F.A.Z. E-Paper: die F.A.Z. jetzt online lesen, auch für das iPad Seite 1 von 2 F.A.Z., Mittwoch den 15.04.2015 FRANKFURT 30 Das Jahr hat 8760 Stunden Ein Rollstuhlfahrer streitet mit dem Sozialamt um die Finanzierung seiner Rund-um-die-Uhr-Assistenten Harald Reutershahns Unternehmen muss laufen. Jede Woche, jeden Tag, jede Stunde. Für Betriebsferien bleibt keine Zeit, und wer für den Rollstuhlfahrer arbeiten will, sollte flexibel sein und bereit, jederzeit einzuspringen, wenn ein Kollege ausfällt. Die Reutershahn-Firma stellt nichts her und will nichts verkaufen. Ihr Geschäftsziel ist lediglich, den Chef am Leben zu halten und ihn daran teilhaben zu lassen. Aber was heißt „lediglich“? Reutershahns Gene funktionieren anders, als sie sollten. Weil sein Körper ein bestimmtes Protein nicht richtig verarbeiten kann, verwandeln sich seine Muskeln nach und nach in Fettzellen. Schritt für Schritt wird der Sechzigjährige schwächer. Schon seit 25 Jahren braucht er rund um die Uhr Unterstützung. Nach dem Aufwachen muss ihm jemand aus dem Bett helfen, er kann nicht allein zur Toilette gehen, mittlerweile ist er zu schwach, um die wenigen Zigaretten selbst zum Mund zu führen, die er raucht. Trotzdem will Reutershahn sein eigener Chef bleiben. Statt einen Pflegedienst zu beauftragen, organisiert er seine Assistenz selbst. Seine Mannschaft umfasst zehn Mitarbeiter, die sich die im Schnitt 730 Stunden jedes Monats aufteilen. Manche von ihnen arbeiten in Vollzeit, andere nur wenige Tage im Monat. Die Tagschicht dauert 16 Stunden, der Nachtdienst acht. „Und bisher ist keine einzige Schicht ausgefallen“, sagt Reutershahn. Doch er fürchtet, dass das nicht so bleibt. Es falle ihm immer schwerer, geeignete Assistenten zu finden. Er glaubt, dass das auch mit dem niedrigen Lohn zusammenhängt. 10,25 Euro bekommt jeder seiner Assistenten in der Stunde, Nacht- und Sonntagszuschläge gibt es nicht. In den vergangenen 25 Jahren habe es eine einzige Erhöhung gegeben, „um 17 Cent in der Stunde“. Einige seiner Angestellten hätten wegen dieser schleichenden Reallohnsenkung Zweit- und Drittjobs, um sich das Leben in Frankfurt leisten zu können. Ginge es nach Reutershahn, hätte sich das schon lange geändert, doch er hat das nicht zu http://www.faz.net/e-paper/?GETS=pcp;faz-net;pcc;epaper.navitab 15.04.2015 F.A.Z. E-Paper: die F.A.Z. jetzt online lesen, auch für das iPad Seite 2 von 2 entscheiden. Im Prinzip bestimmt das Sozialamt den Lohn, den Firmenchef Reutershahn zahlen kann. Denn die Stadt refinanziert seine Rund-um-die-Uhr-Assistenz. Vor gut zwei Jahren glaubte Reutershahn, einen Weg gefunden zu haben. Mit der Gewerkschaft Verdi schloss er einen Tarifvertrag für seine Mitarbeiter, schließlich hatte das Stadtparlament einen Beschluss zur Tariftreue gefasst. Manch ein sozialer Träger hat sich darauf berufen und bekommt nun dank neuer Leistungsvereinbarungen höhere Erstattungen. Reutershahn hingegen hat das Sozialamt die Mehrkosten nicht genehmigt. Die Sprecherin des Sozialdezernats sagt, die Stadt vertrete die Auffassung, dass Einzelpersonen kein Tarifvertragspartner sein könnten. Ergo dürfe das Sozialamt Reutershahns Tarifvertrag nicht refinanzieren. Würde es das tun, kämen spürbare Mehrkosten auf das Amt zu. Eigenen Angaben zufolge erhält Reutershahn derzeit jeden Monat gut 10 000 Euro von der Stadt. Würde sein Tarifvertrag wirksam, wären es etwa 18 000 Euro. „Das wären aber immer noch 7000 Euro weniger als bei einem Pflegedienst.“ Mit Tarifvertrag kämen seine Angestellten auf Stundenlöhne zwischen 13 und 15 Euro, sie erhielten eine Jahressonderleistung und Zuschläge für Nacht- und Sonntagsdienste. Gegen die Ablehnung der Stadt klagt Reutershahn nun vor dem Sozialgericht. Fälle wie den seinen hat die Frankfurter Behindertenarbeitsgemeinschaft im Sinn, wenn sie sich heute Abend trifft, um über die selbstorganisierte Pflege zu diskutieren. Mit am Tisch des Beratungsgremiums sitzt dann auch eine Vertreterin der Stadt. Assistenten müssten den gleichen Lohn erhalten, egal, ob sie für einen Dienstleister oder direkt für einem Pflegebedürftigen arbeiteten, sagt Sandra Auth vom Netzwerk der Sozialen Arbeit, das sich seit Jahren für Tariflöhne einsetzt und heute Abend dafür demonstrieren möchte. Die Stadt hat das Thema durchaus registriert. Selbst wenn Reutershahn seinen Prozess verlieren sollte, darf er auf eine Erhöhung seiner Erstattung hoffen, wenn auch in unklarer Höhe. Das Sozialamt prüfe zurzeit, ob die Stundenlöhne in der selbstorganisierten Pflege generell noch angemessen seien, sagt die Sprecherin. Noch im Sommer könnte es eine Entscheidung geben. pach. http://www.faz.net/e-paper/?GETS=pcp;faz-net;pcc;epaper.navitab 15.04.2015
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