24 Stunden: Markus 15,25-39

Markus 15,25-39: Das Mysterium des Kreuzes (J.Röhl; 3.4.2015; Karfreitag)
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Markus 15,25-39: Das Mysterium des Kreuzes
Liebe Schwestern! Liebe Brüder!
In seinem Buch „24 Stunden“ weist Adam Hamilton darauf hin, dass es auf den ersten Blick
schwer ist, „zu begreifen, wie der Tod Jesu unsere Rettung bewirkt“ (S.76). Er ist der Meinung,
dass es ein Stück weit auch immer ein Mysterium bleiben wird. Ich finde, dass er in seinem Buch
auch sehr schön deutlich macht, dass schon für die Schreiber des Neuen Testaments dieses Geschehen schwierig zu erklären war.
Immer wieder zeigt Hamilton auf, dass es schon im Neuen Testament unterschiedliche „Theorien“
dafür gibt, was genau am Kreuz geschehen ist und was dieser Tod für uns bedeutet. Statt von
Theorien sollte man vielleicht besser von unterschiedlichen Verstehensweisen oder Deutungmustern des Todes Jesu sprechen. Für Hamilton sind diese unterschiedlichen Sichtweisen des Kreuzes kein Mangel, sondern eine Bereicherung (S. 125). Gott hat es genau so gewollt, dass wir nicht
bis ins Letzte erklären können, was dort am Kreuz geschah. Das Leiden und der Tod Jesu soll auf
ähnliche Weise wirken, wie ein Kunstwerk - „indem es unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens auf ganz unterschiedliche Weise anspricht.“ (S. 125) Klar ist jedoch bei
aller Unterschiedlichkeit, dass Jesu Tod für uns Heil, Rettung und Versöhnung bewirkt.
In unserem heutigen Text aus Markus 15 tauchen beide Dimensionen des Kreuzes auf. Zum einen
das Erschreckende und Unverständliche des Kreuzes. Man könnte auch sagen: das Mysterium
der Ferne Gottes. Zum anderen aber auch das Versöhnende und Heilsbringende des Kreuzes.
Man könnte auch sagen: Das Mysterium der Nähe Gottes.
1. Das Mysterium der Ferne Gottes
Im Markusevangelium und auch bei Matthäus sind die letzten Worte Jesu am Kreuz kein ruhiges
Gebet, sondern ein lauter Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (V.34)
Allein dieser Ausruf macht die Rätselhaftigkeit des Kreuzes deutlich. Der Sohn Gottes – von Gott
verlassen! Wozu soll das gut sein? Und wie geht das überhaupt, dass eine Person Gottes sich von
der anderen verlassen fühlt? Schon Lukas und Johannes war dieser Schrei zu unverständlich und
zu unpassend. Sie haben jeweils ein anderes Wort Jesu als letztes Wort überliefert. Bei Lukas
sind Jesu letzte Worte: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Lk.23,46). Und bei Johannes sagt Jesus als letztes: „Es ist vollbracht!“ (Joh.19,30). Das klingt nicht nach Gottverlassenheit, sondern eher nach Gottvertrauen und Siegesgewissheit.
Ich gehe davon aus, dass Jesus alle diese Worte am Kreuz gesagt hat. Aber Markus und Matthäus betonen eher die Rätselhaftigkeit des Kreuzes, Lukas und Johannes eher den Sieg den Jesus
am Kreuz erringt.
Ich finde es gut und richtig, dass Markus und Matthäus uns auch diesen Verzweiflungsschrei Jesu
überliefert haben. Am Kreuz geschieht etwas, das wir nie so ganz verstehen können. Das Kreuz
ist kein nüchterner Schritt in Gottes Heilsplan, sondern es ist ein dramatisches Geschehen.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wie sollen wir diesen Ausruf Jesu verstehen? Hat Gott Jesus am Kreuz wirklich verlassen? Ist Jesus ganz alleine und Gott hat sich von
ihm abgewendet? Manche sagen: Ja, Gott hat sich am Kreuz wirklich völlig von Jesus abgewendet. Denn Jesus trägt am Kreuz die Sünde der ganzen Welt auf sich. Und das Wesen der Sünde
ist Gottesferne. Gott kann ihm also in diesem Augenblick nicht nahe sein. Andere (wie z.B. auch
Adam Hamilton) sagen, dass Gott sich keinen Augenblick von Jesus abgewendet haben, sondern
das Gott, der Vater mit seinem Sohn am Kreuz leidet. Dazu passt z.B. auch das, was Paulus in 2.
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Kor. 5,19 sagt: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber.“ Paulus betont hier,
dass gerade im Versöhnungsgeschehen Gott und Christus eins waren. Beide Meinungen lassen
sich gut begründen.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es gibt auch verschiedene Meinungen
darüber, ob diese Worte wirklich eine verzweifelte Klage sind, oder ob sie nicht doch ein Vertrauensbekenntnis zu Gott sind. Manche sagen: Ja, Jesus war ganz Mensch und er spürte in dieser
Situation eine ganz normale menschliche Verzweiflung. Andere versuchen diese Klage und Frage
abzumildern. Man kann darauf hinweisen, dass Jesus zumindest Gott als „mein Gott“ anredet –
die Verbindung zu Gott ist also nicht völlig abgerissen. Viele weisen darauf hin, dass dieses Gebet
der Anfang von Ps. 22 ist und dass am Ende des Psalmes auch Vertrauensaussagen vorkommen.
Manche argumentieren sogar, dass die aramäischen Worte „Eli, eli, lama asabtani“ (V.34) falsch
übersetzt sind und es in Wirklichkeit gar keine Klage ist, sondern eine Einwilligung in das Geschehen.
Wir merken an diesen unterschiedlichen Deutungsversuchen dieses Ausrufs Jesu, wie schwierig
es ist, das Kreuz zu begreifen. Schon allein dieser ein Ausspruch Jesu am Kreuz lässt unterschiedliche Deutungen zu. Vor allem die Erklärungsversuche und Abmilderungsversuche machen
für mich deutlich, wie schwer wir uns mit diesem Geschehen am Kreuz tun.
Für mich persönlich ist es nicht entscheidend, ob Jesus am Kreuz wirklich von Gott verlassen war
oder nicht. Jesus hat es in diesem Moment auf jeden Fall so empfunden. Für mich ist diese
Warum-Frage Jesu am Kreuz eine echte Klage und eine echte Frage. Aus seiner Sicht hat sich
Jesus am Kreuz wirklich von Gott verlassen gefühlt – egal ob sein Vater wirklich abwesend war
oder doch im Gefühl der Gottverlassenheit ihm ganz nahe war.
Das ist für mich ein tröstlicher Aspekt des Kreuzes: Jesus kennt die Erfahrung der Gottverlassenheit. Er kennt die Anfechtung des Zweifels. Er war wirklich Mensch wie wir und kann uns in unseren menschlichen Fragen und Zweifeln verstehen. Er weiß, was es bedeutet, wenn Gott sein Angesicht abwendet, wenn es dunkel um uns herum wird. Genau diese Erfahrung ist mir in meinem
Glaubensleben auch nicht fremd. Es gibt Zeiten, in denen sich Gott verbirgt, oder in denen ich zumindest das Gefühl habe, von Gott verlassen zu sein. Es gibt Zeiten, in denen mein Bild von Gott
zerbricht und in denen ich frage: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wer
ernsthaft den Weg des Glaubens geht macht früher oder später diese Erfahrung der Ferne Gottes.
Dietrich Bonhoeffer hat einmal geschrieben: „Keinen Weg lässt uns Gott gehen, den er nicht
selbst gegangen wäre und auf dem er uns nicht vorausginge.“ Jeder von uns macht die Erfahrung
von Leiden, Angst und Verzweiflung. An Karfreitag macht uns Jesus deutlich: „Ja, ich kenne das
auch. Du bist nicht allein in deinen Fragen.“ Karfreitag hält in unserem Glauben einen Platz offen
für unsere Not, unsere Trauer, unseren Schmerz und unsere Verzweiflung. Wenn Gott uns fern erscheint, dürfen auch wir mit den Worten Jesu beten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?“
Aber Markus macht in seinem Text auch deutlich, dass das Mysterium der Ferne Gottes nicht das
einzige ist, was an Karfreitag deutlich wird. An Karfreitag leuchtet zugleich auch das Mysterium der
Nähe Gottes auf!
2. Das Mysterium der Nähe Gottes
In dem Augenblick in dem Jesus stirbt, geschieht etwas von großer symbolischer Bedeutung. Markus berichtet: „Und der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.“
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(V.38) Das ist bei Markus der erste Satz
nach Jesu Tod. Das ist für Markus also die
erste und wichtigste Deutung für das Geschehen am Kreuz.
Es geht hier natürlich nicht um einen Vorhang, der kaputt ist und der jetzt wieder repariert werden muss. Nein, der zerrissene
Vorhang steht für die Aufhebung der Trennung zwischen Gott und den Menschen. Im
Tempel war damals das Allerheiligste durch
einen Vorhang vom restlichen Tempel abgetrennt. Das Allerheiligste war der Ort, an
dem Gott in ganz besonderer Weise auf der
Erde gegenwärtig war. Selbst der Hohepriester durfte nur einmal im Jahr durch diesen Vorhang
ins Allerheiligste gehen.
Der Vorhang war also das sichtbare Zeichen, dass wir Menschen keinen unmittelbaren Zugang zu
Gott haben. Gott ist so heilig, dass es für uns Menschen gefährlich ist, seine direkte Nähe zu suchen. Gottes heilige Herrlichkeit muss vor uns sündigen Menschen getrennt werden.
Durch Jesu Tod zerreißt Gott diesen Vorhang der Trennung. Wir Menschen haben freien Zugang
zum Allerheiligsten. Das geschieht durch Jesu Tod am Kreuz. Nicht nur der Hohepriester darf einmal im Jahr nach besonderen Reinigungsriten in die Nähe Gottes kommen. Nein, jeder Mensch,
auch wir Nichtjuden haben jederzeit und überall freien Zugang zu Gott. Der Vorhang ist zerrissen.
Gott verbirgt sich nicht mehr, durch Jesus dürfen wir alle in Gottes Nähe kommen. Auch wenn wir
das Geschehen am Kreuz niemals mit unserer menschlichen Logik ganz verstehen können – das
Kreuz bringt uns freien Zugang zur Gemeinschaft mit Gott.
Das Kreuz zeigt uns Beides: die Fremdheit Gottes und die Liebe Gottes. Am Kreuz wird uns Gott
fremd, weil wir mit unserem menschlichen Verstand nicht völlig begreifen können, was dort geschieht. Wir können Gott und sein Handeln nicht logisch erklären. Wir haben Gott nicht in der
Hand. Und gerade deswegen haben auch Fragen, Zweifel und Anfechtungen ihren Raum in unserem Glauben.
Zugleich zeigt uns das Kreuz die große Liebe Gottes zu uns Menschen. Er will unser Heil, er will
Versöhnung, er will die Trennung überwinden. Der Vorhang ist zerrissen. Wer Jesus Christus als
seinen Heiland und Retter annimmt, der darf ins Allerheilgste der Gegenwart Gottes kommen.
Amen
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Bildquelle: gerbisson / flickr.com (CC BY-SA 2.0)