Impressum Heinz-Jürgen Zierke Sie nannten mich Nettelbeck ISBN 978-3-95655-284-7 (E-Book) Die Druckausgabe erschien erstmals 1968 im VEB Hinstorff Verlag Rostock. Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes von Joachim Nettelbeck aus dem Brockhaus von 1821-23 © 2015 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de 1. Kapitel Unser kleines, überbelastetes Schiff, ein Bäderdampfer, stampft durch die ruhige See. Unser aller Glück ist die ruhige See; auch die diesige Luft bringt uns Glück, sie nimmt zwar dem Mann auf der Brücke die Sicht und verlangt Aufmerksamkeit von ihm; aber sie schützt uns, Frauen und Kinder, ein paar Greise und Invaliden wie mich und die Beamten, die sich in der Kajüte eingeschlossen haben sollen; sie schützt uns vor der Sicht von oben. Dieses Wetter lässt wohl keinen Sturm, keinen Seegang erwarten. Vielleicht kommen wir bis ans Ziel, wo mag es liegen? Das wissen wir nicht, vielleicht weiß es nicht einmal der Mann am Ruder. Das Schiff liegt so schwer in der See, dass ich, der ich auf der schmalen Holzbank unmittelbar an der Reling, neben einer Frau, die immerfort Gebete murmelt, einen kümmerlichen Platz gefunden habe und auf die ebene, nur von den Dreiecken der Bugwellen aufgeraute Wasserfläche starre, die Hand bis an den Knöchel eintauchen könnte, ich brauchte mich nicht einmal vornüberzubeugen. „Zugelassen für 250 Personen Haff oder 220 See“, steht auf einer Tafel. „Mindestens 300“, erklärte mir einer der Schiffsleute, „ohne Gepäck.“ Ich werde die Hand ins Wasser tauchen, werde an den Wellen spüren, dass unser müdes Schiff sich bewegt, sich trotz allem vorwärtsbewegt. Ich werde ein Taschentuch durch das Wasser ziehen, um es mir dann auf die Stirn zu legen. Der Abend ist neblig und feucht und kalt, aber meine Stirn ist heiß. Ich möchte mir über die Augen wischen und die letzten Stunden auslöschen. Aber was hülfe es, wenn ich sie aus meinem Gedächtnis tilgte; ich kann die Ereignisse nicht ungeschehen machen. Und wenn ich es könnte, ich dürfte es nicht. Ich muss sie bezwingen, indem ich über sie nachdenke. Ich entsinne mich, dass wir mit demselben Schiffchen, das uns jetzt einem unbekannten Ziel entgegenträgt, an einem Sonntag im letzten Sommer vor dem Kriege nach Swinemünde fuhren, meine Frau, unsere knapp zehnjährige Karla, mein Schüler Harald Bögeholt und ich. Harald wollte sich in Ostswine die Torpedoboote ansehen, mich interessierte mehr die Apotheke, in der Fontane seine Kinderjahre zugebracht hat. Die Besichtigung der Flottille war nicht mehr gestattet. „Diesmal wird es ernst, Herr Scharrenberg“, hatte Haralds Vater nach unserer Rückkehr gesagt. Damals unterrichtete ich nur Geschichte und in einer Klasse Mathematik, später, als die jüngeren Lehrer eingezogen waren, gab ich auch naturwissenschaftliche Fächer. Danach hatte ich mich gedrängt, um nicht mehr Geschichtsstunden übernehmen zu müssen. Werde ich Harald wiedersehen? Er ist mir wie ein Sohn. Er sollte Lehrer werden wie ich; ich verschaffte ihm eine Freistelle an unserer Mittelschule und dann an der Lehrerbildungsanstalt. Als er vor drei Jahren in das kleine Städtchen jenseits der Oder abreiste, ahnte ich nicht, dass er einmal als Soldat nach Kolberg zurückkehren würde. Luise erzählte mir mittags, dass Harald da gewesen sei und nach Karla gefragt habe, zuerst nach Karla, dann nach mir. Den ganzen Tag habe ich auf ihn gewartet, bin nicht mehr aus dem Haus gegangen. Die Stellung der Batterie konnte nicht weit weg sein; ich wusste, feindliche Panzerspitzen waren bis an die See vorgestoßen, am Vormittag im Osten, nachmittags auch im Westen der Stadt. Harald würde in der nächsten freien Viertelstunde bestimmt kommen, glaubte ich, aber er kam nicht. Er kam auch nicht am nächsten Morgen. Der Unterricht fiel seit Tagen aus. Wir schütteten Stroh in die Klassenräume, damit sie Verwundete aufnehmen konnten. Tische und Bänke verluden wir auf Lastwagen, sie sollten zu Straßensperren aufgetürmt werden. Schulbänke als Straßensperren! Das nasskalte Wetter hatte mein Rheuma aus der Winterruhe aufgeschreckt. Der Direktor sah meine Bedrängnis, er schickte mich heim. Das hätte er sicher nicht tun dürfen, aber er glaubte, die Schmerzen rührten von meiner alten Verwundung her; auch die Schüler hatten das immer geglaubt, und das war gut so: ein ziviles Rheuma passte nicht in diese Zeit. Ich war froh, dass er mich ohne Fragen gehen ließ, und schlich mich nach Hause. Harald aber kam nicht. Ich legte meine Papiere, Manuskripte, Notizen, Exzerpte zurecht. Nimm das, mein Junge, wollte ich sagen, nimm es und führe zu Ende, was ich begann! Du bist jung; wenn du überlebst, und ich glaube, dass du überlebst, hast du noch viel Zeit vor dir, Zeit, die mir fehlt. Vielleicht hätte ich auch etwas anderes gesagt, wenn er gekommen wäre, wer weiß das schon! Man nimmt sich etwas vor, legt sich die Worte zurecht, aber wenn man sie aussprechen will, kommen ganz andere über die Lippen; es ist, als ob die veränderte Stunde neue Gedanken geprägt hat. Vielleicht geht es nicht allen Menschen so; Menschen, die wenig Gedanken haben, können sie vielleicht so sortieren, dass sie parat liegen, wenn sie gebraucht werden; ich bewundere immer wieder, dass Menschen, deren Enge ich kenne, doch zur rechten Zeit das Rechte zu sagen wissen, während ich, der ich mit meinen fünfundfünfzig Jahren so viel aus Büchern und aus dem Leben herausgelesen habe, immer in Verwirrung gerate, wenn ich sprechen soll. Also vielleicht hätte ich etwas ganz anderes gesagt, wenn Harald wirklich gekommen wäre. Er kannte eigentlich alles, was ich ihm zeigen wollte; in den Sommerferien hatten wir fast jeden Tag ein paar Stunden darauf verwandt, diese Blätter zu sichten. Eine Geschichte der Belagerungen Kolbergs wollte ich schreiben, die oft behandelten Vorgänge neu durchdenken, die belanglose, kleine Geschichte einer abgelegenen, unbedeutenden Seefestung aufrichten zum Modell für die Geschichte eines Volkes, keine militärwissenschaftliche Abhandlung, eine Geschichte von Bürgerstolz und Bürgertugend. Vier Belagerungen hatte die Festung überstanden in den letzten zweihundert Jahren, einmal war sie unterlegen, dem gleichen Gegner, der heute vor den Toren stand, und als, fast fünfzig Jahre später, die Stadt mit diesem Land verbündet war, trotzte sie dem Welteroberer Napoleon. Dass die Geschichte der Belagerungen ein fünftes Kapitel bekam, ahnten wir im Sommer noch nicht. Ich sah, dass Karla unruhig wurde, als Harald nicht kam. Sie putzte ihre Sonntagsschuhe, rieb sie mit einem weichen wollenen Lappen ab, und als sie längst glänzten, rieb sie noch immer. Wozu brauchte sie blanke Schuhe? Sie war zum Schippen befohlen mit der Klasse, aber sie ging nicht. Sie habe sich krankgemeldet, sagte sie, stellte die Schuhe ins Regal und zog sie wieder hervor, und wenn der Klopfer gegen die Haustür schlug, lief sie auf den Flur hinaus. Auch Luise, meine Frau, war nervös. Sie verpackte Wäsche in Koffer, die ich in den Keller trug. Malte die Angst meiner Frau rote Flecken unter die Augen, oder steckte Karlas Aufregung sie an? Karla war erst fünfzehn. War? Habe ich „war“ gedacht? - Ich steckte meine Papiere in die Reisetasche; sie nahmen nicht viel Platz ein, ich habe eine winzig kleine Handschrift. Harald Bögeholt kam nicht, aber gegen zehn Uhr erschien mein Freund Blissing, von Büssing, Major a. D., mein Batteriechef, zuletzt, als ich die Batterie übernehmen musste, mein Abteilungschef aus dem Krieg, der heute schon Sage ist. Blissing trug wie stets seinen grünen Rock, die schmucklose Forstmeisteruniform, aber heute leuchtete am Hals der achtstrahlige Stern des „Pour le mérite“. Mit seiner Kommandostimme, die auch das lange Leben in der Waldeinsamkeit nicht gedämpft hatte, erklärte er: „Man kommt besser durch die Straßen mit dem Ding da, entgeht lästigen Fragen. Packen Sie ein, Scharrenberg! Koffer zu, Marschgepäck mitnehmen, eiserne Ration! Wir müssen uns absetzen.“ „Herr Major?“ „Keine langen Reden, einpacken! Oder wollen Sie Nettelbeck spielen? Ich spüre jedenfalls kein Talent zu einem Gneisenau. Bezweifle auch, dass Gneisenau in so aussichtsloser Position verteidigt hätte; war viel zu klug dazu, wusste genau, wann der Rückzug anzutreten ist, hat es bei Bautzen und Ligny bewiesen. Aber unser Schnürschuh-Napoleon? Pah, kein Wort weiter von dem! Der selige Imperator Rex hat seinerzeit wenigstens begriffen, dass er in den Zug nach Doorn steigen musste. Von diesem österreichischen Gefreiten kann man so viel Einsicht vielleicht nicht verlangen, wohl aber von den Herren mit den goldenen Schulterstücken, die sich in seinem Vorzimmer drängeln. Diesmal kommen wir nicht mit einer Matrosenrevolte, mit Arbeiterräten und mit einem Ebert davon. Ich ereifere mich wieder. Haben Sie einen Kognak im Haus?“ Ich hatte nur einen gewöhnlichen Richtenberger, mit dem ich Einreibungen machte, da es keinen Franzbranntwein mehr gab. Der Major trank und ordnete an: „Einpacken, mitnehmen! Um fünf Uhr abends sind Sie mit Frau, Kind und notwendigstem Gepäck in meiner Wohnung. Habe Sondergenehmigung, mit meinem Boot die Festung Kolberg zu verlassen.“ Er schnipste mit dem Finger gegen den Orden. Ich fragte den Major nicht nach den Gründen. Mir fiel ein: Stadtrat Momm hatte schon vor drei Tagen davon gesprochen, dass im Notfall die Zivilbevölkerung die Stadt verlassen sollte. Er selbst war für den Abtransport verantwortlich. Dass dieser Fall so schnell eintreten würde, damit hatte er nicht gerechnet, auch ich nicht. Und ich weiß noch immer nicht, wohin wir fahren. Der Major war nach dem Kriege nicht in die Reichswehr übernommen worden. Durch seine Grobheit hatte er sich’s mit einigen Generalen verdorben und wurde als Forstmeister in die Neumark abgeschoben. Die Waldeinsamkeit bestärkte seine Verachtung für die Menschen, dennoch kehrte er nach seiner Pensionierung sofort nach Kolberg zurück. „Zuviel Bäume, zu wenig Wasser“, begründete er seine Rückkehr. Mit der neuen Zeit hatte er sich nie befreunden können, auch nicht mit der neuesten; in seinem Waldrevier hatte er vor ihr Ruhe, glaubte er. Wir standen die Jahre über im Briefwechsel; wir waren nicht immer der gleichen Meinung, aber er besaß bei all seiner Grobheit genug Toleranz, meine Auffassungen gelten zu lassen, auch wo sie ihm widerstrebten. Wir wurden älter und einsamer. Frühere Freunde zogen in Walhall ein, wie man jetzt sagte, andere fanden ihr Walhall auf Erden. Blissing verkroch sich in seinen Wald und später in die Kajüte seines Bootes, ich mich in den Staub der Archive. Ich weiß, meine Schüler nennen mich Nettelbeck; in der Stadt nennt man mich wohl ebenso und lacht hinter mir her; selbst Kollegen tun das. Man hält mich für vertrottelt, aber auch das hat sein Gutes. So brauche ich, obwohl Vorstandsmitglied des Heimat- und Geschichtsvereins, nicht zu beweisen, dass das Feldherrngenie eines Gneisenau seine Erfüllung findet in dem - wie sagte Blissing gleich? - in dem Schnürschuh-Napoleon. Man machte mir nicht einmal ernsthafte Vorwürfe, wenn ich im Geschichtsunterricht die ältere Geschichte ausführlicher, die letzten Jahrzehnte dagegen überaus kurz behandelte. Lehrer sind knapp, seit alle jüngeren Kollegen, die nur halbwegs gesund sind, bei der Truppe stehen, und getreu der Tradition unserer Schule dürfen Frauen bei uns nicht unterrichten, nicht einmal Musik oder Zeichnen. Nur einer meiner Kollegen war unter vierzig, der einzige übrigens, mit dem ich mehr als die notwendigsten Worte wechselte. Er hatte ein Augenleiden. Aber jetzt hatte man ihn zum Volkssturm geholt. Ich überlegte Blissings Angebot nicht lange. Ich trug die Verantwortung für die Familie und dachte an meine Manuskripte. Ich sagte Blissing zu, obwohl ich nicht wusste, und ich vergaß, danach zu fragen, wohin der Major wollte; vielleicht wusste er es selbst noch nicht. Bis jetzt weiß ich nicht, wohin das Boot steuert, das mein Kind aus der brennenden Stadt trug, oder ob ... ich darf so etwas nicht denken, ich will die Hoffnung nicht verlieren. Ich klammere mich an die Reling. Harald kam nicht, und ich musste ihn sprechen. Wenn mir etwas zustieß, sollte Harald mein Werk weiterführen; einer von uns würde vielleicht überleben, dachte ich. Selbst wenn das Manuskript verloren ging, er war jung, konnte noch einmal von vorn anfangen. Dass er, der an der Front stand, dem Tode eher ausgesetzt war als ich, der Gedanke kam mir nicht; mir widerstrebte die Vorstellung, ich könnte in einer fremden Stadt an einem fremden Tisch meine Gedanken zu Papier bringen, während der Junge unter den Bülten der heimatlichen Salzwiesen vermoderte. Ich suchte ihn, und ich glaube, wenn ich nicht Nettelbeck gewesen wäre, man hätte mich als Spion eingesperrt. Die Batterie lag jenseits der Matzwiesen, nach Bullenwinkel zu. Der Weg fiel mir schwer. Nicht dass ich Furcht gehabt hätte! Ein paar Granaten heulten über mich hinweg, ich kannte den Ton von früher. Wenn sie nur nicht die Baustraße treffen! dachte ich. Im Augenblick der Gefahr nur an sich und seine Nächsten denken, ist das menschlich? Nicht die Todesfurcht machte mir den Weg zur Qual, sondern mein lächerliches, ziviles Rheuma. Da lebt man Jahrzehnte in seinem See-, Sol- und Moorbad und wird das Rheuma nicht los! Ich sah Harald von Weitem. Er trug Granaten, trug sie von einem Wagen zu einem Stapel, und ich wunderte mich einen Augenblick, dass der Junge für eine solche Beschäftigung eingeteilt war. Er sah mich, blieb stehen und ließ die Arme sinken. Ich winkte, vielleicht konnte er mir ein paar Schritte entgegenkommen. Er winkte zurück, und ich meinte zu sehen, obwohl ich noch fünfzig Schritt von ihm entfernt war, wie seine Augen aufleuchteten. Ich wollte ihn zu mir heranrufen, aber bevor ich noch die Hand an den Mund legen konnte, begann der Unteroffizier, der weiter hinten am Geschütz stand, zu brüllen. Er brüllte, wie nur Unteroffiziere brüllen können, das war schon im vorigen Krieg so; aber seine Stimme klang nicht militärisch schrill, es schwang ein dunkler ziviler Ton mit, wie ihn alte Pastoren und junge Opernsänger an sich haben. Harald trat an den Wagen und nahm die nächste Granate in den Arm. Ich kannte das Kaliber: 15-cm-Haubitze, meine Waffe. Der Unteroffizier wandte sich wieder ab. Ich ging weiter. Mit dem Mann musste doch zu reden sein. Eigentlich wollte ich mit dem Jungen ein paar Schritte zur Seite gehen, um die anderen nicht zuhören zu lassen - den Bauern in der angeschmutzten Lederjoppe, die Soldaten, Kinder, denen die Röcke lose um Schultern und Taille hingen. Wusste ich denn, wer sie waren? Tierpfleger im Wanderzirkus vielleicht oder Schusterlehrlinge aus einer Berliner Kellerwerkstatt, Waldarbeiter aus Tirol, Wollspinner aus den Sudeten oder Elsässer Gänsejungen, wer weiß? Ich habe nichts gegen diese Berufe und nichts gegen die Landschaften; ich habe gegen keinen Beruf etwas und gegen keine Landschaft, erkenne jede Arbeit für notwendig und jede Gegend für schön, auf ihre eigene Art schön natürlich. Aber ich konnte von diesen Menschen nicht, von keinem Menschen, erwarten, dass sie zu dieser Stunde auch nur ein Gran Verständnis aufbrachten für jetzt so Nebensächliches, wie ich es mit Harald bereden wollte. Sollte ich mich und alles, was mir als meines Lebens Sinn und Aufgabe galt, sollte ich Harald dem Spott dieser Menschen aussetzen? Ich sah stumpfes Hohnlachen in ihren Augen, vernahm die gewöhnlichen Worte, dieselben, die sie für Straßenkot und Querschläger, für unbeliebte Vorgesetzte und den Achselschweiß ihrer Mädchen benutzten. Vielleicht hätte ich alter Mann ihren Spott ertragen, hätte mich geschüttelt und die Belästigungen wie Schnee von der Schulter abgeworfen. Aber Harald? Würde nicht der Zweifel hervorquellen? Jugend neigt von Natur zum Zweifel am Glauben, am Tun der Älteren. Das ist gesund: wie kann Veraltetes überwunden werden, wenn nicht seine Berechtigung in Zweifel gezogen wird? Aber hier sollte kein Zweifel hervorbrechen und mit seiner Unlust alles überschwemmen. Die Mauer stürzt ein, wenn der Zweifel zum Mörtel dient. In dem Augenblick dachte ich nicht einmal daran, dass Harald diesen Spott auch dann noch würde ertragen müssen, gröber vielleicht, schmutziger, wenn ich längst in Büssings Boot saß, einem unbekannten Ziel entgegengeführt. Ich dachte an das bisschen Papier, das meine Aufzeichnungen barg, das mir Halt gab, ein Strohhalm, mit dem ich nach einem festen Grund in diesem Meer der Sinnlosigkeit stakte. Ich wollte also Harald beiseitewinken, aber es war niemand da, den ich oder den er hätte bitten können, ihn von seiner Tätigkeit für fünf oder zehn Minuten zu beurlauben. Der Unteroffizier hatte sich wieder entfernt, er stand breitbeinig und selbstbewusst an seiner Haubitze und gab Befehl, die Holme aus dem Sand zu graben, zu schwenken und das Geschütz neu einzurichten. Harald sah zu ihm hinüber und zuckte die Achseln. Das Achselzucken musste er sich in den letzten Monaten angewöhnt haben; ich kannte es nicht an ihm; noch in den Sommerferien war es mir nicht aufgefallen. Ich stellte mich dicht am Wagen hin, und in der halben Minute, die er dazu brauchte, seine Arme mit der nächsten Granate zu beladen, konnte ich ihm ein paar Worte sagen, Fragen nach Gesundheit und Verpflegung zuerst, nach den nächstliegenden Dingen. Er erkundigte sich nach Karla. Ich bestellte Grüße, obwohl das Mädchen mir keine Silbe davon gesagt hatte. Ich sah, der Junge errötete, und mir fiel auf, seine Gesichtsfarbe harmonierte nicht mit der seiner Uniform; aber das war sicher nur ein Vorurteil. Warum soll ein Soldat nicht erröten dürfen? Ich begann mein Anliegen vorzutragen, die inständige Bitte, meine Arbeit fortzusetzen und zu beenden. Der Bauer mahnte ungeduldig: „Gleich können wieder die Flieger kommen oder Panzer. Ich habe Frau und Kinder.“ Auf dem breiten Bodenbrett des Ackerwagens lagen noch zwei Schichten Granaten. „Und wir? Wir sollen für dich Dreckbauer die Knochen hinhalten?“ Der Vorwurf war auch gegen mich gerichtet, der ich in meinem Reiseanzug zusah, wie sie sich quälten, wie ihnen trotz der Kühle des Tages der Schweiß übers Gesicht lief. Harald winkte ab, nahm aber doch das nächste Geschoss auf und trug es zum Stapel. Einer seiner Kameraden hielt ihn fest, sprach auf ihn ein; Harald schob ihn mit dem Arm fort und stellte sich wieder zu mir. Er lehnte sich an den Wagen, den Ellenbogen auf das rissige Seitenbrett gestützt, die Hand an der Runge. Während ich sprach, steckte er sich eine Zigarette an. Es war das erste Mal, dass ich ihn rauchen sah. Darin ungeübt, sog er hastig, wie ein hungriges Kind an der Milchflasche, und versuchte den Rauch weltmännisch durch die Nase wieder auszublasen. Ich hätte darüber lachen mögen. Er wusste genau wie ich, dass das Rauchen in der gefährlichen Nähe der Munition streng verboten war, aber er tat es, und ich hinderte ihn nicht daran. Ich verspürte Lust, Einzelheiten mit ihm zu besprechen, methodische Fragen; er war bereit dazu, nahm sich die Zeit, ohne Befehl, ohne Genehmigung, ganz unmilitärisch. Er war wieder mein Schüler, der noch meinem Vortrag lauschte, wenn alle anderen ihre Hefte und Federhalter längst eingepackt hatten und ihre Ranzen auf den Rücken schnallten oder ihre Taschen in die Hand nahmen; er war ein junger Freund, der auf stundenlangen Spaziergängen in der Maikuhle, zur Waldenfelsschanze, nach Sellnow und Necknin hinaus nicht genug erfahren konnte über die nahe und ferne Vergangenheit der Stadt. Wenn mir etwas zustieß, mit Harald würden meine Gedanken mich überleben, würde das winzige Steinchen, das ich in das vielfältige Mosaik der Geschichte einfügen wollte, seinen rechten Platz erhalten. Ich wollte Harald die Hand reichen, sah ihm in die Augen, vielleicht war es ein Abschied für immer. Aber einer überlebt, dachte ich, auch wenn der Junge in der Ungewissheit der Schlacht zurückbleibt und ich in die Ungewissheit der See hinausfahre. Einer muss doch überleben! „Zigarette aus, Sie Stiesel! Sprengt die ganze Stellung in die Luft!“ Die wohlklingende, dunkle, volltönende Stimme des Unteroffiziers, fähig, eine dreischiffige Hallenkirche zu füllen oder einen voll besetzten Theatersaal zu erregen, schlug mit der Plötzlichkeit eines Wintergewitters in unseren Abschied. Der Bauer, den Mund weit aufgerissen, die Augen geschlossen, ließ die Granate, die er in den Händen hielt, zurückgleiten, griff nach der an der Vorderrunge festgebundenen Leine, die Pferde bäumten sich erschrocken auf. Ich sah Haralds schmerzverzerrtes Gesicht, die Schultern, die sich krümmten, den Arm, der emporflog, wollte zuspringen, da schlug auch schon Haralds Kopf gegen das davonrollende Rad, gegen die eisenbeschlagene Felge. Jetzt nahm mein Bewusstsein wieder auf, dass hinter dem Horizont Panzermotore heulten, dass Geschosse über uns hinwegpfiffen und irgendwo barsten, dass Maschinengewehre bellten, und ich hörte das Schnauben der Pferde, die der Bauer zwanzig Schritt weiter, kurz vor der Schanze, zum Stehen brachte, sein verhaltenes Fluchen. Als ob die Pferde etwas dafür konnten. Ich stand, wie ich gestanden hatte, die Hand noch ausgestreckt, damit Harald sie ergreifen konnte, in all diesem Lärm, der mich umtoste wie die Brandung im Nordoststurm. „Der hat Schwein. Wenn er wieder zu sich kommt, ist der Schlamassel vorbei.“ 2. Kapitel Ich suchte in Kolbergs Straßen mit Nettelbeck nach dem Hauptmann Waldenfels, den er weder auf der Bastion Preußen noch auf der Bastion Pommern fand, weder in der Kommandantur noch in Willerts Ausspannung in der Klausstraße, dem Quartier des Vizekommandanten. Der Atem wurde dem Alten knapp, ein Stechen in der Hüfte zwang ihn zum Ausruhen. Er stützte sich mit dem Ellenbogen gegen eine Hauswand, der Kalk färbte den Ärmel des braunen Rockes weiß, Nettelbeck hastete weiter. Er machte sich Vorwürfe, dass er sich in Dinge mengte, die ihn nichts angingen. Er beschimpfte sich selbst mit den Worten, mit denen ihn der Festungskommandant, der alte Oberst Loucadou, verlacht hatte: „Die Bürgerschaft, die Bürgerschaft! Ich will und brauche die Bürgerschaft nicht.“ Nettelbeck fragte Offiziere, Unteroffiziere und Grenadiere. Sie zuckten die Achseln. „Macht dem Spiel ein Ende, ihr guten Leutchen!“, hatte der Oberst gesagt. „Geht in Gottes Namen nach Hause! Was soll mir’s helfen?“ „Der Hauptmann? Ich sah ihn vor Meister Kramohls Tür stehen.“ Ein Bäckerjunge, der mit einem Tragkorb Weißbrot auf dem Wege zur Kommandantenwohnung war, konnte endlich Auskunft geben. Der Kommandant isst Pameln, dachte Nettelbeck bitter, er hat keine Zähne mehr. Doch die Freude, endlich eine Spur gefunden zu haben, beflügelte seine Schritte. Das Stechen in der Hüfte verging. Er hätte sich auch an den Ingenieur-Kapitän Düring wenden können, der dem Befestigungswesen vorstand, den hätte er leicht in seinem Quartier gefunden. Aber wozu sollte er diesem Manne sagen, dass die Franzosen unter dem Schutz der Hohenbergschanze, halben Weges von dort gegen die Stadt, auf dem Sandberge gleich hinter dem Zingel, eine Schanze aufwarfen und eine zweite in der Richtung von Bullenwinkel her, am Matzteiche, die, was sich jeder Segelmacher und jede Fischersfrau ausrechnen konnte, zu dulden höchst gefährlich war? Erreichten jetzt nur die schweren Stücke das Weichbild der Stadt, von dort aus konnten auch die leichten Mörser und Haubitzen unermesslichen Schaden anrichten. Wie schnell brannte das Fachwerk der Bürgerhäuser! Die Schleuse müsste man schließen, die Wiesen auch auf der Ostseite der Stadt überschwemmen, damit den Franzosen die Laufgräben absoffen und sie wie Küken im Jauchepfuhl ertranken. Aber der Herr Ingenieur-Kapitän, wenn er Nettelbeck überhaupt anhörte, lächelte bestenfalls: „Herr, was geht das Ihn an? Mach Er, dass Er an Seine Braupfanne kommt! Dort ist Sein Tun.“ Waldenfels saß nicht mehr in Martin Kramohls Barbierstube. Der Gehilfe Philipp Püttmann scheuerte das Becken und wischte es mit einem groben Tuch trocken. Sein Gesicht sah gelblich bleich aus wie zu früh gereifter Roggen. Philipp war gestern Abend für zwei Stunden in den Turm der Marienkirche gestiegen. Wenn der Kommandant den Ausguck nicht besetzte, mussten es die Bürger tun. Nun sah es ganz so aus, als ob der Junge die Höhe nicht vertrug. Da war ich ein anderer Kerl! dachte Nettelbeck. Er fühlte das Bedürfnis, dem Sohn seines alten Freundes, der auf See geblieben war, ein paar aufmunternde Worte zu sagen. „Wann ist Hochzeit, Philipp?“ Der Blick des jungen Menschen blieb düster. Philipp hängte das Handtuch an den Nagel neben der Tür und stellte das Becken auf den Bord. „In diesen ungewissen Zeiten, Vater Nettelbeck, soll man wohl nicht an Heiraten und Festefeiern denken.“ „Worauf wartet ihr jungen Leute nur? Die Zeit wird nicht besser, wenn wir sie uns nicht besser machen. Beeilt euch! Ich will noch Pate stehen.“ Philipp antwortete nicht. Er drehte sich zur Wand und machte sich wieder am Handtuch zu schaffen. Jetzt war nicht die Stunde, nach der Ursache des Kummers zu forschen, Nettelbeck suchte den Hauptmann. Philipp wusste nicht, wohin Waldenfels gegangen war. Nettelbeck ging in die schwarze Küche. Kramohl hatte ein Stück trockenes Brot in den Gerstenkaffee getunkt. Als die Tür aufging, ließ er es in den Tassenkopf fallen und fischte mit den Fingern danach. Sophie stand am Fenster und kühlte die Stirn an der Scheibe. Zank zwischen den Verlobten, oder hatte der eigensinnige, spinnige Alte ein Haar in der Hochzeitssuppe gefunden? „Der Hauptmann? Ach, geh mir mit den Offizieren! Wenn wir sie nur bald aus der Stadt hätten! Der Herr Hauptmann freilich, gegen den gibt’s nichts zu sagen. Zum Hafen hinunter ist er gegangen. Machen Sie mich recht schmuck, hat er befohlen, als ich ihm das Halstuch umlegte, ein Schiff aus Danzig wird erwartet; ich muss einen guten Eindruck machen!“ Nettelbeck hörte ihn nicht weiter an. Um Sophie und Philipp konnte er sich später kümmern, jetzt ging es um die Stadt. Als er zur Pfannschmiede hinauswollte, stieß er gleich hinter dem Münder Tor auf einen Haufen Menschen, die einen Wagen umstanden, der ein Rad verloren hatte; auch das Pferd war gefallen. Mein Gott, dachte er, soll der Bauer achtgeben! Jetzt versperren sie die ganze Straße, und ich hab’s eilig. Da erkannte er den Hauptmann in der Menge. Er drängte sich zu ihm durch, zupfte ihn am Rock, aber Waldenfels wehrte ihn unmutig ab, ohne sich nach ihm umzusehen. „Herr Hauptmann! Einen Augenblick, Euer Wohlgeboren, höchste Eile!“ Waldenfels wandte den Kopf und erkannte Nettelbeck. „Was haben Sie denn?“ „Einen Gedanken, Herr Hauptmann. Die neuen feindlichen Schanzen - wenn wir die Schleusen schließen, die Matzwiesen überschwemmen ...“ „Sagen Sie das dem Kommandanten!“ Was war nur in Waldenfels gefahren? Er, der sich Nettelbeck sonst nie verschloss, der einzige Offizier - außer Schill natürlich, aber der war fort und hatte auch in der Festung nichts zu bestimmen gehabt -, an den sich die Bürger mit ihren Sorgen wenden konnten, wenn er auch nicht immer die Kraft aufbrachte, sich beim Obersten durchzusetzen, ausgerechnet er schickte ihn jetzt zu Loucadou, von dem er doch wusste, dass er keinen Rat von den Bürgern annahm, ja den geringsten Hinweis als unbefugte Einmischung weit von sich wies. Ausgerechnet jetzt, in höchster Gefahr für Stadt und Festung! Waldenfels’ Aufmerksamkeit war offensichtlich von einem Mann, einem Offizier in Anspruch genommen, der den Kopf des Pferdes hielt und dem Tier beruhigend den Hals klopfte. Nettelbeck hatte den Mann noch nie gesehen; er war noch jung, bedeutend jünger als Nettelbeck jedenfalls, aber auch nicht sehr jung, älter als Waldenfels, vierzig vielleicht, eine männliche, stattliche Erscheinung, kraftvoll, man traute ihm zu, ein Gespann durchgehender Hengste aufzuhalten. Sein Gesicht schien Heiterkeit und Ruhe auszudrücken; das Haar war dunkel, voll, eine längliche Narbe teilte die Stirn, und die Augen - die Farbe konnte man nicht erkennen von hier aus - blickten gelassen in die Menge der Gaffer. Der Offizier gab die Leine einem der Umstehenden in die Hand und half dem Gespannführer, einem rothaarigen Ackerbürger aus der abgebrannten Lauenburger Vorstadt, das Rad, das einer der Straßenjungen wieder herangerollt hatte, auf die geteerte Achse zu setzen. Dann säuberte er sich die Hände an einem der Säcke, mit denen der Wagen beladen war, und winkte Waldenfels. Der Hauptmann packte Nettelbeck am Arm und zog ihn mit sich. „Kommen Sie, Bürger Nettelbeck! Das ist der Major von Gneisenau, unser neuer Kommandant. Sagen Sie ihm alles, was Sie auf dem Herzen haben!“ Der neue Kommandant? Ich hätte ihn erst für einen Viehdoktor gehalten, dann für einen Stellmacher. Wird dieser Mann auch etwas vom Krieg verstehen? Wer sich mit so kleinen Dingen abgibt, überblickt der die große Sache des Vaterlands? Das Stechen in der Hüfte, das Ziehen im linken Knie waren wieder da. Hinkend trottete der Alte den beiden Offizieren nach. Und ich begleitete Nettelbeck, der nach seiner Gewohnheit um die Wälle gegangen war, gegenüber der unteren Bastion Geldern beginnend, an der Mühlenschleuse vorbei, wo er geraume Zeit auf und ab ging und in das trübe, schlammige Stauwasser starrte, dann wieder den hellen, dünnen Rinnsalen zusah, die durch die grünalgenbewachsenen Bohlen sickerten, und zwischendurch den Blick hob, um zum Holzgraben hinüberzuschauen, der einen Teil des aufgestauten Wassers ableitete, welches das Salinengelände überschwemmte, und den Rest dem Hafen zuführte. „Einen Posten mit Gewehr müsste man an der Schleuse aufstellen!“, rief mir der Alte zu. „Wenn es dem Gegner gelingt, die Schleusentore zu sprengen, verläuft sich das Wasser, und die Wiesen um die Festung werden, wenn auch nicht trocken, so doch passierbar. Und wehe, wenn der Feind mit seiner überlegenen Truppenzahl von allen Seiten zugleich stürmt! Wie leicht kann sich ein Musje, als Überläufer womöglich, in die Stadt einschleichen und nachts, wenn der Schleusenwärter den Schlaf des Gerechten schläft, die Kammern öffnen und dem Strom seinen Lauf lassen! Ein Posten mit Gewehr muss her, und wenn der Kommandant keinen Mann dafür frei hat, soll das Bürger-Bataillon die Wache übernehmen.“ An der Matzwiese hielt er wieder inne und sah zu den Verschanzungen unter dem Hohenberg hinüber. Nur langsam kam der Feind voran. Wenn es nur eine Stunde am Tag regnete, füllten sich die Laufgräben mit Wasser, und die Geschützstellungen mussten mit Faschinen ausgelegt werden, sollten die schweren Lafetten nicht in den weichen Untergrund einsinken. Soweit gut. In der Wiese stand das Wasser knöcheltief. Zu niedrig, dachte Nettelbeck, sie können barfuß hindurch, es geht auf den Sommer zu, und auf penibles Aussehen geben sie nichts, sie sind keine Preußen. Vor der Front Bütow, dem Wolfsberg gegenüber, dem Sandhügel, der wie ein Maulwurfshaufen in der Ebene saß, die nicht durch Überflutung geschützt war, versuchte er einen Leutnant, der einen Befehl vom Außenwerke Lauenburg zu den Erdarbeitern an der Ziegelschanze überbrachte, von seinen Ansichten zu überzeugen: die alte Schleuse musste verstärkt, die Persante ganz gesperrt und das Wasser in Gräben durch die abgebrannte Lauenburger Vorstadt vor den Frauenmarkt geleitet werden. Aber der Offizier hörte nicht zu, vielleicht verstand er nichts von der Fortifikationskunst, er rief: „Sagen Sie es dem Ingenieur-Kapitän oder dem Kommandanten!“, und ließ den alten Mann stehen. Nettelbeck zog seine Schiffermütze in die Augen und ging weiter. Diese jungen Offiziere! Musste er alter Mann, der die längsten Jahre seines Lebens zwischen Vor- und Besanmast zugebracht hatte, ihnen sagen, wie man Landfestungen verteidigt, und sie hörten nicht einmal zu! Aber der Mann hatte recht, mit Gneisenau darüber reden! Man musste immer gleich an die höchsten Stellen gehen, wenn man angehört werden wollte. Mit ausgreifenden Schritten strebte er dem Hornwerk Münde zu, bog in die Pfannschmiede ein, kehrte aber bald um, und anstatt sich zur Bastion Preußen zu begeben, wo er den Kommandanten am sichersten antraf, schlurfte er am Bollwerk entlang wieder der Schleuse zu. Erst gründlich überlegen! Seit Mittag unterwegs, wurde er nun doch müde und blieb alle paar Schritte stehen, um Atem zu schöpfen. Er hätte sich nach dem Essen eine Stunde aufs Ohr legen sollen, seine siebzig Jahre machten sich bemerkbar. Er zog die leere Kummkarre heran, mit der der Schleusenwärter gewöhnlich Lehm und Steine anfuhr, um die Ausspülungen in der Böschung damit zu stopfen, und setzte sich auf den Karrenbaum. Den Strom, sann er, musste man so weit aufstauen, dass die Stadt zur Insel wurde. Sollten die Wiesenbesitzer beim Bürgermeister oder beim Kommandanten jammern! Er sah jetzt schon, wie sie sich die Hände an den Rockschößen abwischten, bevor sie an die Tür klopften, und während sie flehten, die Wiesen und Weiden nicht zu überfluten, damit nicht auch diese noch verdürben, die offenen, leeren Handflächen vorstreckten, um die bittere Not anzudeuten, in die sie unfehlbar geraten müssten. Aber in dieser schweren Zeit musste jedermann dem Vaterland Opfer bringen, Gutsherr und Offizier, Bauer und Bürger. Er selbst, der sich auf seine alten Tage auf Brauen und Brennen verlegt hatte, erlitt genug Verluste, Korn und Gerste wurden knapp in der belagerten Stadt. Überdies ließen ihm die Angelegenheiten der Verteidigung kaum Zeit für sein Gewerbe. Sein Bargeld aber, vierhundert Taler, hatte er dem Leutnant Schill vorgeschossen, damit die Maikuhle notdürftig verschanzt werden konnte. Sollten auch die Ackerbürger ihr Scherflein in den Klingelbeutel des Krieges werfen! Nettelbeck hatte wohl eine Stunde so gesessen, als sich in der Stadt Lärm erhob. Er hörte zunächst nicht weiter danach hin, Lärm gab es oft genug - da schoss der Feind in die Festung, die eigenen Batterien antworteten, Offiziere schrien ihre Leute an, Betrunkene prügelten sich, Meister schimpften mit ihren Lehrjungen, Weiber keiften, o ja, Lärm gab es übergenug in dieser kleinen Stadt, die mehr Militär beherbergte als Bürger. Sicher waren sich auch jetzt wieder Husaren oder Füsiliere beim Kartenspiel in die Haare geraten, Schillsche vielleicht, die erbeuteten Branntwein von einem Streifzuge mitgebracht hatten. Bald kam die Patrouille und brachte die Ruhestörer zur Räson oder nahm sie mit zur Wache. Aber der Lärm dauerte an. Vielleicht war keine Streife in der Nähe und die Bürger getrauten sich nicht, danach zu laufen. Er musste selbst nach dem Rechten sehen, er, der Bürgerrepräsentant. Mit einem Ruck erhob er sich und klopfte den Lehmstaub vom Rock. Ein Junge lief vorbei, die Holzpantoffeln in der Hand, barfuß. Nettelbeck rief ihn an. Der Junge deutete mit dem Arm irgendwohin und rannte weiter. Auch aus anderen Straßen sah er Leute nach dem Ort der Unruhe eilen, der in dem gefährdeten Ostteil der Stadt liegen musste: Küchenmädchen, einen Böttcher mit dem Spundhammer, einen Schneider noch mit der Elle in der Hand, Bäckergesellen in weißer Schürze. War der Feind durchgebrochen, und die Kolberger liefen hinzu, um die Franzosen, Thüringer, Italiener und Polen anzustaunen? War der Wolfsberg verloren, das Ravelin Bütow erstürmt? Er hatte kein Kleingewehrfeuer gehört, und ohne einen Schuss, ohne wütenden Kampf ließ die tapfere Besatzung den Feind nicht an die Wälle heran. Aber wenn Verrat im Spiel war? Der Tuchmacher Strippow trat aus dem Haustor. „Was lauft Ihr, Nettelbeck? Sind die Franzosen in den Straßen?“ Nettelbeck wollte vorbei. Strippow hielt ihn am Rockschoß. „Sie werden die Stadt plündern. Hättet Ihr Euch nur nicht in die Verteidigung gemengt! Krieg ist Soldatensache. Was geht mich das an, wenn sich unser König und l’Empereur in die Wolle geraten? Jetzt ziehen sie uns den Balg über die Ohren.“ Nettelbeck riss sich los. Als er die Wendenstraße erreichte, sah er, dass sich die Menge in der Schmiedegasse sammelte. Vor Kramohls Haus. Hatte sich Sophie etwas angetan? Ihr verweintes Gesicht neulich! „He, Freund! Was gibt’s zu gaffen?“ „Philipp ist auf die Wache gebracht, drei Mann mit Seitengewehr hinter ihm drein.“ Der friedsame Philipp? „Er hat einen Offizier umbringen wollen“, wusste jemand. „I wo“, stritt ein anderer, „er war dem Offizier im Wege bei Sophie.“ „Der Leutnant angelte schon lange nach ihrem Schürzenband“, berichtete eine alte Frau, die in Friedenszeiten gespaltenes Kienholz in den Giebelhäusern und Buden verhökerte und deshalb stets wusste, was in den Rauchfängen hing. „Er hat sich immer nur von ihr den Bart kratzen lassen.“ „Wenn unsere Weiber und Töchter Freiwild für die Herren Offiziere sind, können wir gleich den Franzosen die Tore öffnen“, rief der Bootsbauer Vorberg aus und erhielt damit die Zustimmung der Menge. „Mann!“ Nettelbecks Hand fuhr an den Degenknauf. Schon wieder sprach man von Unterwerfung und Kapitulation! „Unsereinem wollt Ihr ans Leder“, entgegnete Vorberg ruhig, und der sanfte Blick des Bootsbauers verwirrte den alten Schiffer. Nettelbeck ließ den Degen stecken. Er fürchtete nicht die erregten Leute, er hätte sich den Weg gebahnt mit der blanken Waffe. Mit einer eingerosteten Pistole und mit einem Tauende hatte er eine meuternde Schiffsmannschaft zur Räson gebracht, und die Matrosen sind wahrhaftig wilde Kerle, die dem Teufel ein Auge ausreißen, wenn sie ein Quart Rum dafür kriegen! Sollte er sich da vor Schustern, Bierschrötern und Fischweibern verstecken? Aber er sagte sich, dass die Leute zu Recht aufgebracht sein könnten. „Seid Ihr Bürgerrepräsentant, Kapitän Nettelbeck, dann schützt uns vor den Blauröcken!“ Die Hökerfrau zeterte: „Ihr wisst wohl nicht mehr, wie das tut, wenn einem die Frau weggenommen wird?“ Nettelbeck schüttelte sich, als wollte er die Erinnerungen, die alte Geschichte, die er längst vergessen glaubte, von sich abwerfen. Aber sie überflutete ihn wie die Sturzsee, und wenn er glaubte, daraus emporzutauchen, traf ihn die neue Welle, und er suchte nach dem Mast, an den er sich klammern konnte, um der aufgewühlten See zu entgehen, wie in jener Nacht auf der Schute des Schiffers Prey, den er angebettelt hatte, ihn für gute Worte mitzunehmen nach Königsberg. Für gute Worte; Geld hatte er nicht zu bieten, all seine Barschaft und den Erlös der heimlich verkauften Hälfte seines Hauses dazu hatte das Weib mitgenommen, als sie mit ihrer Tochter dem Offizier, der ihr die Zeit während des Hausherrn langer Seereisen vertrieb, bei Nacht und Nebel gefolgt war. Der Offizier hatte sie nach zwei Wochen, nachdem ihr Geld am Spieltisch durchgebracht war, davongejagt, und sie flehte ihren Mann, als er endlich ihre Spur gefunden, auf Knien an, ihr die himmelschreiende Sünde zu verzeihen und sie in Gnaden wieder aufzunehmen. Keinen schwarzen Pfennig besaß sie mehr. Nettelbeck blieb hart und stieß die Frau von sich. Sie rannte zum Stadtrichter. Er musste sich durch die Hintertür aus seinem Quartier schleichen und lief nachts zu Fuß nach Pillau, heuerte als Steuermann nach Riga an und kehrte erst nach Wochen in die Heimatstadt zurück. Er musste eine Hypothek auf den ihm verbleibenden Teil des Hauses aufnehmen, um die Scheidung bezahlen zu können. Der Hass des Bürgers gegen das Offizierskorps hatte sich auch in ihn eingebrannt. Er bahnte sich einen Weg, stieß die Leute beiseite und stürmte ins Haus. Der Offizier saß noch in seinem Stuhl, die Beine bequem auf eine Fußbank gelegt, die kurze Pfeife im Mund. Kramohl stand hinter ihm, ihn halb verdeckend, ein Handtuch über dem Arm. „Herr!“ Der Offizier stieß die Fußbank von sich, erhob sich und sagte, wobei er die Pfeife kurz aus dem Mund nahm, ein paar Worte zu dem Meister. Nettelbeck verstand sie nicht, er hörte nur die warme, volltönende, angenehme Stimme, die einem törichten jungen Mädchen so süß klingen musste, wenn sie ihr Honigworte ins Ohr flüsterte. Er sah in das fast kindliche, glatte Gesicht, zart wie die Haut eines Ferkels, auf das zierliche Kinn, an dem eine winzige, rosa schimmernde Narbe auffiel. Die Narbe kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, wo er sie gesehen hatte; dieser Offizier war ihm bestimmt nie begegnet; er wusste nicht seinen Namen, seinen Dienstrang, es konnte nur ein Leutnant sein, aber die Narbe erinnerte ihn an etwas, auf das er sich nicht besinnen konnte, und ihre zartrosa Farbe, die sich im Rhythmus des Pulsschlags verdunkelte und aufhellte, verwirrte ihn. Er biss sich auf die Lippen, sah wieder die glatte, kalte Stirn des Leutnants, die höhnischen Augen, er blickte auf die zitternden Hände des Barbiers und zog den Bürgerdegen halb aus der Scheide. „Herr!“ Er hätte zustoßen mögen, aber der Mann trug des Königs Rock. Der Leutnant warf dem Meister ein Geldstück hin, ging an Nettelbeck vorbei und blieb breitbeinig, selbstbewusst stehen, die Rechte schon am Türgriff. „Ein königlich-preußischer Offizier schlägt sich nicht mit einem Branntweinbrenner!“ Gegen das aus der Obertür einfallende Licht war von der rötlichen zuckenden Narbe nichts zu sehen. Nettelbeck schob den Degen in die Scheide zurück und ließ sich seufzend in den Barbierstuhl fallen. Er nahm dem Meister das Handtuch vom Arm und trocknete sich die schweißnasse Stirn. „Nettelbeck, Nettelbeck, jetzt werden sie auch uns beide noch arretieren. Auf meine alten Tage ins Stockhaus! Meine arme Frau, meine arme Tochter!“ Nettelbeck sprang auf und stieß Kramohl vor die Brust. Wenn er noch ein Wort jammerte, wollte er ihm das Handtuch ins Gesicht schlagen. Wozu lamentieren? Was getan war, war getan. Wer wollte das ungeschehen machen? Kein Heulen und kein Zähneklappern half! Es blieb nur zu prüfen, ob er seinen Degen zu Recht oder zu Unrecht gezogen hatte. War es zu Recht geschehen, würde er sich zu verteidigen wissen, sich und Meister Kramohl und Philipp Püttmann dazu. Er hatte sich mit französischen Reedern und niederländischen Versicherungsgesellschaften, mit portugiesischen Hafenbeamten und britischen Kaperkapitänen herumgeschlagen; er fürchtete sich auch nicht vor preußischen Richtern. „Was bist du für ein Barbier, Kramohl! Kratzt andern Leuten am Hals und bist selber kitzlig.“ „Sprich nicht vom Messer, Nettelbeck, sprich nicht vom Messer!“ „Ich sehe, du musst einen Kümmel trinken.“ Er packte den Barbier, der doch gut zwanzig Jahre jünger war, an den Schultern und schob ihn in die Küche. Bevor er ihm folgte, trat er noch einmal vor die Haustür; noch immer starrten die Leute das Haus an, Gaffer, Neugierige, wie sie sich überall sammeln, wo Sensationen zu erwarten sind. Als ob nicht jeden Augenblick eine feindliche Bombe dazwischenfahren könnte! Er spürte, sie unterbrachen ihre Gespräche, merkten auf, als er vor sie hintrat, aber er wartete, bis sich das Gemurmel völlig gelegt hatte, bis ihn jedermann ansah. „Kolberger Bürger und Schutzverwandte, Freunde! Geht wieder an eure Arbeit! Was hier geschehen ist, ob Recht oder Unrecht, wird untersucht werden. Ich sorge dafür. Die Zehnmänner, eure Bürgerrepräsentanten, werden vom Herrn Kommandanten eine strenge Verifikation verlangen. Ich verbürge mich dafür. Ihr wisst, dass ihr euch auf mein Wort allezeit verlassen könnt.“ In den hinteren Reihen lebte das Gemurmel wieder auf, und plötzlich rief eine helle Knabenstimme: „Vivat, Vater Nettelbeck!“ Kramohl saß am Küchentisch. Nettelbeck ging an ihm vorbei und langte hinter das Schapp, wo er die bauchige Flasche wusste, die er am Geschirrtuch abwischte und entkorkt vor Kramohl hinstellte. Der Barbier trank. Nettelbeck nahm ihm die Flasche vom Mund. „Erzähle!“ Kramohl begann wieder zu zittern und langte nach der Flasche. Nettelbeck entzog sie ihm. „Wo werde ich denn erzählen, ich habe ja nichts gesehen.“ Nettelbeck setzte sich ihm gegenüber und sah ihn scharf an, die Flasche hielt er hinter seinem Rücken verborgen. „Hör gut zu, Kramohl!“ Er pfiff durch die Zähne, es sollte sich nach einer Seemannsmelodie anhören; plötzlich sprach er weiter: „Du weißt, ich bin Bürgerrepräsentant, eine Amtsperson gewissermaßen, und dies ist ein amtliches Verhör, damit du mich recht verstehst.“ „Gib mir was zu trinken, Nettelbeck!“ „Beim Verhör muss man nüchtern sein.“ „Wenn du meinst, Nettelbeck. Wie war das bloß gleich? Mein Kopf ist wie ein Kescher, in den ein Schwarm Stinte geraten ist. Philipp, ja, der war schon die ganzen Tage so, wie soll ich das sagen? So wie ein Hecht, der an der Angel sitzt, so recht zapplig. Und Sophie machte ein Gesicht, als wenn ihr eine Handvoll Dill in die Kreude gefallen wäre. Ich dachte bei mir: so ist das mit den jungen Leuten, das renkt sich alles wieder ein, und was nicht säuert, süßt auch nicht. Dass aber Philipp so was machen wollte, ich hätt’s nie für möglich gehalten.“ „Immer der Reihe nach, sonst kommt in meinem Kopf das Protokoll durcheinander.“ „Dass du in deinen Jahren noch einen solchen Kopf hast! Ich könnte bald dein Junge sein, aber meiner ist schon wie ein Seihtuch. Vorigen Montag, kann auch Dienstag gewesen sein, aber Sonntag nicht, den Sonntag heilige ich, da fasse ich kein Stück an, also ich habe meinen Abziehstein gesucht und nicht gemerkt, dass ich ihn in der Hand hielt. Ja doch, es geht ja schon weiter! Also meine Sophie und Philipp sind so gut wie versprochen. Er war ein so ruhiger Mensch, verstand seinen Bart zu schaben und seinen Zopf zu flechten und zu pudern, sogar einen Offizierszopf, aber der neue Kommandant hat ja nun alle abschneiden lassen, nun braucht er’s nicht mehr zu können. Er kann auch die Ader schlagen, dass einer nicht gleich beschwögt wird, das kann Philipp alles. Er ist ehrbarer Leute Kind und stammt nicht von Leinwebern und Müllern ab, er soll meine Sophie kriegen und Meister werden, wenn ich mich mal aufs Altenteil setze! Meine drei Jungen liegen auf dem Georgenkirchhof, und jetzt wird mir Gott ja keinen mehr in die Wiege packen.“ Nettelbeck sah in den schwarzen Rauchfang hinaus. Das Gespräch trieb dahin wie eine Brigg bei Flaute im Ärmelkanal, man sah an beiden Seiten Land und gelangte nicht hin. „Zur Sache, Kramohl!“ „Wenn du meinst, Nettelbeck. Nun ist der Leutnant dazwischengekommen. Seit zwei Wochen erscheint er jeden Tag und immer um die gleiche Stunde, und jedes Mal verlangt er, dass Sophie ihn einseift, immer nur Sophie. Ich hab mich schon gewundert, dass der Leutnant gutes Trinkgeld gibt, wo doch das Geld knapp ist in der Stadt. Aber gebrauchen kann ich’s. Und Philipp, nein, dieser Philipp! Reich mir erst die Flasche, Nettelbeck! Die Stinte in meinem Kopf, weißt du, die wollen schwimmen.“ Nettelbeck reichte die Flasche hinüber. Sein Gefühl sagte ihm, dass er recht gehandelt hatte, als er den Offizier zur Rede stellte. Er kannte diese Milchbärte im blauen Rock mit den roten Aufschlägen. Wie war ihm damals zumute gewesen, als er, von einer langen Reise zurückkehrend, sich darauf gefreut hatte, die Füße unter der angewärmten Bettdecke ausstrecken zu können, und den Herd kalt und die Schatulle leer fand! Wäre ihm in jenem Augenblick der Offizier, der sein Haus beschmutzt hatte, vor den Degen gekommen, er hätte ihn durchbohrt und das Weib, das ungetreue, dazu. Kramohl stellte die Flasche neben sich auf den Lehmfußboden; Nettelbeck konnte sie nicht erreichen, wenn er nicht aufstand und um den Tisch herumging. „Gestern, es muss gestern gewesen sein, wenn nicht vorgestern, als der Leutnant kaum in der Tür war, stand auch schon Philipp hinter ihm und warf ihm den Umhang über; der Herr Offizier saß noch gar nicht. Sophie, sie muss wohl auf dem Sprung gestanden haben, kam mit einer Schüssel Warmwasser aus der Küche. Philipp, das seh ich nun erst so recht vor mir, vorgestern, es muss doch vorgestern gewesen sein, Philipp wollte das Mädchen wegdrängen, aber der Leutnant sieht sie und winkt sie zu sich heran. Dem Jungen drückt er ein Stück Geld in die Hand und befiehlt ihm, nach einer Rolle Tabak zu laufen.“ Er trank einen Schluck, und bevor Nettelbeck ihm die Flasche abnehmen konnte, hatte er sie wieder neben sein Schemelbein gestellt. „Gestern schlich sich Philipp aus der Stube, als der Leutnant eintrat, und kam erst nach einer halben Stunde wieder herein; er konnte ihn wohl nicht mehr ansehen. Und gestern Abend, gleich komm ich drauf, lass mich mal nachdenken! Kurz vor der Schummerstunde verließ Philipp das Haus. War er nicht bei dir, Joachim? Mir ist, als hätte er davon gesprochen. Ich hab dann noch mit dem alten Vorberg zwei Partien Schafskopf gespielt, du weißt, er hat immer einen scharfen Kümmel im Schapp. Grad will ich meine Haustür aufschließen, kriegt mich Philipp an. „Wo ist Sophie?“ In ihrer Kammer, denke ich und schau nach; ich hatte gleich so ein Gefühl im Magen, als ob ich ein halbes Pfund klein gehackter Nüsse gegessen hätte. Wahrhaftig, sie war nicht da, und auch meine Alte zog nur die Nase kraus, als ich sie fragte. Philipp machte ein Gesicht wie einer, der vergeblich nach einem Stück Fleisch in der Kohlsuppe stochert. Er konnte einem leid tun, und weil ich gerade meinen Magen mit einem kleinen Kümmel stärken musste, hab ich ihm auch einen eingegossen.“ Wenn Kramohl nur schneller zum Wesentlichen käme! Eile tat not. Nettelbeck musste mit dem Kommandanten reden, in dieser wilden Zeit fackelten die Militärs nicht lange. Vielleicht führten sie in dieser Stunde schon Philipp zum Sandhaufen. „Weiter, weiter, Kramohl!“ Er hätte den Barbier an den Schultern packen und die Worte aus ihm herausrütteln mögen. „Weiter, weiter!“ „Ich erzähl ja schon. Du musst nur richtig zuhören, Nettelbeck! Erst soll ich alles ganz genau sagen, und nun geht’s dir zu langsam. Also das Mädchen kam erst, als es stickensternduster war. Sie lief gleich die Treppe hinauf in ihre Bodenkammer, meine Alte hinterher. Weiß der Teufel, sie hat mir bis jetzt nicht gesagt, was das dumme Ding angestellt hat.“ „Und was geschah heute?“ „Das weiß ich auch nicht so genau, Nettelbeck, Sophie ließ sich den ganzen Tag nicht vor mir blicken, nur beim Essen, und beim Essen rede ich nicht. Und Philipp machte Augen, als hätte er in der Nacht ein Quart Branntwein mit Zucker ausgelöffelt. Sophie kam nicht einmal herunter, als der Leutnant eintrat. Da musste ich sie suchen, aber nirgends war sie, nicht im Hühnerstall und nicht im Keller. Als ich dem Herrn das mitteilen wollte, kam ich gerade darauf zu, wie drei Soldaten Philipp die Bajonette in den Rücken drückten, sodass er, ob er wollte oder nicht, vorneweg aus der Tür laufen musste. Ich konnte vor Schreck den Mund nicht aufkriegen, das kannst du mir glauben. Auf der Straße liefen die Leute zusammen und wollten die Patrouille mit ihrem Gefangenen nicht durchlassen. Du hast sie selbst gesehen, wild wie ein aufgestörter Hornissenschwarm. Wenn die mir die Türen eingeschlagen oder das Haus angesteckt hätten! Vor dem Leutnant konnte man auch Angst bekommen, wenn man ihn ansah; er plusterte die Nasenlöcher auf wie ein scheues Pferd. Meister, sagte er, Er muss ein Auge auf seine Leute haben! Sind Jakobiner, sagte er, fängt der Kerl Streit mit mir an! So, und jetzt muss Er mich rasieren, hat er gesagt und: ich will hoffen, dass Seine Hand nicht zittert, Meister. Und so musste ich ihn dann balbieren. Ich habe mir fast die Zunge zerbissen, damit die Hand nur ruhig blieb. Dass ich ihn nicht geschnitten habe in meiner Angst, wird mir mein Lebtag ein Gotteswunder sein.“ „Was ist denn nun zwischen Sophie und dem Leutnant wirklich geschehen?“ „Was sagst du da, Nettelbeck? Meinst du wahrhaftig? Dass ich darauf nicht selbst gekommen bin! Da muss ich doch gleich Sophie fragen. Wehe, sie verschweigt mir was! Dann soll sie ihren alten Vater kennenlernen. Wenn ich nur wüsste, wo das Mädchen steckt!“ Nettelbeck sah sich vor seinem Haus stehen, den leeren Seesack auf dem Rücken; die paar Taler, die er sich auf seinen Fahrten erworben, hatten ein Schiffbruch und die Niederträchtigkeit seines Assekuranten verschlungen. Ein kleines Kapital hatte er zu Hause in der Lade, damit wollte er ein neues Schiff rüsten. Aber er rüttelte vergeblich an der verschlossenen Tür. Noch jetzt klangen ihm im Ohr die hämischen Reden der Nachbarsleute, die ihm das Vorgefallene berichteten. Er spürte den scharfen Wind, der ihm ins Gesicht schnitt und die Augen zum Tränen zwang, obwohl ihm nicht weinerlich zumute war, als er mit der Schute des Schiffers Prey nach Königsberg segelte. Er vernahm den hallenden Klang seiner Schritte in den abendlich leeren Straßen. Lange hatte er damals nicht zu suchen brauchen, er kannte die Örter, wo sich das Weib aufhalten musste. Und die Worte der Ungetreuen, die Schandworte, der giftige Hohn, dann die schleimige Bitte um Vergebung, sie brannten ihm noch immer auf der Seele. „Ich werde zum Kommandanten gehen“, sagte er. „Man muss sich um Philipp kümmern.“ Ich, wollte er dem Kommandanten sagen, ich gehöre auch eingesperrt, wenn der Junge ins Stockhaus muss; denn ich habe den Degen gezogen gegen den Offizier und hatte weniger Grund als der Junge für seine unbedachten Worte. Und er wollte dem Major seine Geschichte erzählen, eine Geschichte aus Kolberg und Königsberg. Die Weiber, wollte er sagen, können nichts dafür, Gott hat sie in ihrer natürlichen Dummheit erschaffen, dass sie sich betören lassen von bunten Röcken, blitzenden Schnüren und glatten Worten, namentlich die jungen. Sie haben vielleicht Glück gehabt mit der Ihrigen, Euer Wohlgeboren, aber jedermann hat so viel Glück mit seinen Frauen und Töchtern nicht. Und die Bürgerfrauen und unsere Töchter sind nicht Freiwild für die Herren Offiziers, das nicht! Das vom Freiwild hat mir Bootsbauer Vorberg eingeredet, dachte er, aber wahr ist es, und so will ich es dem Herrn Kommandanten sagen. Wer einem Bauernpferd auf die Beine half, wird doch auch ein Herz für die Bürger haben! 3. Kapitel Nicht Nettelbeck, der alte, echte Nettelbeck, der mit dem Degen in der Hand vor dem königlich-preußischen Offizier stand und doch nicht zustach, aus Achtung vor dem Rock des Königs, nicht Nettelbeck hatte sich erinnert an die winzige, rötliche, zart wie die Haut eines Ferkels schimmernde Narbe am Kinn des Leutnants; es war meine eigene Erinnerung. Ich habe diese Narbe gesehen an dem schmalen, glatt rasierten Kinn des Unteroffiziers mit der Pastoren- oder Opernsängerstimme. Aus Haralds Kopfwunde sickerte Blut in den Sand. Ich ließ mich auf die Knie nieder und hob ihm den Kopf ein wenig an. Harald reagierte nicht, als ich ihn anfasste, aber er atmete. Der Unteroffizier, der Mann mit der winzigen Narbe am glatten Kinn und der angenehmen Stimme, trat heran. Ich fühlte einen drohenden schwarzen Schatten über mir; ich sah nicht auf, sah nur dem Jungen in das graue, blasse Gesicht mit den halb geschlossenen Augen. Mein Blick fiel auf die Stiefelspitze neben meiner Hand, schmutziges, sandverkrustetes Leder, das vor wenigen Stunden noch lackschwarz geglänzt hatte und in der ersten Stunde der Ruhe wieder glänzen würde. Ich hob den Blick, den Stiefelschaft entlang, die Reithosen aufwärts, den taschenbesetzten grauen Rock, aber bevor ich zum Gesicht kam, dem glatten Gesicht mit der rötlichen Narbe am Kinn, sagte die angenehme Stimme über mir: „Will sich drücken, der Bruder!“ „Hören Sie, er muss in ein Lazarett.“ „Lazarett? Einen Guss Wasser über das Gesicht, dann läuft er wie der Hase gegen den Igel.“ Mir war, als stürzte mir einer den Eimer Wasser in den Nacken. „Sehen Sie das nicht?“ Ich hielt ihm meine blutverschmierte Hand entgegen. Die Stiefel, die Reithosen, der graue Rock lachten, und das Lachen hörte sich an wie Schläge eines Blechlöffels gegen das Kochgeschirr. „Wer ist heute nicht verletzt? Hunderte, Tausende, Millionen, Mann! Was suchen Sie überhaupt hier, Sie Zivilist?“ Ich drehte Haralds Kopf zur Seite und bedeckte die Wunde mit einem Taschentuch. Die schmutzverkrusteten Stiefel traten einen Schritt zurück. Ich richtete mich auf, sah mich nach einem der Soldaten um. Sie waren jung wie Harald, ihnen konnte das gleiche geschehen sein, meine Söhne hätten sie sein können, fast meine Enkel, sie mussten ihn, mich verstehen, mussten mir helfen. Aber der eine lief vorbei, die Granate im Arm, er wollte nicht herschauen, das sah man ihm an; er wollte nicht mitleidig sein, er ging vorbei. Es hätte vielleicht eines Wortes bedurft, und er würde sich den Jungen, seinen Kameraden, auf die Schulter geladen haben, um ihn in das nächste Lazarett zu schleppen. Aber es sagte niemand dies Wort. Ich wollte ihn anrufen, ich hätte ihn anrufen können, aber ich tat es nicht, er trug eine Granate im Arm. Und der andere, der gesagt hatte: „Wenn er aufwacht, ist der Schlamassel vorbei“? Ja, „Schlamassel“ hatte er gesagt. Ich hob die Augen auf zu ihm, dessen Knabengesicht ebenso hohlwangig aussah wie das Haralds. Er spürte meine wortlose Frage, und seine Augen begannen zu flackern, die bleichen Wangen, von der Nasenwurzel beginnend, füllten sich mit einem tiefen Rot; der Blick irrte zu dem Unteroffizier hinüber, der dastand, gerade so, als ob er für eine Karikatur Modell zu stehen hätte, und der Junge senkte die Augen und trottete zu dem Munitionsstapel. Nein, es bestand nicht die geringste Hoffnung, dass sie Harald halfen, wenn nicht der Unteroffizier einen Befehl oder wenigstens sein Einverständnis gab. Kaum hatte ich ihn angesehen, tobte er auch schon: „Was wollen Sie von mir? Dem helfen? Einem Selbstverstümmler? Lassen Sie ihn hier krepieren, dann spart die Feldgendarmerie den Strick!“ Ich konnte die Worte der so angenehmen Stimme nicht länger ertragen. Ich blickte zu dem Bauern in der grauen Joppe, der seine immer noch erregten Tiere an der Trense hielt. Auch er sah fort, schaute nur seine Pferde an, die am Geschirr zerrten. „Ich muss Munition fahren. Sie nehmen mir sonst das Gespann fort.“ Wie sollte ich den Jungen von hier fortschaffen? Eile tat not; er musste zum Verbandplatz. Ich nahm mich zusammen, straffte mich, versuchte meiner Stimme einen harten Klang zu geben. „Ich bin Soldat des ersten Weltkrieges, war Leutnant bei der gleichen Waffengattung.“ Der Unteroffizier ließ mich nicht ausreden. „Ihr alten Mumien habt uns den einen Krieg vermasselt und wollt uns jetzt den zweiten versauen. Das lassen wir nicht zu, Sie! Warum sind Sie ohne Waffen, wenn Sie Soldat sein wollen? Wer sind Sie überhaupt?“ „Ich bin ...“, ich hatte es nicht sagen wollen, ich hatte mit keiner Silbe daran gedacht, ich weiß jetzt noch nicht, wie es mir in den Mund kam, es brach aus mir hervor: „Ich bin Nettelbeck.“ „Sie! Lustig machen wollen Sie sich über mich? Das soll Ihnen schlecht bekommen! Ich werde Sie melden, Sie und Ihren Ganymed. Wehrkraftzersetzung.“ Er griff nach Notizbuch und Bleistift, die er, anders als sonst die Leute seines Ranges, aus der Seitentasche des Rockes zerrte. In diesem Augenblick, er setzte gerade den Stift zum Schreiben an, und so muss ich den Zufall preisen, in diesem Augenblick wurde von der Geschützstellung her gerufen: „Unteroffizier Imm zum Batteriechef!“ Er ging, zornrot bis ins Kinn, dass die Narbe wie eine bleiche Insel wirkte, und schrie mich an: „Sie kommen beide an die gleiche Laterne!“ Vielleicht, nachdem der Unteroffizier, ihr Peiniger, der Mann mit der rosa zuckenden Narbe am glatten Kinn, abberufen worden war, sie nicht mehr unter Kontrolle hatte, vielleicht waren die Soldaten jetzt eher bereit zu helfen. Ich hoffte vergeblich. Ich bin Lehrer, ich habe Knaben erzogen, ich weiß nicht, wie viele. Sind aber die, die durch meine Klassen gegangen sind, anders geworden als diese? Hätten sie anders gehandelt in diesem Augenblick? Der eine - nur der eine antwortete - fasste sich mit der Hand an den Hals, malte mit dem Finger die Bewegung des Strickes. Keiner half! Und in zweieinhalb Stunden ging mein Boot. Der Major wartete, meine Frau, meine Tochter, meine Manuskripte. Ich knüpfte ein sauberes Taschentuch um Haralds Kopf. Vielleicht half mir einer, den Jungen aufzuladen, bestimmt hat es einer getan, allein hätte ich es kaum geschafft; aber ich sah mich nicht danach um. Ich richtete mich auf, ächzend unter der Last. Die alte Verwundung, die mich seit dem Donon, seit den letzten Tagen des letzten Krieges quält, vor allem bei einem Wetter wie diesem, das mehr dem Herbst als dem des Frühlings gleicht, dazu mein Rheuma und die Jahre, sie machten es mir schwer, mich aufzurichten. Ich glaubte zusammenzubrechen, aber gleichwohl, ich stolperte voran. Ich sah vor mir die alte Ziegelscheune mit dem Eulenloch im Giebel. Bis dahin musste ich kommen, dort konnte ich mich anlehnen und einige Augenblicke ausruhen. Weit her vom Geschütz hörte ich den Unteroffizier mit seiner vollen Stimme Kommandos geben. Ich dachte nicht daran, dass er hinter mir herstürmen und mich mit seiner Last zu Boden schleudern, dass er dem nächsten Kanonier den Karabiner von der Schulter reißen und mich und Harald niederschießen konnte. Unsinnigerweise stellte ich mir, als ich die angenehme, grausame Stimme hörte, die Frage, was ich wohl an Kramohls, was ich an Nettelbecks Stelle getan hätte, wenn dieser Mann mit der rosigen Narbe am glatten Kinn meine Tochter, Karla, anrührte. Merkwürdigerweise fiel mir in diesem Augenblick der Fähnrich ein, ein Neffe meiner Frau, heimlicher Verehrer Karlas - im letzten Frühjahr hatte er für sie Tulpen aus einem fremden Garten gestohlen, ausgerechnet Tulpen, die sie nicht mochte -, und sein blasses Jünglingsgesicht verschwamm mit dem des Mannes mit der Narbe. Ich sah mich, den Bürgerdegen in der verkrampften Faust, auf den Unteroffizier Imm eindringen - aber ich schüttelte diese unsinnige Vorstellung ab. Die Geschichte wiederholt sich nicht, auch nicht in Kleinigkeiten. Der Leutnant Jahn stand nicht im Unteroffizier Imm wieder auf, und kein Gneisenau konnte kommen, um die Stadt zu retten. Retten? Vor wem? Als sie Preußen nicht mehr ertrugen, schiffte sich Gneisenau nach England ein, Stein und Clausewitz gingen nach Russland, und sie kämpften in fremden Heeren gegen ihren König, Clausewitz an der Seite Kutusows. Sie kehrten zurück, als ihr Volk den Kampf um die Freiheit begann ... Ich sah die Scheune vor mir, die rote Ziegelscheune mit dem schwarzen Tor. Noch achtzig Schritt hatte ich bis dahin, noch siebzig, dann konnte ich mich vier, fünf Atemzüge lang ausruhen; von dort aus waren es noch hundert 40 Schritt bis zu den ersten Häusern der Vorstadt. Mit fliegendem Atem erreichte ich die Ziegelscheune und sank an die schmutzige, rotbraune Wand, in deren Fugen sich grau-grüne Flechten angesiedelt hatten. Ich lehnte an der Mauer, und die Mauer war hart. Ich stieß mich ab, wankte weiter, erreichte schließlich das große, schwarze Scheunentor. Wie gern hätte ich Harald auf den Erdboden niedergelassen, auf die welke Grasnarbe über dem weichen Sand, hätte ich mich aufgerichtet, den Rücken gestreckt, mich ausgereckt wie morgens nach dem Aufstehen! Aber nein, ich fürchtete, Harald nicht mehr auf den Rücken zu bekommen. Ganz in der Nähe schlug eine Granate ein, jenseits der Scheune wohl, das Beben der Torflügel warf uns fast um. Der Luftdruck riss die lockeren Dachziegel von den Sparren, Bruchstücke fielen in den Sand. Wir mussten sofort weiter! Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange wartete der Major? Meine Uhr aus der Tasche nehmen konnte ich nicht, ich hätte Harald loslassen müssen. Eine Viertelstunde über die Zeit konnte bedeuten, dass Blissing in See stach und wir zurückblieben. Ohne mich fuhr meine Frau nicht, keinesfalls, glaubte ich, und wir wären alle verloren, begraben unter den Trümmern einer Stadt, eines Badeortes, den der blanke Wahnsinn zur Festung erklärte. Das Mittel zum Verständnis der toten Formen ist das mathematische Gesetz, das Mittel zum Verständnis lebendiger Formen ist die Analogie, hatte Oswald Spengler geschrieben. Aber das war ein Irrtum, die lebendige Welt ist zu vielfältig, als dass sie sich in das Gitter der Analogie sperren ließe. Die Geschichte kann man nicht in Flächen aufteilen, aus denen man nur die kongruenten oder auch nur ähnlichen Stücke herauszusuchen und übereinanderzuschichten braucht, um aus den Maßen des einen den Verlauf des anderen zu errechnen. Der Raum lässt sich in allen Richtungen durchmessen, die Zeit nicht, und darum kann es keine Analogie geben, das Jahr 1807 wiederholt sich nicht im Jahre 1945. Und auch nicht der schändliche Ehrgeiz eines Garnisonchefs, der sich für einen Gneisenau hält, häuft diese Schrecknisse auf uns; auch dieser Mann handelt auf Befehl. Es ist befohlen, dem Feind nur verbrannte Erde zu überlassen, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Konsequenz eines unmenschlichen Systems, dessen verbrecherischer Mechanismus die Welt zermalmen soll. Die preußische Tradition des unbedingten Gehorsams, oberste sittliche Doktrin eines ganzen Staatswesen, lässt die Frage nach der Berechtigung des Befehls nicht zu, mag auch sein Inhalt verbrecherisch sein. Der Befehl ist der Strick des Henkers, der nicht fragt, um wessen Hals die Schlinge gelegt wird. Aber kein Mensch, auch der mächtigste nicht, mag er sich General, König, Kaiser oder Führer nennen, kann den Untergebenen, auch nicht den Pseudo-Gneisenaus, die Verantwortung für ihr Tun abnehmen. Sie alle werden ihre Richter finden. Ich musste weiter, mich mit den geschwollenen Füßen gegen den Sand stemmen, mit der schmerzenden Schulter vom Scheunentor abdrücken. Ich hob den Blick zum Himmel, als ob es da jemand gäbe, der mir helfen konnte, aber der Himmel blieb grau und leer. Ein Flugzeug flog auf die Stadt zu, nicht einmal sehr hoch, unbehelligt. Unwillkürlich folgten ihm meine Augen. Es ließ Bomben fallen, vielleicht auf mein Haus. Mit dem letzten Rest Kraft spannte ich meine Muskeln an, um loszukommen von diesem Ort. Ich wollte nicht mehr an das denken, was mir bevorstand, suchte in meinen Erinnerungen, und mir kam in den Sinn, was ich längst vergessen glaubte. Mechanisch zerstampften meine Schritte den Weg, mahlten meine Schuhe den körnigen Sand. Ich kam vorwärts. Ich sah den Jungen in einem Kleidchen vor mir, rot, glaube ich, mit dunklen Streifen oder Karos, aber das ist vielleicht gleichgültig; er war noch keine zwei Jahre alt. Damals trugen alle kleinen Jungen der ärmeren Leute Kleidchen, das war einfacher, billiger. Sein Vater, Platzarbeiter bei der Kolberger Bau- und Holzfirma Wilhelm Soltkahn, hatte mir Buchenkloben und Kiefernreiser geschnitten; meine großen weißen Öfen verbrauchen viel Holz. Seine Mutter half damals über Wochenende in einer der großen Pensionen, da musste der Junge beim Vater bleiben. An diesem Tage sah ich wohl Harald das erste Mal, vorher war er mir nicht aufgefallen, aber er wird mir schon über den Weg gelaufen sein, die Leute wohnten drei Häuser weiter auf einem Innenhof. Er sah aus wie andere Jungen in dem Alter auch, wenn man ihn ansprach, lächelte er verlegen und verkroch sich hinter das Hosenbein seines Vaters. Wusste er sich wieder unbeobachtet, sammelte er lange, schmale Holzsplitter und legte sie aneinander zu wirren Ornamenten. Jahre später, er trug längst Hosen, aber sie reichten noch immer bis über die Knie, traf ich ihn dabei, wie er draußen, in der Nähe des Rennplatzes, jenseits der Kösliner Bahn, kleine Bildchen an die Lichtmasten und Zaunpfähle klebte. Er bemerkte mich nicht, und als er fort war, trat ich näher und sah, dass seine Bildchen, nicht viel größer als eine Briefmarke, einen Spruch, den ich längst vergessen habe, und das Gesicht Thälmanns zeigten. Ich hätte selbstverständlich zum nächsten Polizeirevier eilen oder die Zettel wenigstens abreißen müssen - ich ließ sie kleben. Als seine Mutter uns die Wäsche brachte, wollte ich sie warnen; es wäre doch unvernünftig, sich solcher Gefahr auszusetzen. Sie schüttelte den Kopf, ich müsste mich getäuscht haben. Vielleicht hatte ich wirklich einen anderen Jungen für Harald gehalten. Es war so diesig gewesen wie heute. Frau Bögeholt war in einer Wäscherei in der Neustadt als Austrägerin beschäftigt. Ich hatte mich sicher nicht getäuscht. Haralds Vater wurde gleich in den ersten Tagen des Krieges eingezogen und fiel kurz darauf. Die genaueren Umstände erfuhr ich erst später. Dabei hatte ich so etwas Ähnliches geahnt, ich kannte ihn ja. Wir hatten manchmal miteinander gestritten, zu einer Zeit, als man noch streiten durfte. Je trister die Zeit wurde, in der wir lebten, desto mehr wuchs mein Stolz, etwas getan zu haben für diesen Jungen, dessen Vater als politisch unzuverlässig galt. Ich behielt den Stolz für mich, ließ kaum meine Frau etwas davon spüren, nicht aus Misstrauen, beileibe nicht, sondern aus Vorsicht. Heute weiß ich, dass ich zu wenig getan habe, viel zu wenig. Vielleicht verliehen mir diese Gedanken, die mir durch den Kopf schossen wie Sonnenstrahlen durch den Morgennebel, die Kraft, mich weiterzuschleppen; sie schoben mich voran, dem ersten Haus der Vorstadt zu. Als ich den Garten erreichte, drückte die Last wieder. Alles war wieder da: der Schmerz, die Sorge um die Meinen, die Angst, auch hier keine Hilfe zu finden. Ich stemmte das Knie gegen den Zaun, verhielt, stieß hastig den Atem in mich hinein. Ich stand an einem gepflegten, einen halben Meter hohen Staketenzaun, sorgfältig geschnittene Hölzer in gleichen Abständen an die Querbäume genagelt und grün gestrichen. Nur an einer Stelle war der Zaun eingedrückt, lag der Pfosten umgebrochen, ein schweres Fahrzeug musste dagegengeprellt sein. Mit einem Fußstoß öffnete ich die Pforte, mit dem Ellenbogen drückte ich die Klinke der Haustür herunter. Ich trat in den leeren Flur, fand in der Küche niemand, niemand in der Stube. Ich ließ Harald auf das aufgeschlagene Bett gleiten, dessen Kissen noch die Abdrücke des Menschen aufwiesen, der darin geruht hatte. Aber das Bettzeug fühlte sich kalt an, die Schlafwärme war längst gewichen. Ich rief. Keine Antwort. Ich beugte mich zu Harald nieder, legte mein Ohr an seinen Mund. Er atmete, ganz flach nur, aber er atmete. Wir mussten weiter. Ein letztes. Mal wollte ich rufen, trat in den Flur hinaus, legte beide Hände an den Mund. Mein Ruf verhallte. Auch die nächsten Häuser standen leer, die Zäune waren eingedrückt, die Haustüren aufgestoßen, die Fenster zerschlagen. Die Ställe standen offen, die Pferde waren beschlagnahmt, Kühe und Schweine abgestochen. Auf einem Misthaufen scharrte gleichgültig ein Huhn. Endlich ein Haus mit Gardinen vor den Fenstern, dahinter ein Gesicht. Und doch stockte mein Fuß an der Tür. Ich konnte mich getäuscht, ein Lichtstrahl, der sich im Spiegel brach, konnte mich genarrt, ein Luftzug die Gardinen bewegt haben. Mit dem Ellenbogen drückte ich die Klinke nieder; die Tür sprang auf, ich stand im Hausflur. Der Besitzer dieses Anwesens hatte mir manchmal Dung in den Garten gefahren. Ich rief seinen Namen: „Kregel! Kregel!“ Niemand antwortete. Hatten sich fremde Menschen in dem verlassenen Haus einquartiert? Ein schmaler Lichtstreif fiel auf den Flur; die Stubentür stand einen Spalt offen. Ich trat ein, ließ Harald auf das Sofa sinken. Im Zimmer stand alles auf seinem Platz, die Schränke waren versperrt, die Schubladen geschlossen. Bilder hingen an der Wand, ein Schattenschnitt der Eltern, ein Hochzeitsfoto. Die beiden Porzellanengel mit dem Flittergold an den Flügeln standen Palm wedelnd auf dem Vertiko, zwischen ihnen die Fotografie eines jungen Mannes in dunklem Anzug, die linke obere Ecke von einem schwarzen Bändchen eingefasst: gefallen für Führer und Reich. So ein Bild ließ man nicht stehen, wenn man für lange, vielleicht für immer aus dem Hause ging. Ich klopfte auf die grüne Plüschlehne des Sofas, eine Staubwolke stieg gemächlich empor. Welch ein friedlicher Anblick! Die Kammertür gab meinem Druck zuerst nach und leistete dann Widerstand. Abgeschlossen war sie nicht, wer schließt schon die Türen innerhalb der Wohnung ab, wenn er die Haustür offen lässt? Ich schob mit der Schulter, ruckte an und brachte die Tür einen Spalt weit auf, in den ich die Schuhspitze stellen konnte. Drinnen fauchte eine Stimme: „Warum hast du nicht zugeriegelt?“ Ich nannte meinen Namen. Keine Antwort. Die Tür gab nach. Die Kammer war dunkel, die Fenster verhängt, die Läden geschlossen. Der Streifen Dämmerung, der aus der Stube hereinfiel, ließ erkennen, dass sich die beiden in die hinterste Ecke verkrochen hatten, wo sie zwischen Schrank und Bettlade, den Nachttisch vor sich geschoben, eng aneinandergedrängt hockten. „Wir gehen nicht fort. Wir bleiben.“ Ich versuchte ihnen begreiflich zu machen, dass ich sie nicht fortjagen, dass ich nichts weiter von ihnen wollte, als sie um Hilfe zu bitten. Aber sie verstanden mich nicht. Vielleicht drückte ich mich in der Eile nicht deutlich genug aus, vielleicht waren meine Worte vor dem Gejammer der Frau, vor dem Murren des Mannes wirklich nicht zu verstehen. Ich hörte immer nur: „Wir gehen nicht fort. Wir lassen uns nicht vertreiben. Das ist unser Haus, unser Hof!“ Dumpfe Wut stieg in mir auf. Unser Hof, unser Haus! Eine Fachwerkhütte mit Rohrputz verkleidet, der von Wind und Wetter zerbröckelt war. Moos auf dem Dach, und der Schornstein halb eingefallen. Stube, Kammer und Küche im Erdgeschoss, auf dem Boden Räucherkammer und Mansarde. Und die Wirtschaft? Ein Stall aus Lehmsteinen und ein Schuppen aus Schalbrettern, ein lahmes Pferd, eine Kuh und ein paar Morgen Queckenland. Sonntag wie Alltag Arbeit, dass sie nicht einmal Zeit fanden, das Schwarze unter den Fingernägeln hervorzukratzen. Das sind die Leute, die später einmal, in eine Gegend verschlagen, wo niemand etwas von ihnen weiß, erzählen werden, sie hätten ein vielräumiges Haus besessen, einen halben Palast, massiv, aus rotbraunen Klinkersteinen gemauert, mit einer Sandsteinfassade verkleidet. Und der Hof wächst in ihrer Erinnerung zu der Größe des Marktplatzes einer kleinen Stadt, und der Flugsand ihrer Äcker verwandelt sich in fette Schwarzerde. Ich hätte sie hinauszerren mögen, sie anbrüllen, ihnen sagen, dass vier, fünf Häuser weiter Pimpfe mit Brechstangen und Mauerhaken die Paläste der Kolberger Ackerbürger einrissen und daraus Panzersperren auftürmten und dass, wenn sie noch immer nicht von Haus und Hof lassen wollten, sie in längstens einer halben Stunde unter dem Schutt ihres Hauses begraben lägen. Ich weiß nicht, ob es etwas genutzt hätte; ich tat es nicht, bat nur um einen Handwagen. Ich hatte einen Verwundeten ins Lazarett zu bringen. Als sie begriffen, dass ich nicht gekommen war, sie aus ihrem Gehöft zu vertreiben, reckten sie die Fäuste. Der Mann richtete sich auf, rückte den Nachttisch beiseite und pflanzte sich mitten im Zimmer auf. Er schob die Arme vor, als wollte er mich wie einen Kartoffelsack packen und vor die Tür setzen. Und war doch ein alter Mann, älter als ich. Die Frau steckte den Kopf hinter dem breiten Rücken ihres Mannes hervor und keifte: „Nein, wir geben nichts her. Was haben wir nicht schon verloren: Hühner und Gänse, ein Schwein und ein Bullenkalb. Selbst den Hund haben sie umgebracht, so ein treues und kluges Tier, wie unser Bello war. Nein, wir haben genug geopfert, wir geben nichts her!“ An ihn musste ich mich halten, er ließ mit sich reden. „Können Sie nicht wenigstens mit anfassen? Zu zweit trägt es sich leichter. Zwei drei Häuser weiter, dann schaffe ich es schon.“ Kregel griff schon nach der Mütze, die über der Ecke des Kleiderschranks hing, aber die Alte hielt ihn am Ärmel fest, und der Mann ließ sich zurückhalten. „Geh nicht aus dem Haus! Trau ihm nicht! Wenn er dich erst draußen hat, lässt er dich nicht wieder fort. Er drückt dir ein Gewehr in die Hand und schickt dich zum Volkssturm. Du gehst nicht aus dem Haus, Mann!“ „Herr Kregel, ich habe einen Verwundeten bei mir; jede Minute, die wir zögern, kann sein Tod sein. Denken Sie an Ihren Sohn, Herr Kregel.“ „Nennen Sie nicht seinen Namen! Mein Sohn ist als Held gestorben. Hör nicht auf ihn, Vater!“ „Und dieser stirbt in Ihrem Haus, auf Ihrem Sofa.“ „Hinaus mit ihm auf die Straße! Soll er dort sterben! Alle sollen sie verrecken, alle! Warum haben sie nicht besser gekämpft! Warum haben sie die Russen ins Land gelassen ! Alle sollen sie verrecken!“ Ich lud Harald wieder auf die Schultern. Jetzt erst fiel mir auf, dass das alte Sofa, nein, das ganze Zimmer muffig roch, als wenn tagelang nicht gelüftet worden wäre. Ich wünschte fast, eine Bombe risse das mürbe Fachwerk auseinander, damit frische Luft einströmen könnte. Der Ackerbürger Kregel war kein schlechter Mensch. Als er noch Fuhren für mich besorgte, hatte er oft meine kleine Karla auf sein Pferd gehoben und sie sorgsam festgehalten, damit sie nicht herunterfallen konnte. Und noch im Kriege, als alles schon knapp war, brachte er manchmal eine Flasche Milch mit. „Von meiner Frau“, brummte er und winkte mürrisch ab, wenn man sich bedankte. Sie waren beide keine schlechten Menschen, und doch sagten sie heute: alle sollen verrecken! Wer ist schuld, dass diese Menschen und all die anderen so wurden, wie sie jetzt sind? Die Zeit, sagt Blissing, die unselige Zeit. Und wer hat die Zeit gemacht? Die Menschen, die unseligen Menschen. So sind sie denn geworden, wie Goebbels sie seit zwölf Jahren haben will: mit Eingeweiden aus Eisen und mit einem ehernen Herzen versehen, um alle Empfindsamkeit loszuwerden. - Das eherne Herz ist von Rost zerfressen, und im Mörser der Zeit wird das brüchige Erz zerstoßen zu Staub. Blissing zweifelt, aber ich glaube wie Clausewitz: wenn Menschen die menschliche Natur bei uns entadelt haben, so müssen auch Menschen sie wieder erheben können. Ein Motor heulte hinter mir auf. Ein Kübelwagen jagte stadteinwärts. Ich wollte winken. Womit? Wenn ich eine Hand losließ, glitt mir Harald von der Schulter. Mit dem Ellenbogen versuchte ich Zeichen zu geben, rief auch, als der Wagen nahe genug heran war. Meine Stimme ging unter im Lärm. Niemand achtete auf mich. Vor mir schleppten Jungen Bohlen, Bretter, Ackergeräte. Ich sah, wie sie sich gegen einen Staketenzaun warfen, ihn einstürzten, auf die Straße trugen. Barrikaden bauten sie, Panzersperren. Mit Rammböcken, Äxten und langen Feuerhaken, mittelalterlichen Hellebarden ähnlich, gingen sie Häuser und Ställe an, rissen sie Balken los, Ziegel und Feldsteine, die sie auf dem Damm aufeinandertürmten. Ein Uniformierter unterwies sie, Fachmann im Zerstören. Wollten sie die Vorstadt einreißen? Sollten diese Trümmerhaufen eine Armee aufhalten, die reißende Ströme, baumlose Ebenen, grundlose Sümpfe, Betonwerke, Sperrfeuer, Bombenteppiche und die lebenden Mauern der Soldaten überwand? Dieses Gerümpel? Während ich mich heranschleppte, hoffend, dass wenigstens einer oder zwei der Jungen von ihrem Zerstörungswerk abließen und mir halfen, ein Leben zu retten, fiel mir Nettelbecks Tagebuch ein. „Diesen Tag des Schreckens, vormittags um neun Uhr, gab der Oberst von Loucadou Befehl, die Lauenburger Vorstadt in Brand zu stecken und auf den Grund abbrennen zu lassen. Bei diesem Abbrennen wurde vonseiten des Militärs so grausam verfahren, so wie es sich von keinem grausamen Feinde selbst nicht denken ließ. Die Einwohner baten und winselten, um Gottes Willen sie nur eine Viertel- oder halbe Stunde mit dem Anstecken noch zu verschonen, dass sie doch noch ihre notwendigsten Sachen und Lebensmittel für Menschen und Vieh retten konnten. Aber nein! Es ist befohlen! Den armen Menschen wurde nicht so viel Zeit gelassen, dass sie ihr lebendes Vieh aus dem Brande retten konnten, welches zum Teil mitverbrannte. Dahero durch diese menschliche Unbesonnenheit über hundert Familien an den Bettelstab und in das größte Elend geraten sind.“ Ach, Alter, sähest du, was heute in deiner Stadt und in unserem Vaterland geschieht, du würdest Loucadou einen milden Mann nennen. Ich quälte mich bis zu den Jungen hin, rief zwei von ihnen mit Namen. Sie lehnten die Werkzeuge an die Mauerreste. „Bögeholt schwer verwundet?“ „Fasst mit an, Jungs! Er muss ins Lazarett.“ Sie sahen sich nach dem Soldaten um, der die Schränke inspizierte, bevor er sie auf die Straße schleppen ließ. Vielleicht hatte er Läuse und brauchte ein sauberes Hemd. Einer der Jungen, Manfred Obitz, Sohn eines Kaffeestubenbesitzers - ich entsinne mich, ein recht guter Schüler, der beste Zeichner der Klasse, aber schwach in Chemie -, hielt eine Panzerfaust in die Höhe. „Wir verteidigen Kolberg mit unserem Blut wie einst Schill, Gneisenau und Nettelbeck, das schwören wir. Bei uns kommt kein Russe durch.“ Ich hätte ihm sagen können, dass damals die Russen die Verbündeten Schills, Gneisenaus und Nettelbecks waren und dass vielleicht deshalb die Festung einem überlegenen Gegner widerstanden hatte. Sie hätten mich nicht verstanden. Sie fühlten sich als kühne Kavalleristen, die sich auf schnellen Pferden ins Kampfgetümmel warfen und mit Siegestrophäen beladen zurückkehrten. Sie haben Filme gesehen, lasen Bücher, singen Lieder vom Kämpfen und Sterben. Sie gieren nach dem Rausch des Sieges, das Sterben begreifen sie noch nicht. Selbst Harald hatte einmal in Karlas Poesie-Album geschrieben: Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen! Ich nahm ihm das Buch aus der Hand und fragte ihn: „Warum wollt ihr denn sterben?“ Er sagte verlegen: „Aber das wollen wir doch gar nicht.“ Ich gab ihm das Album zurück. Wortlos trennte er die Seite heraus. „Kommt, er ist euer Schulkamerad!“ Der Junge übergab seine Panzerfaust, krempelte die Ärmel hoch und fasste sich mit einem anderen Jungen im Kreuzgriff. Da stand plötzlich ihr Aufseher vor uns, ein Stabsgefreiter, wie ich jetzt sah, einer von den Typen, die ihre Wut über die entgangene Beförderung an Untergebene ausließen. „Was fällt euch ein, ihr Schnösels! Marsch an die Arbeit! Glaubt ihr, der Iwan wartet, bis eure Märchenstunde zu Ende ist?“ „Ich hatte die Jungen gebeten, mir zu helfen, diesen Verletzten ins Lazarett zu bringen.“ Er maß mich mit einem spöttischen Blick, wobei er seine Mütze ins Genick schob. Der Stahlhelm baumelte am Koppel. „Hier befehle ich! Wohl wieder einer, der sich drücken will. Das mag ich gerne. Werfen Sie den Kerl in den Straßengraben! Hier gibt es wichtigere Beschäftigung. Im Lazarett liegen sie übereinander wie die Gurken im Fass, da krepiert er auch nur.“ Die Jungen nahmen ihre Gerätschaften, setzten ihr Zerstörungswerk fort. Meine Last zurechtrückend, schleppte ich mich weiter. Manfred Obitz, der mir geholfen hätte, wenn es ihm nicht verboten worden wäre, rief mir nach: „Wenn er stirbt, Herr Scharrenberg, stirbt er als Held. Wir rächen ihn.“ Und er richtete die Panzerfaust dorthin, wo er den Feind vermutete. Ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Rächen, töten, sterben! Haben sie das bei mir gelernt, sie und die vielen anderen, die durch meine Klassen gingen? Und wie viele von ihnen mag der Krieg schon verschlungen haben? Wie viele sind noch da, bereit, zu töten und getötet zu werden? Dem Leben verloren. Habe ich sie ausgerüstet für ihr Leben? Ich lehrte sie Mathematik, und sie errechneten Kurven für todbringende Geschosse; ich lehrte sie Chemie, und sie erfanden vernichtende Gase; ich lehrte sie Physik, und sie werden mit ihrer Kenntnis die Welt zertrümmern; ich lehrte sie Geschichte, und sie haben ihren Sinn nicht begriffen. Das ist das Schlimmste! Ich habe nie das Wort vom härtenden Stahlbad des Krieges gebraucht und habe doch Krieger erzogen, Todesanbeter, Töter. Der Lehrplan schrieb vor, was gelehrt werden musste, könnte ich mich herausreden, aber diese Entschuldigung gilt nicht vor meinem Gewissen, nicht vor diesen Kindern, die in einen sinnlosen Tod gehen. Ich habe mich bemüht, meine Schüler die Liebe zum Leben zu lehren. Aber ich war ein Einzelner, und in den wenigen Stunden, die ich sie unterichtete, konnte ich sie nicht bewahren vor der zum Erziehungsziel proklamierten Unmenschlichkeit. Den ewig begeisterten Kämpfer sollten wir heranbilden, die germanische Elite, den Herrenmenschen, für den nichts gilt als der Befehl, dessen Persönlichkeit ausgelöscht und ersetzt ist durch die Autorität des Führers. Sie reißen auf Befehl Mauern ein und wissen nicht, wie viel Schweiß es kostet, neue aufzurichten; sie töten auf Befehl, und sie wissen nicht, dass sie morden; sie gehen auf Befehl in den Tod, und sie wissen nicht, dass sie gemordet werden von ihren Führern. Rächen, töten, sterben! Und Harald? Dachte auch er wie jene? Wenigstens einen von den vielen musste ich zu einem Menschen erzogen haben, zu einem Menschen, wie sie gebraucht werden, wenn wir dieses Inferno durchmessen haben. In Harald musste ich bestätigt sehen, dass mein Dasein einen Sinn, ein winziges Gamma Sinn besaß. *** Ende der Demo-Version, siehe auch http://www.ddrautoren.de/Zierke/Nettelbeck/nettelbeck.htm *** Heinz-Jürgen Zierke Geboren 8.7.1926 in Marienthal, Kreis Greifenhagen (Pommern), aufgewachsen und Volksschule in Wildenbruch/Pommern. Lehrerbildungsanstalt in Neisse und Patschkau (Oberschlesien), Arbeitsdienst, Wehrmacht, Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion. Vorstudienschule Greifswald, Studium der Germanistik (abgebrochen), Dramaturg an den Theatern Greifswald und Stralsund, Arbeit in verschiedenen Kulturverwaltungen, Chefdramaturg des Staatlichen Folkloreensembles der DDR. Seit 1967 freischaffender Schriftsteller. Heinz-Jürgen Zierke lebt seit 1969 in Stralsund. Bibliografie Das Gottesurteil, Roman, 1965 Sieben Rebellen, 1957 Sie nannten mich Nettelbeck, Roman, 1969 Eine Chance für Biggers, Roman, 1970 Nowgorodfahrer, Roman, 1973 Von einem, der auszog, Napoleon zu schlagen, 1975 Gänge durch eine alte Stadt, Riga, 1977 Karl XII. ,Roman, 1978 Eine livländische Weihnachtsgeschichte, Erzählungen, 1981 Ich war Ferdinand von Schill, Roman, 1983 Der Dänenschatz, 1988 Wibald der Mönch, Roman, 1987 Odins Schwert, 1990 Pommern grient,1997 Spuk auf Spyker, Erzählungen, 1998 Ana Regina vaziuoja i miesta, Novelle, 1998 Das Mädchen aus Vineta, Erzählung, 2000 Kinderhörspiele (vor 1990) Hensken Jana Der schwarze Stein Der Rebellenmajor u. a. E-Books von Heinz-Jürgen Zierke Das Gottesurteil Wirbelnde Hufschläge und raue Landsknechtsflüche hallen durch die Heide. Der Heidereiter Peter Schulze ist mit einer Axt hinterrücks erschlagen worden. Der Mordstahl gehört Kersten Pyper, dem Müller von Belling, dessen Braut der Amtshauptmann Valentin Barfuß gefangensetzt. Liebt Barbara einen Mörder? Wird sie ihr Kind in Unehren zur Welt bringen müssen? Die dramatische Befreiung des Mädchens lässt drei Frauen in den Verdacht geraten, Umgang mit dem Satan zu haben. Doch auch die Folterungen bringen kein Licht in die Mordtat. Kersten stellt sich schließlich dem herzoglichen Gericht, weil er die Frauen vor dem Scheiterhaufen retten will. Er wird verstrickt in das Ränkespiel habgieriger Patrizier und landesherrlicher Obrigkeiten. Ein „Gottesurteil“ entscheidet das Ringen um Recht und Gerechtigkeit — die Liebenden aber, Kersten Pyper und Barbara Dittmers, müssen fliehen: eine Hansestadt öffnet ihnen die Tore. Eine Chance für Biggers „Ich bin’s“, sagt Martin ganz unbefangen, als der alte Latotzki ihn fragt, ob er denn der Mann sei, der einen ganzen Betrieb auf den Kopf stellen könne. Der Alte hat sich neben ihn gesetzt, obwohl noch genug andere Plätze frei sind. Martin ist der Neuling in dem alten Bus, der über Land durch den Kiefernwald fährt. Er kennt Latotzki nicht und auch nicht das hübsche Mädchen Doris, das seine eigenen Absichten verfolgen wird. Er kennt hier niemanden, jedoch werden sie alle ihn kennenlernen. In seiner Aktentasche steckt mit dem Diplom der in den Umrissen vollendete Plan eines Umbaus: er will das alte, aber fehlerfrei funktionierende Werk automatisieren. Es ist sein Lebensplan. Er kennt das Leben noch nicht, wie es ist und sein soll. In seiner Tasche steckt aber auch noch ein Schnitzmesser, das er immer dann hervorholen wird, wenn er sich nicht zu helfen weiß. Mit dem Bären aus Pappelholz, der dabei entsteht, hat es seine besondere Bewandtnis. Nach Jahr und Tag wird Martin in seiner Kate Besuch bekommen. Der Werkleiter wird den Bären sehen, aber auch schon das Modell eines modernen Betriebes. Er ist nachdenklich geworden wie so mancher in diesem Werk hinter dem Walde. Eine livländische Weihnachtsgeschichte Riga im 16. Jahrhundert. Reformation, Gegenreformation. Die Auseinandersetzungen sind in vollem Gange. Da zieht am Weihnachtsabend ein Bauer aus seinem Dorf aus, um seine Tochter zurückzuholen. Er geht in die Stadt. Der Herr, sein Herr, hat es ihm geraten. Und er findet seine Tochter, aber anders als er es sich vorgestellt hat. Und er kann sie mitnehmen — unter einer Bedingung. Er geht darauf ein, und die Ereignisse schlagen wie die Wellen des Ozeans über seinem Kopf zusammen. Mühsam versucht er zu begreifen. Aber er bleibt Spielball der für ihn undurchschaubaren Kräfte. Auch Jürgen Wullenwever, gewählter Bürgermeister der Hansestadt Lübeck, ist nicht mehr freier Herr seiner Entscheidungen, jetzt, da er auf der Asseburg bei Wolfenbüttel als Gefangener seines Todfeindes einsitzt. Der Versuch, Verbindung zu Freunden aufzunehmen, scheitert. Die Begegnung mit seinem jungen Kerkermeister aber lässt ihn hoffen. Für sich, vor allem aber für seine Ideen. Ich war Ferdinand von Schill Preußen 1806. Die Schlacht bei Jena und Auerstedt ist geschlagen. In Magdeburg sammeln sich Versprengte. Das französische Heer rückt heran. Da macht ein Schneidergeselle - der Zufall ließ ihn an den Rock eines toten Leutnants geraten - sich auf und folgt beherzten Leuten, die nicht einfach kapitulieren wollen vor der Übermacht der Waffen. Und er, eben noch wandernder Handwerksbursche, nimmt die Rolle an, die ihm aufgedrängt wird: Er wird Ferdinand von Schill. In seinem Buch versucht Heinz-Jürgen Zierke — in der Erzählweise anknüpfend an seine erfolgreichen historischen Romane „ Nowgorodfahrer “ und „Karl XII.“ —, ein möglichst genaues historisches Bild der Zeit zu zeichnen und einen Schill vorzustellen, der sowohl Patriot ist als auch Mensch sein darf. Karl XII. Der Nordische Krieg. Auseinandersetzungen im Ostseeraum zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Polen, Lettland, dann Sachsen, Russland und die Türkei sind die Hauptschauplätze des turbulenten Geschehens um den schwedischen König Karl XII. Zar Peter I. ist sein historischer Gegenspieler. Poltawa bringt die Entscheidung: für Schweden und Russland, für das Kräfteverhältnis in Nord- und Osteuropa. Karl, der glänzende Siege erfocht, für sich, nicht für das hungernde Schweden, erhält in diesem Roman einen Doppelgänger: Sven Svensson, den Schreiber und Bauernsohn, der seinen König über alles liebt, der ihm bedingungslos dient. Der in des Königs Rock schlüpft und in seinem Namen agiert: der schönen Aurora zeigt er, was für ein Kerl dieser Karl ist, den Türken in Bender spielt er den klugen Herrscher vor. Er rettet den König aus mancher kritischen Situation - bis er nicht mehr kann. Bis er den Abgrund erlebt, der zwischen Ideal und Wirklichkeit klafft. Sven Svensson, die Volksgestalt, ist Heinz-Jürgen Zierkes literarisches Medium, Taten und Charakter eines absolutistischen Herrschers zu prüfen und zu werten und so ein nicht widerspruchsfreies, aber interessantes Bild einer im Untergang begriffenen Epoche zu entwerfen. Nowgorodfahrer Die Hansen im Kriege mit König Erich von Dänemark. Der Bote des mächtigen Lübeck will Stralsund bewegen, größere kriegerische Anstrengungen zu unternehmen, begegnet dort aber geheimen Vorbereitungen zu einem lukrativen Sonderfrieden. Der Bürgermeister wird Arnd Hidding, seinen Pflegesohn und Geschäftsführer, an den dänischen Hof entsenden, doch es wird Verrat und Brand geben. Vorerst ist Arnd aber noch im Peterhof, der deutschen Niederlassung in Nowgorod, er liebt die schöne Natalia, hat in dem Pelzhändler Bulgrin einen Freund gewonnen, vor allem will er seinen Lebensplan verwirklichen: er hat in Flandern Manufakturen gesehen ... 15. Jahrhundert, die dänische Residenz, das fremde Nowgorod, die Stadt Stralsund: von inneren Unruhen geschüttelt und regiert von einem Bürgermeister, der alles in allem ein Kaufmann ist. Odins Schwert Der junge Wikinger Ansgar muss die Ermordung seiner Eltern und den Raub seiner Schwester miterleben. Als er den Göttern geopfert werden soll, zerstört er im Tempel die Nachbildungen der Götter und flieht mit Odins Schwert. Er findet in Egil einen Blutsbruder und beide werden tollkühne Krieger, die von der Burg Vinborg aus zu Seeschlachten und Raubzügen aufbrechen. Odins Schwert scheint Asgar zu schützen, der es nicht durch Blut entweiht. Doch als er die Mörder seiner Eltern kennt, schwört er nur noch Rache und richtet in seinem Heimatort ein Blutbad an. Das blutige Schwert lässt er im Tempel zurück. Sie nannten mich Nettelbeck Der Lehrer Scharrenberg, genannt Nettelbeck, flüchtet mit dem letzten Dampfer aus dem von der Sowjetarmee abgeschlossenen Kolberg. Er muss fürchten, dass seine Familie in der Stadt umgekommen ist. Um sich abzulenken, erzählt er sich selbst die Geschichte der erfolgreichen Verteidigung im Jahre 1807. So ist er vor der apokalyptischen Gegenwart in die Vergangenheit geflohen. Aber immer wieder drängen sich die Erinnerungen an die letzten Stunden in der brennenden Stadt dazwischen, und er selbst glaubt sich in Nettelbeck und Gneisenau wiederzuerkennen. Sein Freund und Schüler Harald Bögeholt, den er verletzt aus der Frontlinie trug, nimmt die Züge des Barbiergehilfen Philipp Püttmann an, der seine Braut gegen einen Schillschen Offizier verteidigen musste, und dieses Mädchen erscheint ihm wie seine Tochter Karla. 1807, damals, wurde die Stadt durch einen rechtzeitigen Frieden gerettet. Scharrenberg, obwohl er weiß, dass die Geschichte nicht wiederholt wird, sucht darin Trost und Hoffnung. Und doch kann er der Gegenwart nicht entfliehen. Seine dreihundert Gefährten, Frauen, Kinder, Greise, verlangen von ihm eine Entscheidung, die unter konträren historischen Vorzeichen einst Nettelbeck abverlangt wurde. Sieben Rebellen An einem Morgen im Februar 1848. Hinrich Knubbe hebt die Peitsche. „Schlag zu!" befiehlt Herr von Negendangk. Aber Knubbe lässt die Peitsche sinken vor dem Bauern Krumbeck, dem Vater seiner Braut. Und der Herr hetzt ihn mit Hunden vom Hof. In der Stunde der Not findet Hinrich neue Freunde, Bauernsöhne, Tagelöhner, Bürger aus der Kreisstadt. Nur Krumbeck verschließt vor ihm das Tor. Der landstolze Kleinbauer will seine Tochter nicht dem Leibkutscher geben. Negendangk ruft Militär. Da bricht in Berlin die Revolution aus. Die Soldaten ziehen ab. Die Bauern veranlassen Krumbeck, seine Zustimmung zur Hochzeit zu geben. Kaum aber haben sich die Stürme der Revolution gelegt, erhalten Knubbe und seine Freunde im Dorf den Gestellungsbefehl. Jetzt vor der Ernte? Sie ziehen zum Landratsamt, um ihre Freistellung zu verlangen. Neugierige strömen ihnen zu. Die Behörden fürchten einen Aufstand und schicken nach den Kürassieren. Fünf Mann schlagen sich nach Berlin durch. Sie geraten in den Sturm auf das Zeughaus. Hinrich wird verwundet. Er will Preußen verlassen. Aber die Sehnsucht nach Gertrud und dem Kind, das sie erwartet, lässt ihn noch einmal die Heimat aufsuchen. Unerkannt gelangt er bis zu Krumbecks Gehöft. Aber der Bauer, aus Angst um seine Tochter, liefert ihn den Häschern aus. Spuk auf Spyker „Schritte, tapp tapp, tapp tapp. Nicht laut, aber deutlich vernehmbar, vierfüßig, wenn er sich nicht täuschte, und ganz in der Nähe, vielleicht hinter der Bohlenwand. Ein unverständliches Wispern begann, mal dumpf, mal glucksend, dann stöhnend, als würgte der Teufel seine Großmutter, und löste sich in einem verhaltenen Schrei …! Unheimlich, gespenstisch, Schauder erregend, aber nicht ohne Humor und Ironie geht es zu in diesen wundersamen Geschichten. Pommern und die Uckermark haben da allerhand zu bieten: Ein Teufel macht in der Gestalt eines hübschen Mädchens dem starken Geschlecht ganz schön zu schaffen, Ferdinand lässt sich von einem Männchen mit einem großen Hut helfen, eine Frau ohne Kopf erscheint und ein uralter, steingrauer Wels, dem Merkwürdiges widerfährt, taucht auf. Aber nicht nur in der Vergangenheit spukt es, auch die Gegenwart ist nicht frei von makabren Ereignissen, lässt uns Heinz-Jürgen Zierke wissen. Eine Äbtissin macht einem Dienstreisenden Angst, auf Schloß Spyker stören dunkle Gestalten eine Schulung, und schließlich geht es um viel Geld, einen Besenbinder und - um Spucke in einer Spuk- und Spuckgeschichte an einem nicht näher bezeichneten Ort. Manche Stadt und manches Dorf allerdings finden deutliche Erwähnung. Und so kann der geneigte Leser überprüfen, ob dergleichen Un-Heimlichkeiten auch heute noch stattfinden in: Stralsund, Tribsees, Voigdehagen, Rom, Lübz, Parchim, Abtshagen, Gornow, Wildenbruch, Jamund, Torgelow, Saal, Damgarten, Putgarten, Sagard, Arkona, Jatznick, Kölzow, Stolzenburg, Pasewalk, Greifenberg, Prenzlau, Woldegk, Neubrandenburg, Fürstenwerder, Ueckermünde und auf Schloß Spyker. Von einem, der auszog, Napoleon zu schlagen 1813. Der Befreiungskrieg gegen Napoleon bricht aus. Noch stehen die französischen Truppen in Deutschland. Willem Beggerow, ein pommerscher Bauernjunge, will seinen Vater rächen, der von streifenden "Musjes" erschossen wurde. Der Vater gibt ihm eine Tabakdose, die er von Scharnhorst erhalten hatte. Der General würde Willem eine Uniform und ein Gewehr geben. Doch der Gutsherr, Herr von Kerckow, will ihn nicht ziehen lassen. Willem flieht, schlägt einen Franzosen nieder, wird gefangen und soll erschossen werden. Das Mädchen Tine, dem Willem immer wieder begegnen wird, hilft ihm weiter. Mit einem Kosakentrupp erreicht er die preußischen Truppen, als eben eine schwere Schlacht tobt, in der Scharnhorst verwundet wird. Er kann Willem nicht helfen, übergibt ihn aber dem Generalmajor Gneisenau. Dem gefällt der kesse Junge, aber er gibt ihm keine Uniform und kein Gewehr; erst soll Willem lernen. Doch da kommt der Herr von Kerckow, der nun wieder seine alte Offiziersuniform trägt, ins Hauptquartier und will Willem, den Sohn seines Leibeigenen, als sein Eigentum zurückhaben. Doch der will seinen Vater mit der Waffe in der Hand rächen ... Wibald, der Mönch „Es war einmal“, so berichtet der Erzähler, und man spürt es förmlich, wie es ihn reizt, mit Geschichten zu fabulieren, „es war einmal vor langen, langen Zeiten, als Kaiser Rotbart lobesam noch nicht ins Heilige Land gezogen kam, da lebte in dem stillen Kloster St. Valentin im Moor ein junger Mönch bescheiden für sich, ganz dem Studium und der Vervielfältigung alter Schriften hingegeben ...“ Sein Name war Wibald, und er hätte so noch viele Jahre leben können, ohne Aufregung, ohne Ärger und allerdings wohl auch ohne die Liebe, der er bald begegnen sollte, wenn ihn nicht eines Tages das Gewissen geplagt hätte. Nicht etwa wegen seines ansonsten ja so frommen Lebens, da war alles ohne Fehl und Tadel, nein, er hatte sich mit Vater Conrad, dem Prior des Klosters, leider auf einen Handel eingelassen, und der schloss die Fälschung eines Briefes ein. Und Wibald schrieb, und während er schrieb, kamen immer mehr die Zweifel. War es richtig, solch ein Schreiben anzufertigen, das im Grunde Barbarossa diffamieren musste? Da flieht Wibald, der Mönch, um den Kaiser zu warnen, und auf vielen Irrwegen und verschlungenen Pfaden muss er wandeln, ehe er den Kaiser erreicht. Und unversehens sieht er sich in ein Intrigenspiel versetzt. Wird Friedrich Barbarossa ihm schließlich doch noch Glauben schenken? Es wird sich zeigen ... Es wird sich auch zeigen, wie es um Wibalds Liebe zu der schönen und faszinierenden Alda bestellt ist. Werden der entlaufene Mönch und das weithin bekannte Gauklermädchen vielleicht gar für immer zueinander finden? Wie auch immer, ein spannender Roman mit einem historischen Hintergrund - wobei mit der Historie durchaus gespielt wird.
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