärfend hinzu, dass, in ihrem Falle, das Verhältnis von erfahrungswissenschaftlicher Substanz und theoriebegrifflicher Güte, das Thomas S. Kuhn angedeutet hat, relativ schutzlos den zeitgenössischen Veränderungen in der je gegebenen Kultur und Gesellschaft ausgesetzt ist. Wenn sich auch im akademischen Diskurs unterscheidungsfähige Wissenschaftlergenerationen über Probleme ihres Fachs austauschen, dann wird die Pädagogik – zumindest im Vergleich mit der Psychologie und Soziologie, erst recht im Vergleich mit der Physik und Mathematik – über eine sehr ausgeprägte Tendenz verfügen, um Meinungsverschiedenheiten in fachlichen Fragen wie Meinungsverschiedenheiten zwischen den Generationen zu behandeln. 24 PROLOG Thomas S. Kuhn hob nun einen – wie schon gesagt – auf den ersten Blick trivial, aber auf den zweiten Blick komplex erscheinenden Aspekt hervor, der von zentraler Bedeutung für das Verständnis von (sagen wir) „wissenschaftlichen Mentalitätswandeln“ ist. Also für das Verständnis von Transformationsprozessen, die die Art und Weise betreffen, mit der wir auf unsere Umwelt blicken und dabei beanstanden, wie wir die Dinge sehen, sei den Dingen selbst angemessen; sie sei rational beglaubigungsfähig. Innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin, so Kuhn, sei – zu einem gegebenen zeitlichen Punkt, wo eine Diskussion über die angemessene Theorie eintrete – „die Überlegenheit einer Theorie über die andere nicht nachzuweisen. Stattdessen […] muß jede Partei die andere zu überreden versuchen.“32 Etwas differenzierter und auch komplexer: „Gibt es über Ereignisse Unstimmigkeiten, dann können die Parteien in der diesbezüglichen Diskussion ihre Denkschritte nachvollziehen und jeden anhand früherer Voraussetzungen kontrollieren. Schließlich muß einer zugeben, daß er einen Fehler gemacht, gegen eine anerkannte Regel verstoßen hat. Hat er das zugegeben, dann hat er keinen Ausweg mehr und der Beweis seines Gegners ist schlüssig. Wenn aber beide stattdessen entdecken, daß sie über die Bedeutung oder die Anwendung vereinbarter Regeln verschiedener Meinung sind, daß ihre frühere Übereinstimmung keine ausreichende Basis für einen Beweis ist, dann nimmt die Diskussionen einen Fortgang, wie er während wissenschaftlicher Revolutionen unvermeidlich ist. Diese Diskussion geht um Prämissen; in ihr bedient man sich der Überredung als Vorspiel zur Möglichkeit des Beweises.“33 In diesem Falle aber wird, ganz im Unterschied zu einer Situation, in der die eine von mindestens zwei Parteien eingesteht, einen Fehler gemacht zu haben, der Beweis erst zeitlich verzögert erbracht. Erst die Plausibilität einer später sich etablierenden Perspektive legt, im historischen Prozess, dann auch rückwirkend, fest, welche der Positionen beweiskräftig war. Ich meinte, dass, wegen ihrer schon behaupteten Neigung, Differenzen in der Sache wie Differenzen zwischen den Generationen zu behandeln, es in der Pädagogik vermutlich sehr viel häufiger als in anderen Disziplinen zum Streit um Grundsätzliches kommt. Doch streng genommen müsste das folgende Phänomen dann auch regelmäßig zu beobachten sein: Wenn sich herausstellt, dass eine Theorie richtig und die andere falsch ist, dann stellt sich damit zugleich heraus, dass derjenige unter den Wissenschaftlern, der die falsche Theorie vertreten hat, im Grundsatz falsch lag, anstatt nur z. B. in einer oder mehreren Schlüssen, die er gezogen hat. Wenn so etwas geschieht, dann geht es ganz zentral um die Überzeugungskraft nicht nur des Arguments, sondern auch desjenigen, der es vertritt. Aber es geht auch um mehr als das. Denn beweiskräftig wird insbesondere eine pädagogische Position erst dann, wenn sie sich auch in der Gesellschaft realisieren lässt bzw. wenn sie ein gewisses Maß an Kommunikabilität zwischen Theorie und Praxis erfüllt. Das kann man sich zumindest in zweierlei Weise vorstellen. Entweder ist eine neue theoretische Perspektive, die die Pädagogik eröffnen kann, zugleich der Öffentlichkeit dabei behilflich, ihre Erziehungsprobleme besser zu verstehen und zu handhaben. Oder aber es bewahrheitet sich auf längere Sicht, was zuvor pädagogisch proklamiert worden ist und vielleicht auf Widerstand von Seiten der Öffentlichkeit getroffen ist: z. B. „Bil- PROLOG 25 dung für alle“, „Aufhebung sozialer Ungleichheit durch Bildung“ oder „Eigenrecht der Kinder an ihrer Erziehung.“ Hier soll nicht behauptet werden, die Auffassung, dass Kinder ein Eigenrecht an ihrer Erziehung haben, hätte sich in den deutschen Nachkriegsverhältnissen ohne die emanzipatorische Pädagogik nicht eingebürgert. Das wäre eine maßlose Überschätzung dessen, was Theorien leisten können. Aber es hätte doch wahrscheinlich etwas länger gebraucht. Um jedoch an die wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen anzuknüpfen: Wenn allerdings zur Bewahrheitung einer Theorie noch ein weiterer Tatbestand hinzukommt – dass die Gesellschaft trotzdem nicht besser und die Menschen nicht glücklicher geworden sind; das, obwohl die Ziele einer theoretisch angeleiteten Bildungsreform formal erfüllt erscheinen –, dann stellt sich am Beispiel der Sechziger- und Siebzigerjahre nicht das Problem der nachträglichen Beweiskräftigkeit, sondern auch das Problem der nachträglichen Bewertbarkeit. Es ist dann mithin ein Bewertungsproblem, weil es über einen inneren Widerspruch verfügt. Ist der pädagogische Paradigmenwechsel rückblickend nämlich beweiskräftig, dann ist er – theoretisch betrachtet – auch in der Sache richtig. Sind die Resultate dieses Paradigmenwechsels indessen trotzdem nicht überzeugend, dann kann doch der Paradigmenwechsel eigentlich auch in der Sache nicht richtig gewesen sein!? So gesehen, ist das Problem, das mit der kritischen Erziehungswissenschaft zusammenhängt, rational nicht zu entscheiden. Und die Paradoxie besteht darin, dass eben dies zugleich auch ihre Überzeugungskraft beweist. Überzeugungskräftig kann man in der Pädagogik in mancherlei Hinsicht sein. Man kann beispielsweise in der Theoriepublizistik mit durchschlagkräftigen dialektischen Argumentationsfiguren überzeugen, die keinen sinnvollen Widerspruch mehr zuzulassen scheinen. Oder man kann Kinderläden gründen und sie eindrucksvoll, nämlich beispielgebend, führen. Aber zu einer Person, deren Name herausragend mit einem Paradigmenwechsel in Verbindung steht – Erziehung wird nun in Hinblick auf gesellschaftliche Emanzipation verstanden, anstatt nur in Hinblick auf den individuellen Fortschritt des Heranwachsenden –, wird man wohl, dadurch dass man alle diese unterschiedlichen Ebenen mit Überzeugungskraft verbunden hat; das heißt, wenn man auf verschiedenen Ebenen der Erziehungswirklichkeit in Diskussionen so überzeugen kann, dass sich ein Konsens zugunsten der eigenen Theorie erzielen lässt. Ich glaube, dass sich die Überzeugungskraft Klaus Mollenhauers auf allen diesen Ebenen in einem historisch eingrenzbaren Rahmen hat entfalten können. In Anlehnung an Kuhn glaube ich, dass es Mollenhauer vermochte, die unterschiedlichen „Sehweisen“, die seine jeweils verschiedenen Kontexten angehörenden Diskussionspartner mit sich brachten und die sie auch mit unterschiedlichen Vokabularien artikulierten, in einem anderen Vokabular zu integrieren. Im Zentrum dieses Vokabulars stand für längere Zeit der Begriff „Emanzipation“. Und beweiskräftig und überzeugend konnte das Konzept dadurch werden, dass über ein Jahrzehnt etwa die Veränderung der gesellschaftlichen Erziehungsverhältnisse sinnvoll mit dem Begriff „Emanzipation“ zu beschreiben waren. Wenn heute indessen von den „Emanzipati- 26 PROLOG onspädagogen der Siebzigerjahre“ die Rede ist, dann gehen diese Differenzen, historischen Kontexte und die Komplexität der sozialen Netzwerke darin unter und geraten in Vergessenheit. Dieser überzeugungskräftige Mann muss zu seiner Zeit zugleich als ein interessanter Mann erschienen sein. Ein Mann, der für viele, mithin sehr kontrastive Personenkreise – für konservative Hochschulprofessoren ebenso, wie für radikale Vertreter der Studentenbewegung und Eltern aus dem Kinderladenumfeld, für alle Gruppen also, die bei dem Osnabrücker Vortrag von 1982 anwesend waren –, einen bemerkenswerten Unterschied gemacht hat. Wenn sich außerdem seine Wissenschaftskarriere vom Ende der Fünfziger- bis in die Neunzigerjahre hinein erstreckt, sie sich also durch eine Zeit der Umbrüche hindurchbewegt, dann legt das den Gedanken nah, dass Mollenhauer nicht nur innerhalb der Disziplin, sondern auch im Bereich der kulturellen und politischen Initiativen, eine als interessant wahrgenommeine Persönlichkeit geblieben ist, obwohl sich die jeweils zeitgeschichtlichen Vorzeichen unterdessen stark verändert haben. So banal es ist: vielleicht rührt auch da mein Interesse her. Zu verstehen, was diesen Mann so interessant gemacht hat. VI. Spätestens hier sind wir erneut beim Interesse an der Person, sogar bei der Sympathie für sie angelangt – und damit bei einem Dauerproblem der Biografen und Biografinnen –, doch können wir das nun unter anderen Vorzeichen thematisieren, ja ihm vielleicht sogar einen systematischen Stellenwert beimessen, anstatt nur einen willkürlichen. Doch demgemäß würde jene Identifikation des Biografen mit seinem Objekt gewissermaßen das Genre der Biografie charakterisieren. Tatsächlich zeichne sich das Genre, so behaupten manche Stimmen in der Theorie der Biografik, durch einen zumindest sehr eigenwilligen Doppelcharakter aus. Einerseits verfügen Biografien über einen eindeutigen Wirklichkeitsbezug, wie Ansgar Nünning sagt, „denn indem sie die individuelle Geschichte der biographierten Persönlichkeit wiedergeben, erzählen sie von realen Ereignissen bzw. Tatsachen. Andererseits greifen Biographien ebenso wie Historiker bei der Darstellung von Lebensgeschichten auf Erzählverfahren zurück, die sich auch in literarischen Gattungen finden […] und dies rückt sie in die Nähe der fiktionalen Erzählgenres.“34 An dieser Stelle braucht nicht gesondert diskutiert zu werden, inwieweit wissenschaftliche Textgattungen – zumal geisteswissenschaftliche und manche, die in den Bereich der Sozialwissenschaften fallen –, die nicht zum Genre der Biografie zählen, anhand einer ganz ähnlichen Problematik zu charakterisieren wären. Insofern würde die Biografik nur in eklatant zugespitzter Form wiedergeben, was viele geistes- und sozialwissenschaftliche Texte ohnedies betriff t. Wichtiger scheint mir, dass der Bezug zu einer Person oder „Persönlichkeit“, wie es bei Nünninger heißt, das Hinzudichten von Sachverhalten geradezu herausfordert. Würde man die Personenbeschreibung von PROLOG 27 etwas anderem als den Wahrnehmungen dieser Person ausgehend vollziehen – etwa, indem man lediglich Lebenslaufdaten referierte und sie anhand eines überprüfbaren Indexes systematisierte –, dann verschwände die Person hinter den Daten, anstatt dass sich einem durch diese Daten etwas erschlösse, was die Lage der biografierten Persönlichkeit genauer kennzeichnete. Kurz gefasst würde der Text unzugänglich und vermutlich verfehlte er seinen Zweck (insofern dieser über das Unterhaltsame und die bloß deskriptive Darstellung hinausgeht; vielmehr scheint er dazwischen zu liegen). Wenn es in Biografien also elementar auch darum geht, im Medium der Personenbeschreibung etwas über die Zeit und die Einflüsse zu vermitteln, unter deren Eindruck sich ein Lebenslauf ergeben hat – immer auch der Unterstellung folgend, es gebe einen Zusammenhang zwischen diesen räumlich und zeitlich versetzten Kontexten und den historischen Sachverhalten, die aktuell bedeutsam sind –, dann belastet dies den Autor damit, dass er sich die Wahrnehmungen einer Person anzueignen hat. Er kommt gar nicht drum herum. Sympathien und Antipathien spielen damit unmittelbar in die Produktion des Textes hinein. Dennoch muss das Verhältnis zwischen Fiktionalität und Faktizität, das den Text trägt, zu kontrollieren sein.35 Daran gebunden ist außerdem ein Sachverhalt, mit dem Journalisten oder Literaten nicht zwingend ihre Probleme haben müssen, Wissenschaftler aber unvermittelt. Denn die Frage, inwieweit überhaupt methodisch kontrolliert Genauigkeit im Text zu erzielen ist, wenn – wie im Falle einer Biografie – das Verhältnis von Fiktionalität und Faktizität eine etwas fragile Disposition der Literaturgattung darstellt, lässt sich überführen in die Frage nach dem Verhältnis von Nachlässigkeit und Strenge, wie es eigentlich in den Bereich der Essayistik fällt. Robert Musil fragte sich hierzu einmal, ob Essayistik zu bedeuten habe, „auf einem Gebiet, wo man genau arbeiten kann“, dies mit bisweilen kalkulierter Nachlässigkeit zu tun, oder umgekehrt: „das Strengste des Erreichbaren auf einem Gebiet“ zu leisten, „wo man eben nicht genau arbeiten kann.“36 Musil plädierte nicht nur für letzteres, sondern er wollte es gar beweisen. Seine Begründung jedenfalls lautete, dass der Essay „von der Wissenschaft die Form u. Methode“ habe, von „der Kunst die Materie.“37 Insofern man nun wohl unterstellen darf, dass ein menschlicher Lebenslauf weder durch Gesetze der Soziometrie noch irgend geartet biologisch determiniert ist, sondern Zufälligkeit, Nichtplanbarkeit und Arbitrarität, kreative Leistung mitunter, die sich ebenfalls weder erzwingen noch vorhersehen lässt, darin eine Rolle spielen, dann lässt sich die Biografie – betrachtet man sie als „Materie“ – ebenfalls dem Feld der Kunst zuordnen. Und Biografik und Essayistik nähern sich hierdurch an, wenn sie sich nicht gar zu überlagern beginnen. Ich jedenfalls ziehe daraus den Schluss, dass die Textgattung Biografie gezwungenermaßen in Form des Essays Bestand hat und die Frage, ob eine Biografie nun gut sei oder nicht, sich als die Frage nach der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit aufwerfen lassen muss, mit der eben dieser Form entsprochen wird. Wie soll man allerdings pragmatisch damit umgehen? Welches sind die Kriterien jener Strenge, von der Musil sprach, mit der man zu verfahren habe und die einem durch die Essayistik aufgegeben seien? Einerseits, da nicht nur die Prämisse der Fik- 28 PROLOG tionalität, sondern auch die der Faktizität im Falle der Biografie gilt, richtet sich die Strenge auf den sorgfältigen und kritischen Umgang mit den Quellen. Andererseits aber setzen die Schwierigkeiten damit insbesondere im Falle der Biografik (und dies im Unterschied zu anderen Formen des Essays) auf einer weit grundsätzlicheren Ebene an, nämlich auf der Ebene von Projektion und Beschreibung, also dort, wo sich der Autor oftmals unwissentlich mit in den Text einschreibt und in seinem Gegenüber, also dem Biografierten, Motive zu erkennen meint, die eigentlich seine eigenen sind. Wie geht man nun hiermit um? Diesbezüglich waren einige Ausführungen sehr instruktiv für mich, die ich eher zufällig in der Frühphase des Schreibprozesses in einem Radiointerview mit dem isländischen Literaturwissenschaftler und LaxnessBiografen Halldór Guðmundsson hörte. Auch er wies auf mehrere Problemstellungen hin, die mit dem Schreiben einer Biografie einhergingen und die leider zu häufig von den Biografen in nur zu geringem Maße berücksichtigt würden. Als erstes, so Guðmundsson, habe man sich als Biograf darüber klar zu sein, dass man beim Verfertigen des Textes unweigerlich zwei fiktionale Charaktere schaffe. Dass der Biografierte selbst eine Konstruktion der Biografie ist – also ein Gegenstand, der nur innerhalb einer bestimmten Textgattung in Erscheinung tritt –, habe ich schon angedeutet.38 Doch der zweite fiktionale Charakter geht schnell vergessen. Je besser es dem Autor gelingt, ihn möglichst dezent im Text zu platzieren – wird der Text sachlicher, dann wird auch dieser zweite fiktionale Charakter dadurch unauffälliger –, desto weniger nehmen ihn die Leserinnen und Leser vermutlich wahr. Gemeint ist der Erzähler. Selbst ein wissenschaftlicher Text kommt ohne ihn nicht aus. Aber auch der Erzähler und der Autor sind nicht dieselbe Person. Sie referieren jeweils nicht nur zwei verschiedene Perspektiven, sondern es handelt sich auch um unterscheidungsfähige Subjekte. Ganz abgesehen davon, dass es den einen von ihnen nur im Medium des Textes gibt und den anderen nur außerhalb des Textes als ansprechbare Person. Das wichtigste ist aber, dass der Leser von alledem nichts mitbekommt. Er kann mit diesem Unterschied zwischen dem Autor und dem Erzähler umso weniger anfangen, desto professioneller der Autor den Text verfasst; desto mehr der Autor versucht, sein Schreiben an der antizipierten Leserperspektive zu orientieren und den Unterschied zwischen den Perspektiven möglichst unauffällig zu halten. Man könnte das als das Dilemma des engagierten Autors bezeichnen. Allerdings, so Guðmundsson, verfügt der Erzähler über eine wesentliche Eigenschaft, die ihn nicht nur vom Autor eklatant unterscheidet, sondern die zudem auch von diesem schnell übersehen und unterschätzt wird: Der Erzähler ist in aller Regel schlauer als der Autor. Nun besteht das Problem, sollte es denn überhaupt auf den Tisch kommen, darin, dass – wie schon gesagt – der Erzähler im Unterschied zum Autor für den Leser nicht ansprechbar ist. Schreibe ich dem Autor eine E-Mail, dann darf ich auf eine Antwort hoffen. Doch der Erzähler hat gar keine Adresse. Im Text sagt der Erzähler immer dasselbe, egal, wie oft man nachliest. Und außerhalb des Textes steht nur der Autor diesbezüglich zur Verfügung. Damit allerdings der weniger schlaue von den beiden, so betrüblich es ist. PROLOG 29 Der Erzähler klingt immer so, als sei er dabei gewesen. Immer, so scheint es, hat er den breiten Überblick und deshalb hat er auch stets die etwas selbstgewisse und durch keinerlei Skepsis eingetrübte Neigung, sich sogar noch schlauer als denjenigen darzustellen, von dem er da erzählt. In der Diktion des Erzählers existieren die Zweifel und Unsicherheiten überhaupt nicht, die in aller Regel den Autor plagen: Habe ich das richtig interpretiert? Ist die Quelle verlässlich? Ist es anmaßend, wenn ich von einem bestimmten Sachverhalt als biografisch relevantem Detail ausgehe, obwohl der Protagonist in diesem Buch nachweislich nichts davon wusste? Darf ich etwas erzählen, das der erste Protagonist im Buch vielleicht geschwätzig gefunden hätte? Unter welchen Bedingungen ist es nicht nur als erzählenswert einzustufen, sondern sogar davon auszugehen, dass man es erzählen sollte, weil anderweitig eine Verzerrung der Sachverhalte notwendig aus der geläufigen und der hier vorgeschlagenen Darstellung resultierte? All das sind Fragen, die dem Erzähler niemals in den Sinn kommen würden. Vielmehr hat er ja bereits seinen Weg im Umgang damit gefunden. Es handelt sich um Probleme, über denen er steht und auf die er herabzuschauen scheint. In dem besagten Radiogespräch, das für mich ungemein instruktiv war, zog Guðmundsson einen pragmatischen Schluss aus dem Dilemma, der, wie ich finde, eine nicht zu überschätzende schreibdidaktische Qualität hat. Könne man diesen notwendigen Widerspruch schon nicht vermeiden, dann komme es folglich nur noch darauf an, diese beiden fiktionalen Charaktere, von denen die Biografie lebt – also den Protagonisten und den Erzähler –, miteinander in ein möglichst ausgewogenes und zugleich spannungsreiches Gespräch zu bringen. In diesem Gespräch können sie sowohl unterschiedlicher Auffassung sein als sie sich auch argumentativ wieder aneinander annähern dürfen. Doch hierfür müssen sie eben einmal in einen Dialog eintreten, in dem es auch beiden möglich ist, zu Wort zu kommen. Dem Autor komme damit die wichtige Aufgabe zu, das Gespräch gut zu moderieren und darauf zu achten, dass sich der Erzähler und der Protagonist erstens nicht zu nahe kommen, etwa indem sie allzu schnell in ihren Ansichten ganz einhellig und überhaupt sehr harmonisch miteinander sind (sonst droht der Umschlag einer Auseinandersetzung mit der Komplexität eines gelebten und tatenreichen Lebens in Beweihräucherung und Kitsch, was notgedrungen jegliche Auseinandersetzung beenden würde). Aber sie sollen sich auch nicht allzu sehr voneinander distanzieren, um nicht systematisch aneinander vorbei zu reden. Zweitens habe der Autor darauf zu achten, dass die Redeanteile ausgewogen sind und nicht der eine den anderen übertönt. Ich habe versucht, mich so gut wie möglich an dieser Maßgabe zu orientieren, daran meine Rolle als Autor zu bestimmen. Lassen sich diese Aspekte zu der einen Seite einer Biografie äußern – also gleichsam zur Seite der Bühne hin, auf der sie sich abspielt, wenn man den zwischen die Buchdeckel verfrachteten Text im übertragenen Sinn einmal so begreifen will –, dann sind damit zugleich Regeln benannt, die dem Autor, wenn er sich daran hält, auch in gewissem Maße Kontrolle über das Verhältnis von Sinn und Unsinn der 30 PROLOG Darstellung erlauben; also Kontrolle über das, was auf der Bühne zu sehen ist. Das impliziert auch die eine oder andere Entscheidung, was nicht auf die Bühne gebracht wird. Etwas anders sieht es zur Seite der Hinterbühne aus. Dort hält sich der Autor mit seinem Interesse an der Sache und als der höchst ambitionierte Beobachter des Bühnengeschehens auf. Mit einem nicht gering zu schätzenden Maß an Kontrollwut versehen sitzt er da herum. Naturgemäß sind Regisseure narzisstisch und darüber wütend, dass sie selbst nicht alle Rollen spielen können. Auf der Hinterbühne kann sich folglich die gleichsam natürliche Tendenz des Autors, ganz ungebremst mit seinem Narzissmus und seiner Kontrollwut zu verfahren, besonders gut entfalten, denn von der Vorderbühne aus sieht man ihn ja nicht dabei. Nur den Erzähler und den Protagonisten kann man dort erkennen. Allenfalls souffliert ihnen der Autor gelegentlich etwas von der Hinterbühne zu, wenn ihm der Gesprächsverlauf nicht mehr passt; aber natürlich bemüht er sich, auch das möglichst unauffällig hinzubekommen. Doch anderweitig ist er dort zumeist ungestört und unkontrolliert bei sich, bei seinen Interessen und Ambitionen, bei seinen Wünschen, wie es da vorne auszusehen habe. Und unter Handlungszwang stehend, sind ihm der Protagonist und der Erzähler ein Stück weit ausgeliefert. Dieses nicht in allen Aspekten einsichtige Interaktionsverhältnis stellt ohne Zweifel die höchst suspekte Dimension in einer Biografie dar und man kann dem allenfalls entgegenarbeiten, indem man ein paar der Motive offenlegt, die den Autor dazu veranlasst haben, sie zu schreiben. Eine Disposition, die ich mitbrachte und die es wohl für mich nahelegte, dass ich mich früher oder später vertieft mit Klaus Mollenhauer auseinandersetzen würde, war mein im Sozialpädagogikstudium erwecktes Interesse an der kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Von Mollenhauer hatte ich da gehört, gelesen hatte ich von ihm nichts; stattdessen Horkheimer und Adorno, später dann auch Foucault und Bourdieu, auch wenn sie nicht zur Frankfurter Schule und auch nicht im engeren Sinne zur kritischen Theorie gehörten. Noch ein paar Jahre später, ich schloss gerade meine Promotion ab, stolperte ich gleichsam über die Vergessenen Zusammenhänge und las mich darin fest. Es war nun der Stil, der mich fesselte: der Sinn für Ironie in der Formulierung, ohne dabei unernst zu werden; das breite und tiefreichende Bildungsfundament, das einem weder dogmatisch noch apodiktisch vorgeführt wird; das ästhetische Moment, das der präzisen Argumentation nicht ausweicht, sondern zur Substanz des Gedankens durchaus vergnüglich hinführt. War es vielleicht die eher von Foucault als von Bourdieu, jedenfalls kaum von Adorno kommende Neigung zum Essayistischen und zur Ironie, die mich dafür überhaupt empfänglich gemacht hat? Und wer ist das, der so schreibt? Ich begann daraufhin rückwärts zu lesen, von den Theorien zum Erziehungsprozeß zu Erziehung und Emanzipation, danach, in Artikeln und Essays von ihm, in die Breite gehend; ich hörte nicht auf. Mehr dazu zu sagen, lohnt nicht. Allenfalls das noch zum Schluss: Es muss nochmals wenige Jahre später gewesen sein – ich war da schon als Hochschullehrer an der Universität tätig –, da meinte dann einer meiner Studenten, der sich in einer Arbeitsgruppe mit Erziehung und
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