Sie nannten mich Nettelbeck - Demo - DDR

Impressum
Heinz-Jürgen Zierke
Sie nannten mich Nettelbeck
ISBN 978-3-95655-284-7 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1968 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes von Joachim
Nettelbeck aus dem Brockhaus von 1821-23
© 2015 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
Internet: http://www.ddrautoren.de
1. Kapitel
Unser kleines, überbelastetes Schiff, ein Bäderdampfer, stampft durch die ruhige See.
Unser aller Glück ist die ruhige See; auch die diesige Luft bringt uns Glück, sie nimmt zwar
dem Mann auf der Brücke die Sicht und verlangt Aufmerksamkeit von ihm; aber sie schützt
uns, Frauen und Kinder, ein paar Greise und Invaliden wie mich und die Beamten, die sich in
der Kajüte eingeschlossen haben sollen; sie schützt uns vor der Sicht von oben. Dieses
Wetter lässt wohl keinen Sturm, keinen Seegang erwarten. Vielleicht kommen wir bis ans
Ziel, wo mag es liegen? Das wissen wir nicht, vielleicht weiß es nicht einmal der Mann am
Ruder.
Das Schiff liegt so schwer in der See, dass ich, der ich auf der schmalen Holzbank
unmittelbar an der Reling, neben einer Frau, die immerfort Gebete murmelt, einen
kümmerlichen Platz gefunden habe und auf die ebene, nur von den Dreiecken der Bugwellen
aufgeraute Wasserfläche starre, die Hand bis an den Knöchel eintauchen könnte, ich
brauchte mich nicht einmal vornüberzubeugen. „Zugelassen für 250 Personen Haff oder 220
See“, steht auf einer Tafel. „Mindestens 300“, erklärte mir einer der Schiffsleute, „ohne
Gepäck.“
Ich werde die Hand ins Wasser tauchen, werde an den Wellen spüren, dass unser müdes
Schiff sich bewegt, sich trotz allem vorwärtsbewegt. Ich werde ein Taschentuch durch das
Wasser ziehen, um es mir dann auf die Stirn zu legen. Der Abend ist neblig und feucht und
kalt, aber meine Stirn ist heiß. Ich möchte mir über die Augen wischen und die letzten
Stunden auslöschen. Aber was hülfe es, wenn ich sie aus meinem Gedächtnis tilgte; ich
kann die Ereignisse nicht ungeschehen machen. Und wenn ich es könnte, ich dürfte es nicht.
Ich muss sie bezwingen, indem ich über sie nachdenke.
Ich entsinne mich, dass wir mit demselben Schiffchen, das uns jetzt einem unbekannten Ziel
entgegenträgt, an einem Sonntag im letzten Sommer vor dem Kriege nach Swinemünde
fuhren, meine Frau, unsere knapp zehnjährige Karla, mein Schüler Harald Bögeholt und ich.
Harald wollte sich in Ostswine die Torpedoboote ansehen, mich interessierte mehr die
Apotheke, in der Fontane seine Kinderjahre zugebracht hat. Die Besichtigung der Flottille
war nicht mehr gestattet.
„Diesmal wird es ernst, Herr Scharrenberg“, hatte Haralds Vater nach unserer Rückkehr
gesagt.
Damals unterrichtete ich nur Geschichte und in einer Klasse Mathematik, später, als die
jüngeren Lehrer eingezogen waren, gab ich auch naturwissenschaftliche Fächer. Danach
hatte ich mich gedrängt, um nicht mehr Geschichtsstunden übernehmen zu müssen.
Werde ich Harald wiedersehen? Er ist mir wie ein Sohn. Er sollte Lehrer werden wie ich; ich
verschaffte ihm eine Freistelle an unserer Mittelschule und dann an der
Lehrerbildungsanstalt. Als er vor drei Jahren in das kleine Städtchen jenseits der Oder
abreiste, ahnte ich nicht, dass er einmal als Soldat nach Kolberg zurückkehren würde.
Luise erzählte mir mittags, dass Harald da gewesen sei und nach Karla gefragt habe,
zuerst nach Karla, dann nach mir.
Den ganzen Tag habe ich auf ihn gewartet, bin nicht mehr aus dem Haus gegangen. Die
Stellung der Batterie konnte nicht weit weg sein; ich wusste, feindliche Panzerspitzen waren
bis an die See vorgestoßen, am Vormittag im Osten, nachmittags auch im Westen der
Stadt. Harald würde in der nächsten freien Viertelstunde bestimmt kommen, glaubte ich,
aber er kam nicht. Er kam auch nicht am nächsten Morgen. Der Unterricht fiel seit Tagen
aus. Wir schütteten Stroh in die Klassenräume, damit sie Verwundete aufnehmen konnten.
Tische und Bänke verluden wir auf Lastwagen, sie sollten zu Straßensperren aufgetürmt
werden. Schulbänke als Straßensperren! Das nasskalte Wetter hatte mein Rheuma aus der
Winterruhe aufgeschreckt. Der Direktor sah meine Bedrängnis, er schickte mich heim. Das
hätte er sicher nicht tun dürfen, aber er glaubte, die Schmerzen rührten von meiner alten
Verwundung her; auch die Schüler hatten das immer geglaubt, und das war gut so: ein
ziviles Rheuma passte nicht in diese Zeit. Ich war froh, dass er mich ohne Fragen gehen
ließ, und schlich mich nach Hause. Harald aber kam nicht. Ich legte meine Papiere,
Manuskripte, Notizen, Exzerpte zurecht. Nimm das, mein Junge, wollte ich sagen, nimm es
und führe zu Ende, was ich begann! Du bist jung; wenn du überlebst, und ich glaube, dass
du überlebst, hast du noch viel Zeit vor dir, Zeit, die mir fehlt. Vielleicht hätte ich auch etwas
anderes gesagt, wenn er gekommen wäre, wer weiß das schon! Man nimmt sich etwas
vor, legt sich die Worte zurecht, aber wenn man sie aussprechen will, kommen ganz andere
über die Lippen; es ist, als ob die veränderte Stunde neue Gedanken geprägt hat. Vielleicht
geht es nicht allen Menschen so; Menschen, die wenig Gedanken haben, können sie
vielleicht so sortieren, dass sie parat liegen, wenn sie gebraucht werden; ich bewundere
immer wieder, dass Menschen, deren Enge ich kenne, doch zur rechten Zeit das Rechte zu
sagen wissen, während ich, der ich mit meinen fünfundfünfzig Jahren so viel aus Büchern
und aus dem Leben herausgelesen habe, immer in Verwirrung gerate, wenn ich sprechen
soll. Also vielleicht hätte ich etwas ganz anderes gesagt, wenn Harald wirklich gekommen
wäre. Er kannte eigentlich alles, was ich ihm zeigen wollte; in den Sommerferien hatten wir
fast jeden Tag ein paar Stunden darauf verwandt, diese Blätter zu sichten. Eine Geschichte
der Belagerungen Kolbergs wollte ich schreiben, die oft behandelten Vorgänge neu
durchdenken, die belanglose, kleine Geschichte einer abgelegenen, unbedeutenden
Seefestung aufrichten zum Modell für die Geschichte eines Volkes, keine
militärwissenschaftliche Abhandlung, eine Geschichte von Bürgerstolz und Bürgertugend.
Vier Belagerungen hatte die Festung überstanden in den letzten zweihundert Jahren, einmal
war sie unterlegen, dem gleichen Gegner, der heute vor den Toren stand, und als, fast
fünfzig Jahre später, die Stadt mit diesem Land verbündet war, trotzte sie dem
Welteroberer Napoleon. Dass die Geschichte der Belagerungen ein fünftes Kapitel bekam,
ahnten wir im Sommer noch nicht.
Ich sah, dass Karla unruhig wurde, als Harald nicht kam. Sie putzte ihre Sonntagsschuhe,
rieb sie mit einem weichen wollenen Lappen ab, und als sie längst glänzten, rieb sie noch
immer. Wozu brauchte sie blanke Schuhe? Sie war zum Schippen befohlen mit der Klasse,
aber sie ging nicht. Sie habe sich krankgemeldet, sagte sie, stellte die Schuhe ins Regal
und zog sie wieder hervor, und wenn der Klopfer gegen die Haustür schlug, lief sie auf den
Flur hinaus.
Auch Luise, meine Frau, war nervös. Sie verpackte Wäsche in Koffer, die ich in den Keller
trug. Malte die Angst meiner Frau rote Flecken unter die Augen, oder steckte Karlas
Aufregung sie an? Karla war erst fünfzehn. War? Habe ich „war“ gedacht? - Ich steckte
meine Papiere in die Reisetasche; sie nahmen nicht viel Platz ein, ich habe eine winzig
kleine Handschrift.
Harald Bögeholt kam nicht, aber gegen zehn Uhr erschien mein Freund Blissing, von
Büssing, Major a. D., mein Batteriechef, zuletzt, als ich die Batterie übernehmen musste,
mein Abteilungschef aus dem Krieg, der heute schon Sage ist. Blissing trug wie stets seinen
grünen Rock, die schmucklose Forstmeisteruniform, aber heute leuchtete am Hals der
achtstrahlige Stern des „Pour le mérite“.
Mit seiner Kommandostimme, die auch das lange Leben in der Waldeinsamkeit nicht
gedämpft hatte, erklärte er: „Man kommt besser durch die Straßen mit dem Ding da,
entgeht lästigen Fragen. Packen Sie ein, Scharrenberg! Koffer zu, Marschgepäck
mitnehmen, eiserne Ration! Wir müssen uns absetzen.“
„Herr Major?“
„Keine langen Reden, einpacken! Oder wollen Sie Nettelbeck spielen? Ich spüre jedenfalls
kein Talent zu einem Gneisenau. Bezweifle auch, dass Gneisenau in so aussichtsloser
Position verteidigt hätte; war viel zu klug dazu, wusste genau, wann der Rückzug anzutreten
ist, hat es bei Bautzen und Ligny bewiesen. Aber unser Schnürschuh-Napoleon? Pah, kein
Wort weiter von dem! Der selige Imperator Rex hat seinerzeit wenigstens begriffen, dass er
in den Zug nach Doorn steigen musste. Von diesem österreichischen Gefreiten kann man so
viel Einsicht vielleicht nicht verlangen, wohl aber von den Herren mit den goldenen
Schulterstücken, die sich in seinem Vorzimmer drängeln. Diesmal kommen wir nicht mit
einer Matrosenrevolte, mit Arbeiterräten und mit einem Ebert davon. Ich ereifere mich
wieder. Haben Sie einen Kognak im Haus?“
Ich hatte nur einen gewöhnlichen Richtenberger, mit dem ich Einreibungen machte, da es
keinen Franzbranntwein mehr gab. Der Major trank und ordnete an: „Einpacken, mitnehmen!
Um fünf Uhr abends sind Sie mit Frau, Kind und notwendigstem Gepäck in meiner
Wohnung. Habe Sondergenehmigung, mit meinem Boot die Festung Kolberg zu verlassen.“
Er schnipste mit dem Finger gegen den Orden.
Ich fragte den Major nicht nach den Gründen. Mir fiel ein: Stadtrat Momm hatte schon vor
drei Tagen davon gesprochen, dass im Notfall die Zivilbevölkerung die Stadt verlassen
sollte. Er selbst war für den Abtransport verantwortlich. Dass dieser Fall so schnell
eintreten würde, damit hatte er nicht gerechnet, auch ich nicht.
Und ich weiß noch immer nicht, wohin wir fahren.
Der Major war nach dem Kriege nicht in die Reichswehr übernommen worden. Durch seine
Grobheit hatte er sich’s mit einigen Generalen verdorben und wurde als Forstmeister in die
Neumark abgeschoben. Die Waldeinsamkeit bestärkte seine Verachtung für die Menschen,
dennoch kehrte er nach seiner Pensionierung sofort nach Kolberg zurück. „Zuviel Bäume, zu
wenig Wasser“, begründete er seine Rückkehr. Mit der neuen Zeit hatte er sich nie
befreunden können, auch nicht mit der neuesten; in seinem Waldrevier hatte er vor ihr Ruhe,
glaubte er. Wir standen die Jahre über im Briefwechsel; wir waren nicht immer der gleichen
Meinung, aber er besaß bei all seiner Grobheit genug Toleranz, meine Auffassungen gelten
zu lassen, auch wo sie ihm widerstrebten. Wir wurden älter und einsamer. Frühere Freunde
zogen in Walhall ein, wie man jetzt sagte, andere fanden ihr Walhall auf Erden. Blissing
verkroch sich in seinen Wald und später in die Kajüte seines Bootes, ich mich in den Staub
der Archive.
Ich weiß, meine Schüler nennen mich Nettelbeck; in der Stadt nennt man mich wohl ebenso
und lacht hinter mir her; selbst Kollegen tun das. Man hält mich für vertrottelt, aber auch
das hat sein Gutes. So brauche ich, obwohl Vorstandsmitglied des Heimat- und
Geschichtsvereins, nicht zu beweisen, dass das Feldherrngenie eines Gneisenau seine
Erfüllung findet in dem - wie sagte Blissing gleich? - in dem Schnürschuh-Napoleon. Man
machte mir nicht einmal ernsthafte Vorwürfe, wenn ich im Geschichtsunterricht die ältere
Geschichte ausführlicher, die letzten Jahrzehnte dagegen überaus kurz behandelte. Lehrer
sind knapp, seit alle jüngeren Kollegen, die nur halbwegs gesund sind, bei der Truppe
stehen, und getreu der Tradition unserer Schule dürfen Frauen bei uns nicht unterrichten,
nicht einmal Musik oder Zeichnen. Nur einer meiner Kollegen war unter vierzig, der einzige
übrigens, mit dem ich mehr als die notwendigsten Worte wechselte. Er hatte ein
Augenleiden. Aber jetzt hatte man ihn zum Volkssturm geholt.
Ich überlegte Blissings Angebot nicht lange. Ich trug die Verantwortung für die Familie und
dachte an meine Manuskripte. Ich sagte Blissing zu, obwohl ich nicht wusste, und ich
vergaß, danach zu fragen, wohin der Major wollte; vielleicht wusste er es selbst noch nicht.
Bis jetzt weiß ich nicht, wohin das Boot steuert, das mein Kind aus der brennenden Stadt
trug, oder ob ... ich darf so etwas nicht denken, ich will die Hoffnung nicht verlieren. Ich
klammere mich an die Reling.
Harald kam nicht, und ich musste ihn sprechen. Wenn mir etwas zustieß, sollte Harald mein
Werk weiterführen; einer von uns würde vielleicht überleben, dachte ich. Selbst wenn das
Manuskript verloren ging, er war jung, konnte noch einmal von vorn anfangen. Dass er, der
an der Front stand, dem Tode eher ausgesetzt war als ich, der Gedanke kam mir nicht; mir
widerstrebte die Vorstellung, ich könnte in einer fremden Stadt an einem fremden Tisch
meine Gedanken zu Papier bringen, während der Junge unter den Bülten der heimatlichen
Salzwiesen vermoderte. Ich suchte ihn, und ich glaube, wenn ich nicht Nettelbeck gewesen
wäre, man hätte mich als Spion eingesperrt. Die Batterie lag jenseits der Matzwiesen, nach
Bullenwinkel zu. Der Weg fiel mir schwer. Nicht dass ich Furcht gehabt hätte! Ein paar
Granaten heulten über mich hinweg, ich kannte den Ton von früher. Wenn sie nur nicht die
Baustraße treffen! dachte ich. Im Augenblick der Gefahr nur an sich und seine Nächsten
denken, ist das menschlich? Nicht die Todesfurcht machte mir den Weg zur Qual, sondern
mein lächerliches, ziviles Rheuma. Da lebt man Jahrzehnte in seinem See-, Sol- und
Moorbad und wird das Rheuma nicht los!
Ich sah Harald von Weitem. Er trug Granaten, trug sie von einem Wagen zu einem Stapel,
und ich wunderte mich einen Augenblick, dass der Junge für eine solche Beschäftigung
eingeteilt war. Er sah mich, blieb stehen und ließ die Arme sinken. Ich winkte, vielleicht
konnte er mir ein paar Schritte entgegenkommen. Er winkte zurück, und ich meinte zu
sehen, obwohl ich noch fünfzig Schritt von ihm entfernt war, wie seine Augen aufleuchteten.
Ich wollte ihn zu mir heranrufen, aber bevor ich noch die Hand an den Mund legen konnte,
begann der Unteroffizier, der weiter hinten am Geschütz stand, zu brüllen. Er brüllte, wie
nur Unteroffiziere brüllen können, das war schon im vorigen Krieg so; aber seine Stimme
klang nicht militärisch schrill, es schwang ein dunkler ziviler Ton mit, wie ihn alte Pastoren
und junge Opernsänger an sich haben. Harald trat an den Wagen und nahm die nächste
Granate in den Arm. Ich kannte das Kaliber: 15-cm-Haubitze, meine Waffe.
Der Unteroffizier wandte sich wieder ab. Ich ging weiter.
Mit dem Mann musste doch zu reden sein.
Eigentlich wollte ich mit dem Jungen ein paar Schritte zur Seite gehen, um die anderen nicht
zuhören zu lassen - den Bauern in der angeschmutzten Lederjoppe, die Soldaten, Kinder,
denen die Röcke lose um Schultern und Taille hingen. Wusste ich denn, wer sie waren?
Tierpfleger im Wanderzirkus vielleicht oder Schusterlehrlinge aus einer Berliner
Kellerwerkstatt, Waldarbeiter aus Tirol, Wollspinner aus den Sudeten oder Elsässer
Gänsejungen, wer weiß? Ich habe nichts gegen diese Berufe und nichts gegen die
Landschaften; ich habe gegen keinen Beruf etwas und gegen keine Landschaft, erkenne
jede Arbeit für notwendig und jede Gegend für schön, auf ihre eigene Art schön natürlich.
Aber ich konnte von diesen Menschen nicht, von keinem Menschen, erwarten, dass sie zu
dieser Stunde auch nur ein Gran Verständnis aufbrachten für jetzt so Nebensächliches, wie
ich es mit Harald bereden wollte. Sollte ich mich und alles, was mir als meines Lebens Sinn
und Aufgabe galt, sollte ich Harald dem Spott dieser Menschen aussetzen? Ich sah
stumpfes Hohnlachen in ihren Augen, vernahm die gewöhnlichen Worte, dieselben, die sie
für Straßenkot und Querschläger, für unbeliebte Vorgesetzte und den Achselschweiß ihrer
Mädchen benutzten. Vielleicht hätte ich alter Mann ihren Spott ertragen, hätte mich
geschüttelt und die Belästigungen wie Schnee von der Schulter abgeworfen. Aber Harald?
Würde nicht der Zweifel hervorquellen? Jugend neigt von Natur zum Zweifel am Glauben,
am Tun der Älteren. Das ist gesund: wie kann Veraltetes überwunden werden, wenn nicht
seine Berechtigung in Zweifel gezogen wird? Aber hier sollte kein Zweifel hervorbrechen
und mit seiner Unlust alles überschwemmen. Die Mauer stürzt ein, wenn der Zweifel zum
Mörtel dient.
In dem Augenblick dachte ich nicht einmal daran, dass Harald diesen Spott auch dann noch
würde ertragen müssen, gröber vielleicht, schmutziger, wenn ich längst in Büssings Boot
saß, einem unbekannten Ziel entgegengeführt. Ich dachte an das bisschen Papier, das
meine Aufzeichnungen barg, das mir Halt gab, ein Strohhalm, mit dem ich nach einem festen
Grund in diesem Meer der Sinnlosigkeit stakte.
Ich wollte also Harald beiseitewinken, aber es war niemand da, den ich oder den er hätte
bitten können, ihn von seiner Tätigkeit für fünf oder zehn Minuten zu beurlauben. Der
Unteroffizier hatte sich wieder entfernt, er stand breitbeinig und selbstbewusst an seiner
Haubitze und gab Befehl, die Holme aus dem Sand zu graben, zu schwenken und das
Geschütz neu einzurichten.
Harald sah zu ihm hinüber und zuckte die Achseln. Das Achselzucken musste er sich in den
letzten Monaten angewöhnt haben; ich kannte es nicht an ihm; noch in den Sommerferien
war es mir nicht aufgefallen. Ich stellte mich dicht am Wagen hin, und in der halben Minute,
die er dazu brauchte, seine Arme mit der nächsten Granate zu beladen, konnte ich ihm ein
paar Worte sagen, Fragen nach Gesundheit und Verpflegung zuerst, nach den
nächstliegenden Dingen. Er erkundigte sich nach Karla. Ich bestellte Grüße, obwohl das
Mädchen mir keine Silbe davon gesagt hatte. Ich sah, der Junge errötete, und mir fiel auf,
seine Gesichtsfarbe harmonierte nicht mit der seiner Uniform; aber das war sicher nur ein
Vorurteil. Warum soll ein Soldat nicht erröten dürfen?
Ich begann mein Anliegen vorzutragen, die inständige Bitte, meine Arbeit fortzusetzen und
zu beenden. Der Bauer mahnte ungeduldig: „Gleich können wieder die Flieger kommen oder
Panzer. Ich habe Frau und Kinder.“ Auf dem breiten Bodenbrett des Ackerwagens lagen
noch zwei Schichten Granaten.
„Und wir? Wir sollen für dich Dreckbauer die Knochen hinhalten?“ Der Vorwurf war auch
gegen mich gerichtet, der ich in meinem Reiseanzug zusah, wie sie sich quälten, wie ihnen
trotz der Kühle des Tages der Schweiß übers Gesicht lief. Harald winkte ab, nahm aber
doch das nächste Geschoss auf und trug es zum Stapel. Einer seiner Kameraden hielt ihn
fest, sprach auf ihn ein; Harald schob ihn mit dem Arm fort und stellte sich wieder zu mir. Er
lehnte sich an den Wagen, den Ellenbogen auf das rissige Seitenbrett gestützt, die Hand an
der Runge. Während ich sprach, steckte er sich eine Zigarette an. Es war das erste Mal,
dass ich ihn rauchen sah. Darin ungeübt, sog er hastig, wie ein hungriges Kind an der
Milchflasche, und versuchte den Rauch weltmännisch durch die Nase wieder auszublasen.
Ich hätte darüber lachen mögen.
Er wusste genau wie ich, dass das Rauchen in der gefährlichen Nähe der Munition streng
verboten war, aber er tat es, und ich hinderte ihn nicht daran. Ich verspürte Lust,
Einzelheiten mit ihm zu besprechen, methodische Fragen; er war bereit dazu, nahm sich die
Zeit, ohne Befehl, ohne Genehmigung, ganz unmilitärisch. Er war wieder mein Schüler, der
noch meinem Vortrag lauschte, wenn alle anderen ihre Hefte und Federhalter längst
eingepackt hatten und ihre Ranzen auf den Rücken schnallten oder ihre Taschen in die Hand
nahmen; er war ein junger Freund, der auf stundenlangen Spaziergängen in der Maikuhle,
zur Waldenfelsschanze, nach Sellnow und Necknin hinaus nicht genug erfahren konnte über
die nahe und ferne Vergangenheit der Stadt.
Wenn mir etwas zustieß, mit Harald würden meine Gedanken mich überleben, würde das
winzige Steinchen, das ich in das vielfältige Mosaik der Geschichte einfügen wollte, seinen
rechten Platz erhalten. Ich wollte Harald die Hand reichen, sah ihm in die Augen, vielleicht
war es ein Abschied für immer. Aber einer überlebt, dachte ich, auch wenn der Junge in der
Ungewissheit der Schlacht zurückbleibt und ich in die Ungewissheit der See hinausfahre.
Einer muss doch überleben!
„Zigarette aus, Sie Stiesel! Sprengt die ganze Stellung in die Luft!“ Die wohlklingende,
dunkle, volltönende Stimme des Unteroffiziers, fähig, eine dreischiffige Hallenkirche zu füllen
oder einen voll besetzten Theatersaal zu erregen, schlug mit der Plötzlichkeit eines
Wintergewitters in unseren Abschied. Der Bauer, den Mund weit aufgerissen, die Augen
geschlossen, ließ die Granate, die er in den Händen hielt, zurückgleiten, griff nach der an
der Vorderrunge festgebundenen Leine, die Pferde bäumten sich erschrocken auf. Ich sah
Haralds schmerzverzerrtes Gesicht, die Schultern, die sich krümmten, den Arm, der
emporflog, wollte zuspringen, da schlug auch schon Haralds Kopf gegen das davonrollende
Rad, gegen die eisenbeschlagene Felge.
Jetzt nahm mein Bewusstsein wieder auf, dass hinter dem Horizont Panzermotore heulten,
dass Geschosse über uns hinwegpfiffen und irgendwo barsten, dass Maschinengewehre
bellten, und ich hörte das Schnauben der Pferde, die der Bauer zwanzig Schritt weiter, kurz
vor der Schanze, zum Stehen brachte, sein verhaltenes Fluchen. Als ob die Pferde etwas
dafür konnten. Ich stand, wie ich gestanden hatte, die Hand noch ausgestreckt, damit
Harald sie ergreifen konnte, in all diesem Lärm, der mich umtoste wie die Brandung im
Nordoststurm.
„Der hat Schwein. Wenn er wieder zu sich kommt, ist der Schlamassel vorbei.“
2. Kapitel
Ich suchte in Kolbergs Straßen mit Nettelbeck nach dem Hauptmann Waldenfels, den er
weder auf der Bastion Preußen noch auf der Bastion Pommern fand, weder in der
Kommandantur noch in Willerts Ausspannung in der Klausstraße, dem Quartier des
Vizekommandanten. Der Atem wurde dem Alten knapp, ein Stechen in der Hüfte zwang ihn
zum Ausruhen. Er stützte sich mit dem Ellenbogen gegen eine Hauswand, der Kalk färbte
den Ärmel des braunen Rockes weiß, Nettelbeck hastete weiter. Er machte sich Vorwürfe,
dass er sich in Dinge mengte, die ihn nichts angingen. Er beschimpfte sich selbst mit den
Worten, mit denen ihn der Festungskommandant, der alte Oberst Loucadou, verlacht hatte:
„Die Bürgerschaft, die Bürgerschaft! Ich will und brauche die Bürgerschaft nicht.“
Nettelbeck fragte Offiziere, Unteroffiziere und Grenadiere. Sie zuckten die Achseln. „Macht
dem Spiel ein Ende, ihr guten Leutchen!“, hatte der Oberst gesagt. „Geht in Gottes Namen
nach Hause! Was soll mir’s helfen?“
„Der Hauptmann? Ich sah ihn vor Meister Kramohls Tür stehen.“ Ein Bäckerjunge, der mit
einem Tragkorb Weißbrot auf dem Wege zur Kommandantenwohnung war, konnte endlich
Auskunft geben. Der Kommandant isst Pameln, dachte Nettelbeck bitter, er hat keine Zähne
mehr. Doch die Freude, endlich eine Spur gefunden zu haben, beflügelte seine Schritte. Das
Stechen in der Hüfte verging. Er hätte sich auch an den Ingenieur-Kapitän Düring wenden
können, der dem Befestigungswesen vorstand, den hätte er leicht in seinem Quartier
gefunden. Aber wozu sollte er diesem Manne sagen, dass die Franzosen unter dem Schutz
der Hohenbergschanze, halben Weges von dort gegen die Stadt, auf dem Sandberge gleich
hinter dem Zingel, eine Schanze aufwarfen und eine zweite in der Richtung von Bullenwinkel
her, am Matzteiche, die, was sich jeder Segelmacher und jede Fischersfrau ausrechnen
konnte, zu dulden höchst gefährlich war? Erreichten jetzt nur die schweren Stücke das
Weichbild der Stadt, von dort aus konnten auch die leichten Mörser und Haubitzen
unermesslichen Schaden anrichten. Wie schnell brannte das Fachwerk der Bürgerhäuser!
Die Schleuse müsste man schließen, die Wiesen auch auf der Ostseite der Stadt
überschwemmen, damit den Franzosen die Laufgräben absoffen und sie wie Küken im
Jauchepfuhl ertranken. Aber der Herr Ingenieur-Kapitän, wenn er Nettelbeck überhaupt
anhörte, lächelte bestenfalls: „Herr, was geht das Ihn an? Mach Er, dass Er an Seine
Braupfanne kommt! Dort ist Sein Tun.“
Waldenfels saß nicht mehr in Martin Kramohls Barbierstube. Der Gehilfe Philipp Püttmann
scheuerte das Becken und wischte es mit einem groben Tuch trocken. Sein Gesicht sah
gelblich bleich aus wie zu früh gereifter Roggen. Philipp war gestern Abend für zwei
Stunden in den Turm der Marienkirche gestiegen. Wenn der Kommandant den Ausguck
nicht besetzte, mussten es die Bürger tun. Nun sah es ganz so aus, als ob der Junge die
Höhe nicht vertrug. Da war ich ein anderer Kerl! dachte Nettelbeck. Er fühlte das Bedürfnis,
dem Sohn seines alten Freundes, der auf See geblieben war, ein paar aufmunternde Worte
zu sagen. „Wann ist Hochzeit, Philipp?“
Der Blick des jungen Menschen blieb düster. Philipp hängte das Handtuch an den Nagel
neben der Tür und stellte das Becken auf den Bord. „In diesen ungewissen Zeiten, Vater
Nettelbeck, soll man wohl nicht an Heiraten und Festefeiern denken.“
„Worauf wartet ihr jungen Leute nur? Die Zeit wird nicht besser, wenn wir sie uns nicht
besser machen. Beeilt euch! Ich will noch Pate stehen.“
Philipp antwortete nicht. Er drehte sich zur Wand und machte sich wieder am Handtuch zu
schaffen. Jetzt war nicht die Stunde, nach der Ursache des Kummers zu forschen,
Nettelbeck suchte den Hauptmann. Philipp wusste nicht, wohin Waldenfels gegangen war.
Nettelbeck ging in die schwarze Küche. Kramohl hatte ein Stück trockenes Brot in den
Gerstenkaffee getunkt. Als die Tür aufging, ließ er es in den Tassenkopf fallen und fischte
mit den Fingern danach. Sophie stand am Fenster und kühlte die Stirn an der Scheibe. Zank
zwischen den Verlobten, oder hatte der eigensinnige, spinnige Alte ein Haar in der
Hochzeitssuppe gefunden?
„Der Hauptmann? Ach, geh mir mit den Offizieren! Wenn wir sie nur bald aus der Stadt
hätten! Der Herr Hauptmann freilich, gegen den gibt’s nichts zu sagen. Zum Hafen hinunter
ist er gegangen. Machen Sie mich recht schmuck, hat er befohlen, als ich ihm das Halstuch
umlegte, ein Schiff aus Danzig wird erwartet; ich muss einen guten Eindruck machen!“
Nettelbeck hörte ihn nicht weiter an. Um Sophie und Philipp konnte er sich später kümmern,
jetzt ging es um die Stadt. Als er zur Pfannschmiede hinauswollte, stieß er gleich hinter dem
Münder Tor auf einen Haufen Menschen, die einen Wagen umstanden, der ein Rad verloren
hatte; auch das Pferd war gefallen. Mein Gott, dachte er, soll der Bauer achtgeben! Jetzt
versperren sie die ganze Straße, und ich hab’s eilig. Da erkannte er den Hauptmann in der
Menge. Er drängte sich zu ihm durch, zupfte ihn am Rock, aber Waldenfels wehrte ihn
unmutig ab, ohne sich nach ihm umzusehen.
„Herr Hauptmann! Einen Augenblick, Euer Wohlgeboren, höchste Eile!“
Waldenfels wandte den Kopf und erkannte Nettelbeck. „Was haben Sie denn?“
„Einen Gedanken, Herr Hauptmann. Die neuen feindlichen Schanzen - wenn wir die
Schleusen schließen, die Matzwiesen überschwemmen ...“
„Sagen Sie das dem Kommandanten!“
Was war nur in Waldenfels gefahren? Er, der sich Nettelbeck sonst nie verschloss, der
einzige Offizier - außer Schill natürlich, aber der war fort und hatte auch in der Festung
nichts zu bestimmen gehabt -, an den sich die Bürger mit ihren Sorgen wenden konnten,
wenn er auch nicht immer die Kraft aufbrachte, sich beim Obersten durchzusetzen,
ausgerechnet er schickte ihn jetzt zu Loucadou, von dem er doch wusste, dass er keinen
Rat von den Bürgern annahm, ja den geringsten Hinweis als unbefugte Einmischung weit
von sich wies. Ausgerechnet jetzt, in höchster Gefahr für Stadt und Festung!
Waldenfels’ Aufmerksamkeit war offensichtlich von einem Mann, einem Offizier in Anspruch
genommen, der den Kopf des Pferdes hielt und dem Tier beruhigend den Hals klopfte.
Nettelbeck hatte den Mann noch nie gesehen; er war noch jung, bedeutend jünger als
Nettelbeck jedenfalls, aber auch nicht sehr jung, älter als Waldenfels, vierzig vielleicht, eine
männliche, stattliche Erscheinung, kraftvoll, man traute ihm zu, ein Gespann durchgehender
Hengste aufzuhalten. Sein Gesicht schien Heiterkeit und Ruhe auszudrücken; das Haar war
dunkel, voll, eine längliche Narbe teilte die Stirn, und die Augen - die Farbe konnte man nicht
erkennen von hier aus - blickten gelassen in die Menge der Gaffer. Der Offizier gab die
Leine einem der Umstehenden in die Hand und half dem Gespannführer, einem rothaarigen
Ackerbürger aus der abgebrannten Lauenburger Vorstadt, das Rad, das einer der
Straßenjungen wieder herangerollt hatte, auf die geteerte Achse zu setzen. Dann säuberte
er sich die Hände an einem der Säcke, mit denen der Wagen beladen war, und winkte
Waldenfels. Der Hauptmann packte Nettelbeck am Arm und zog ihn mit sich. „Kommen Sie,
Bürger Nettelbeck! Das ist der Major von Gneisenau, unser neuer Kommandant. Sagen Sie
ihm alles, was Sie auf dem Herzen haben!“
Der neue Kommandant? Ich hätte ihn erst für einen Viehdoktor gehalten, dann für einen
Stellmacher. Wird dieser Mann auch etwas vom Krieg verstehen? Wer sich mit so kleinen
Dingen abgibt, überblickt der die große Sache des Vaterlands? Das Stechen in der Hüfte,
das Ziehen im linken Knie waren wieder da. Hinkend trottete der Alte den beiden Offizieren
nach.
Und ich begleitete Nettelbeck, der nach seiner Gewohnheit um die Wälle gegangen war,
gegenüber der unteren Bastion Geldern beginnend, an der Mühlenschleuse vorbei, wo er
geraume Zeit auf und ab ging und in das trübe, schlammige Stauwasser starrte, dann
wieder den hellen, dünnen Rinnsalen zusah, die durch die grünalgenbewachsenen Bohlen
sickerten, und zwischendurch den Blick hob, um zum Holzgraben hinüberzuschauen, der
einen Teil des aufgestauten Wassers ableitete, welches das Salinengelände
überschwemmte, und den Rest dem Hafen zuführte. „Einen Posten mit Gewehr müsste
man an der Schleuse aufstellen!“, rief mir der Alte zu.
„Wenn es dem Gegner gelingt, die Schleusentore zu sprengen, verläuft sich das Wasser,
und die Wiesen um die Festung werden, wenn auch nicht trocken, so doch passierbar. Und
wehe, wenn der Feind mit seiner überlegenen Truppenzahl von allen Seiten zugleich stürmt!
Wie leicht kann sich ein Musje, als Überläufer womöglich, in die Stadt einschleichen und
nachts, wenn der Schleusenwärter den Schlaf des Gerechten schläft, die Kammern öffnen
und dem Strom seinen Lauf lassen! Ein Posten mit Gewehr muss her, und wenn der
Kommandant keinen Mann dafür frei hat, soll das Bürger-Bataillon die Wache übernehmen.“
An der Matzwiese hielt er wieder inne und sah zu den Verschanzungen unter dem
Hohenberg hinüber. Nur langsam kam der Feind voran. Wenn es nur eine Stunde am Tag
regnete, füllten sich die Laufgräben mit Wasser, und die Geschützstellungen mussten mit
Faschinen ausgelegt werden, sollten die schweren Lafetten nicht in den weichen Untergrund
einsinken. Soweit gut. In der Wiese stand das Wasser knöcheltief. Zu niedrig, dachte
Nettelbeck, sie können barfuß hindurch, es geht auf den Sommer zu, und auf penibles
Aussehen geben sie nichts, sie sind keine Preußen.
Vor der Front Bütow, dem Wolfsberg gegenüber, dem Sandhügel, der wie ein
Maulwurfshaufen in der Ebene saß, die nicht durch Überflutung geschützt war, versuchte er
einen Leutnant, der einen Befehl vom Außenwerke Lauenburg zu den Erdarbeitern an der
Ziegelschanze überbrachte, von seinen Ansichten zu überzeugen: die alte Schleuse musste
verstärkt, die Persante ganz gesperrt und das Wasser in Gräben durch die abgebrannte
Lauenburger Vorstadt vor den Frauenmarkt geleitet werden. Aber der Offizier hörte nicht
zu, vielleicht verstand er nichts von der Fortifikationskunst, er rief: „Sagen Sie es dem
Ingenieur-Kapitän oder dem Kommandanten!“, und ließ den alten Mann stehen. Nettelbeck
zog seine Schiffermütze in die Augen und ging weiter. Diese jungen Offiziere! Musste er
alter Mann, der die längsten Jahre seines Lebens zwischen Vor- und Besanmast
zugebracht hatte, ihnen sagen, wie man Landfestungen verteidigt, und sie hörten nicht
einmal zu! Aber der Mann hatte recht, mit Gneisenau darüber reden! Man musste immer
gleich an die höchsten Stellen gehen, wenn man angehört werden wollte. Mit ausgreifenden
Schritten strebte er dem Hornwerk Münde zu, bog in die Pfannschmiede ein, kehrte aber
bald um, und anstatt sich zur Bastion Preußen zu begeben, wo er den Kommandanten am
sichersten antraf, schlurfte er am Bollwerk entlang wieder der Schleuse zu. Erst gründlich
überlegen!
Seit Mittag unterwegs, wurde er nun doch müde und blieb alle paar Schritte stehen, um
Atem zu schöpfen. Er hätte sich nach dem Essen eine Stunde aufs Ohr legen sollen, seine
siebzig Jahre machten sich bemerkbar. Er zog die leere Kummkarre heran, mit der der
Schleusenwärter gewöhnlich Lehm und Steine anfuhr, um die Ausspülungen in der Böschung
damit zu stopfen, und setzte sich auf den Karrenbaum. Den Strom, sann er, musste man so
weit aufstauen, dass die Stadt zur Insel wurde. Sollten die Wiesenbesitzer beim
Bürgermeister oder beim Kommandanten jammern! Er sah jetzt schon, wie sie sich die
Hände an den Rockschößen abwischten, bevor sie an die Tür klopften, und während sie
flehten, die Wiesen und Weiden nicht zu überfluten, damit nicht auch diese noch verdürben,
die offenen, leeren Handflächen vorstreckten, um die bittere Not anzudeuten, in die sie
unfehlbar geraten müssten. Aber in dieser schweren Zeit musste jedermann dem Vaterland
Opfer bringen, Gutsherr und Offizier, Bauer und Bürger. Er selbst, der sich auf seine alten
Tage auf Brauen und Brennen verlegt hatte, erlitt genug Verluste, Korn und Gerste wurden
knapp in der belagerten Stadt. Überdies ließen ihm die Angelegenheiten der Verteidigung
kaum Zeit für sein Gewerbe. Sein Bargeld aber, vierhundert Taler, hatte er dem Leutnant
Schill vorgeschossen, damit die Maikuhle notdürftig verschanzt werden konnte. Sollten auch
die Ackerbürger ihr Scherflein in den Klingelbeutel des Krieges werfen!
Nettelbeck hatte wohl eine Stunde so gesessen, als sich in der Stadt Lärm erhob. Er hörte
zunächst nicht weiter danach hin, Lärm gab es oft genug - da schoss der Feind in die
Festung, die eigenen Batterien antworteten, Offiziere schrien ihre Leute an, Betrunkene
prügelten sich, Meister schimpften mit ihren Lehrjungen, Weiber keiften, o ja, Lärm gab es
übergenug in dieser kleinen Stadt, die mehr Militär beherbergte als Bürger. Sicher waren
sich auch jetzt wieder Husaren oder Füsiliere beim Kartenspiel in die Haare geraten,
Schillsche vielleicht, die erbeuteten Branntwein von einem Streifzuge mitgebracht hatten.
Bald kam die Patrouille und brachte die Ruhestörer zur Räson oder nahm sie mit zur
Wache. Aber der Lärm dauerte an. Vielleicht war keine Streife in der Nähe und die Bürger
getrauten sich nicht, danach zu laufen. Er musste selbst nach dem Rechten sehen, er, der
Bürgerrepräsentant. Mit einem Ruck erhob er sich und klopfte den Lehmstaub vom Rock.
Ein Junge lief vorbei, die Holzpantoffeln in der Hand, barfuß. Nettelbeck rief ihn an. Der
Junge deutete mit dem Arm irgendwohin und rannte weiter.
Auch aus anderen Straßen sah er Leute nach dem Ort der Unruhe eilen, der in dem
gefährdeten Ostteil der Stadt liegen musste: Küchenmädchen, einen Böttcher mit dem
Spundhammer, einen Schneider noch mit der Elle in der Hand, Bäckergesellen in weißer
Schürze. War der Feind durchgebrochen, und die Kolberger liefen hinzu, um die Franzosen,
Thüringer, Italiener und Polen anzustaunen? War der Wolfsberg verloren, das Ravelin
Bütow erstürmt? Er hatte kein Kleingewehrfeuer gehört, und ohne einen Schuss, ohne
wütenden Kampf ließ die tapfere Besatzung den Feind nicht an die Wälle heran. Aber wenn
Verrat im Spiel war?
Der Tuchmacher Strippow trat aus dem Haustor. „Was lauft Ihr, Nettelbeck? Sind die
Franzosen in den Straßen?“ Nettelbeck wollte vorbei. Strippow hielt ihn am Rockschoß. „Sie
werden die Stadt plündern. Hättet Ihr Euch nur nicht in die Verteidigung gemengt! Krieg ist
Soldatensache. Was geht mich das an, wenn sich unser König und l’Empereur in die Wolle
geraten? Jetzt ziehen sie uns den Balg über die Ohren.“ Nettelbeck riss sich los.
Als er die Wendenstraße erreichte, sah er, dass sich die Menge in der Schmiedegasse
sammelte. Vor Kramohls Haus. Hatte sich Sophie etwas angetan? Ihr verweintes Gesicht
neulich!
„He, Freund! Was gibt’s zu gaffen?“
„Philipp ist auf die Wache gebracht, drei Mann mit Seitengewehr hinter ihm drein.“ Der
friedsame Philipp?
„Er hat einen Offizier umbringen wollen“, wusste jemand.
„I wo“, stritt ein anderer, „er war dem Offizier im Wege bei Sophie.“
„Der Leutnant angelte schon lange nach ihrem Schürzenband“, berichtete eine alte Frau, die
in Friedenszeiten gespaltenes Kienholz in den Giebelhäusern und Buden verhökerte und
deshalb stets wusste, was in den Rauchfängen hing. „Er hat sich immer nur von ihr den Bart
kratzen lassen.“
„Wenn unsere Weiber und Töchter Freiwild für die Herren Offiziere sind, können wir gleich
den Franzosen die Tore öffnen“, rief der Bootsbauer Vorberg aus und erhielt damit die
Zustimmung der Menge.
„Mann!“ Nettelbecks Hand fuhr an den Degenknauf. Schon wieder sprach man von
Unterwerfung und Kapitulation!
„Unsereinem wollt Ihr ans Leder“, entgegnete Vorberg ruhig, und der sanfte Blick des
Bootsbauers verwirrte den alten Schiffer. Nettelbeck ließ den Degen stecken. Er fürchtete
nicht die erregten Leute, er hätte sich den Weg gebahnt mit der blanken Waffe. Mit einer
eingerosteten Pistole und mit einem Tauende hatte er eine meuternde Schiffsmannschaft
zur Räson gebracht, und die Matrosen sind wahrhaftig wilde Kerle, die dem Teufel ein Auge
ausreißen, wenn sie ein Quart Rum dafür kriegen! Sollte er sich da vor Schustern,
Bierschrötern und Fischweibern verstecken? Aber er sagte sich, dass die Leute zu Recht
aufgebracht sein könnten.
„Seid Ihr Bürgerrepräsentant, Kapitän Nettelbeck, dann schützt uns vor den Blauröcken!“
Die Hökerfrau zeterte: „Ihr wisst wohl nicht mehr, wie das tut, wenn einem die Frau
weggenommen wird?“
Nettelbeck schüttelte sich, als wollte er die Erinnerungen, die alte Geschichte, die er längst
vergessen glaubte, von sich abwerfen. Aber sie überflutete ihn wie die Sturzsee, und wenn
er glaubte, daraus emporzutauchen, traf ihn die neue Welle, und er suchte nach dem Mast,
an den er sich klammern konnte, um der aufgewühlten See zu entgehen, wie in jener Nacht
auf der Schute des Schiffers Prey, den er angebettelt hatte, ihn für gute Worte
mitzunehmen nach Königsberg. Für gute Worte; Geld hatte er nicht zu bieten, all seine
Barschaft und den Erlös der heimlich verkauften Hälfte seines Hauses dazu hatte das Weib
mitgenommen, als sie mit ihrer Tochter dem Offizier, der ihr die Zeit während des
Hausherrn langer Seereisen vertrieb, bei Nacht und Nebel gefolgt war. Der Offizier hatte sie
nach zwei Wochen, nachdem ihr Geld am Spieltisch durchgebracht war, davongejagt, und
sie flehte ihren Mann, als er endlich ihre Spur gefunden, auf Knien an, ihr die
himmelschreiende Sünde zu verzeihen und sie in Gnaden wieder aufzunehmen. Keinen
schwarzen Pfennig besaß sie mehr. Nettelbeck blieb hart und stieß die Frau von sich.
Sie rannte zum Stadtrichter. Er musste sich durch die Hintertür aus seinem Quartier
schleichen und lief nachts zu Fuß nach Pillau, heuerte als Steuermann nach Riga an und
kehrte erst nach Wochen in die Heimatstadt zurück.
Er musste eine Hypothek auf den ihm verbleibenden Teil des Hauses aufnehmen, um die
Scheidung bezahlen zu können. Der Hass des Bürgers gegen das Offizierskorps hatte sich
auch in ihn eingebrannt. Er bahnte sich einen Weg, stieß die Leute beiseite und stürmte ins
Haus.
Der Offizier saß noch in seinem Stuhl, die Beine bequem auf eine Fußbank gelegt, die kurze
Pfeife im Mund. Kramohl stand hinter ihm, ihn halb verdeckend, ein Handtuch über dem
Arm.
„Herr!“
Der Offizier stieß die Fußbank von sich, erhob sich und sagte, wobei er die Pfeife kurz aus
dem Mund nahm, ein paar Worte zu dem Meister. Nettelbeck verstand sie nicht, er hörte
nur die warme, volltönende, angenehme Stimme, die einem törichten jungen Mädchen so
süß klingen musste, wenn sie ihr Honigworte ins Ohr flüsterte. Er sah in das fast kindliche,
glatte Gesicht, zart wie die Haut eines Ferkels, auf das zierliche Kinn, an dem eine winzige,
rosa schimmernde Narbe auffiel. Die Narbe kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, wo
er sie gesehen hatte; dieser Offizier war ihm bestimmt nie begegnet; er wusste nicht seinen
Namen, seinen Dienstrang, es konnte nur ein Leutnant sein, aber die Narbe erinnerte ihn an
etwas, auf das er sich nicht besinnen konnte, und ihre zartrosa Farbe, die sich im Rhythmus
des Pulsschlags verdunkelte und aufhellte, verwirrte ihn. Er biss sich auf die Lippen, sah
wieder die glatte, kalte Stirn des Leutnants, die höhnischen Augen, er blickte auf die
zitternden Hände des Barbiers und zog den Bürgerdegen halb aus der Scheide.
„Herr!“ Er hätte zustoßen mögen, aber der Mann trug des Königs Rock.
Der Leutnant warf dem Meister ein Geldstück hin, ging an Nettelbeck vorbei und blieb
breitbeinig, selbstbewusst stehen, die Rechte schon am Türgriff. „Ein königlich-preußischer
Offizier schlägt sich nicht mit einem Branntweinbrenner!“
Gegen das aus der Obertür einfallende Licht war von der rötlichen zuckenden Narbe nichts
zu sehen.
Nettelbeck schob den Degen in die Scheide zurück und ließ sich seufzend in den
Barbierstuhl fallen. Er nahm dem Meister das Handtuch vom Arm und trocknete sich die
schweißnasse Stirn. „Nettelbeck, Nettelbeck, jetzt werden sie auch uns beide noch
arretieren. Auf meine alten Tage ins Stockhaus! Meine arme Frau, meine arme Tochter!“
Nettelbeck sprang auf und stieß Kramohl vor die Brust. Wenn er noch ein Wort jammerte,
wollte er ihm das Handtuch ins Gesicht schlagen. Wozu lamentieren? Was getan war, war
getan. Wer wollte das ungeschehen machen? Kein Heulen und kein Zähneklappern half! Es
blieb nur zu prüfen, ob er seinen Degen zu Recht oder zu Unrecht gezogen hatte. War es zu
Recht geschehen, würde er sich zu verteidigen wissen, sich und Meister Kramohl und
Philipp Püttmann dazu. Er hatte sich mit französischen Reedern und niederländischen
Versicherungsgesellschaften, mit portugiesischen Hafenbeamten und britischen
Kaperkapitänen herumgeschlagen; er fürchtete sich auch nicht vor preußischen Richtern.
„Was bist du für ein Barbier, Kramohl! Kratzt andern Leuten am Hals und bist selber kitzlig.“
„Sprich nicht vom Messer, Nettelbeck, sprich nicht vom Messer!“
„Ich sehe, du musst einen Kümmel trinken.“ Er packte den Barbier, der doch gut zwanzig
Jahre jünger war, an den Schultern und schob ihn in die Küche. Bevor er ihm folgte, trat er
noch einmal vor die Haustür; noch immer starrten die Leute das Haus an, Gaffer,
Neugierige, wie sie sich überall sammeln, wo Sensationen zu erwarten sind. Als ob nicht
jeden Augenblick eine feindliche Bombe dazwischenfahren könnte! Er spürte, sie
unterbrachen ihre Gespräche, merkten auf, als er vor sie hintrat, aber er wartete, bis sich
das Gemurmel völlig gelegt hatte, bis ihn jedermann ansah. „Kolberger Bürger und
Schutzverwandte, Freunde! Geht wieder an eure Arbeit! Was hier geschehen ist, ob Recht
oder Unrecht, wird untersucht werden. Ich sorge dafür. Die Zehnmänner, eure
Bürgerrepräsentanten, werden vom Herrn Kommandanten eine strenge Verifikation
verlangen. Ich verbürge mich dafür. Ihr wisst, dass ihr euch auf mein Wort allezeit verlassen
könnt.“
In den hinteren Reihen lebte das Gemurmel wieder auf, und plötzlich rief eine helle
Knabenstimme: „Vivat, Vater Nettelbeck!“
Kramohl saß am Küchentisch. Nettelbeck ging an ihm vorbei und langte hinter das Schapp,
wo er die bauchige Flasche wusste, die er am Geschirrtuch abwischte und entkorkt vor
Kramohl hinstellte. Der Barbier trank. Nettelbeck nahm ihm die Flasche vom Mund.
„Erzähle!“ Kramohl begann wieder zu zittern und langte nach der Flasche. Nettelbeck entzog
sie ihm.
„Wo werde ich denn erzählen, ich habe ja nichts gesehen.“ Nettelbeck setzte sich ihm
gegenüber und sah ihn scharf an, die Flasche hielt er hinter seinem Rücken verborgen. „Hör
gut zu, Kramohl!“ Er pfiff durch die Zähne, es sollte sich nach einer Seemannsmelodie
anhören; plötzlich sprach er weiter: „Du weißt, ich bin Bürgerrepräsentant, eine Amtsperson
gewissermaßen, und dies ist ein amtliches Verhör, damit du mich recht verstehst.“
„Gib mir was zu trinken, Nettelbeck!“
„Beim Verhör muss man nüchtern sein.“
„Wenn du meinst, Nettelbeck. Wie war das bloß gleich? Mein Kopf ist wie ein Kescher, in
den ein Schwarm Stinte geraten ist. Philipp, ja, der war schon die ganzen Tage so, wie soll
ich das sagen? So wie ein Hecht, der an der Angel sitzt, so recht zapplig. Und Sophie
machte ein Gesicht, als wenn ihr eine Handvoll Dill in die Kreude gefallen wäre. Ich dachte
bei mir: so ist das mit den jungen Leuten, das renkt sich alles wieder ein, und was nicht
säuert, süßt auch nicht. Dass aber Philipp so was machen wollte, ich hätt’s nie für möglich
gehalten.“
„Immer der Reihe nach, sonst kommt in meinem Kopf das Protokoll durcheinander.“
„Dass du in deinen Jahren noch einen solchen Kopf hast! Ich könnte bald dein Junge sein,
aber meiner ist schon wie ein Seihtuch. Vorigen Montag, kann auch Dienstag gewesen sein,
aber Sonntag nicht, den Sonntag heilige ich, da fasse ich kein Stück an, also ich habe
meinen Abziehstein gesucht und nicht gemerkt, dass ich ihn in der Hand hielt. Ja doch, es
geht ja schon weiter! Also meine Sophie und Philipp sind so gut wie versprochen. Er war ein
so ruhiger Mensch, verstand seinen Bart zu schaben und seinen Zopf zu flechten und zu
pudern, sogar einen Offizierszopf, aber der neue Kommandant hat ja nun alle abschneiden
lassen, nun braucht er’s nicht mehr zu können. Er kann auch die Ader schlagen, dass einer
nicht gleich beschwögt wird, das kann Philipp alles. Er ist ehrbarer Leute Kind und stammt
nicht von Leinwebern und Müllern ab, er soll meine Sophie kriegen und Meister werden,
wenn ich mich mal aufs Altenteil setze! Meine drei Jungen liegen auf dem Georgenkirchhof,
und jetzt wird mir Gott ja keinen mehr in die Wiege packen.“
Nettelbeck sah in den schwarzen Rauchfang hinaus. Das Gespräch trieb dahin wie eine
Brigg bei Flaute im Ärmelkanal, man sah an beiden Seiten Land und gelangte nicht hin. „Zur
Sache, Kramohl!“
„Wenn du meinst, Nettelbeck. Nun ist der Leutnant dazwischengekommen. Seit zwei
Wochen erscheint er jeden Tag und immer um die gleiche Stunde, und jedes Mal verlangt
er, dass Sophie ihn einseift, immer nur Sophie. Ich hab mich schon gewundert, dass der
Leutnant gutes Trinkgeld gibt, wo doch das Geld knapp ist in der Stadt. Aber gebrauchen
kann ich’s. Und Philipp, nein, dieser Philipp! Reich mir erst die Flasche, Nettelbeck! Die
Stinte in meinem Kopf, weißt du, die wollen schwimmen.“
Nettelbeck reichte die Flasche hinüber. Sein Gefühl sagte ihm, dass er recht gehandelt
hatte, als er den Offizier zur Rede stellte. Er kannte diese Milchbärte im blauen Rock mit
den roten Aufschlägen. Wie war ihm damals zumute gewesen, als er, von einer langen
Reise zurückkehrend, sich darauf gefreut hatte, die Füße unter der angewärmten
Bettdecke ausstrecken zu können, und den Herd kalt und die Schatulle leer fand! Wäre ihm
in jenem Augenblick der Offizier, der sein Haus beschmutzt hatte, vor den Degen
gekommen, er hätte ihn durchbohrt und das Weib, das ungetreue, dazu.
Kramohl stellte die Flasche neben sich auf den Lehmfußboden; Nettelbeck konnte sie nicht
erreichen, wenn er nicht aufstand und um den Tisch herumging.
„Gestern, es muss gestern gewesen sein, wenn nicht vorgestern, als der Leutnant kaum in
der Tür war, stand auch schon Philipp hinter ihm und warf ihm den Umhang über; der Herr
Offizier saß noch gar nicht. Sophie, sie muss wohl auf dem Sprung gestanden haben, kam
mit einer Schüssel Warmwasser aus der Küche. Philipp, das seh ich nun erst so recht vor
mir, vorgestern, es muss doch vorgestern gewesen sein, Philipp wollte das Mädchen
wegdrängen, aber der Leutnant sieht sie und winkt sie zu sich heran. Dem Jungen drückt er
ein Stück Geld in die Hand und befiehlt ihm, nach einer Rolle Tabak zu laufen.“
Er trank einen Schluck, und bevor Nettelbeck ihm die Flasche abnehmen konnte, hatte er
sie wieder neben sein Schemelbein gestellt.
„Gestern schlich sich Philipp aus der Stube, als der Leutnant eintrat, und kam erst nach
einer halben Stunde wieder herein; er konnte ihn wohl nicht mehr ansehen. Und gestern
Abend, gleich komm ich drauf, lass mich mal nachdenken! Kurz vor der Schummerstunde
verließ Philipp das Haus. War er nicht bei dir, Joachim? Mir ist, als hätte er davon
gesprochen. Ich hab dann noch mit dem alten Vorberg zwei Partien Schafskopf gespielt, du
weißt, er hat immer einen scharfen Kümmel im Schapp. Grad will ich meine Haustür
aufschließen, kriegt mich Philipp an.
„Wo ist Sophie?“ In ihrer Kammer, denke ich und schau nach; ich hatte gleich so ein Gefühl
im Magen, als ob ich ein halbes Pfund klein gehackter Nüsse gegessen hätte. Wahrhaftig,
sie war nicht da, und auch meine Alte zog nur die Nase kraus, als ich sie fragte. Philipp
machte ein Gesicht wie einer, der vergeblich nach einem Stück Fleisch in der Kohlsuppe
stochert. Er konnte einem leid tun, und weil ich gerade meinen Magen mit einem kleinen
Kümmel stärken musste, hab ich ihm auch einen eingegossen.“
Wenn Kramohl nur schneller zum Wesentlichen käme! Eile tat not. Nettelbeck musste mit
dem Kommandanten reden, in dieser wilden Zeit fackelten die Militärs nicht lange. Vielleicht
führten sie in dieser Stunde schon Philipp zum Sandhaufen. „Weiter, weiter, Kramohl!“ Er
hätte den Barbier an den Schultern packen und die Worte aus ihm herausrütteln mögen.
„Weiter, weiter!“
„Ich erzähl ja schon. Du musst nur richtig zuhören, Nettelbeck! Erst soll ich alles ganz genau
sagen, und nun geht’s dir zu langsam. Also das Mädchen kam erst, als es
stickensternduster war. Sie lief gleich die Treppe hinauf in ihre Bodenkammer, meine Alte
hinterher. Weiß der Teufel, sie hat mir bis jetzt nicht gesagt, was das dumme Ding
angestellt hat.“
„Und was geschah heute?“
„Das weiß ich auch nicht so genau, Nettelbeck, Sophie ließ sich den ganzen Tag nicht vor
mir blicken, nur beim Essen, und beim Essen rede ich nicht. Und Philipp machte Augen, als
hätte er in der Nacht ein Quart Branntwein mit Zucker ausgelöffelt. Sophie kam nicht einmal
herunter, als der Leutnant eintrat. Da musste ich sie suchen, aber nirgends war sie, nicht im
Hühnerstall und nicht im Keller. Als ich dem Herrn das mitteilen wollte, kam ich gerade
darauf zu, wie drei Soldaten Philipp die Bajonette in den Rücken drückten, sodass er, ob er
wollte oder nicht, vorneweg aus der Tür laufen musste. Ich konnte vor Schreck den Mund
nicht aufkriegen, das kannst du mir glauben. Auf der Straße liefen die Leute zusammen und
wollten die Patrouille mit ihrem Gefangenen nicht durchlassen. Du hast sie selbst gesehen,
wild wie ein aufgestörter Hornissenschwarm. Wenn die mir die Türen eingeschlagen oder
das Haus angesteckt hätten! Vor dem Leutnant konnte man auch Angst bekommen, wenn
man ihn ansah; er plusterte die Nasenlöcher auf wie ein scheues Pferd. Meister, sagte er,
Er muss ein Auge auf seine Leute haben! Sind Jakobiner, sagte er, fängt der Kerl Streit mit
mir an! So, und jetzt muss Er mich rasieren, hat er gesagt und: ich will hoffen, dass Seine
Hand nicht zittert, Meister. Und so musste ich ihn dann balbieren. Ich habe mir fast die
Zunge zerbissen, damit die Hand nur ruhig blieb. Dass ich ihn nicht geschnitten habe in
meiner Angst, wird mir mein Lebtag ein Gotteswunder sein.“
„Was ist denn nun zwischen Sophie und dem Leutnant wirklich geschehen?“
„Was sagst du da, Nettelbeck? Meinst du wahrhaftig? Dass ich darauf nicht selbst
gekommen bin! Da muss ich doch gleich Sophie fragen. Wehe, sie verschweigt mir was!
Dann soll sie ihren alten Vater kennenlernen. Wenn ich nur wüsste, wo das Mädchen
steckt!“
Nettelbeck sah sich vor seinem Haus stehen, den leeren Seesack auf dem Rücken; die
paar Taler, die er sich auf seinen Fahrten erworben, hatten ein Schiffbruch und die
Niederträchtigkeit seines Assekuranten verschlungen. Ein kleines Kapital hatte er zu Hause
in der Lade, damit wollte er ein neues Schiff rüsten. Aber er rüttelte vergeblich an der
verschlossenen Tür. Noch jetzt klangen ihm im Ohr die hämischen Reden der
Nachbarsleute, die ihm das Vorgefallene berichteten. Er spürte den scharfen Wind, der ihm
ins Gesicht schnitt und die Augen zum Tränen zwang, obwohl ihm nicht weinerlich zumute
war, als er mit der Schute des Schiffers Prey nach Königsberg segelte. Er vernahm den
hallenden Klang seiner Schritte in den abendlich leeren Straßen. Lange hatte er damals
nicht zu suchen brauchen, er kannte die Örter, wo sich das Weib aufhalten musste. Und die
Worte der Ungetreuen, die Schandworte, der giftige Hohn, dann die schleimige Bitte um
Vergebung, sie brannten ihm noch immer auf der Seele. „Ich werde zum Kommandanten
gehen“, sagte er. „Man muss sich um Philipp kümmern.“
Ich, wollte er dem Kommandanten sagen, ich gehöre auch eingesperrt, wenn der Junge ins
Stockhaus muss; denn ich habe den Degen gezogen gegen den Offizier und hatte weniger
Grund als der Junge für seine unbedachten Worte. Und er wollte dem Major seine
Geschichte erzählen, eine Geschichte aus Kolberg und Königsberg. Die Weiber, wollte er
sagen, können nichts dafür, Gott hat sie in ihrer natürlichen Dummheit erschaffen, dass sie
sich betören lassen von bunten Röcken, blitzenden Schnüren und glatten Worten,
namentlich die jungen. Sie haben vielleicht Glück gehabt mit der Ihrigen, Euer Wohlgeboren,
aber jedermann hat so viel Glück mit seinen Frauen und Töchtern nicht. Und die
Bürgerfrauen und unsere Töchter sind nicht Freiwild für die Herren Offiziers, das nicht! Das
vom Freiwild hat mir Bootsbauer Vorberg eingeredet, dachte er, aber wahr ist es, und so
will ich es dem Herrn Kommandanten sagen.
Wer einem Bauernpferd auf die Beine half, wird doch auch ein Herz für die Bürger haben!
3. Kapitel
Nicht Nettelbeck, der alte, echte Nettelbeck, der mit dem Degen in der Hand vor dem
königlich-preußischen Offizier stand und doch nicht zustach, aus Achtung vor dem Rock des
Königs, nicht Nettelbeck hatte sich erinnert an die winzige, rötliche, zart wie die Haut eines
Ferkels schimmernde Narbe am Kinn des Leutnants; es war meine eigene Erinnerung. Ich
habe diese Narbe gesehen an dem schmalen, glatt rasierten Kinn des Unteroffiziers mit der
Pastoren- oder Opernsängerstimme.
Aus Haralds Kopfwunde sickerte Blut in den Sand. Ich ließ mich auf die Knie nieder und hob
ihm den Kopf ein wenig an. Harald reagierte nicht, als ich ihn anfasste, aber er atmete. Der
Unteroffizier, der Mann mit der winzigen Narbe am glatten Kinn und der angenehmen
Stimme, trat heran. Ich fühlte einen drohenden schwarzen Schatten über mir; ich sah nicht
auf, sah nur dem Jungen in das graue, blasse Gesicht mit den halb geschlossenen Augen.
Mein Blick fiel auf die Stiefelspitze neben meiner Hand, schmutziges, sandverkrustetes
Leder, das vor wenigen Stunden noch lackschwarz geglänzt hatte und in der ersten Stunde
der Ruhe wieder glänzen würde. Ich hob den Blick, den Stiefelschaft entlang, die Reithosen
aufwärts, den taschenbesetzten grauen Rock, aber bevor ich zum Gesicht kam, dem
glatten Gesicht mit der rötlichen Narbe am Kinn, sagte die angenehme Stimme über mir:
„Will sich drücken, der Bruder!“
„Hören Sie, er muss in ein Lazarett.“
„Lazarett? Einen Guss Wasser über das Gesicht, dann läuft er wie der Hase gegen den
Igel.“
Mir war, als stürzte mir einer den Eimer Wasser in den Nacken. „Sehen Sie das nicht?“ Ich
hielt ihm meine blutverschmierte Hand entgegen.
Die Stiefel, die Reithosen, der graue Rock lachten, und das Lachen hörte sich an wie
Schläge eines Blechlöffels gegen das Kochgeschirr. „Wer ist heute nicht verletzt? Hunderte,
Tausende, Millionen, Mann! Was suchen Sie überhaupt hier, Sie Zivilist?“
Ich drehte Haralds Kopf zur Seite und bedeckte die Wunde mit einem Taschentuch.
Die schmutzverkrusteten Stiefel traten einen Schritt zurück. Ich richtete mich auf, sah mich
nach einem der Soldaten um. Sie waren jung wie Harald, ihnen konnte das gleiche
geschehen sein, meine Söhne hätten sie sein können, fast meine Enkel, sie mussten ihn,
mich verstehen, mussten mir helfen. Aber der eine lief vorbei, die Granate im Arm, er wollte
nicht herschauen, das sah man ihm an; er wollte nicht mitleidig sein, er ging vorbei. Es hätte
vielleicht eines Wortes bedurft, und er würde sich den Jungen, seinen Kameraden, auf die
Schulter geladen haben, um ihn in das nächste Lazarett zu schleppen. Aber es sagte
niemand dies Wort. Ich wollte ihn anrufen, ich hätte ihn anrufen können, aber ich tat es
nicht, er trug eine Granate im Arm.
Und der andere, der gesagt hatte: „Wenn er aufwacht, ist der Schlamassel vorbei“? Ja,
„Schlamassel“ hatte er gesagt. Ich hob die Augen auf zu ihm, dessen Knabengesicht
ebenso hohlwangig aussah wie das Haralds. Er spürte meine wortlose Frage, und seine
Augen begannen zu flackern, die bleichen Wangen, von der Nasenwurzel beginnend, füllten
sich mit einem tiefen Rot; der Blick irrte zu dem Unteroffizier hinüber, der dastand, gerade
so, als ob er für eine Karikatur Modell zu stehen hätte, und der Junge senkte die Augen und
trottete zu dem Munitionsstapel.
Nein, es bestand nicht die geringste Hoffnung, dass sie Harald halfen, wenn nicht der
Unteroffizier einen Befehl oder wenigstens sein Einverständnis gab.
Kaum hatte ich ihn angesehen, tobte er auch schon: „Was wollen Sie von mir? Dem helfen?
Einem Selbstverstümmler? Lassen Sie ihn hier krepieren, dann spart die Feldgendarmerie
den Strick!“
Ich konnte die Worte der so angenehmen Stimme nicht länger ertragen. Ich blickte zu dem
Bauern in der grauen Joppe, der seine immer noch erregten Tiere an der Trense hielt. Auch
er sah fort, schaute nur seine Pferde an, die am Geschirr zerrten. „Ich muss Munition
fahren. Sie nehmen mir sonst das Gespann fort.“
Wie sollte ich den Jungen von hier fortschaffen? Eile tat not; er musste zum Verbandplatz.
Ich nahm mich zusammen, straffte mich, versuchte meiner Stimme einen harten Klang zu
geben. „Ich bin Soldat des ersten Weltkrieges, war Leutnant bei der gleichen
Waffengattung.“ Der Unteroffizier ließ mich nicht ausreden. „Ihr alten Mumien habt uns den
einen Krieg vermasselt und wollt uns jetzt den zweiten versauen. Das lassen wir nicht zu,
Sie! Warum sind Sie ohne Waffen, wenn Sie Soldat sein wollen? Wer sind Sie überhaupt?“
„Ich bin ...“, ich hatte es nicht sagen wollen, ich hatte mit keiner Silbe daran gedacht, ich
weiß jetzt noch nicht, wie es mir in den Mund kam, es brach aus mir hervor: „Ich bin
Nettelbeck.“
„Sie! Lustig machen wollen Sie sich über mich? Das soll Ihnen schlecht bekommen! Ich
werde Sie melden, Sie und Ihren Ganymed. Wehrkraftzersetzung.“ Er griff nach Notizbuch
und Bleistift, die er, anders als sonst die Leute seines Ranges, aus der Seitentasche des
Rockes zerrte. In diesem Augenblick, er setzte gerade den Stift zum Schreiben an, und so
muss ich den Zufall preisen, in diesem Augenblick wurde von der Geschützstellung her
gerufen: „Unteroffizier Imm zum Batteriechef!“
Er ging, zornrot bis ins Kinn, dass die Narbe wie eine bleiche Insel wirkte, und schrie mich
an: „Sie kommen beide an die gleiche Laterne!“
Vielleicht, nachdem der Unteroffizier, ihr Peiniger, der Mann mit der rosa zuckenden Narbe
am glatten Kinn, abberufen worden war, sie nicht mehr unter Kontrolle hatte, vielleicht
waren die Soldaten jetzt eher bereit zu helfen.
Ich hoffte vergeblich.
Ich bin Lehrer, ich habe Knaben erzogen, ich weiß nicht, wie viele. Sind aber die, die durch
meine Klassen gegangen sind, anders geworden als diese? Hätten sie anders gehandelt in
diesem Augenblick?
Der eine - nur der eine antwortete - fasste sich mit der Hand an den Hals, malte mit dem
Finger die Bewegung des Strickes. Keiner half! Und in zweieinhalb Stunden ging mein Boot.
Der Major wartete, meine Frau, meine Tochter, meine Manuskripte.
Ich knüpfte ein sauberes Taschentuch um Haralds Kopf. Vielleicht half mir einer, den Jungen
aufzuladen, bestimmt hat es einer getan, allein hätte ich es kaum geschafft; aber ich sah
mich nicht danach um. Ich richtete mich auf, ächzend unter der Last. Die alte Verwundung,
die mich seit dem Donon, seit den letzten Tagen des letzten Krieges quält, vor allem bei
einem Wetter wie diesem, das mehr dem Herbst als dem des Frühlings gleicht, dazu mein
Rheuma und die Jahre, sie machten es mir schwer, mich aufzurichten. Ich glaubte
zusammenzubrechen, aber gleichwohl, ich stolperte voran. Ich sah vor mir die alte
Ziegelscheune mit dem Eulenloch im Giebel. Bis dahin musste ich kommen, dort konnte ich
mich anlehnen und einige Augenblicke ausruhen.
Weit her vom Geschütz hörte ich den Unteroffizier mit seiner vollen Stimme Kommandos
geben. Ich dachte nicht daran, dass er hinter mir herstürmen und mich mit seiner Last zu
Boden schleudern, dass er dem nächsten Kanonier den Karabiner von der Schulter reißen
und mich und Harald niederschießen konnte. Unsinnigerweise stellte ich mir, als ich die
angenehme, grausame Stimme hörte, die Frage, was ich wohl an Kramohls, was ich an
Nettelbecks Stelle getan hätte, wenn dieser Mann mit der rosigen Narbe am glatten Kinn
meine Tochter, Karla, anrührte. Merkwürdigerweise fiel mir in diesem Augenblick der
Fähnrich ein, ein Neffe meiner Frau, heimlicher Verehrer Karlas - im letzten Frühjahr hatte
er für sie Tulpen aus einem fremden Garten gestohlen, ausgerechnet Tulpen, die sie nicht
mochte -, und sein blasses Jünglingsgesicht verschwamm mit dem des Mannes mit der
Narbe. Ich sah mich, den Bürgerdegen in der verkrampften Faust, auf den Unteroffizier Imm
eindringen - aber ich schüttelte diese unsinnige Vorstellung ab. Die Geschichte wiederholt
sich nicht, auch nicht in Kleinigkeiten. Der Leutnant Jahn stand nicht im Unteroffizier Imm
wieder auf, und kein Gneisenau konnte kommen, um die Stadt zu retten. Retten? Vor wem?
Als sie Preußen nicht mehr ertrugen, schiffte sich Gneisenau nach England ein, Stein und
Clausewitz gingen nach Russland, und sie kämpften in fremden Heeren gegen ihren König,
Clausewitz an der Seite Kutusows. Sie kehrten zurück, als ihr Volk den Kampf um die
Freiheit begann ...
Ich sah die Scheune vor mir, die rote Ziegelscheune mit dem schwarzen Tor. Noch achtzig
Schritt hatte ich bis dahin, noch siebzig, dann konnte ich mich vier, fünf Atemzüge lang
ausruhen; von dort aus waren es noch hundert 40 Schritt bis zu den ersten Häusern der
Vorstadt.
Mit fliegendem Atem erreichte ich die Ziegelscheune und sank an die schmutzige, rotbraune
Wand, in deren Fugen sich grau-grüne Flechten angesiedelt hatten. Ich lehnte an der
Mauer, und die Mauer war hart. Ich stieß mich ab, wankte weiter, erreichte schließlich das
große, schwarze Scheunentor. Wie gern hätte ich Harald auf den Erdboden niedergelassen,
auf die welke Grasnarbe über dem weichen Sand, hätte ich mich aufgerichtet, den Rücken
gestreckt, mich ausgereckt wie morgens nach dem Aufstehen! Aber nein, ich fürchtete,
Harald nicht mehr auf den Rücken zu bekommen.
Ganz in der Nähe schlug eine Granate ein, jenseits der Scheune wohl, das Beben der
Torflügel warf uns fast um.
Der Luftdruck riss die lockeren Dachziegel von den Sparren, Bruchstücke fielen in den
Sand. Wir mussten sofort weiter!
Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange wartete der Major? Meine Uhr aus der Tasche
nehmen konnte ich nicht, ich hätte Harald loslassen müssen. Eine Viertelstunde über die
Zeit konnte bedeuten, dass Blissing in See stach und wir zurückblieben. Ohne mich fuhr
meine Frau nicht, keinesfalls, glaubte ich, und wir wären alle verloren, begraben unter den
Trümmern einer Stadt, eines Badeortes, den der blanke Wahnsinn zur Festung erklärte.
Das Mittel zum Verständnis der toten Formen ist das mathematische Gesetz, das Mittel
zum Verständnis lebendiger Formen ist die Analogie, hatte Oswald Spengler geschrieben.
Aber das war ein Irrtum, die lebendige Welt ist zu vielfältig, als dass sie sich in das Gitter
der Analogie sperren ließe. Die Geschichte kann man nicht in Flächen aufteilen, aus denen
man nur die kongruenten oder auch nur ähnlichen Stücke herauszusuchen und
übereinanderzuschichten braucht, um aus den Maßen des einen den Verlauf des anderen zu
errechnen. Der Raum lässt sich in allen Richtungen durchmessen, die Zeit nicht, und darum
kann es keine Analogie geben, das Jahr 1807 wiederholt sich nicht im Jahre 1945.
Und auch nicht der schändliche Ehrgeiz eines Garnisonchefs, der sich für einen Gneisenau
hält, häuft diese Schrecknisse auf uns; auch dieser Mann handelt auf Befehl. Es ist
befohlen, dem Feind nur verbrannte Erde zu überlassen, ohne Rücksicht auf die
Bevölkerung. Konsequenz eines unmenschlichen Systems, dessen verbrecherischer
Mechanismus die Welt zermalmen soll. Die preußische Tradition des unbedingten
Gehorsams, oberste sittliche Doktrin eines ganzen Staatswesen, lässt die Frage nach der
Berechtigung des Befehls nicht zu, mag auch sein Inhalt verbrecherisch sein. Der Befehl ist
der Strick des Henkers, der nicht fragt, um wessen Hals die Schlinge gelegt wird. Aber kein
Mensch, auch der mächtigste nicht, mag er sich General, König, Kaiser oder Führer
nennen, kann den Untergebenen, auch nicht den Pseudo-Gneisenaus, die Verantwortung für
ihr Tun abnehmen. Sie alle werden ihre Richter finden.
Ich musste weiter, mich mit den geschwollenen Füßen gegen den Sand stemmen, mit der
schmerzenden Schulter vom Scheunentor abdrücken. Ich hob den Blick zum Himmel, als ob
es da jemand gäbe, der mir helfen konnte, aber der Himmel blieb grau und leer. Ein
Flugzeug flog auf die Stadt zu, nicht einmal sehr hoch, unbehelligt. Unwillkürlich folgten ihm
meine Augen. Es ließ Bomben fallen, vielleicht auf mein Haus.
Mit dem letzten Rest Kraft spannte ich meine Muskeln an, um loszukommen von diesem
Ort. Ich wollte nicht mehr an das denken, was mir bevorstand, suchte in meinen
Erinnerungen, und mir kam in den Sinn, was ich längst vergessen glaubte. Mechanisch
zerstampften meine Schritte den Weg, mahlten meine Schuhe den körnigen Sand. Ich kam
vorwärts.
Ich sah den Jungen in einem Kleidchen vor mir, rot, glaube ich, mit dunklen Streifen oder
Karos, aber das ist vielleicht gleichgültig; er war noch keine zwei Jahre alt. Damals trugen
alle kleinen Jungen der ärmeren Leute Kleidchen, das war einfacher, billiger. Sein Vater,
Platzarbeiter bei der Kolberger Bau- und Holzfirma Wilhelm Soltkahn, hatte mir
Buchenkloben und Kiefernreiser geschnitten; meine großen weißen Öfen verbrauchen viel
Holz. Seine Mutter half damals über Wochenende in einer der großen Pensionen, da
musste der Junge beim Vater bleiben. An diesem Tage sah ich wohl Harald das erste Mal,
vorher war er mir nicht aufgefallen, aber er wird mir schon über den Weg gelaufen sein, die
Leute wohnten drei Häuser weiter auf einem Innenhof. Er sah aus wie andere Jungen in
dem Alter auch, wenn man ihn ansprach, lächelte er verlegen und verkroch sich hinter das
Hosenbein seines Vaters. Wusste er sich wieder unbeobachtet, sammelte er lange,
schmale Holzsplitter und legte sie aneinander zu wirren Ornamenten. Jahre später, er trug
längst Hosen, aber sie reichten noch immer bis über die Knie, traf ich ihn dabei, wie er
draußen, in der Nähe des Rennplatzes, jenseits der Kösliner Bahn, kleine Bildchen an die
Lichtmasten und Zaunpfähle klebte. Er bemerkte mich nicht, und als er fort war, trat ich
näher und sah, dass seine Bildchen, nicht viel größer als eine Briefmarke, einen Spruch, den
ich längst vergessen habe, und das Gesicht Thälmanns zeigten. Ich hätte selbstverständlich
zum nächsten Polizeirevier eilen oder die Zettel wenigstens abreißen müssen - ich ließ sie
kleben.
Als seine Mutter uns die Wäsche brachte, wollte ich sie warnen; es wäre doch unvernünftig,
sich solcher Gefahr auszusetzen. Sie schüttelte den Kopf, ich müsste mich getäuscht
haben. Vielleicht hatte ich wirklich einen anderen Jungen für Harald gehalten. Es war so
diesig gewesen wie heute. Frau Bögeholt war in einer Wäscherei in der Neustadt als
Austrägerin beschäftigt.
Ich hatte mich sicher nicht getäuscht. Haralds Vater wurde gleich in den ersten Tagen des
Krieges eingezogen und fiel kurz darauf. Die genaueren Umstände erfuhr ich erst später.
Dabei hatte ich so etwas Ähnliches geahnt, ich kannte ihn ja. Wir hatten manchmal
miteinander gestritten, zu einer Zeit, als man noch streiten durfte. Je trister die Zeit wurde,
in der wir lebten, desto mehr wuchs mein Stolz, etwas getan zu haben für diesen Jungen,
dessen Vater als politisch unzuverlässig galt. Ich behielt den Stolz für mich, ließ kaum meine
Frau etwas davon spüren, nicht aus Misstrauen, beileibe nicht, sondern aus Vorsicht. Heute
weiß ich, dass ich zu wenig getan habe, viel zu wenig. Vielleicht verliehen mir diese
Gedanken, die mir durch den Kopf schossen wie Sonnenstrahlen durch den Morgennebel,
die Kraft, mich weiterzuschleppen; sie schoben mich voran, dem ersten Haus der Vorstadt
zu. Als ich den Garten erreichte, drückte die Last wieder. Alles war wieder da: der
Schmerz, die Sorge um die Meinen, die Angst, auch hier keine Hilfe zu finden. Ich stemmte
das Knie gegen den Zaun, verhielt, stieß hastig den Atem in mich hinein. Ich stand an einem
gepflegten, einen halben Meter hohen Staketenzaun, sorgfältig geschnittene Hölzer in
gleichen Abständen an die Querbäume genagelt und grün gestrichen. Nur an einer Stelle
war der Zaun eingedrückt, lag der Pfosten umgebrochen, ein schweres Fahrzeug musste
dagegengeprellt sein. Mit einem Fußstoß öffnete ich die Pforte, mit dem Ellenbogen drückte
ich die Klinke der Haustür herunter. Ich trat in den leeren Flur, fand in der Küche niemand,
niemand in der Stube.
Ich ließ Harald auf das aufgeschlagene Bett gleiten, dessen Kissen noch die Abdrücke des
Menschen aufwiesen, der darin geruht hatte. Aber das Bettzeug fühlte sich kalt an, die
Schlafwärme war längst gewichen.
Ich rief. Keine Antwort. Ich beugte mich zu Harald nieder, legte mein Ohr an seinen Mund.
Er atmete, ganz flach nur, aber er atmete. Wir mussten weiter. Ein letztes. Mal wollte ich
rufen, trat in den Flur hinaus, legte beide Hände an den Mund. Mein Ruf verhallte.
Auch die nächsten Häuser standen leer, die Zäune waren eingedrückt, die Haustüren
aufgestoßen, die Fenster zerschlagen. Die Ställe standen offen, die Pferde waren
beschlagnahmt, Kühe und Schweine abgestochen. Auf einem Misthaufen scharrte
gleichgültig ein Huhn.
Endlich ein Haus mit Gardinen vor den Fenstern, dahinter ein Gesicht. Und doch stockte
mein Fuß an der Tür.
Ich konnte mich getäuscht, ein Lichtstrahl, der sich im Spiegel brach, konnte mich genarrt,
ein Luftzug die Gardinen bewegt haben. Mit dem Ellenbogen drückte ich die Klinke nieder;
die Tür sprang auf, ich stand im Hausflur.
Der Besitzer dieses Anwesens hatte mir manchmal Dung in den Garten gefahren. Ich rief
seinen Namen: „Kregel! Kregel!“ Niemand antwortete. Hatten sich fremde Menschen in dem
verlassenen Haus einquartiert?
Ein schmaler Lichtstreif fiel auf den Flur; die Stubentür stand einen Spalt offen. Ich trat ein,
ließ Harald auf das Sofa sinken. Im Zimmer stand alles auf seinem Platz, die Schränke
waren versperrt, die Schubladen geschlossen. Bilder hingen an der Wand, ein
Schattenschnitt der Eltern, ein Hochzeitsfoto. Die beiden Porzellanengel mit dem Flittergold
an den Flügeln standen Palm wedelnd auf dem Vertiko, zwischen ihnen die Fotografie eines
jungen Mannes in dunklem Anzug, die linke obere Ecke von einem schwarzen Bändchen
eingefasst: gefallen für Führer und Reich. So ein Bild ließ man nicht stehen, wenn man für
lange, vielleicht für immer aus dem Hause ging. Ich klopfte auf die grüne Plüschlehne des
Sofas, eine Staubwolke stieg gemächlich empor. Welch ein friedlicher Anblick!
Die Kammertür gab meinem Druck zuerst nach und leistete dann Widerstand.
Abgeschlossen war sie nicht, wer schließt schon die Türen innerhalb der Wohnung ab,
wenn er die Haustür offen lässt? Ich schob mit der Schulter, ruckte an und brachte die Tür
einen Spalt weit auf, in den ich die Schuhspitze stellen konnte. Drinnen fauchte eine Stimme:
„Warum hast du nicht zugeriegelt?“ Ich nannte meinen Namen. Keine Antwort. Die Tür gab
nach. Die Kammer war dunkel, die Fenster verhängt, die Läden geschlossen. Der Streifen
Dämmerung, der aus der Stube hereinfiel, ließ erkennen, dass sich die beiden in die
hinterste Ecke verkrochen hatten, wo sie zwischen Schrank und Bettlade, den Nachttisch
vor sich geschoben, eng aneinandergedrängt hockten. „Wir gehen nicht fort. Wir bleiben.“
Ich versuchte ihnen begreiflich zu machen, dass ich sie nicht fortjagen, dass ich nichts
weiter von ihnen wollte, als sie um Hilfe zu bitten. Aber sie verstanden mich nicht. Vielleicht
drückte ich mich in der Eile nicht deutlich genug aus, vielleicht waren meine Worte vor dem
Gejammer der Frau, vor dem Murren des Mannes wirklich nicht zu verstehen. Ich hörte
immer nur: „Wir gehen nicht fort. Wir lassen uns nicht vertreiben. Das ist unser Haus, unser
Hof!“
Dumpfe Wut stieg in mir auf. Unser Hof, unser Haus! Eine Fachwerkhütte mit Rohrputz
verkleidet, der von Wind und Wetter zerbröckelt war. Moos auf dem Dach, und der
Schornstein halb eingefallen. Stube, Kammer und Küche im Erdgeschoss, auf dem Boden
Räucherkammer und Mansarde. Und die Wirtschaft? Ein Stall aus Lehmsteinen und ein
Schuppen aus Schalbrettern, ein lahmes Pferd, eine Kuh und ein paar Morgen
Queckenland. Sonntag wie Alltag Arbeit, dass sie nicht einmal Zeit fanden, das Schwarze
unter den Fingernägeln hervorzukratzen.
Das sind die Leute, die später einmal, in eine Gegend verschlagen, wo niemand etwas von
ihnen weiß, erzählen werden, sie hätten ein vielräumiges Haus besessen, einen halben
Palast, massiv, aus rotbraunen Klinkersteinen gemauert, mit einer Sandsteinfassade
verkleidet. Und der Hof wächst in ihrer Erinnerung zu der Größe des Marktplatzes einer
kleinen Stadt, und der Flugsand ihrer Äcker verwandelt sich in fette Schwarzerde.
Ich hätte sie hinauszerren mögen, sie anbrüllen, ihnen sagen, dass vier, fünf Häuser weiter
Pimpfe mit Brechstangen und Mauerhaken die Paläste der Kolberger Ackerbürger einrissen
und daraus Panzersperren auftürmten und dass, wenn sie noch immer nicht von Haus und
Hof lassen wollten, sie in längstens einer halben Stunde unter dem Schutt ihres Hauses
begraben lägen. Ich weiß nicht, ob es etwas genutzt hätte; ich tat es nicht, bat nur um einen
Handwagen. Ich hatte einen Verwundeten ins Lazarett zu bringen.
Als sie begriffen, dass ich nicht gekommen war, sie aus ihrem Gehöft zu vertreiben, reckten
sie die Fäuste. Der Mann richtete sich auf, rückte den Nachttisch beiseite und pflanzte sich
mitten im Zimmer auf. Er schob die Arme vor, als wollte er mich wie einen Kartoffelsack
packen und vor die Tür setzen. Und war doch ein alter Mann, älter als ich.
Die Frau steckte den Kopf hinter dem breiten Rücken ihres Mannes hervor und keifte:
„Nein, wir geben nichts her. Was haben wir nicht schon verloren: Hühner und Gänse, ein
Schwein und ein Bullenkalb. Selbst den Hund haben sie umgebracht, so ein treues und
kluges Tier, wie unser Bello war. Nein, wir haben genug geopfert, wir geben nichts her!“
An ihn musste ich mich halten, er ließ mit sich reden. „Können Sie nicht wenigstens mit
anfassen? Zu zweit trägt es sich leichter. Zwei drei Häuser weiter, dann schaffe ich es
schon.“
Kregel griff schon nach der Mütze, die über der Ecke des Kleiderschranks hing, aber die
Alte hielt ihn am Ärmel fest, und der Mann ließ sich zurückhalten. „Geh nicht aus dem Haus!
Trau ihm nicht! Wenn er dich erst draußen hat, lässt er dich nicht wieder fort. Er drückt dir
ein Gewehr in die Hand und schickt dich zum Volkssturm. Du gehst nicht aus dem Haus,
Mann!“
„Herr Kregel, ich habe einen Verwundeten bei mir; jede Minute, die wir zögern, kann sein
Tod sein. Denken Sie an Ihren Sohn, Herr Kregel.“
„Nennen Sie nicht seinen Namen! Mein Sohn ist als Held gestorben. Hör nicht auf ihn,
Vater!“
„Und dieser stirbt in Ihrem Haus, auf Ihrem Sofa.“
„Hinaus mit ihm auf die Straße! Soll er dort sterben! Alle sollen sie verrecken, alle! Warum
haben sie nicht besser gekämpft! Warum haben sie die Russen ins Land gelassen ! Alle
sollen sie verrecken!“
Ich lud Harald wieder auf die Schultern. Jetzt erst fiel mir auf, dass das alte Sofa, nein, das
ganze Zimmer muffig roch, als wenn tagelang nicht gelüftet worden wäre. Ich wünschte
fast, eine Bombe risse das mürbe Fachwerk auseinander, damit frische Luft einströmen
könnte.
Der Ackerbürger Kregel war kein schlechter Mensch. Als er noch Fuhren für mich besorgte,
hatte er oft meine kleine Karla auf sein Pferd gehoben und sie sorgsam festgehalten, damit
sie nicht herunterfallen konnte. Und noch im Kriege, als alles schon knapp war, brachte er
manchmal eine Flasche Milch mit. „Von meiner Frau“, brummte er und winkte mürrisch ab,
wenn man sich bedankte. Sie waren beide keine schlechten Menschen, und doch sagten sie
heute: alle sollen verrecken! Wer ist schuld, dass diese Menschen und all die anderen so
wurden, wie sie jetzt sind? Die Zeit, sagt Blissing, die unselige Zeit. Und wer hat die Zeit
gemacht? Die Menschen, die unseligen Menschen. So sind sie denn geworden, wie
Goebbels sie seit zwölf Jahren haben will: mit Eingeweiden aus Eisen und mit einem
ehernen Herzen versehen, um alle Empfindsamkeit loszuwerden. - Das eherne Herz ist von
Rost zerfressen, und im Mörser der Zeit wird das brüchige Erz zerstoßen zu Staub. Blissing
zweifelt, aber ich glaube wie Clausewitz: wenn Menschen die menschliche Natur bei uns
entadelt haben, so müssen auch Menschen sie wieder erheben können.
Ein Motor heulte hinter mir auf. Ein Kübelwagen jagte stadteinwärts. Ich wollte winken.
Womit? Wenn ich eine Hand losließ, glitt mir Harald von der Schulter. Mit dem Ellenbogen
versuchte ich Zeichen zu geben, rief auch, als der Wagen nahe genug heran war. Meine
Stimme ging unter im Lärm. Niemand achtete auf mich.
Vor mir schleppten Jungen Bohlen, Bretter, Ackergeräte.
Ich sah, wie sie sich gegen einen Staketenzaun warfen, ihn einstürzten, auf die Straße
trugen. Barrikaden bauten sie, Panzersperren.
Mit Rammböcken, Äxten und langen Feuerhaken, mittelalterlichen Hellebarden ähnlich,
gingen sie Häuser und Ställe an, rissen sie Balken los, Ziegel und Feldsteine, die sie auf
dem Damm aufeinandertürmten. Ein Uniformierter unterwies sie, Fachmann im Zerstören.
Wollten sie die Vorstadt einreißen? Sollten diese Trümmerhaufen eine Armee aufhalten, die
reißende Ströme, baumlose Ebenen, grundlose Sümpfe, Betonwerke, Sperrfeuer,
Bombenteppiche und die lebenden Mauern der Soldaten überwand?
Dieses Gerümpel?
Während ich mich heranschleppte, hoffend, dass wenigstens einer oder zwei der Jungen
von ihrem Zerstörungswerk abließen und mir halfen, ein Leben zu retten, fiel mir
Nettelbecks Tagebuch ein. „Diesen Tag des Schreckens, vormittags um neun Uhr, gab der
Oberst von Loucadou Befehl, die Lauenburger Vorstadt in Brand zu stecken und auf den
Grund abbrennen zu lassen. Bei diesem Abbrennen wurde vonseiten des Militärs so
grausam verfahren, so wie es sich von keinem grausamen Feinde selbst nicht denken ließ.
Die Einwohner baten und winselten, um Gottes Willen sie nur eine Viertel- oder halbe
Stunde mit dem Anstecken noch zu verschonen, dass sie doch noch ihre notwendigsten
Sachen und Lebensmittel für Menschen und Vieh retten konnten. Aber nein! Es ist befohlen!
Den armen Menschen wurde nicht so viel Zeit gelassen, dass sie ihr lebendes Vieh aus dem
Brande retten konnten, welches zum Teil mitverbrannte. Dahero durch diese menschliche
Unbesonnenheit über hundert Familien an den Bettelstab und in das größte Elend geraten
sind.“ Ach, Alter, sähest du, was heute in deiner Stadt und in unserem Vaterland geschieht,
du würdest Loucadou einen milden Mann nennen.
Ich quälte mich bis zu den Jungen hin, rief zwei von ihnen mit Namen. Sie lehnten die
Werkzeuge an die Mauerreste.
„Bögeholt schwer verwundet?“
„Fasst mit an, Jungs! Er muss ins Lazarett.“
Sie sahen sich nach dem Soldaten um, der die Schränke inspizierte, bevor er sie auf die
Straße schleppen ließ. Vielleicht hatte er Läuse und brauchte ein sauberes Hemd. Einer der
Jungen, Manfred Obitz, Sohn eines Kaffeestubenbesitzers - ich entsinne mich, ein recht
guter Schüler, der beste Zeichner der Klasse, aber schwach in Chemie -, hielt eine
Panzerfaust in die Höhe. „Wir verteidigen Kolberg mit unserem Blut wie einst Schill,
Gneisenau und Nettelbeck, das schwören wir. Bei uns kommt kein Russe durch.“
Ich hätte ihm sagen können, dass damals die Russen die Verbündeten Schills, Gneisenaus
und Nettelbecks waren und dass vielleicht deshalb die Festung einem überlegenen Gegner
widerstanden hatte. Sie hätten mich nicht verstanden. Sie fühlten sich als kühne
Kavalleristen, die sich auf schnellen Pferden ins Kampfgetümmel warfen und mit
Siegestrophäen beladen zurückkehrten. Sie haben Filme gesehen, lasen Bücher, singen
Lieder vom Kämpfen und Sterben. Sie gieren nach dem Rausch des Sieges, das Sterben
begreifen sie noch nicht. Selbst Harald hatte einmal in Karlas Poesie-Album geschrieben:
Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen! Ich nahm ihm das Buch aus der
Hand und fragte ihn: „Warum wollt ihr denn sterben?“
Er sagte verlegen: „Aber das wollen wir doch gar nicht.“ Ich gab ihm das Album zurück.
Wortlos trennte er die Seite heraus. „Kommt, er ist euer Schulkamerad!“
Der Junge übergab seine Panzerfaust, krempelte die Ärmel hoch und fasste sich mit einem
anderen Jungen im Kreuzgriff. Da stand plötzlich ihr Aufseher vor uns, ein Stabsgefreiter,
wie ich jetzt sah, einer von den Typen, die ihre Wut über die entgangene Beförderung an
Untergebene ausließen.
„Was fällt euch ein, ihr Schnösels! Marsch an die Arbeit! Glaubt ihr, der Iwan wartet, bis
eure Märchenstunde zu Ende ist?“
„Ich hatte die Jungen gebeten, mir zu helfen, diesen Verletzten ins Lazarett zu bringen.“
Er maß mich mit einem spöttischen Blick, wobei er seine Mütze ins Genick schob. Der
Stahlhelm baumelte am Koppel. „Hier befehle ich! Wohl wieder einer, der sich drücken will.
Das mag ich gerne. Werfen Sie den Kerl in den Straßengraben! Hier gibt es wichtigere
Beschäftigung. Im Lazarett liegen sie übereinander wie die Gurken im Fass, da krepiert er
auch nur.“
Die Jungen nahmen ihre Gerätschaften, setzten ihr Zerstörungswerk fort.
Meine Last zurechtrückend, schleppte ich mich weiter. Manfred Obitz, der mir geholfen
hätte, wenn es ihm nicht verboten worden wäre, rief mir nach: „Wenn er stirbt, Herr
Scharrenberg, stirbt er als Held. Wir rächen ihn.“ Und er richtete die Panzerfaust dorthin,
wo er den Feind vermutete.
Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Rächen, töten, sterben! Haben sie das
bei mir gelernt, sie und die vielen anderen, die durch meine Klassen gingen? Und wie viele
von ihnen mag der Krieg schon verschlungen haben? Wie viele sind noch da, bereit, zu töten
und getötet zu werden? Dem Leben verloren. Habe ich sie ausgerüstet für ihr Leben? Ich
lehrte sie Mathematik, und sie errechneten Kurven für todbringende Geschosse; ich lehrte
sie Chemie, und sie erfanden vernichtende Gase; ich lehrte sie Physik, und sie werden mit
ihrer Kenntnis die Welt zertrümmern; ich lehrte sie Geschichte, und sie haben ihren Sinn
nicht begriffen. Das ist das Schlimmste! Ich habe nie das Wort vom härtenden Stahlbad des
Krieges gebraucht und habe doch Krieger erzogen, Todesanbeter, Töter. Der Lehrplan
schrieb vor, was gelehrt werden musste, könnte ich mich herausreden, aber diese
Entschuldigung gilt nicht vor meinem Gewissen, nicht vor diesen Kindern, die in einen
sinnlosen Tod gehen.
Ich habe mich bemüht, meine Schüler die Liebe zum Leben zu lehren. Aber ich war ein
Einzelner, und in den wenigen Stunden, die ich sie unterichtete, konnte ich sie nicht
bewahren vor der zum Erziehungsziel proklamierten Unmenschlichkeit. Den ewig
begeisterten Kämpfer sollten wir heranbilden, die germanische Elite, den Herrenmenschen,
für den nichts gilt als der Befehl, dessen Persönlichkeit ausgelöscht und ersetzt ist durch die
Autorität des Führers. Sie reißen auf Befehl Mauern ein und wissen nicht, wie viel Schweiß
es kostet, neue aufzurichten; sie töten auf Befehl, und sie wissen nicht, dass sie morden;
sie gehen auf Befehl in den Tod, und sie wissen nicht, dass sie gemordet werden von ihren
Führern.
Rächen, töten, sterben! Und Harald? Dachte auch er wie jene? Wenigstens einen von den
vielen musste ich zu einem Menschen erzogen haben, zu einem Menschen, wie sie
gebraucht werden, wenn wir dieses Inferno durchmessen haben. In Harald musste ich
bestätigt sehen, dass mein Dasein einen Sinn, ein winziges Gamma Sinn besaß.
*** Ende der Demo-Version, siehe auch
http://www.ddrautoren.de/Zierke/Nettelbeck/nettelbeck.htm ***
Heinz-Jürgen Zierke
Geboren 8.7.1926 in Marienthal, Kreis Greifenhagen (Pommern), aufgewachsen und
Volksschule in Wildenbruch/Pommern.
Lehrerbildungsanstalt in Neisse und Patschkau (Oberschlesien), Arbeitsdienst, Wehrmacht,
Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion.
Vorstudienschule Greifswald, Studium der Germanistik (abgebrochen), Dramaturg an den
Theatern Greifswald und Stralsund, Arbeit in verschiedenen Kulturverwaltungen,
Chefdramaturg des Staatlichen Folkloreensembles der DDR.
Seit 1967 freischaffender Schriftsteller.
Heinz-Jürgen Zierke lebt seit 1969 in Stralsund.
Bibliografie
Das Gottesurteil, Roman, 1965
Sieben Rebellen, 1957
Sie nannten mich Nettelbeck, Roman, 1969
Eine Chance für Biggers, Roman, 1970
Nowgorodfahrer, Roman, 1973
Von einem, der auszog, Napoleon zu schlagen, 1975
Gänge durch eine alte Stadt, Riga, 1977
Karl XII. ,Roman, 1978
Eine livländische Weihnachtsgeschichte, Erzählungen, 1981
Ich war Ferdinand von Schill, Roman, 1983
Der Dänenschatz, 1988
Wibald der Mönch, Roman, 1987
Odins Schwert, 1990
Pommern grient,1997
Spuk auf Spyker, Erzählungen, 1998
Ana Regina vaziuoja i miesta, Novelle, 1998
Das Mädchen aus Vineta, Erzählung, 2000
Kinderhörspiele (vor 1990)
Hensken
Jana
Der schwarze Stein
Der Rebellenmajor u. a.
E-Books von Heinz-Jürgen Zierke
Das Gottesurteil
Wirbelnde Hufschläge und raue Landsknechtsflüche hallen durch die Heide. Der Heidereiter
Peter Schulze ist mit einer Axt hinterrücks erschlagen worden. Der Mordstahl gehört
Kersten Pyper, dem Müller von Belling, dessen Braut der Amtshauptmann Valentin Barfuß
gefangensetzt.
Liebt Barbara einen Mörder? Wird sie ihr Kind in Unehren zur Welt bringen müssen? Die
dramatische Befreiung des Mädchens lässt drei Frauen in den Verdacht geraten, Umgang
mit dem Satan zu haben. Doch auch die Folterungen bringen kein Licht in die Mordtat.
Kersten stellt sich schließlich dem herzoglichen Gericht, weil er die Frauen vor dem
Scheiterhaufen retten will. Er wird verstrickt in das Ränkespiel habgieriger Patrizier und
landesherrlicher Obrigkeiten. Ein „Gottesurteil“ entscheidet das Ringen um Recht und
Gerechtigkeit — die Liebenden aber, Kersten Pyper und Barbara Dittmers, müssen fliehen:
eine Hansestadt öffnet ihnen die Tore.
Eine Chance für Biggers
„Ich bin’s“, sagt Martin ganz unbefangen, als der alte Latotzki ihn fragt, ob er denn der
Mann sei, der einen ganzen Betrieb auf den Kopf stellen könne. Der Alte hat sich neben ihn
gesetzt, obwohl noch genug andere Plätze frei sind. Martin ist der Neuling in dem alten Bus,
der über Land durch den Kiefernwald fährt. Er kennt Latotzki nicht und auch nicht das
hübsche Mädchen Doris, das seine eigenen Absichten verfolgen wird. Er kennt hier
niemanden, jedoch werden sie alle ihn kennenlernen. In seiner Aktentasche steckt mit dem
Diplom der in den Umrissen vollendete Plan eines Umbaus: er will das alte, aber fehlerfrei
funktionierende Werk automatisieren. Es ist sein Lebensplan. Er kennt das Leben noch
nicht, wie es ist und sein soll. In seiner Tasche steckt aber auch noch ein Schnitzmesser,
das er immer dann hervorholen wird, wenn er sich nicht zu helfen weiß. Mit dem Bären aus
Pappelholz, der dabei entsteht, hat es seine besondere Bewandtnis. Nach Jahr und Tag
wird Martin in seiner Kate Besuch bekommen. Der Werkleiter wird den Bären sehen, aber
auch schon das Modell eines modernen Betriebes. Er ist nachdenklich geworden wie so
mancher in diesem Werk hinter dem Walde.
Eine livländische Weihnachtsgeschichte
Riga im 16. Jahrhundert. Reformation, Gegenreformation. Die Auseinandersetzungen sind in
vollem Gange. Da zieht am Weihnachtsabend ein Bauer aus seinem Dorf aus, um seine
Tochter zurückzuholen. Er geht in die Stadt. Der Herr, sein Herr, hat es ihm geraten. Und er
findet seine Tochter, aber anders als er es sich vorgestellt hat. Und er kann sie mitnehmen
— unter einer Bedingung. Er geht darauf ein, und die Ereignisse schlagen wie die Wellen
des Ozeans über seinem Kopf zusammen. Mühsam versucht er zu begreifen. Aber er bleibt
Spielball der für ihn undurchschaubaren Kräfte.
Auch Jürgen Wullenwever, gewählter Bürgermeister der Hansestadt Lübeck, ist nicht mehr
freier Herr seiner Entscheidungen, jetzt, da er auf der Asseburg bei Wolfenbüttel als
Gefangener seines Todfeindes einsitzt. Der Versuch, Verbindung zu Freunden
aufzunehmen, scheitert. Die Begegnung mit seinem jungen Kerkermeister aber lässt ihn
hoffen. Für sich, vor allem aber für seine Ideen.
Ich war Ferdinand von Schill
Preußen 1806. Die Schlacht bei Jena und Auerstedt ist geschlagen. In Magdeburg sammeln
sich Versprengte. Das französische Heer rückt heran. Da macht ein Schneidergeselle - der
Zufall ließ ihn an den Rock eines toten Leutnants geraten - sich auf und folgt beherzten
Leuten, die nicht einfach kapitulieren wollen vor der Übermacht der Waffen. Und er, eben
noch wandernder Handwerksbursche, nimmt die Rolle an, die ihm aufgedrängt wird: Er wird
Ferdinand von Schill.
In seinem Buch versucht Heinz-Jürgen Zierke — in der Erzählweise anknüpfend an seine
erfolgreichen historischen Romane „ Nowgorodfahrer “ und „Karl XII.“ —, ein möglichst
genaues historisches Bild der Zeit zu zeichnen und einen Schill vorzustellen, der sowohl
Patriot ist als auch Mensch sein darf.
Karl XII.
Der Nordische Krieg. Auseinandersetzungen im Ostseeraum zu Anfang des 18.
Jahrhunderts. Polen, Lettland, dann Sachsen, Russland und die Türkei sind die
Hauptschauplätze des turbulenten Geschehens um den schwedischen König Karl XII. Zar
Peter I. ist sein historischer Gegenspieler. Poltawa bringt die Entscheidung: für Schweden
und Russland, für das Kräfteverhältnis in Nord- und Osteuropa.
Karl, der glänzende Siege erfocht, für sich, nicht für das hungernde Schweden, erhält in
diesem Roman einen Doppelgänger: Sven Svensson, den Schreiber und Bauernsohn, der
seinen König über alles liebt, der ihm bedingungslos dient. Der in des Königs Rock schlüpft
und in seinem Namen agiert: der schönen Aurora zeigt er, was für ein Kerl dieser Karl ist,
den Türken in Bender spielt er den klugen Herrscher vor. Er rettet den König aus mancher
kritischen Situation - bis er nicht mehr kann. Bis er den Abgrund erlebt, der zwischen Ideal
und Wirklichkeit klafft.
Sven Svensson, die Volksgestalt, ist Heinz-Jürgen Zierkes literarisches Medium, Taten und
Charakter eines absolutistischen Herrschers zu prüfen und zu werten und so ein nicht
widerspruchsfreies, aber interessantes Bild einer im Untergang begriffenen Epoche zu
entwerfen.
Nowgorodfahrer
Die Hansen im Kriege mit König Erich von Dänemark. Der Bote des mächtigen Lübeck will
Stralsund bewegen, größere kriegerische Anstrengungen zu unternehmen, begegnet dort
aber geheimen Vorbereitungen zu einem lukrativen Sonderfrieden. Der Bürgermeister wird
Arnd Hidding, seinen Pflegesohn und Geschäftsführer, an den dänischen Hof entsenden,
doch es wird Verrat und Brand geben. Vorerst ist Arnd aber noch im Peterhof, der
deutschen Niederlassung in Nowgorod, er liebt die schöne Natalia, hat in dem Pelzhändler
Bulgrin einen Freund gewonnen, vor allem will er seinen Lebensplan verwirklichen: er hat in
Flandern Manufakturen gesehen ...
15. Jahrhundert, die dänische Residenz, das fremde Nowgorod, die Stadt Stralsund: von
inneren Unruhen geschüttelt und regiert von einem Bürgermeister, der alles in allem ein
Kaufmann ist.
Odins Schwert
Der junge Wikinger Ansgar muss die Ermordung seiner Eltern und den Raub seiner
Schwester miterleben. Als er den Göttern geopfert werden soll, zerstört er im Tempel die
Nachbildungen der Götter und flieht mit Odins Schwert. Er findet in Egil einen Blutsbruder
und beide werden tollkühne Krieger, die von der Burg Vinborg aus zu Seeschlachten und
Raubzügen aufbrechen. Odins Schwert scheint Asgar zu schützen, der es nicht durch Blut
entweiht. Doch als er die Mörder seiner Eltern kennt, schwört er nur noch Rache und richtet
in seinem Heimatort ein Blutbad an. Das blutige Schwert lässt er im Tempel zurück.
Sie nannten mich Nettelbeck
Der Lehrer Scharrenberg, genannt Nettelbeck, flüchtet mit dem letzten Dampfer aus dem
von der Sowjetarmee abgeschlossenen Kolberg. Er muss fürchten, dass seine Familie in
der Stadt umgekommen ist. Um sich abzulenken, erzählt er sich selbst die Geschichte der
erfolgreichen Verteidigung im Jahre 1807. So ist er vor der apokalyptischen Gegenwart in
die Vergangenheit geflohen. Aber immer wieder drängen sich die Erinnerungen an die
letzten Stunden in der brennenden Stadt dazwischen, und er selbst glaubt sich in Nettelbeck
und Gneisenau wiederzuerkennen. Sein Freund und Schüler Harald Bögeholt, den er verletzt
aus der Frontlinie trug, nimmt die Züge des Barbiergehilfen Philipp Püttmann an, der seine
Braut gegen einen Schillschen Offizier verteidigen musste, und dieses Mädchen erscheint
ihm wie seine Tochter Karla.
1807, damals, wurde die Stadt durch einen rechtzeitigen Frieden gerettet. Scharrenberg,
obwohl er weiß, dass die Geschichte nicht wiederholt wird, sucht darin Trost und Hoffnung.
Und doch kann er der Gegenwart nicht entfliehen. Seine dreihundert Gefährten, Frauen,
Kinder, Greise, verlangen von ihm eine Entscheidung, die unter konträren historischen
Vorzeichen einst Nettelbeck abverlangt wurde.
Sieben Rebellen
An einem Morgen im Februar 1848. Hinrich Knubbe hebt die Peitsche. „Schlag zu!" befiehlt
Herr von Negendangk. Aber Knubbe lässt die Peitsche sinken vor dem Bauern Krumbeck,
dem Vater seiner Braut. Und der Herr hetzt ihn mit Hunden vom Hof.
In der Stunde der Not findet Hinrich neue Freunde, Bauernsöhne, Tagelöhner, Bürger aus
der Kreisstadt. Nur Krumbeck verschließt vor ihm das Tor. Der landstolze Kleinbauer will
seine Tochter nicht dem Leibkutscher geben.
Negendangk ruft Militär. Da bricht in Berlin die Revolution aus. Die Soldaten ziehen ab. Die
Bauern veranlassen Krumbeck, seine Zustimmung zur Hochzeit zu geben. Kaum aber haben
sich die Stürme der Revolution gelegt, erhalten Knubbe und seine Freunde im Dorf den
Gestellungsbefehl. Jetzt vor der Ernte? Sie ziehen zum Landratsamt, um ihre Freistellung zu
verlangen. Neugierige strömen ihnen zu. Die Behörden fürchten einen Aufstand und schicken
nach den Kürassieren.
Fünf Mann schlagen sich nach Berlin durch. Sie geraten in den Sturm auf das Zeughaus.
Hinrich wird verwundet. Er will Preußen verlassen. Aber die Sehnsucht nach Gertrud und
dem Kind, das sie erwartet, lässt ihn noch einmal die Heimat aufsuchen. Unerkannt gelangt
er bis zu Krumbecks Gehöft. Aber der Bauer, aus Angst um seine Tochter, liefert ihn den
Häschern aus.
Spuk auf Spyker
„Schritte, tapp tapp, tapp tapp. Nicht laut, aber deutlich vernehmbar, vierfüßig, wenn er sich
nicht täuschte, und ganz in der Nähe, vielleicht hinter der Bohlenwand. Ein unverständliches
Wispern begann, mal dumpf, mal glucksend, dann stöhnend, als würgte der Teufel seine
Großmutter, und löste sich in einem verhaltenen Schrei …!
Unheimlich, gespenstisch, Schauder erregend, aber nicht ohne Humor und Ironie geht es zu
in diesen wundersamen Geschichten. Pommern und die Uckermark haben da allerhand zu
bieten: Ein Teufel macht in der Gestalt eines hübschen Mädchens dem starken Geschlecht
ganz schön zu schaffen, Ferdinand lässt sich von einem Männchen mit einem großen Hut
helfen, eine Frau ohne Kopf erscheint und ein uralter, steingrauer Wels, dem Merkwürdiges
widerfährt, taucht auf. Aber nicht nur in der Vergangenheit spukt es, auch die Gegenwart ist
nicht frei von makabren Ereignissen, lässt uns Heinz-Jürgen Zierke wissen. Eine Äbtissin
macht einem Dienstreisenden Angst, auf Schloß Spyker stören dunkle Gestalten eine
Schulung, und schließlich geht es um viel Geld, einen Besenbinder und - um Spucke in einer
Spuk- und Spuckgeschichte an einem nicht näher bezeichneten Ort. Manche Stadt und
manches Dorf allerdings finden deutliche Erwähnung. Und so kann der geneigte Leser
überprüfen, ob dergleichen Un-Heimlichkeiten auch heute noch stattfinden in: Stralsund,
Tribsees, Voigdehagen, Rom, Lübz, Parchim, Abtshagen, Gornow, Wildenbruch, Jamund,
Torgelow, Saal, Damgarten, Putgarten, Sagard, Arkona, Jatznick, Kölzow, Stolzenburg,
Pasewalk, Greifenberg, Prenzlau, Woldegk, Neubrandenburg, Fürstenwerder,
Ueckermünde und auf Schloß Spyker.
Von einem, der auszog, Napoleon zu schlagen
1813. Der Befreiungskrieg gegen Napoleon bricht aus. Noch stehen die französischen
Truppen in Deutschland. Willem Beggerow, ein pommerscher Bauernjunge, will seinen Vater
rächen, der von streifenden "Musjes" erschossen wurde. Der Vater gibt ihm eine
Tabakdose, die er von Scharnhorst erhalten hatte. Der General würde Willem eine Uniform
und ein Gewehr geben. Doch der Gutsherr, Herr von Kerckow, will ihn nicht ziehen lassen.
Willem flieht, schlägt einen Franzosen nieder, wird gefangen und soll erschossen werden.
Das Mädchen Tine, dem Willem immer wieder begegnen wird, hilft ihm weiter. Mit einem
Kosakentrupp erreicht er die preußischen Truppen, als eben eine schwere Schlacht tobt, in
der Scharnhorst verwundet wird. Er kann Willem nicht helfen, übergibt ihn aber dem
Generalmajor Gneisenau. Dem gefällt der kesse Junge, aber er gibt ihm keine Uniform und
kein Gewehr; erst soll Willem lernen. Doch da kommt der Herr von Kerckow, der nun
wieder seine alte Offiziersuniform trägt, ins Hauptquartier und will Willem, den Sohn seines
Leibeigenen, als sein Eigentum zurückhaben. Doch der will seinen Vater mit der Waffe in
der Hand rächen ...
Wibald, der Mönch
„Es war einmal“, so berichtet der Erzähler, und man spürt es förmlich, wie es ihn reizt, mit
Geschichten zu fabulieren, „es war einmal vor langen, langen Zeiten, als Kaiser Rotbart
lobesam noch nicht ins Heilige Land gezogen kam, da lebte in dem stillen Kloster St.
Valentin im Moor ein junger Mönch bescheiden für sich, ganz dem Studium und der
Vervielfältigung alter Schriften hingegeben ...“ Sein Name war Wibald, und er hätte so noch
viele Jahre leben können, ohne Aufregung, ohne Ärger und allerdings wohl auch ohne die
Liebe, der er bald begegnen sollte, wenn ihn nicht eines Tages das Gewissen geplagt
hätte. Nicht etwa wegen seines ansonsten ja so frommen Lebens, da war alles ohne Fehl
und Tadel, nein, er hatte sich mit Vater Conrad, dem Prior des Klosters, leider auf einen
Handel eingelassen, und der schloss die Fälschung eines Briefes ein. Und Wibald schrieb,
und während er schrieb, kamen immer mehr die Zweifel. War es richtig, solch ein Schreiben
anzufertigen, das im Grunde Barbarossa diffamieren musste?
Da flieht Wibald, der Mönch, um den Kaiser zu warnen, und auf vielen Irrwegen und
verschlungenen Pfaden muss er wandeln, ehe er den Kaiser erreicht. Und unversehens
sieht er sich in ein Intrigenspiel versetzt. Wird Friedrich Barbarossa ihm schließlich doch
noch Glauben schenken? Es wird sich zeigen ... Es wird sich auch zeigen, wie es um
Wibalds Liebe zu der schönen und faszinierenden Alda bestellt ist. Werden der entlaufene
Mönch und das weithin bekannte Gauklermädchen vielleicht gar für immer zueinander
finden?
Wie auch immer, ein spannender Roman mit einem historischen Hintergrund - wobei mit der
Historie durchaus gespielt wird.