Die Tagespost Samstag, 25. April 2015 Nr. 49 / Nr. 17 ASZ KOLUMNE Europa und die Religion VON BORIS KRAUSE „Seht her, auch wir haben ein Bekenntnis!“, so war zwischen den Zeilen zu lesen, als sich europäische Spitzenpolitiker zuletzt öffentlich zum Christentum bekannten. Genötigt durch bedrohliche Auftritte von IS und islamistische Attentate in Paris war einmal mehr der britische Premierminister durch sein christliches Bekenntnis aufgefallen, zuletzt in seiner Osteransprache. Im Januar hatte schon der deutsche Außenminister Steinmeier vor Studenten in Tunis mit seinem persönlich vorgetragenen Credo überrascht. Der ranghohe Sozialdemokrat zitierte sogar aus dem Koran. ist Privatsache!“ bedient. Diese Formel ist – im Unterschied zum Kapitel eigener Kolonialgeschichte im Nahen Osten – tief verwurzelt im aufgeklärten Kollektivgedächtnis Europas, was angesichts des erlebten konfessionellen Blutvergießens auf eigenem Boden seine historische Lektion lernen musste. Im Überwindungsprozess hat es sich zugleich aber eine fortdauernde Befangenheit in Religionsfragen zugelegt, die heute nicht immer hilfreich ist. Die Erdkugel hat sich seit der Aufklärung einige Male gedreht. Die Moderne hat, eingetreten in die Phase beschleunigter Globalisierung, insbesondere im Post-cold-war-Zeitalter, multiple Konstellationen, veränderte politische Interdependenzen, ökonomische Ungleichzeitigkeiten, kulturelle Dynamiken und neue Akteure hervorgebracht. Bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten neutrale Beobachter – man denke zurück an die iranische Revolution 1979 – feststellen können: Religion ist nicht einfach nur mehr Privatsache, sondern öffentliche Angelegenheit. „Religion ist nicht einfach nur Privatsache, sondern öffentliche Angelegenheit“ Boris Krause. Foto: privat Zu diesem Zeitpunkt hatte die deutsche Kanzlerin bereits mit ihrer Aussage, dass der Islam zu Deutschland gehöre, für Aufruhr in der Republik gesorgt. Merkel schien bei ihrem Vorstoß aber noch eine ganz andere Frage umzutreiben: Gehört denn überhaupt das Christentum (noch) zu Deutschland? Ihr Aufruf an die Christen hierzulande, das Wissen über die eigene Religion zwecks Schärfung eigener Identität zu vertiefen, hat erstaunt. Die neue Tonlage ist bemerkenswert. Herausgefordert durch beunruhigende ideologische Anfeindungen richtet sich der europäische Fokus offenbar nicht mehr einfach nur auf den widerstreitenden Anderen, sondern erkennt nunmehr an sich selbst einen blinden Fleck. Bislang hatte man sich in Fällen aufbegehrender „religiöser“ Kräfte eher des oft reflexhaft geäußerten Imperativs „Religion Die heute erkennbaren Konfliktlagen um die Rolle des Islam, um Kopftuch-, Beschneidungs- und Blasphemieverbote etwa werden sich nicht einfach von selbst erledigen. Sie werden im Zuge verstärkter transnationaler Migrationsbewegungen, die gegenwärtig beobachtbar sind, bleibender Bestandteil eines öffentlichen Diskurses in sich wandelnden europäischen Gesellschaften sein. Ist Europa dafür bereit? Vieles deutet darauf hin, dass weder ein schlicht vorgetragenes Privatisierungspostulat, noch eine eindimensionale Vision absoluter Trennung der Sphären des Säkularen und Religiösen – die es in Europa faktisch nirgendwo in Reinform gibt –, dienlich sein werden für die Bewältigung der anstehenden religions- und integrationspolitischen Aufgaben. Europa und auch Deutschland als Teil der Weltgesellschaft werden sich in Religionsfragen weiter öffnen müssen. Es bedarf an vielen Stellen eines vielseitigeren religionspolitischen Antwortkatalogs und eines geschulteren Sprachrepertoires. Eine Aneignung dieser Fähigkeiten muss nicht auf Kosten von Demokratie und Freiheitsrechten erfolgen. Im Gegenteil: Sie kann diese stärken. Der Autor ist Theologischer Referent beim Caritasverband für die Diözese Münster e.V.
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