Predigt

Gottesdienst am 24. April 2015 in der Kirchengemeinde Zur Heimat ,
Berlin-Zehlendorf
Superintendent Johannes Krug
Gnade sei mit Euch und Frieden von Gott, unserem Vater. Dem, der da ist,
der da war und der da kommt. Amen.
Der 24. April 1945 war ein Dienstag. Nicht wirklich warm war der Tag, so
zwischen 5 und 11 Grad, und die Sonne hatte sich versteckt. An diesem Tag
endete der Zweite Weltkrieg in Zehlendorf, die Rote Armee hatte von
Süden her den Teltowkanal überquert.
Ja doch, es war ein „Tag der Befreiung“, diese Klarstellung haben wir dem
verstorbenen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985 zu
verdanken. Doch in der Rückschau ist es immer leichter, klar zu sehen. In
den Köpfen und Herzen der Menschen damals wird eine aufgewühlte
Mischung von Gefühlen und Gedanken gewesen sein: oft nur zu berechtigte
Angst vor dem, was mit den Soldaten der Roten Armee auf sie zukommt.
Aufatmen, dass dieser unselige Krieg endlich ein Ende hat. Etwas zwischen
Bangen, Beten und Hoffen, und über allem die große Ungewissheit, wie das
Leben weitergeht nach dem Ende der Naziherrschaft.
An all‘ das erinnern wir uns an diesem Abend. Unser Erinnern hat einen
tieferen Grund und ein höheres Ziel.
Der tiefere Grund allen Erinnerns hat mit unserem christlichen Glauben zu
tun. Wir erinnern uns, weil wir vertrauen, dass wir heute Lebenden
verbunden bleiben mit den Toten von damals. Die Vielen, die im Krieg und
gerade in seiner letzten Phase, gerade den letzten Wochen und Tagen des
Krieges ihr Leben verloren – sie sind für uns Christen nicht vom Krieg
verschluckt und unwiderruflich verloren. Sie haben ihren Platz bei dem
Gott, von dem wir kommen und auf den wir hinleben. Darum können,
wollen und dürfen wir die nicht vergessen, die vor uns waren. Gott hält uns,
die Lebenden und die Toten, miteinander verbunden. Und beim Abendmahl
sitzen wir miteinander an einem Tisch: die Gegenwart des auferstandenen
Christus in Brot und Wein „verbindet die konkrete versammelte Gemeinde
mit einer unübersehbaren Vielzahl der das Abendmahl feiernden
christlichen Gemeinden in der christlichen Kirche der Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft.“ (M.Welker, Gottes Offenbarung, 276). So oft wir
Brot und Wein teilen, sind die, die vor uns waren, mitten unter uns. In
unserem christlichen Glauben und genauso in unserem Erinnern heute liegt
darum auch etwas Widerständiges: Wir widersprechen nachdrücklich
denen, die damals Leben auslöschen wollten. Wir bestreiten, dass der Tod
in der Lage ist, uns die Toten zu nehmen. Wer vergisst, bestätigt den Tod,
Wer sich erinnert, widerspricht ihm.
Und unser Erinnern hat ein höheres Ziel. Vor einigen Monaten ergab es
sich, dass ich einige Zeit verbracht habe auf dem großen Soldatenfriedhof
einer Stadt, die bis 1962 den Namen Stalingrad trug. Inmitten der Steppe
ruhen hier die Gebeine einer unvorstellbaren Zahl von russischen und
deutschen Soldaten. Eine Inschrift ist dort zu finden, auf ihr steht: „In
harten, schrecklichen Stunden sind wir gefallen. Uns war nicht die
Möglichkeit gegeben, in dieser Welt zu leben. Lebende, denkt an uns und
sorgt dafür, dass ewiger Friede wird auf dieser Erde“.
Das Ziel unseres Erinnerns hat 7 Buchstaben: Frieden. Damit ist, biblisch
verstanden, etwas sehr dynamisches gemeint: ein Miteinander ohne Opfer,
ein heil-, ein unversehrt-Sein von menschlichen Beziehungen, ja von der
ganzen Schöpfung. Frieden „haben“ wir nicht, Frieden kann nur „werden“.
Mit unserem Verhalten fördern oder verspielen wir ihn, den Frieden. Wenn
es um Frieden geht, geht es um uns. Ohne uns, ohne unsere Kraft, unseren
Mut und Willen kann kein Frieden unter uns werden. Schon das Bewahren,
Halten und Pflegen kann ganz schön anstrengend sein. Erst recht kostet es
Kraft und Mut, Frieden zu versuchen, zu riskieren, an ihm zu arbeiten.
In unserem Land haben wir ja schon einiges gelernt aus dem Krieg, Gott sei
Dank. In unseren Kitas, Schulen und Universitäten beispielsweise ist das
Befehlen und Gehorchen so sehr auf dem Rückzug, dass man hin und
wieder feststellen muss, dass auch ein permanentes demokratisches
Aushandeln ganz schön anstrengend sein kann. Befehl und Gehorsam sind
auf dem Rückzug, doch sind sie noch weit davon entfernt zu kapitulieren.
Wo immer Menschen beisammen sind, wagen sie sich aus der Deckung.
Nur sind Befehl und Gehorsam subtiler geworden, scheint es. Das macht sie
nur umso gefährlicher. Den Kasernenton hört man heute nur noch selten,
doch die Lust an Machtspielchen ist ungebrochen. Und über zu viel
„blinden Gehorsam“ damals kann sich nur der erheben, der übersieht, wo
wir heute blind den Trends, modernen Tabus oder auch nur vermeintlichen
Sachzwängen folgen. Befehl und Gehorsam tarnen sich geschickter. Wenn
man nicht genau hinschaut, könnte man fast übersehen, dass noch oder
wieder eine Menge Führerlust und Untertanengeist zu finden ist bei uns, ja:
in uns.
Wenn Erinnern Frieden will und Frieden unser Handeln braucht, dann ist
das heute ein guter Abend, uns selbst in den Spiegel anzuschauen. Wo
beteilige ich mich an Machtspielchen, bei dem der Zweck nur mühsam
bemäntelt, dass es mir letztlich nur um mich geht? Und welchen
vermeintlichen Sachzwängen, Redeverboten, welchen getarnten oder
offenen Machtansprüchen leiste ich willig gehorsam? Damals wurde
Deutschland befreit – unser Erinnern kommt dann an sein Ziel, wenn es uns
dazu führt, uns wieder und wieder selbst zu befreien von der Lust,
selbstherrlich zu herrschen oder feige zu gehorchen.
Für uns Christen bedeutet das, dass wir es Gott überlassen, allmächtig und
göttlich zu sein und uns endlich darauf besinnen, menschlich zu werden.
Und es bedeutet, dass wir uns an diesem Tag für alle Tage im Jahr auf den
Grundsatz besinnen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“
(Apostelgeschichte 5,29). Nur dann kann Frieden werden.
Man kann es mit den Worten Kurt Martis auch so zusammenfassen:
„Liebe Gemeinde, wir befehlen zu viel. Wir gehorchen zu viel. Wir leben zu
wenig.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als all‘ unsere Vernunft, der bewahre
unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen