Mit dem Schnellzug in den Schuldenmorast Willkommen

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Hummler
Der Bürger
als Gegner
Standpunkte
Die andere Sicht von Peter Schneider
Als tiefgläubiger
Katholik ist es mir ein
inneres Hochamt, Ihnen
die WM 2026 anzubieten.
Die Infrastruktur . . .
Es sieht wie ein vorgezogener Aprilscherz aus,
ist aber keiner: eine braun-weiss gescheckte
Plastikkuh, fast echt aussehend, die neben einer
vielbefahrenen Strasse im französischen Departement Doubs steht. Die Vereinigung der französischen Lastwagenfahrer FNEC warnt ihre Mitglieder
im Internet: «Schaut euch diese Kuh genau an!» Zu
Recht. Denn unter ihren Hörnern ist ein Geschwindigkeitsrradar versteckt. Insgesamt fünf solcher
Kuh-Prototypen seien in Frankreich und Italien seit
2013 im Einsatz, wird berichtet, und die Verzeigungen hätten seither um 58 Prozent zugenommen.
Ein französischer Polizeikommandant schwärmt
über die Effektivität der Radarkühe: «Bald einmal
werden die Autofahrer bei allen weidenden Kühen
langsamer fahren, weil sie ein Radargerät vermuten!» Vorausgesetzt, die Plastikkühe lernen auch
noch zu gehen und zu fressen, ist man versucht
beizufügen.
Nun, wem die Sicherheit auf den Strassen das
höchste aller Ziele bedeutet, der wird diese und
ähnliche polizeiliche Anstrengungen begrüssen. Es
gibt sie auch in der Schweiz. Letzthin entdeckte
ich, von Zürich her fahrend und mindestens fünf
sichtbare Radarfallen klaglos passiert habend, an
einer Waldecke sorgsam getarnt, eine mobile Polizeiequipe. Es ist dies vermutlich die Schweizer Version der französisch-italienischen Radarkuh; immerhin erinnert sie einen an jene Tage, die man im
Feld verbrachte, als es hierzulande noch das gab,
was man eine Armee nennen darf. Was offensichtlich ist: Die hehre Zielsetzung der Verkehrssicherheit – oder ist sie nur ein Vorwand? – verleiht der
Fantasie der Polizei Flügel. Die Fantasie ist insofern
als pervers einzustufen, als man zum Schutz des
Bürgers denselben Bürger reinlegt. «Tarnen und
Täuschen» hiess eines
der Reglemente der Armee von anno dazumal,
als Objekt war der Gegner gemeint. Tarnen und
Täuschen heisst es heute
in Polizeikreisen, und als
Objekt ist der eigene
Bürger im Visier. Der
Bürger als Gegner.
«Der linksalternative
Stadtrat
Wolff ist
in meiner
Achtung
stark
gestiegen»
Wem nicht nur die
Sicherheit auf den
Strassen am Herzen
liegt, sondern das
einvernehmliche Zusammenleben der Bürger unter
sich und mit ihren Behörden, dem sträuben sich die
Haare ob all der neuen Überwachungsmittel. Der
linksalternative Zürcher Stadtrat Richard Wolff ist
stark in meiner Achtung gestiegen, weil er sich gegen zusätzliche Kameras auf dem Gebiet seiner
Stadt gewehrt hat. Ebenso verdienen Stimmen wie
diejenige des Luzerner Strafrechtsprofessors JürgBeat Ackermann Respekt, die vor den bürgerfeindlichen Auswirkungen des vom Nationalrat durchgewinkten Nachrichtendienstgesetz (NDG) warnen. Die
ungeregelte Verschmelzung zwischen Nachrichtenorganen, die alles erschnüffeln dürfen, und den
Strafverfolgungsbehörden, deren Ermittlungskompetenzen vom Recht wohlweislich beschränkt
sind, ist in hohem Masse problematisch. In diesem
Bereich ist es nicht die Sicherheit auf den Strassen,
welche zu fast allen polizeilichen Taten legitimiert,
sondern die diffuse Angst vor dem internationalen
Terror und den angrenzenden Themen der Kriminalität.
In beiden Fällen bleibt die Forderung nach der
Angemessenheit staatlichen Handelns ebenso auf
der Strecke wie der moralische Imperativ, dass
nicht einfach alles den (vielleicht) guten Zweck heiligt. Die grösste Gefährdung unserer Zivilisation
geht nicht von Terroranschlägen und Verkehrsunfällen aus, sondern von der Generalverdächtigung
des Bürgers und von der durch immer lückenlosere Überwachung gefütterten Kriminalisierung aller.
Konrad Hummler ist Verfasser der «Bergsicht»
und Strategieberater mehrerer Firmen.
29. März 2015 | sonntagszeitung.ch
Spekuliert
der Kerl etwa auf eine
Seligsprechung
noch zu Lebzeiten?
Ich darf
auf keinen Fall das
Autogramm für meinen
Sohn vergessen.
Fifa-Präsident Joseph S. Blatter bei Papst Franziskus
Mit dem Schnellzug
in den Schuldenmorast
Geht es um die SBB, wollen alle immer mehr – und das am liebsten schon heute.
Für Jürg Meier droht die Bahn deshalb zu entgleisen
Der Aufschrei der Empörung ist
ihm jetzt schon gewiss. Weil das
Angebot an elektronischen Tickets
stetig ausgebaut wird, will SBBVerwaltungsratspräsident Ulrich
Gygi Billettschalter abbauen. Das
wird nur gegen Widerstände
durchzusetzen sein, wie die ökonomisch sinnvolle, aber unpopuläre Schliessung von Poststellen
vorexerziert hat. Für die Post oder
die öffentlichen Verkehrsbetriebe
gelten in den Augen vieler eben eigene Gesetze. Verkennen Buchläden, Verlage oder Musiklabels die
von der Digitalisierung geschaffenen Realitäten, gehen sie unter.
Passiert das Gleiche den Betrieben
der öffentlichen Hand, unterstützt
Jürg Meier,
Wirtschaftsredaktor
sie der Steuerzahler. Unsere Ansprüche an die Bahnen wachsen jedenfalls stetig. Jedem Tal sein
Gleis, jedem Gleis seine viertelstündliche Verbindung. Jedem Zug
seine Klimaanlage, jedem Passagier sein Sitz. Nur etwas ist nicht
unendlich: das Geld.
Trotzdem wälzen die Kantone
und die Bahnen gewaltige Ausbaupläne. Dabei sind die lukrativsten
Strecken längst erstellt. Fast alles,
was dazukommt, ist ein Minusgeschäft: Die Betriebskosten sind so
hoch, dass sie sich durch die zusätzlichen Billetteinnahmen kaum
decken lassen. Heute gilt der von
den SBB betriebene Fernverkehr
als Goldesel. Doch die anstehen-
de Erneuerung der Flotte ist so teuer, dass sie die SBB weiter in die
Schulden treibt. SBB Cargo wirft
zwar Gewinne ab – aber nur, weil
die Division längst abgeschriebenes Rollmaterial über die Gleise
rumpeln lässt. Neue Investitionen
werden unweigerlich zu neuen
Verlusten führen. Auch im Regionalverkehr wird das Loch grösser,
denn viele Privatbahnen brauchen
bald neue Züge.
Die SBB, die privaten Bahnen,
Bund und Kantone müssen darum
noch härter auf die Kostenbremse
stehen und gerade bei den Ausbauplänen über die Bücher. Bevor der
öffentliche Verkehr im Schuldenmorast stecken bleibt. Fokus — 13
Willkommen in der
Normalität
Die Politik wundert sich, warum die Steuereinnahmen nicht mehr wachsen. Erstaunlich ist jedoch,
wie stark sie in den fetten Jahren zugenommen haben, findet Armin Müller
Das Erstaunen war gross. Erstmals
seit 2005 musste der Bund 2014
wieder rote Zahlen schreiben. Er
hatte 2,1 Milliarden Franken weniger eingenommen als budgetiert.
Am Mittwoch präsentierte Finanzministerin Eveline WidmerSchlumpf einen Bericht über die
Ursachen der Fehleinschätzung.
Sie lieferte einige Hinweise, doch
lassen die Daten offenbar keine
endgültigen Aussagen zu.
Bei der Gewinnsteuer der Unternehmen spielen die Verluste aus
der Finanz- und Wirtschaftskrise,
weniger Neuansiedlungen von Firmen und die anhaltende Frankenstärke eine Rolle. Bei der Einkommenssteuer vermutet man Verhal-
Armin Müller,
Autor
tensänderungen aus der Teilbesteuerung von Dividenden, die
tiefere Teuerung und Mindereinnahmen nach der Reform der Familienbesteuerung.
Das Rätselraten über die möglichen Ursachen lenkt jedoch ab
vom Kern des Problems. Erstaunlich ist nicht das Abflachen der
Steuereinnahmen in den letzten
Jahren, sondern der Aufschwung
davor. Seit der ersten Unternehmenssteuerreform von 1997 haben sich die Einnahmen aus der
Gewinnsteuer bei Bund, Kantonen
und Gemeinden mehr als verdoppelt. Sie wuchsen auch mehr als
doppelt so schnell wie die Wirtschaftsleistung.
Beim Bund nahmen die Einnahmen aus der Gewinnsteuer zwischen 2005 und 2012 im Schnitt
um fast 10 Prozent pro Jahr zu. Das
konnte nicht ewig so weitergehen.
Die aktuelle Entwicklung ist Ausdruck einer Normalisierung. Das
Erstaunen darüber zeigt, wie wir
uns an die fetten Jahre mit immer
reichlicher sprudelnden Einnahmen gewöhnt haben.
Steigende Gewinne und Einkommen sind keine Selbstverständlichkeit. Man muss sie erarbeiten,
und das könnte in den nächsten Jahren schwieriger werden. Die Normalisierung bei den Ausgaben steht
uns noch bevor. Der Wahlkampf
2015 wird zum Verteilungskampf.