Joachim Harms Vom Schrecken des Reichtums Roman Diese Geschichte ist Franz Honiok gewidmet. Dem, der voranging als der Erste und dem Millionen folgten, in das sinnlose Gemetzel des zweiten Weltkrieges. Ihm, dem Wanderer zwischen Polen und Deutschland, soll zuallererst gedacht sein. Vor zehn Jahren hat sich meine Mutter erhängt, vorgestern mein Vater, und gerade eben habe ich bestätigt bekommen, dass ich mehrere Millionen in der Lotterie gewonnen habe. I ch sitze in der Küche meines Vaters und habe Herzrasen, feuchte Hände und kann nicht mehr denken. Bilder schießen durch meinen Kopf. Ich sehe meinen Vater, vom Krebs gezeichnet, zerfressen. Meine nach dem Erbteil geifernde Schwester. Einen Koffer voller Geld, Strände, Autos, meinen kleinwüchsigen, viel zu dicken Chef, und wieder Geld, Geld, Geld … Am nächsten Morgen bleibe ich liegen. Ich fühle mich wie gerädert. Gar nicht wie ein Lottokönig. Die Sekretärin meines Chefs hatte ich bereits dreimal weggedrückt, jetzt nehme ich das Gespräch an und melde mich krank. Das kann ich jetzt tun. Ich bin der Lottokönig. Ich bin reich und frei. Ich sitze beim Nachmittagskaffee, da fährt meine Schwester vor. Sie steigt aus. Ich beobachte sie durch das Küchenfenster. Schlecht sieht sie aus. Alt und schlecht. Sie wird doch wohl nicht auch krank sein wie mein Vater? Nein sie ist nicht krank, körperlich zumindest. Seelisch schon eher. Es sind der Geiz und der Neid, die sie zerfressen. Wie sie mir so gegenüber sitzt, ist es mit meinem Mitleid vorbei. Ob ich nun schon wüsste, wie viel Geld Papa noch besessen hat, will sie von mir wissen. Ich weiß es nicht. Schließlich ist er erst seit zwei Tagen tot. Und es geschah, wie bei einem Selbstmord üblich, recht überraschend. Mein Einwand, dass er noch nicht mal unter der Erde und es zu früh sei, seine Hinterlassenschaften aufzuteilen, interessiert sie 11 nicht. Entschlossen sitzt sie da, mit schmalem, verkniffenem Mund. Schließlich holt sie einen Zettel aus der Tasche. Fein säuberlich hat sie aufgelistet, was sie alles aus dem Haushalt meines Vaters verlangt. Weil es ihr zustünde! Ich nehme den Zettel an mich, überfliege ihn und denke nur, was sie doch für eine Schlange ist. Seit dem Tode meiner Mutter hat sie meinem Vater systematisch die Wohnung ausgeräumt und alles mitgenommen, was ein alter Mann ihrer Meinung nach sowieso nicht mehr braucht. Manchmal schritt ich ein, wenn ich zufällig dabei war. Mein Vater war in solchen Situationen immer hilflos wie ein kleines Kind. Erst wenn ich richtig sauer wurde, rückte sie von ihren Vorhaben ab. Aber oft war ich eben nicht dabei. Dann musste ich auf Bitten meines Vaters zu ihr fahren, um die ›geschenkten‹ Dinge wiederzuholen. Manches Mal habe ich auch, wenn ich bei ihr zu Besuch war, Dinge aus dem Haushalt meines Vaters bei ihr vorgefunden, die er selbst noch gar nicht vermisst hatte. »Das hat er mir geschenkt, kann er sowieso nicht mehr gebrauchen«, pflegte sie dann ein ums andere Mal zu sagen. Auf dem Zettel stehen Gegenstände, an denen ich kein Interesse habe. Brav erkläre ich ihr, mir alles genau anzuschauen und die Dinge bereit zu legen. Sie kann in ihrem Blick den Triumph nicht unterdrücken und hat sich wieder mal verraten. Ich beschließe, sie nie wiederzusehen. 12 Inhalt Teil 1 Deutschland Was ist das Problem Co to jest problemem Polsko pozdrawiam cię Polen, ich grüße dich 15 15 38 38 117 117 Teil 2 Die Reise 143 143 Nachruf 167 Impressum 168 Leseempfehlung ... 169 Leseempfehlung ... 171 Leseempfehlung ... 173 13 Teil 1 Deutschland S o hatte alles angefangen. Das ist nun neun Jahre her. Damals hab ich zuallererst meinen Job gekündigt. Das war mir ein inneres Bedürfnis. Mittlerweile habe ich mich an das viele Geld gewöhnt. An das Geld und die Zecken. Ich musste das Dorf, in dem ich lebte, verlassen. Es war unerträglich, plötzlich so viele Freunde zu haben. Menschen, die mir früher nicht einmal über die Straße geholfen hätten, standen plötzlich ganz vertraut neben mir und klopften mir anerkennend auf die Schulter. Zecken halt. Ich zog also in die Stadt. Jetzt genieße ich in Hamburg die Anonymität einer Großstadt. Das Telefon klingelt. Fred ist dran: »Heute Abend, nicht vergessen. Die Bräute vom Skiurlaub in Österreich sind auch da.« »Oh nee, ich komm nicht. Ich bin noch kaputt von letzter Nacht. Außerdem wollte Andrea nachher noch vorbei schauen.« »Mensch Kurt, mach keinen Scheiß. Die Frauen sind extra aus Berlin gekommen. Du weißt, Dieter gibt am Wochenende die Party, und wenn wir die Mädels heute enttäuschen, sind sie bis dahin vielleicht wieder weg. Andrea machst du einen Zettel an die Tür. Los, nur mal 15 vorbei schauen!« Ich überlegte kurz. »Okay, überredet, aber ich brauche noch eine Stunde.« Genau eine Stunde später bin ich in meinem Lieblingsladen, auf dem Kiez. Pünktlich auf die Minute. Hier habe ich meinen Parkplatz direkt vor der Tür. Ich habe meinen angestammten Tisch und einen Deckel. Ab und zu bringt man mir meinen Wagen nach Hause. Das kostet zwar extra und ich weiß auch, dass der eine oder andere die Gelegenheit nutzt, um mit ihm ein kurzes Stück über die Autobahn zu fegen. Aber das geht schon in Ordnung. Im Grunde kann ich mich auf Freddy verlassen. Er würde niemals einen Idioten mit meinem Wagen losschicken. Der Laden ist, wie fast jeden Abend, brechend voll. Oben auf der Galerie, an unserem Tisch, erkenne ich Fred mit den Frauen. Auf durch die Massen! Hinter der Theke sehe ich Freddy. Er sieht zufrieden aus. Wie immer, wenn der Laden gut läuft. Man sagt, dass er irgendwo ›Frauen laufen‹ hat. Von dem Geld soll er den Laden aufgebaut haben. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Ist auch egal. Plötzlich steht Fred neben mir. »Ich dachte schon, du kommst nicht«, schreit er gegen den Lärm an. »Wieso? Eine Stunde war abgemacht.« Wir gehen zu den Frauen hoch. Sie sehen wirklich gut aus. Dieter hat sie hier angeschleppt. Dieter und ich haben, was Frauen angeht, den gleichen Geschmack. Dieter stellt sie uns vor. Das macht er so geschickt, dass Fred und ich sofort merken, dass er sich bereits eine – Ursula 16 heißt sie – für sich selbst ausgeguckt hat. Wir haben also unsere Finger von ihr zu lassen. Sie sieht natürlich am besten aus. Später erfahre ich, dass sie bei der Lufthansa arbeitet und als Einzige nicht verheiratet ist. Fred ist ein leidenschaftlicher Tänzer und auch ziemlich schnell mit einer der anderen verschwunden. Jene, welche nun mehr oder weniger für mich übrig bleibt, ist eigentlich nicht mein Fall. Sie ist mir zu dünn und redet unaufhörlich. Außerdem ist sie sehr stark geschminkt. So stark, dass es bei diesem Licht fast schon klebrig wirkt. Ich muss an meine Mutter denken. Sie war eine einfache Frau. Nie geschminkt. Mir schmerzt das Herz. Die Frau redet von ihrem Mann und den Kindern. Sie erzählt irgendwas von einer Tagung und dass sie mit ihren Freundinnen mitgefahren ist. Ich weiß nicht, ob es am Lärm liegt, oder ob ich einfach keine Lust zum Zuhören habe. Jedenfalls verstehe ich nicht, was sie mir eigentlich sagen will. Vielleicht will sie ja auch gar nichts sagen. Vielleicht ist sie ja glücklich, wenn sie sich reden hört. Dann weiß sie, dass sie nicht tot ist. Das ist gut für sie. Plötzlich bereue ich, dass ich Andrea nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen habe. Ich stehe auf, um in Freddys Büro zu gehen. Meine Tischnachbarin lässt sich davon nicht stören; sie hört einfach nicht auf zu reden. Im Büro wähle ich Andreas Nummer. Sie geht nicht ran. Widerwillig spreche ich auf den Anrufbeantworter. Sie soll sich melden, sage ich, und gehe wieder zu meinem Tisch zurück. Dieter amüsiert sich. Fred amüsiert sich. Schließlich sa17 ge ich zu der Quasselstrippe neben mir: »Sag mal, wollen wir nicht irgendwohin fahren, wo es etwas ruhiger ist?« Sie ist plötzlich still und schaut mich an, so als wüsste sie nicht, warum sie in Hamburg ist. In einem Laden wie diesem. Ich weiß nun, dass es genauso kompliziert werden würde, wie ich es geahnt habe. »Okay«, sagt sie da überraschend. »Aber was ist mit den anderen?« »Das wird sich morgen früh finden. Ich weiß, wo Fred wohnt, ich weiß, wo Dieter wohnt. Und außerdem könnt ihr euch ja auch im Hotel treffen. Wo ist das Problem?« Sie kann nicht verbergen, dass sie sich das irgendwie ganz anders vorgestellt hatte. Nun überlegt sie und rutscht nervös auf ihrem Stuhl umher. »Okay, ich sag nur eben Bescheid.« Was bin ich bloß für ein Blödmann! Dass ich nicht auf Andrea gewartet habe. Wir gehen nach draußen. Es ist eine warme Sommernacht. Die Straße ist voll von Menschen. An meinem Porsche stehen einige Punker. Einer sitzt sogar auf der Haube. Ich gehe zurück zu den Türstehern und gebe ihnen fünfzig Euro. »Vertreibt das Pack von meinem Auto«, sage ich zu ihnen. Sie gehen rüber. Es wird etwas laut. Der auf der Haube bekommt eine gelangt. Breit grinsend kommen sie zurück. »Zufrieden?« Ich nicke. Wir steigen in den Wagen und ich öffne das Verdeck. Leise summt der Motor dazu. Ich liebe dieses Geräusch. Ich schaue mir die Punker an. Einige hundert Meter weiter haben sie sich erneut niedergelassen und schnorren jetzt Passanten an. Ich überlege, was 18 als Nächstes zu tun ist. Da ich keine Lust habe, meine Zeit zu verschwenden, beschließe ich, ganz direkt zu sein. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt zu mir fahren und eine Nummer schieben? Anschließend können wir was Essen gehen oder wir bleiben liegen und schauen uns den Sonnenaufgang an. Ich habe von meinem Schlafzimmer aus ein astreines Panorama mit Blick über die Elbe.« Ich schaue sie von der Seite an und freue mich über meine Klugheit. Keine Zeitverschwendung. Sie schaut mich giftig an: »Meinst du, dass ich eines deiner billigen Flittchen bin? Du meinst wohl, dass du unwiderstehlich bist, du mit deiner Kohle? Du denkst wohl, du schnippst mit den Fingern und ich mache die Beine breit? Da hast du dich getäuscht!« Sie ist richtig sauer geworden. Ich versuche ein Lachen, obwohl ich vor Wut koche. Dieses blöde Miststück. So was habe ich mir schon gedacht. Ich greife rüber zur Beifahrertür und öffne sie. »Raus, ganz schnell raus!« Sie steigt aus und geht wieder Richtung Bar. »Und störe deine Schwestern nicht beim Vögeln, wenn du da wieder angewackelt kommst«, schrei ich ihr hinterher. Sie zeigt mir den Finger, den kein Mann von einer Frau sehen will und sie dreht sich dabei nicht mal um. Ich knalle die Beifahrertür zu. Ich hab es doch gewusst, verdammter Mist! Ich lasse den Wagen an. Der Motor jault auf und mit quietschenden Reifen schieße ich aus der Parklücke. An der nächsten Tankstelle kaufe ich eine Flasche Sekt. Dann fahre ich zu Andreas Wohnung. Gott sei Dank, es brennt noch Licht. Ich schelle. Keine Reaktion. Es wird schon langsam 19 hell. Die ersten Vögel zwitschern. Ich drücke noch einmal auf die Klingel, und zur Sicherheit lasse ich meinen Finger einfach darauf liegen. Dauerton. Die Gegensprechanlage knackt. »Kurt? Sag nicht, dass du das bist.« »Doch, mach auf.« »Nein.« »Nun mach schon auf!« »Nein, es geht nicht, weil ich Kundschaft habe. Ich kann jetzt wirklich nicht. Komm morgen wieder.« »Schick ihn weg, ich bezahl auch. Meinetwegen das Doppelte.« »Sag mal, du bist wohl komplett verrückt geworden. Du hättest vorhin nur zu Hause sein müssen. Ich habe eine halbe Stunde vor deiner Tür gestanden. Jetzt tauchst du hier auf und meinst, ich müsste springen, oder was?« »Okay, dann warte ich eben, bis ihr fertig seid. Reg dich wieder ab.« »Da kannst du lange warten. Er hat für die ganze Nacht bezahlt. Wenn du willst, komm morgen wieder.« »Mensch Andrea, ich brauche dich. Jetzt, als Freund! Ich bin fertig. Ich muss mit dir reden. Verstehst du das?« »Meinst du, ich mach das hier zum Vergnügen? Das ist mein Job. Vorhin hab ich gewartet, jetzt wartest du. Und nun zisch ab, du kannst morgen wiederkommen.« Die Gegensprechanlage knackt. »Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Voller Zorn werfe ich die Sektflasche gegen die Hauswand, wo sie mit einem lauten Knall zerplatzt. Ich steige in mein Auto. Jemand öffnet ein Fenster und ruft etwas. Ich hupe. Der 20 Mann schreit nun. Ich hupe wieder. Diesmal länger. Mehr Lichter gehen an. Ich lege den ersten Gang ein und fahre dann hupend und langsam die enge Einbahnstraße entlang. Obwohl ich eigentlich wütend bin, muss ich doch lachen. Jetzt ist es schon hell. Vereinzelt torkeln Betrunkene durch die Straßen. Müllwagen und Busse sind unterwegs. Ich muss an die Tante aus Berlin denken. Wo die jetzt wohl ist? Bestimmt allein in einem Hotelbett. Oder sabbelnd neben einem Betrunkenen, in einer Bar. Oder heulend, doch noch mit einem Fremden im Bett, mit verschmierter Schminke im Gesicht. Gut, dass mir das erspart geblieben ist. Ich bin zufrieden. Ich lasse meinen Blick über das Armaturenbrett schweifen. Umfasse das Lenkrad fester. Geile Karre! An einer Ampel halte ich neben einem BMW. Ich schaue rüber. Der Fahrer schaut stur geradeaus. Ich spiele mit dem Gas, und der Motor heult infernalisch auf. Jetzt schaut er doch. Die legen sich wirklich mit jedem an, denke ich noch, als er schon bei Gelb losschießt. Ich lasse ihn. Das ist mir dann doch zu blöd. Dann fahre ich auf die Autobahn Richtung Flensburg, um Ausschau zu halten. LKWs, Familienkutschen, Wohnmobile, hin und wieder ein Motorrad. Nichts dabei. Doch dann sehe ich ihn. Zwischen zwei bunt beleuchteten LKW. Ein fünfhunderter Benz. Tiefer und breiter, dunkle Scheiben. So mag ich das. Ich fahre neben ihm. Vorne sitzen zwei junge Typen. Dänisches Kennzeichen, also bestimmt keine Bullen. Doch scheinbar haben sie keine Lust auf ein Rennen. Auf meine Versuche, sie zu animieren, rea21 gieren sie nicht. Eine ganze Weile fahre ich hinter ihnen her. Plötzlich beschleunigen sie wie die Verrückten. Geht doch! Ich trete das Gaspedal voll durch und werde in den Sitz gedrückt. Ich will gerade auch nach links rüber, da schert die Familienkutsche vor mir auch aus. Der Benz ist weg. Ich fahre rüber nach rechts auf den Standstreifen und jage an ein paar LKWs und Autos vorbei. Zwecklos, der Abstand ist zu groß. Das würde mir zu lange dauern. Schade! Ich fahre die nächste Ausfahrt wieder runter. Als ich endlich in meinem Bett liege, ist der Tag schon angebrochen. Straßenlärm dringt von draußen herauf und es wird sehr warm. Ich kann nicht schlafen. Da fällt mir wieder diese Frau ein. Warum die wohl nicht wollte? Ich weiß nicht mal ihren Namen. Entweder hat sie ihn nicht gesagt oder ich habe genau in dem Moment nicht zugehört. Eigentlich weiß ich nichts, ich habe überhaupt nicht zugehört. Ich habe eh keine Lust mehr auf diese endlosen Nächte in irgendeiner Bar. Dann ständig diese fremden Frauen. Immer das Gleiche, erst ein bisschen Anstandsgequatsche und schließlich landet man in irgendeinem Bett. Mal macht es Spaß, und mal nicht. Da fällt mir wieder Andrea ein. Sie fehlt mir. Es müsste eine Frau geben, die immer an meiner Seite ist. Einfach immer da. Soll ich heiraten? Schließlich bin ich schon vierundfünfzig. Es kann ja nicht immer so weitergehen. Vielleicht sollte ich tatsächlich heiraten. Ehrlich! Dann schlafe ich endlich ein. Nach ein paar Stunden Schlaf bin ich wieder munter 22 und rufe Andrea an. Sie ist nicht zu Hause. Nun rufe ich bei Fred an. Er hat keine Zeit, aber wir verabreden uns für den Abend. Schließlich vertrödele ich den Rest des Tages. Die ganze Zeit geht mir die Sache mit der Heirat nicht aus dem Kopf. Plötzlich ist diese Idee da! Sie gibt meinem Leben eine ganz neue Perspektive. Abends fahre ich zu Fred. Er ist allein zu Haus und sieht genervt aus. »Was ist los?« »Hör bloß auf. Mein Bruder war mit seiner Frau und den beiden Kindern da. Ich bin total gestresst. Überall haben diese Hosenscheißer ihre Finger dran. Ständig muss man hinter denen her rennen und aufpassen, dass die keinen Mist machen. Und dann dieser Lärm. Keinen Satz kannst du zu Ende sprechen. Ich weiß nicht, wie mein Bruder das aushält.« Er geht in die Küche und kommt mit einem Glas Milch in der Hand zurück. Er bleibt im Türrahmen stehen und betrachtet seinen Teppich. Wahrscheinlich prüft er, ob die Kinder Spuren auf ihm hinterlassen haben. »Willst du auch was trinken?« »Nein danke, lass mal.« Fred setzt sich hin und betrachtet die Milch in seinem Glas. »Wo ist die Frau von gestern Abend?«, will ich wissen. Fred schaut mich erstaunt an. »Ich dachte, die sind bei dir. Ihr seid doch irgendwann raus, und dann war auf einmal die andere auch weg. Ich habe später nur noch Dieter mit seiner gesehen.« Ich sage nichts dazu. Fred 23 betrachtet wieder seine Milch. »Ich glaube«, sagt er plötzlich, »wenn die nicht bei dir waren, dann können wir die vergessen. Die sehen wir bestimmt nicht wieder.« »Scheißegal«, sage ich, stehe auf und gehe zum Fenster rüber. Draußen steht ein großer Baum mit einer mächtigen Krone. Direkt vor dem Haus. Blätter aus sattem Grün. Ein Schwarm Spatzen balgt in ihm umher. Mit lautem Gezwitscher und Gezeter. »Gut, dass ich nicht so einen Baum vor meinem Fenster habe«, sagte ich. »Dieser Lärm von den Viechern. Da ist mir der Krach einer Straße doch lieber. Der macht Sinn, da sind Menschen unterwegs, Menschen, die etwas erledigen wollen. Was auch immer. Nicht so was hier.« Ich drehe mich um. Fred starrt noch immer in die Milch. Hoffentlich verliert er nicht den Verstand, denke ich. Wer weiß schon, was durch übermäßigen MilchKonsum alles passieren kann. Bei dem Gedanken, wie ich Fred in der Klapse besuche, weil er durch sein ewiges Milch trinken den Verstand verloren hat, muss ich lächeln. »Was ist?« »Nichts, es ist nichts«, sage ich. Ich zögere. »Hör zu Fred, ich muss dir was sagen. Eigentlich wollte ich erst mit Andrea drüber reden, aber das ist jetzt egal. Ich werde heiraten!« Fred fällt fast das Glas aus der Hand. Er kann gerade so noch mal zugreifen. Jetzt schaut er mich tatsächlich so an, als wenn er jeden Moment irre werden würde. Große runde Augen, den Mund halb offen. Er sagt nichts. 24 Glotzt mich bloß an. Ich warte. Seine Mimik verändert sich gar nicht mehr. Bleibt das jetzt so? Um die Sache wieder in Fluss zu bringen, sage ich: »Toll, du reagierst genau so bescheuert, wie ich mir das vorgestellt habe. Hätte ich bloß nichts gesagt.« Ich mache eine Pause, schaue ihn an. Sein Zustand bessert sich nicht. Also fahre ich fort, versuche zu erklären: »Ich habe es halt satt. Diese ewigen Sauftouren, und ständig sind wir unterwegs. Die ganzen Weiber, die uns sowieso bloß hinterher rennen, weil wir so viel Kohle haben. Da habe ich mir gedacht, dass eine Frau an meiner Seite genau das Richtige wäre. Was ist so schlecht daran?« Fred fängt sich. Die Bewegungen seiner Gesichtsmuskeln heben die scheinbar steinerne Starre auf. Doch er sagt nichts. Nach einer Weile schaut er wieder auf die Milch. Fred ist Internist in irgendeiner Gemeinschaftspraxis. Komischerweise muss er kaum arbeiten. Ich habe keine Ahnung, wie so etwas geht. Es nervt mich, dass er nichts sagt. »Nun stell doch endlich mal die Milch weg. Mir wird schon schlecht von dem Zeug, wenn ich es nur ansehen muss.« Fred stellt das Glas mit der Milch auf den Tisch. »Wen willst du heiraten?«, bringt er endlich hervor. »Andrea etwa?« »Bist du bescheuert? Die macht es doch mit jedem. Ich weiß auch noch nicht, welche Frau ich heiraten kann.« »Hätte mich auch gewundert.« »Warum?« Er grinst mich an: »Du kennst doch keine. Schon gar 25 keine, bei der du wüsstest, dass du es mit der fünf oder zehn Jahre aushalten könntest.« »Fünf oder zehn Jahre. Was interessiert es mich, was in fünf oder zehn Jahren ist. Der Moment zählt.« Wir schweigen. »Mensch Kurt, lass den Scheiß. Du hast nicht mal ’ne feste Frau. Und stell dir bloß mal vor, immer die Gleiche. Morgens, mittags, abends. Jede Nacht! In der Bar, in deinem Auto, bei dir zu Hause, auf Schritt und Tritt. Und immer sagen, wo du herkommst, wo du hingehst. Ich kenn dich, das hältst du niemals aus. Niemals.« Er steht auf, kommt zum Fenster und schaut nun auch auf den Baum. Plötzlich fängt er an zu kichern. Er versucht es zu unterdrücken, aber dadurch wird es natürlich nur noch schlimmer. Nach einer Weile hat er sich wieder im Griff. Er wischt sich die Tränen ab. »Ich kenne dich. Wenn du tatsächlich heiratest, gebe ich dir drei Jahre und du bist blöd im Kopf. Dann fährt deine Alte die Karre, du hast Kulleraugen, schaukelst mit dem Oberkörper und Sabber läuft dir aus dem Mundwinkel …« Mehr kann ich von dem, was er noch sagen will, nicht verstehen, weil es in seinem schallenden Gelächter, dem er sich nun ganz hingibt, untergeht. Wieder laufen ihm Tränen über die geröteten Wangen und er kann sich nicht mehr beruhigen. »Hahaha. Wirklich sehr komisch! Wirklich. Die Reaktion von meinem besten Freund habe ich mir etwas anders vorgestellt. Ich denke, wir lassen das Thema. Es hat offensichtlich keinen Sinn, mit dir über ernsthafte Dinge zu reden.« Unten im Hof, unter dem Baum mit den Spatzen, 26 spielen Kinder. Fred steht neben mir am Fenster, wir schauen ihnen zu. »Entschuldige bitte, es tut mir leid. Aber dass du heiratest, ist für mich unvorstellbar. Es passt so wenig zu dir.« Wir reden schließlich über andere Dinge. Und es wird noch ein ganz netter Abend. Am nächsten Morgen versuche ich, Andrea zu erreichen. Vergeblich. Ich will gern mit ihr über meine Pläne reden. Vielleicht ist es auch eine bescheuerte Idee, mit ihr darüber zu reden. Fred hat ganz recht, ich habe ja nicht mal eine Frau. Irgendwann ruft mich Fred ganz aufgeregt an. Obwohl wir abgemacht hatten, mit niemandem darüber zu reden, hat er Freddy angequatscht. Freddy kann alles. Er findet immer für alles eine Lösung und er kann auch immer alles besorgen. »Hör zu«, sagt Fred, »ich weiß vielleicht, wie wir an eine Frau für dich kommen. Freddy kennt da einen Typen in Hannover, der hat in den Achtzigern mit Asiatinnen gehandelt. Dann war er mal weg vom Fenster, weil das wohl nicht so astrein gelaufen ist. Aber der ist jetzt wieder da. Voll drin im Geschäft. Alles ganz legal. Der hat ständig an die hundert Frauen aus dem Osten im Programm. Mit Bildern und allem drum und dran. Dauert höchstens sieben Tage. Sogar mit Umtausch.« »Bist du jetzt total bescheuert, Fred? Und überhaupt, mit Freddy darüber zu reden. Du solltest doch deinen Mund halten.« »Wieso, ist doch eine prima Idee von Freddy. Wenigstens mal hinfahren und anschauen. Außerdem, wenn du länger mit einer klarkommen willst, dann geht das bei dir 27 nur mit einer, die dir völlig gehorcht. Ich kenne dich doch. Ich glaube, da sind die aus dem Osten genau die Richtigen für dich.« Ich überlege eine Weile. Da kann was dran sein, vielleicht hat er recht. »Na, was ist nun?«, drängelt Fred. »Raff dich auf! Nur mal anschauen.« Ich muss zugeben, Fred hat recht. Wenn ich bisher länger mit einer Frau zusammen war – sagen wir mal zwei, drei Monate –, dann ging sie mir meist auf den Zeiger. Die Frauen wurden mit der Zeit immer dickköpfiger, hatten Wünsche, verplanten meine Zeit. Vielleicht ist das mit den Frauen aus dem Osten ganz anders. Mag tatsächlich so sein. Die Polen haben die schönsten Frauen. Das habe ich schon des Öfteren gehört. Kann ja auch sein, dass die dankbar sind, wenn man sie da rausholt. Ist doch ein schöneres Leben, hier im Westen. Und was es hier alles gibt. Kaufhäuser, Restaurants, Bars. Und jeder kann sich frei bewegen. Grundgesetz und so. Die Ossis waren damals bei der Grenzöffnung auch ganz froh. Und noch weiter drüben sind alle arm. Da haben sie erst recht keine Zukunft. »Ist gut«, sage ich gut gelaunt, »wir werden sie uns alle anschauen. Alle tausend!« Wir lachen beide. In Hannover haben wir den Heiratsvermittler schnell gefunden. Er ist ein gut aussehender, glatt rasierter Mann. Sein Büro hat er in einer Wohnstraße, in dem Keller eines Einfamilienhauses. Das Büro sieht improvi28 siert aus. Ein runder Tisch mit Sesseln, ein Schreitisch in der Ecke und ein Metallschrank mit Ordnern. Das ist alles. Aber insgesamt nicht ungemütlich. Die Tür geht auf und eine junge, hübsche Frau bringt Kaffee und Kekse. Als sie wieder draußen ist, sagt der Heiratsvermittler: »Polin – die Polen haben die hübschesten Frauen der Welt.« Fred nickt eifrig, ihm scheint es hier gut zu gefallen. »Ja, meine Herren, ich brauche Anhaltspunkte von Ihnen, von dem was sie suchen. Charaktereigenschaften, Bildung, Vorlieben, Interessen, Sprachkenntnisse, Haarfarbe, Größe … Je ausführlicher desto besser.« Er schaut uns erwartungsvoll an. Fred und ich schauen einander an. »Er, nur er sucht eine Frau. Nicht ich, ich suche keine.« Fred zeigt mit dem Finger auf mich, als wenn ich Ausschlag hätte. Nun schauen beide auf mich. Was soll ich denn jetzt sagen? Woher soll ich wissen, wie die sein soll? Was soll überhaupt der Quatsch mit dem Charakter und so? Bildung. Ich bin auch nur zur Volksschule gegangen. Bin ich deswegen blöd, oder was? »Haben Sie keine Bilder?«, will ich wissen. Der Heiratsvermittler grinst mich überheblich an. »Fotos, meinen Sie, Fotos. Na ja, wenn sie keine Vorstellungen haben, dann können wir natürlich mit den Fotos beginnen.« Wieder lächelt er, steht auf und geht zum Schrank mit den Ordnern. Er ist ein arroganter Vollidiot, denke ich. »Ach ja, es kommt nur eine Polin in Frage«, sage ich ärgerlich. Mein Blick fällt auf Fred. Es ist ihm peinlich, dass ich zeige, wie ärgerlich ich bin. Er ist da ganz an29 ders, er zeigt so etwas nicht, spielt dann lieber Theater. Nun ist er rot geworden und fummelt an den Keksen auf dem Teller rum. So, als könnte er sich bei drei Keksen nicht für einen entscheiden. Man sieht dich trotzdem, Fred. Man sieht dein errötetes Gesicht trotzdem! Der Heiratsvermittler legt einen Ordner auf den Tisch. Ich habe mich gefangen und jetzt fällt mir doch etwas ein: »Erst einmal muss sie Traummaße haben, sie soll zwischen eins siebzig und eins achtzig groß sein. Auf gar keinen Fall größer. Sie muss Deutsch sprechen können. Sie soll aus einfachen Verhältnissen kommen, darf aber nicht blöd sein. Aber auch nicht zu clever.« Fred kaut auf einem Keks und schaut auf seine Schuhe. Der Heiratsvermittler geht noch mal zu seinem Schrank und holt noch zwei Ordner. Er nimmt den anderen Ordner wieder weg und bringt ihn zum Schrank zurück. Das gefällt mir nicht. »Alle Frauen aus diesen Ordnern sprechen ein perfektes Deutsch. Blättern Sie die einmal durch und nehmen Sie die raus, die Ihnen gefallen. Wegen der Details müssen wir dann mal sehen.« Ich schlage einen Ordner auf. Fred starrt aus der Ferne verstohlen zu ihm rüber. Das Ganze ist aufgezogen wie bei Bewerbungen für Arbeitsstellen. In Klarsichtfolien sind Fotos mit Texten. Zettel mit Bemerkungen sind daran geheftet. Und so etwas wie Straßenkarten sind auch bei einigen Frauen dabei. Nachdem ich die Ordner durchgeschaut habe, kommen sechs Frauen in die engere Wahl. Ich breite sie auf dem Tisch aus und betrachte sie nachdenklich. »Was ist, wenn eine schon weg ist?« »So etwas kommt bei mir nicht vor. Was im Sortiment 30 ist, kann auch geliefert werden«, lächelt der Heiratsvermittler und betrachtet dabei selbstverliebt seine Fingernägel. »Ist gut«, sage ich, »dann will ich die hier.« Er greift nach den Unterlagen. »Sie kommt aus der Gegend von Oppeln, ländliche Gegend, sehr wahrscheinlich einfache Verhältnisse. Das kommt Ihnen doch entgegen. Es gibt nun zwei Möglichkeiten. Entweder die Dame reist gleich an, oder Sie fahren nach Polen und verschaffen sich erst einmal einen Eindruck vor Ort. Rein theoretisch können Sie noch heute starten.« Er wartet, schaut mich erwartungsvoll an. »Ich fahre doch nicht nach Polen. Die Straßen dort sind das reinste Gift für meinen Wagen. Nein, nein, das kommt überhaupt nicht in Frage.« »Nun gut. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sollen wir die Dame anreisen lassen?« Ich nicke. »Sie sind schnell entschlossen, ein Mann der Tat. Das gefällt mir. Jetzt das Geschäftliche. Ich bekomme von Ihnen hier vier Unterschriften auf den Verträgen. Das Vermittlungshonorar von vierzehntausend Euro und die Reisekosten von sechstausend sind sofort fällig. Das sagte ich Ihnen bereits am Telefon. Sollte es in den ersten fünf Tagen zu Schwierigkeiten kommen, müssen wir uns unterhalten. Nach den fünf Tagen ist dann Ihre Sache, wie Sie mit der Dame verfahren. Alles klar?« Ich nicke. Der Heiratsvermittler steht auf und telefoniert. Er spricht Polnisch oder so. Ich schaue mir das Bild noch mal an. Ich bin zufrieden. 31 Gut gemacht, denke ich, das habe ich wirklich gut gemacht. Fred hat sich endlich entkrampft. Der Heiratsvermittler legt auf. »Es klappt, meine Herren. Die Dame landet in drei Tagen in Hamburg, auf dem Flughafen. Mein Mitarbeiter ist sowieso in Hamburg. Der holt sie ab und bringt sie so gegen einundzwanzig Uhr vor Ihre Haustür. Das machen wir sonst nie. Betrachten Sie das als kleinen Service des Hauses. Jetzt brauche ich noch Ihre Adresse – sie wird ja wohl bei Ihnen wohnen, nehme ich an? Und hier noch die Unterschriften und das Geld.« Als das alles erledigt ist, bringt er uns zur Tür. Wir kommen an der jungen Frau vorbei, die uns den Kaffee gebracht hat. Sie lächelt. Ich bin stolz. In ein paar Tagen habe ich auch eine hübsche Polin. An der Haustür drückt er uns noch einmal die Hand. »Für gewöhnlich bringen die Damen nicht viel Gepäck mit. Sie haben eine gute Wahl getroffen. Und empfehlen Sie uns in Hamburg weiter.« Er lächelt und schaut dann demonstrativ auf die Uhr. »Eine letzte Frage«, wende ich ein. »Ich wollte mich nur noch mal vergewissern: Die Maße, die stimmen wirklich?« »Aber natürlich, was denken Sie!« Auf der Autofahrt betrachtet Fred die Fotos. »Warum hast du eigentlich die ganze Zeit nichts gesagt?« »Weiß ich auch nicht«, antwortet Fred. »Gefällt sie dir wenigstens?« »Sie sieht Hammer aus. Wenn die Maße auch stim32 men, ist bei Freddy der Teufel los.« Er lacht und schaut fröhlich aus dem Fenster. Wie ein kleiner Junge sitzt er da. Lustig sieht das aus. Man könnte denken, dass er erst zwölf ist. Draußen zieht die Landschaft vorbei. Ich bin stolz auf mich. Das habe ich super gemacht. Das ist ein richtig gutes Gefühl. Nach einer Weile sagt Fred plötzlich: »Eines muss ich aber noch mal wissen. Diese Frau, die du dir ausgesucht hast, sie sieht wirklich am allerbesten von allen aus. Das meine ich ehrlich. Aber mir ist aufgefallen, und jetzt versteh mich nicht falsch, sie sieht anders aus als die anderen. Sie sieht irgendwie krank aus.« Fred zögert, scheint meine Reaktion abzuwarten. Ich schaue ihn an. Wieder ist er rot geworden. »Ja, sie sieht anders aus. Du hast recht. Aber nicht krank. Nicht so, wie du es meinst. Ich würde sagen, dass sie aussieht wie eine von ganz unten. Arm eben. Verstehst du?« Fred schaut mich verdutzt an. Er schweigt eine Weile. »Du Arsch«, sagt er plötzlich. Er hat es endlich begriffen und wir lachen beide. Am Abend machen wir bei Freddy noch tierisch einen drauf. Am nächsten Tag versuche ich, Andrea zu erreichen. Es meldet sich aber nur der Anrufbeantworter. Ich boykottiere das Ding. Wie ich auch Handys und allerhand andere Dinge boykottiere. Angeblich sind sie dazu gemacht, uns das Leben zu erleichtern. Aber sie verwirren uns nur. Ich erreiche sie nicht, was soll da der Anrufbeantworter? Jetzt ist es schon einundzwanzig Uhr. Den ganzen Tag 33 habe ich wieder vertrödelt. Noch achtundvierzig Stunden. Dann ist SIE endlich da. Soll ich eigentlich etwas vorbereiten? Ich schwanke zwischen großer Empfangsparty und Zweisamkeit mit Schummerlicht. Nach langem Überlegen komme ich zu dem Entschluss, nichts zu machen. Einfach neutral. Ich gehe in den Flur und nehme die Fotos von Andrea und Babs von der Wand. Eigentlich will ich sie gleich im Wäscheschrank verschwinden lassen. Doch nun setze ich mich erst einmal auf mein Sofa, um sie zu betrachten. Ich halte Fotos von Babs in der Hand. Das mit Babs muss jetzt sieben Jahre her sein. Ich hatte sie mal in einer Disco kennengelernt. Sie war gerade einundzwanzig geworden, da hatte ihr Jugendfreund mit ihr Schluss gemacht. Meine Herren, war das ein Superweib! Sie hatte einen wunderschönen Busen, einen knackigen Hintern, eine Traumfigur – und war nicht mal blöd dabei. Sie war damals voll von der Rolle, wegen des Mackers. In der Situation war das natürlich ein leichtes Spiel mit ihr. Ich hatte mir damals gerade mein Penthouse zugelegt und sie sollte schon mit einziehen. Es war schon alles klar, da taucht dieser Schnösel plötzlich wieder auf. Ich weiß es noch, als sei es erst gestern gewesen: Er unten an der Sprechanlage, sie hier oben. Über eine Stunde haben die beiden rumgedröhnt. Und dann nahm sie einfach ihre Klamotten, war ja nur ein Koffer voll, und verschwand auf nimmer Wiedersehen. Und das nach zwei Monaten! Schnappt sich einfach die Klamotten und geht. Ist das hier eine Absteige? Ein Bahnhof, wo es rein und raus geht? Das war echt frech von ihr! Ich bin noch bis zum Fahrstuhl hin34 terher. Das hatte aber keinen Sinn gemacht. Dann bin ich auf die Dachterrasse gerannt. Ihr Macker stand unten neben so einem alten verbeulten Ford. Er glotzte nur blöd hoch. Dann kam Babs auf die Straße, die Haare noch nass vom Duschen, den Koffer in der Hand. Erst da begriff ich richtig, was passierte. Sie meinte es ernst! Es zerriss mir das Herz. Ich hab noch runter geschrien: »Du kannst wählen. Sekt oder Selters. Wenn du jetzt mit diesem Idioten gehst, brauchst du hier nie wieder aufzutauchen!« Sie ging. Dann habe ich sogar noch ein paar Blumen runter geworfen, aber das Auto nicht getroffen. Da war auch ein großer Kaktus dabei, den ich mal von Andrea geschenkt bekommen hatte. Sie war stinksauer deswegen und hat ein paar Tage nicht mit mir gesprochen. Babs habe ich nie wiedergesehen. Auch von den anderen wusste niemand, wo sie abgeblieben war. Ich glaube, ich habe sie richtig geliebt, da hätte was draus werden können. Ich frage mich, warum die Bilder von ihr da noch immer hingen? Ich nehme sie aus dem Rahmen und zerreiße sie. Die Bilder von Andrea hänge ich wieder auf. Dann gehe ich ins Bett. Ich bin aufgeregt und kann nicht schlafen, mache noch mal das Licht an. Ständig muss ich an Jadwiga denken. So heißt sie, meine zukünftige Braut. Im Schein der Nachttischleuchte betrachte ich ihre Fotos. Plötzlich klingelt das Telefon. Ich gehe ran. Es meldet sich niemand. So lege ich wieder auf. Nun nehme ich mir ein Buch zur Hand und lese, um mich abzulen35 ken. Durch das Klingeln des Telefons werde ich geweckt. Es ist vier Uhr morgens. Das Licht brennt noch. Ich muss wohl beim Lesen eingeschlafen sein. Wieder gehe ich ran, weil das Klingeln nicht enden will. Niemand meldet sich. Es hört sich so an, als ob im Hintergrund ein Kind weint. Ich lege wieder auf und schalte das Telefon aus. Vermutlich so ein Perverser, der sich die Langeweile in der Nacht vertreibt. Vor dem Einschlafen denke ich an Babs und wo die wohl ist. Es ist komisch, im weiteren Verlauf des Tages fällt sie mir immer wieder ein. Da laufe ich nun jahrelang an ihren Fotos vorbei und muss nie an sie denken und jetzt, da eine Frau zu mir zieht, ist das ständig der Fall. Ich kann mir das nur mit dem Zerreißen der Fotos erklären, der Endgültigkeit dieser Aktion und meinem inneren Aufruhr deswegen, will dem aber keine weitere Beachtung schenken. Am nächsten Tag überlege ich mir, dass ich doch noch etwas für Jadwiga arrangieren sollte. Ich bestelle Blumen und in einem Delikatessengeschäft einen kleinen Imbiss. Die machen das immer perfekt. Mit Tischdecke, Kerzen und allem Drum und Dran. Das Ganze lasse ich um neunzehn Uhr anrollen, damit alles rechtzeitig fertig ist. Endlich ist es einundzwanzig Uhr und ich bin verdammt aufgeregt. Hoffentlich merkt sie das nicht. Ich war nur 36 einmal in meinem Leben so aufgeregt wie heute. Das war bei meiner Konfirmation. Damals glaubte ich noch an GOTT, und ich war davon ausgegangen, dass an diesem Tag irgendetwas Außergewöhnliches passieren müsste. Irgendetwas Mystisches, eine Offenbarung oder wenigstens ein Zeichen. Zum Beispiel blutende Löcher an meinen Händen, eine weiße Taube, die sich in mein Zimmer verirrt, oder Tränen an der Holzfigur in der Kirche. Doch nichts geschah. Ich war sehr enttäuscht von IHM. Trotzdem glaubte ich noch eine Weile weiter, hörte aber, als ER mir auch weiterhin keine Zeichen sandte, irgendwann damit auf. Ich kann gar nicht sagen, wann das war. Es gab keinen besonderen Anlass, vom Glauben abzufallen, aber auch keinen, weiter an ihm festzuhalten. Es schellt. Ich gehe zur Türsprechanlage und melde mich. »Ihr Paket ist da. Lassen Sie sie rein und viel Spaß.« Ich drücke den Summer und höre, wie die Tür ins Schloss fällt. Dann öffne ich die Wohnungstür und warte. Mein Herz schlägt wie wild. Schließlich steht sie mir gegenüber. Sie ist besser gekleidet als ich vermutet habe. Unbeholfen strecke ich ihr die Hand entgegen. 37 Was ist das Problem Co to jest problemem H allo, ich bin Kurt«, sage ich hastig. »Jadwiga«, sagt sie nur und schaut mir in die Augen. Es macht mich verlegen und ich schaue schnell auf ihre Hand. Etwas stimmt nicht, schießt es mir kurz durch den Kopf. Prüfend schaue ich ihr wieder ins Gesicht. Was ist es bloß? Sie lächelt mich geduldig an. »Wollen wir nicht reingehen?«, fragt sie mich schließlich. »Ach ja, Entschuldigung.« Ich mache ihr Platz und greife nach ihrem Koffer. Sie geht an mir vorbei. Genau, das ist es! Sie ist zu groß! Ich schaue auf ihre Schuhe. Die Absätze sind höchstens fünf Zentimeter hoch. Wenn ich die abziehe, ist sie bestimmt eins vierundachtzig groß. Dann ist sie zwei Zentimeter größer als ich. Ich bin mir aber sicher, dass in der Beschreibung nur von eins neunundsiebzig die Rede ist. Sie gibt mir ihren Mantel. Darunter trägt sie einen Pullover und einen Rock von minderer Qualität. Von ihrer Figur kann ich, wegen der Weite der Kleidung, nicht viel erkennen. »Nimm irgendwo Platz, ich komme gleich wieder.« Schnell flitze ich ins Schlafzimmer. Eins neunundsiebzig steht in der Beschreibung. Hab ich es doch gewusst! Schnell überfliege ich noch mal die letzte Seite: ›Ver38 tragswandlung bei erheblichen Mängeln‹. Ich gehe ins Wohnzimmer zurück. Sie steht auf der Dachterrasse und schaut über die Elbe. Ich stelle mich neben sie und vergleiche heimlich unsere Körpergrößen. Sie ist so groß wie ich. Also muss sie flache Schuhe tragen. Das ist sehr schade, weil ich High Heels sehr mag. »Zeigst du mir deine Wohnung?« Und nun schon wieder jemand, der mich erwartungsvoll ansieht. Ich zeige ihr selbstverständlich alle Räume. Dann sitzen wir bei Kerzenlicht und Essen. Sie redet viel und scheint sehr glücklich zu sein. Ihr Deutsch ist wirklich sehr gut, einige Worte spricht sie nur merkwürdig aus. Daran muss ich mich erst gewöhnen. Wir sitzen gemeinsam auf dem Sofa. »Morgen gehen wir einkaufen und vielleicht noch zum Friseur, wenn du Lust hast.« Sie sieht mich erstaunt an. »Warum?« »Weil du so nicht los kannst. Ich habe uns für morgen bei einem von diesen Nobelausstattern angemeldet. Die führen die Klamotten sogar vor.« Jetzt schaut sie ernst. Ich weiß nicht, was dieser Blick zu bedeuten hat. Schließlich schaut sie auf ihr Glas und schweigt eine ganze Weile. Dann sagt sie plötzlich sehr ernst: »Gut, dann morgen um zehn. Wir werden sehen, ob wir was finden.« Ich spüre eine komische Schwingung. Es ist wie bei einer geschäftlichen Besprechung. Kühl und sachlich, trotzdem enorm wichtig für mich. Es ist unangenehm und lässt mich auf Distanz gehen. Mir fallen die fünf Tage Umtauschrecht ein. Das beruhigt mich und ich 39 verdränge das Gefühl. Inzwischen ist es recht spät geworden und Jadwiga wirkt müde. Eigentlich ist es gar nicht meine Art, aber ich schlage ihr vor, dass sie mein Bett benutzen kann. Ich werde die Nacht auf dem Sofa verbringen. Dabei ist es ein breites Bett, ein verdammt breites Bett. Und ich hatte es frisch beziehen lassen. Jadwiga schaut mich an und willigt leider ein. Ich glaube, dass sie erleichtert ist. Das wiederum empfinde ich als Kränkung. Aber das lasse ich mir nicht anmerken. Als sie sich fürs Bett fertig macht, überlege ich kurz, ob ich sie heimlich beobachten soll. Schließlich muss ich herausfinden, ob sie die angepriesenen Traummaße hat. Aber ich lasse es lieber bleiben. Irgendwie habe ich Respekt vor dieser Frau und traue mich nicht. Dass ich mich nicht traue, macht mir Angst. Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob die Idee mit dem Heiraten wirklich so gut ist. Fast bin ich eingeschlafen, da bemerke ich plötzlich, dass sie das Zimmer betritt. Sie kommt auf mich zu und bleibt vor dem Sofa stehen. In der Dunkelheit kann ich sie nur schemenhaft erkennen. »Du bist ganz schön schüchtern, was?« Sie sagt es und steigt aufs Sofa. Ohne zu zögern fällt sie über mich her. Sie beschert mir eine Nacht, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe. Um acht Uhr weckt uns der Wecker. Jadwiga steht auf und geht duschen. Eigentlich müsste ich ja begeistert sein, aber es stört mich, dass sie mich einfach so vernascht hat. Sie bestimmt jetzt schon, wo es lang geht. 40 Als ich dusche, verfliegen diese Gedanken. Schließlich durfte ich feststellen, dass das mit den Traummaßen stimmt, schneller und eindrucksvoller, als ich gehofft hatte. Wir sitzen beim Frühstück. »Wer ist diese Frau auf den Fotos im Flur?« Ich sehe sie überrascht an. Jadwiga sieht traumhaft schön aus. »Die Fotos im Flur? Das ist Andrea, eine Freundin von früher. Niemand Besonderes. Warum?« »Dann nimm diese Fotos ab!« Ich atmete tief ein, das geht mir jetzt zu weit. »Andrea ist …« Mir fällt nichts Vernünftiges ein, was ich jetzt sagen kann. »Gut«, sagt sie bestimmt, »dann kannst du sie ja abnehmen. Ein Mann sollte die Fotos von seiner Frau aufhängen. Von seiner Mutter und seinen Kindern. Aber nicht von irgendeiner Frau.« Ich will etwas entgegnen, aber mir fehlen die Worte – und die Kraft. »Okay«, sage ich schließlich. Sie lächelt mich an. Um zehn Uhr sind wir in dem Nobelschuppen. Jadwiga sieht glücklich aus. Das Einkaufen ist eine langwierige Prozedur. Als wir das Geschäft endlich am Nachmittag verlassen, bin ich völlig fertig. Ich habe einen Bärenhunger. Wir gehen etwas essen. Ich bin stolz auf Jadwiga. Sie sieht gut aus und ich kann mich wirklich überall mit ihr sehen lassen. Der Heiratsvermittler hat gute Arbeit geleistet. Ich glaube, dass ich ihm was schuldig bin und ihn tatsächlich weiter empfehlen muss. Jadwiga will nun 41 noch zum Friseur. Ich habe aber keine Lust mehr und maule erst einmal rum. »Was soll das jetzt? Wir haben jede Menge hübscher Klamotten gekauft, genau wie du es wolltest. Nun gehe ich auch zum Friseur, sonst gehe ich nirgendwo mit dir hin.« »Was soll das jetzt?«, entgegne ich sauer und wiederhole ihre Frage bewusst. »Du warst in Polen wahrscheinlich jahrelang nicht …« Ich bringe den Satz nicht zu Ende. Das Blitzen in ihren Augen lässt mich schlagartig verstummen. »Sag das nie wieder … Sag es nie wieder, wenn wir Freunde bleiben wollen.« Meine Handflächen sind mit einem Mal ganz nass. Das Blut schießt mir in den Kopf. Ich glaube, ich bin rot geworden. »Okay, war scheiße. Entschuldigung.« »Das nächste Mal kannst du dich ruhig richtig entschuldigen und nicht nur drei Worte stammeln. Nur so eine Floskel reicht mir nicht. Und jetzt gib mir Geld, ich gehe zum Friseur.« Sie hält mir ihre Hand entgegen. Die Leute von den Nachbartischen schauen herüber. Einige grinsen übers ganze Gesicht. Die ganze Sache ist mir äußerst peinlich. »Soll ich nicht lieber mitkommen? Ich meine, du so allein, in der fremden Stadt …« Sie sieht mich an, ihre Hand noch immer ausgestreckt. Um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, gebe ich ihr Geld. Lächelnd steckt sie es ein und steht auf. »Wir sehen uns dann nachher in deiner Wohnung.« Sie kommt um den Tisch herum und beugt sich zu mir herab. Eine groteske Situation nach dieser Differenz. »Ich hoffe, du 42 hast dann etwas Zeit für mich«, flüstert sie mir ins Ohr. Dann beißt sie mir zärtlich hinein, lacht und verschwindet. Die Leute an den Nebentischen wenden sich schmunzelnd ab. Die Show ist zu Ende. Ich bezahle und gehe eilig. Als ich im Auto sitze, denke ich über die ganze Sache nach. Ich bin ratlos. Dieses Verhalten … Führt sie was im Schilde? Mir ist nicht wohl in meiner Haut. Ich beschließe, die ganze Sache wieder in die Hand zu nehmen. So etwas wie eben brauche ich mir nicht gefallen lassen. Traumfrau hin, Traumfrau her. Schließlich ist es eine Tatsache, dass sie aus ärmlichen Verhältnissen kommt. Und jetzt bekommt sie alles, einfach so. Sie sollte dankbarer sein. Was war das eben für eine peinliche Situation für mich. Gar nicht auszudenken, wenn mich dort jemand gekannt hätte. Ich werde mit ihr reden müssen. Dieses Verhalten muss ein Ende haben. In meiner Wohnung bin ich gerade damit beschäftigt, die Bilder von Andrea zu entfernen, da werde ich durch das Läuten des Telefons gestört. Ich geh ran. »Kurt«, melde ich mich. »Hallo Kurt«, antwortet eine Frauenstimme. »Du kennst mich sicher gar nicht mehr. Hier ist Babs. Na, du weißt schon … vor sieben Jahren. Ich habe mir gedacht, ich melde mich einfach mal. Ich wollte nur mal wissen, was du so machst.« Es entsteht eine Pause. Erinnerungen jagen mir durch den Kopf. Blöderweise fällt mir der Kaktus ein. Der, den ich von der Dachterrasse warf. »Freust du dich? Oder soll ich lieber wieder aufle43 gen?« Wieder Pause. »Du sagst ja gar nichts« »Doch, doch schon. Also, ich freu mich. Nur, es ist so unerwartet. Ich habe, ehrlich gesagt, gar nicht damit gerechnet, dass ich jemals wieder etwas von dir höre.« Es ist eigenartig, vorgestern habe ich noch an sie gedacht und nun ruft sie an. Im Moment weiß ich eigentlich gar nicht, ob ich mich freuen soll. »Wie sieht es aus, wollen wir uns nicht mal wieder treffen? Wohnst du eigentlich noch immer in dieser tollen Wohnung?«, fragt sie. Panik kriecht in mir hoch. Will sie mich etwa besuchen? Das will ich nicht. Allein wenn ich an Jadwigas Reaktion denke … Die ist ja schon bei Fotos ganz giftig geworden. »Ja, ja, ich wohne noch hier. Aber im Moment kannst du nicht kommen. Ich muss erst noch einiges klären.« »Will ich auch nicht«, antwortet sie. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich habe Babs als sehr spontan in Erinnerung, und so etwas wie einen unangemeldeten Besuch kann ich jetzt gar nicht gebrauchen. Da ich befürchte, dass Jadwiga jeden Moment zur Tür reinkommt, will ich das Gespräch möglichst schnell beenden. Babs einfach abwimmeln will ich allerdings auch nicht. Wer weiß, wie sie jetzt aussieht und was sie so macht? Außerdem schmeichelt es mir, dass sie mich angerufen hat. Und wer weiß schon, wie das mit Jadwiga weiter geht. »Pass auf, Babs, gebe mir doch einfach deine Telefonnummer und ich rufe dich in den nächsten Tagen an.« Ich verrenke mich, um an ein Blatt Papier und einen 44 Stift zu kommen. »Ich habe kein Telefon.« »Was?« »Ich habe kein Telefon.« »Du hast kein Telefon? Was ist mit E-Mail oder so? Irgendwo muss doch ein Telefon sein. Jeder hat ein Telefon.« Ich verstehe das nicht. Es ist mir unbegreiflich. »Ich habe kein Telefon und auch keine E-Mail.« »Gut«, sage ich und ignoriere die Tatsache, dass sie mich grad anruft, »dann gib mir deine Adresse.« Sie ziert sich. Scheinbar ist es ihr nicht recht. Sie wohnt jetzt in einer Hochhaussiedlung in Bremen. Gott sei Dank – Bremen. Das ist nicht einfach so um die Ecke. Frankfurt wäre noch besser. Ich schreibe mir die Adresse auf. Dann muss ich ihr versprechen, auch bestimmt einmal vorbei zu schauen. Ich vertröste sie auf die nächsten vier Wochen. Etwas musste ich ihr schließlich anbieten. Ich will nicht, dass sie noch mal einfach so anruft. Nicht auszudenken, was passiert, wenn Jadwiga mitbekommt, dass mich eine Ex anruft. Als ich aufgelegt habe, atme ich erst einmal tief durch. Das war ja eine nette Überraschung. Ich setze mich aufs Sofa und starre auf den Zettel. Das war damals eine wilde Zeit mit ihr. Bremen. Ich denke, dass ich den Zettel besser verstecken sollte. Bloß wo? Mit einem Mal habe ich das Gefühl, dass es in dieser Wohnung keinen sicheren Ort für diesen Zettel gibt. Auf jede Idee für ein Versteck folgt eine Szene in meinen Gedanken, die es nur zu logisch erscheinen lässt, dass Jadwiga den Zettel findet. Mein Denken ist blo45 ckiert. Was ist nur los mit mir? So ein kleiner Zettel, und ich benehme mich wie ein Volltrottel. Ich gehe auf die Dachterrasse. Es ist warm. Ein schöner Tag mit blauem Himmel. So. Jetzt mal ganz langsam und logisch. Ich habe einen Zettel, der verschwinden muss, und keine Zeit. Jadwiga kann jeden Augenblick vor mir stehen und ich habe diesen Zettel in der Hand. Ich stelle mir vor, wie sie mir den Zettel abnimmt, ihn liest, mich zur Rede stellt, mich beschimpft … mich schlägt. Schluss jetzt, das ist ja kompletter Blödsinn! Jadwiga ist aus Polen. Polen sind katholisch. Katholiken sind wohlerzogen, anständig und mögen keinen Sex. Noch mal Blödsinn. Polen? Genau! In Polen gibt es nix zu kaufen. Die haben keine Supermärkte. Jedenfalls nicht solche wie wir. Glaube ich zumindest. Vielleicht einen Konsum wie in der DDR. Die Polen müssen alles selber machen. Das ist die Lösung. Jadwiga kann kochen! Es gibt ein ziemlich sicheres Versteck. Ich werde den Zettel im Kochbuch verstecken. Da sie ja kochen kann, wird sie das Kochbuch niemals brauchen. Also niemals hineinschauen. Genial. Ich liebe diese Polen! Das Telefon läutet wieder. Ich überlege kurz, ob ich abheben soll. Vielleicht ist es wieder Babs, weil sie was vergessen hat. Ich zögere, das Läuten hört nicht auf. Wenn ich jetzt abhebe und Jadwiga kommt rein? Schließlich greife ich doch zum Hörer. Wenn ich nicht rangehe und es klingelt immer noch, wenn sie reinkommt, ist das noch verfänglicher. Gehe ich nicht ran und Babs versucht es später noch einmal, nur um mir noch irgendetwas Überflüssiges mitzuteilen, dann kann 46 ich sicher sein, dass Jadwiga dann da ist und meine Beerdigung stattfindet. Ich räuspere mich und sage »Hallo«. Dieses Hallo bleibt mir fast im Halse stecken. »Hier ist Fred. Kurt bist du das?« Ich bin erleichtert. »Ja.« »Was ist los mit dir, bist du krank? Du hörst dich gar nicht gut an. Ich habe deine Stimme eben nicht erkannt.« »Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur verschluckt«, lüge ich ihn an. »Und«, platzt es aus ihm heraus. »Wie ist sie?« Ich überlege kurz. Was soll man da sagen? Das ist doch eine total blöde Frage. »Spitze«, sage ich schließlich. »Na was, spitze? Nun rede schon! Ich will alles wissen.« Fred will alles wissen. Zwischendurch versuche ich, ihn abzuwimmeln, was natürlich nicht klappt. Ich beschreibe sie also so gut es geht. Nur das mit der Körpergröße und das mit meinem flauen Gefühl, das erzähle ich ihm nicht. Als sein Wissensdurst endlich gestillt zu sein scheint, sagt er schließlich: »Okay, dann sehen wir uns heute bei Freddy. Ich bin schon ganz gespannt. Ich glaub, die anderen sind auch alle da.« »Nein, Fred, ich glaube nicht, dass wir uns heute noch sehen. Wir waren den ganzen Tag unterwegs. Klamotten kaufen und so. Ich bin kaputt. Wir gehen heute Abend bestimmt früh ins Bett. Vielleicht sehen wir uns am Wochenende.« »Was ist los, Kurt? Gerade mal einen Tag eine feste Frau und schon hängst du in den Seilen? Ihr gehört nicht 47 ins Bett, ihr gehört erstmal auf die Bahn. Nett sein zu den Kumpels. Vorstellen und so!« Fred hat sichtlich gute Laune und redet sich richtig in Rage. Dann wird es gefährlich. Er bringt es glatt, dass er hier mit einem Haufen Leute aufläuft, nur weil er seine Neugierde nicht unterdrücken kann. Da platzt es auch schon aus ihm heraus: »Kurt, wenn ihr nicht in die Bar kommt, dann komme ich mit den Jungs zu dir. Alle wollen die Braut sehen.« Er lacht und legt auf. »Schöne Scheiße«, brumme ich in den Hörer. Er hört es nicht mehr. Ich mache den Fernseher an. Schalte die Programme durch. Da bleibe ich hängen bei einer Sendung über Wildschweine in Berlin. Dass diese Viecher in der Stadt rumlaufen, Gärten verwüsten und sogar tagsüber mitten im Autoverkehr spazieren gehen. Ich interessiere mich nicht für Tiere. Schon gar nicht für Schweine. Ich weiß nicht einmal, warum ich mir diesen Mist anschaue. Endlich schaffe ich es, den Fernseher auszumachen. Ich schaue auf die Uhr. Es ist verdammt spät geworden. Wo bleibt sie nur? Ich gieße mir einen Martini ein und gehe auf die Dachterrasse. Die Sonne steht schon weit im Westen. Sonst konnte ich hier lange stehen und zusehen. Zusehen wie sie langsam rot wurde. Das Rot immer mehr zunahm. Sie immer tiefer sank. Die ersten Lichter der Stadt angingen. Alle Lichter angingen. Bis es schließlich dunkel war. Am Verkehrslärm konnte ich die Uhrzeit bestimmen und durch den Smog hindurch die ersten Abendsterne flimmern sehen. Doch heute fehlt mir die Ruhe dazu. Nervös laufe ich auf der Dachterrasse 48 auf und ab. Wo ist sie nur? Vielleicht hat sie sich ja verlaufen. Aber das ist unwahrscheinlich. Da muss man schon ganz schön blöde sein. Ich gehe rein und gieße mir noch einen Martini ein. Plötzlich fällt mir ein, dass ich ja noch Andreas Bilder entfernen muss. Und sie anrufen. Ihr sagen, dass sie sich auf keinen Fall bei mir melden soll. Erst einmal jedenfalls. Ich wähle Andreas Nummer. Sie ist nicht da. Anrufbeantworter. Ich lege wieder auf. Dann wähle ich noch einmal ihre Nummer. Ich muss das Ding benutzen. Es piept. Hektisch und völlig verkrampft spreche ich auf das Band: »Hallo Andrea, ich habe ja versucht, dich zu erreichen. Das hat sich erledigt. Bitte rufe erst einmal nicht mehr an. Ich habe keine Zeit. Ich melde mich dann irgendwann bei dir. Ach so, hier ist Kurt.« Schnell lege ich auf. Mann, muss sich das bescheuert anhören. Viel zu schnell gesprochen und so, als ob ich unter Atemnot leide. Ich hasse diese Dinger! Hoffentlich hält sich Andrea daran. Vielleicht hätte ich das bestimmter sagen sollen. Oder vielleicht erklären. Aber was hätte ich erklären können? Dass seit gestern eine Frau bei mir wohnt? Eine Frau, die langsam die Kontrolle übernimmt? Eine Frau, vor der ich kusche, vor der ich Schiss habe? Zufällig schaue ich in den Garderobenspiegel. Ich sehe gut aus! Ich bin der Lottokönig! Ich mache die Ansage! Ich glaube, dass es dazu höchste Zeit ist. Ich werde mit ihr reden müssen … Ich fühle mich nicht gut bei dem Gedanken daran. Kaum sind diese Gedanken verflogen, ist die Unruhe wieder da. Ich schaue auf die Uhr. Ist das Liebe? Ich war, das glaube ich zumindest, noch 49 nie verliebt. So richtig, meine ich. Wenn das Liebe ist, warum wird darum so ein Geschrei veranstaltet? Ich kann nicht sagen, dass mir dieses Gefühl gefällt. Vielleicht ist es ja Abhängigkeit. Aber von wem? Etwa von Jadwiga? Sie ist keine vierundzwanzig Stunden hier. Das kann nicht sein. Außerdem, warum? Frauen gibt es Tausende in Hamburg. Ich bin verwirrt. Endlich schellt es an der Tür. Es ist Jadwiga. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich bin glücklich, sie zu sehen. »Du musst mir unbedingt einen Schlüssel geben. Ich hatte schon Angst, dass du nicht da bist.« »Ich und nicht da?«, antwortete ich mit hysterischer Stimme. Sie schaut mich verblüfft an. Alter, sieht die gut aus! »Ich sitze hier und mache mir Sorgen. Du glaubst doch nicht, dass ich da auch nur einen Schritt vor die Tür setze, um mich irgendwo zu vergnügen?« Das sollte möglichst vorwurfsvoll klingen. »Mach dich nicht lächerlich. Ich war bei einem Friseur. Immerhin musste ich erst einmal einen finden … und danach habe ich mir noch Schaufenster angeschaut. Du weißt doch; da wo ich herkomme, gibt es nichts anzuschauen. Das ist ein Dorf. Da gibt es nur Schweine, Hühner und Kühe. Noch Fragen?« Ich bin hilflos. Es hat nicht funktioniert. Sie geht ins Bad. Ich höre, dass sie sich Wasser einlässt. Nach einer Weile gehe ich zögernd hinterher. Nicht sicher, ob ich das Bad betreten darf. Schließlich bleibe ich dann in der halb geöffneten Tür stehen. Sie liegt in der Wanne. Der Schaum reicht bis an ihr Kinn. Ihre Augen sind geschlos50 Impressum Joachim Harms Vom Schrecken des Reichtums 1. Auflage • April 2015 ISBN Buch: 978-3-95683-024-2 ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-025-9 ISBN E-Book epub: 978-3-95683-194-2 Korrektorat: Ulrike Rücker [email protected] Umschlaggestaltung: Ralf Böhm [email protected] • www.boehm-design.de © 2015 KLECKS-VERLAG Würzburger Straße 23 • D-63639 Flörsbachtal [email protected] • www.klecks-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet. Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes, liegen beim KLECKS-VERLAG. Zuwiderhandlung ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt und erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Der Verlag übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unstimmigkeiten. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 168 Leseempfehlung ... 169 Ron Hardt Rotznasenrock Roman Taschenbuch • 489 Seiten ISBN Buch: 978-3-944050-61-4 ISBN E-Book PDF: 978-3-944050-62-1 ISBN E-Book epub: 978-3-95683-182-9 Benjamin Martin steht mit seiner Band, den Monomaniacs, seit Jahren kurz vor dem Durchbruch. Er durchlebt Ende der Neunziger seine wilden Jahre, oder das, was er dafür hält. Uneinsichtig krallt er sich an die Ausrede, jünger zu wirken als zu sein und auch dementsprechend handeln zu dürfen. Ist man Jugendlicher, solange man auf der Rückenlehne einer Bank sitzt und nicht auf der Sitzfläche? Auch als er Julia und Analea kennenlernt, verbaut er sich gewissenhaft jede Chance auf ein glückliches Leben. Es erklärt einem ja auch keiner. Da gibt es keine Songtexte, die einem dadurch helfen. Die Steuerklärung machen und das Leben händeln, soll man einfach so können. Womöglich instinktiv. Veränderungen liefern Konsequenzen, Freundschaften strapazieren und brechen. Liebe wird zu Reife und Lederjacken werden zu Boss-Sakkos. Endlich scheint der Erfolg der Band in greifbarer Nähe. Sie werden Supporting Act, nehmen ihre erste CD auf und bekommen die Gelegenheit, bei einem großen Festival in ihrer Heimatstadt aufzutreten. Lokalheldentum ade, hello Media Control. Doch Benjamin erkennt, dass alles, was er sucht, die Veränderung selber ist. Er muss einen Schlussstrich unter sein bisheriges Treiben setzen und zwar allegro ma non troppo. 170 Leseempfehlung ... 171 Silke Grünberg Alles hat auch eine gute Seite ... Such sie doch! Erzählungen Taschenbuch • 101 Seiten ISBN Buch: 978-3-95683-056-3 ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-057-0 ISBN E-Book epub: 978-3-95683-112-6 Niemand schreibt so herrlich skurrile, ärgerliche, witzige Geschichten wie das Leben selbst ... Abgesehen von Silke Grünberg. Ob nun Nachbarn, die man am liebsten erwürgen würde, wenn sie morgens um 6:00 Uhr ihrem Putzwahn nachgehen, oder die leidigen Arzt- oder Behördengänge, bei denen man schon mitunter an seinem eigenen oder dem Verstand der anderen zweifeln könnte – auf humoristische Art führt Grünberg durch die Merkwürdigkeiten des Lebens Pur, echt, aus dem Alltag gegriffen – zum Schmunzeln und Sich-mit-Ärgern. Viel Spaß und amüsante Stunden! 172 Leseempfehlung ... 173 Ercan Aydin Schicksalhafter Gewinn Wer wagt ... kann viel verlieren Erzählung Taschenbuch • 97 Seiten ISBN Buch: 978-3-95683-096-9 ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-097-6 ISBNM E-Book epub: 978-3-95683-098-3 Sein Leben beginnt nicht einfach. Für alles muss er hart arbeiten, seine Familie kann ihm keine finanziellen Sicherheiten bieten. Schon früh beginnt er vom „Großen Los“ zu träumen, von einem Geldgewinn, der ihm alle Wünsche erfüllen könnte. Doch das Schicksal scheint nicht auf seiner Seite zu sein. Sein Studium erarbeitet er sich durch viel Mühsal und Fleiß, um dann schließlich doch in der Arbeitslosigkeit zu enden. Aber dann wendet sich das Blatt: Er lernt seine große Liebe kennen und gründet eine Familie. Aber immer noch haben alle anderen viel mehr als er, und zurück kehrt der Traum vom großen Gewinn – und mit ihm die Unzufriedenheit. Und dann passiert das Unglaubliche: Eine Million – und das Unglück bricht endgültig herein ... 174
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