kostenlose Leseprobe - Klecks

Joachim Harms
Vom Schrecken des
Reichtums
Roman
Diese Geschichte ist
Franz Honiok
gewidmet.
Dem, der voranging als der Erste
und dem Millionen folgten,
in das sinnlose Gemetzel
des zweiten Weltkrieges.
Ihm, dem Wanderer zwischen
Polen und Deutschland,
soll zuallererst gedacht sein.
Vor zehn Jahren
hat sich meine Mutter erhängt,
vorgestern mein Vater,
und gerade eben habe ich bestätigt bekommen,
dass ich mehrere Millionen
in der Lotterie gewonnen habe.
I
ch sitze in der Küche meines Vaters und habe Herzrasen, feuchte Hände und kann nicht mehr denken. Bilder schießen durch meinen Kopf. Ich sehe meinen Vater,
vom Krebs gezeichnet, zerfressen. Meine nach dem Erbteil geifernde Schwester. Einen Koffer voller Geld, Strände, Autos, meinen kleinwüchsigen, viel zu dicken Chef,
und wieder Geld, Geld, Geld …
Am nächsten Morgen bleibe ich liegen. Ich fühle mich
wie gerädert. Gar nicht wie ein Lottokönig. Die Sekretärin meines Chefs hatte ich bereits dreimal weggedrückt,
jetzt nehme ich das Gespräch an und melde mich krank.
Das kann ich jetzt tun.
Ich bin der Lottokönig.
Ich bin reich und frei. Ich sitze beim Nachmittagskaffee, da fährt meine Schwester vor. Sie steigt aus. Ich
beobachte sie durch das Küchenfenster. Schlecht sieht
sie aus. Alt und schlecht. Sie wird doch wohl nicht auch
krank sein wie mein Vater? Nein sie ist nicht krank, körperlich zumindest. Seelisch schon eher. Es sind der Geiz
und der Neid, die sie zerfressen. Wie sie mir so gegenüber sitzt, ist es mit meinem Mitleid vorbei. Ob ich nun
schon wüsste, wie viel Geld Papa noch besessen hat, will
sie von mir wissen. Ich weiß es nicht. Schließlich ist er
erst seit zwei Tagen tot. Und es geschah, wie bei einem
Selbstmord üblich, recht überraschend. Mein Einwand,
dass er noch nicht mal unter der Erde und es zu früh sei,
seine Hinterlassenschaften aufzuteilen, interessiert sie
11
nicht. Entschlossen sitzt sie da, mit schmalem, verkniffenem Mund. Schließlich holt sie einen Zettel aus der Tasche. Fein säuberlich hat sie aufgelistet, was sie alles aus
dem Haushalt meines Vaters verlangt. Weil es ihr zustünde! Ich nehme den Zettel an mich, überfliege ihn
und denke nur, was sie doch für eine Schlange ist.
Seit dem Tode meiner Mutter hat sie meinem Vater
systematisch die Wohnung ausgeräumt und alles mitgenommen, was ein alter Mann ihrer Meinung nach sowieso nicht mehr braucht. Manchmal schritt ich ein,
wenn ich zufällig dabei war. Mein Vater war in solchen
Situationen immer hilflos wie ein kleines Kind. Erst wenn
ich richtig sauer wurde, rückte sie von ihren Vorhaben
ab. Aber oft war ich eben nicht dabei. Dann musste ich
auf Bitten meines Vaters zu ihr fahren, um die ›geschenkten‹ Dinge wiederzuholen. Manches Mal habe ich
auch, wenn ich bei ihr zu Besuch war, Dinge aus dem
Haushalt meines Vaters bei ihr vorgefunden, die er selbst
noch gar nicht vermisst hatte. »Das hat er mir geschenkt, kann er sowieso nicht mehr gebrauchen«,
pflegte sie dann ein ums andere Mal zu sagen.
Auf dem Zettel stehen Gegenstände, an denen ich
kein Interesse habe. Brav erkläre ich ihr, mir alles genau
anzuschauen und die Dinge bereit zu legen. Sie kann in
ihrem Blick den Triumph nicht unterdrücken und hat sich
wieder mal verraten.
Ich beschließe, sie nie wiederzusehen.
12
Inhalt
Teil 1
Deutschland
Was ist das Problem
Co to jest problemem
Polsko pozdrawiam cię
Polen, ich grüße dich
15
15
38
38
117
117
Teil 2
Die Reise
143
143
Nachruf
167
Impressum
168
Leseempfehlung ...
169
Leseempfehlung ...
171
Leseempfehlung ...
173
13
Teil 1
Deutschland
S
o hatte alles angefangen. Das ist nun neun Jahre her.
Damals hab ich zuallererst meinen Job gekündigt.
Das war mir ein inneres Bedürfnis. Mittlerweile habe ich
mich an das viele Geld gewöhnt. An das Geld und die
Zecken. Ich musste das Dorf, in dem ich lebte, verlassen.
Es war unerträglich, plötzlich so viele Freunde zu haben.
Menschen, die mir früher nicht einmal über die Straße
geholfen hätten, standen plötzlich ganz vertraut neben
mir und klopften mir anerkennend auf die Schulter. Zecken halt. Ich zog also in die Stadt. Jetzt genieße ich in
Hamburg die Anonymität einer Großstadt.
Das Telefon klingelt. Fred ist dran:
»Heute Abend, nicht vergessen. Die Bräute vom Skiurlaub in Österreich sind auch da.«
»Oh nee, ich komm nicht. Ich bin noch kaputt von
letzter Nacht. Außerdem wollte Andrea nachher noch
vorbei schauen.«
»Mensch Kurt, mach keinen Scheiß. Die Frauen sind
extra aus Berlin gekommen. Du weißt, Dieter gibt am
Wochenende die Party, und wenn wir die Mädels heute
enttäuschen, sind sie bis dahin vielleicht wieder weg.
Andrea machst du einen Zettel an die Tür. Los, nur mal
15
vorbei schauen!«
Ich überlegte kurz. »Okay, überredet, aber ich brauche noch eine Stunde.«
Genau eine Stunde später bin ich in meinem Lieblingsladen, auf dem Kiez. Pünktlich auf die Minute. Hier habe
ich meinen Parkplatz direkt vor der Tür. Ich habe meinen
angestammten Tisch und einen Deckel. Ab und zu bringt
man mir meinen Wagen nach Hause. Das kostet zwar
extra und ich weiß auch, dass der eine oder andere die
Gelegenheit nutzt, um mit ihm ein kurzes Stück über die
Autobahn zu fegen. Aber das geht schon in Ordnung.
Im Grunde kann ich mich auf Freddy verlassen. Er würde
niemals einen Idioten mit meinem Wagen losschicken.
Der Laden ist, wie fast jeden Abend, brechend voll.
Oben auf der Galerie, an unserem Tisch, erkenne ich
Fred mit den Frauen. Auf durch die Massen! Hinter der
Theke sehe ich Freddy. Er sieht zufrieden aus. Wie immer, wenn der Laden gut läuft. Man sagt, dass er irgendwo ›Frauen laufen‹ hat. Von dem Geld soll er den
Laden aufgebaut haben. Ob das stimmt, weiß ich nicht.
Ist auch egal.
Plötzlich steht Fred neben mir. »Ich dachte schon, du
kommst nicht«, schreit er gegen den Lärm an.
»Wieso? Eine Stunde war abgemacht.«
Wir gehen zu den Frauen hoch. Sie sehen wirklich gut
aus. Dieter hat sie hier angeschleppt. Dieter und ich haben, was Frauen angeht, den gleichen Geschmack. Dieter stellt sie uns vor. Das macht er so geschickt, dass Fred
und ich sofort merken, dass er sich bereits eine – Ursula
16
heißt sie – für sich selbst ausgeguckt hat. Wir haben also
unsere Finger von ihr zu lassen. Sie sieht natürlich am
besten aus. Später erfahre ich, dass sie bei der Lufthansa
arbeitet und als Einzige nicht verheiratet ist.
Fred ist ein leidenschaftlicher Tänzer und auch ziemlich schnell mit einer der anderen verschwunden.
Jene, welche nun mehr oder weniger für mich übrig
bleibt, ist eigentlich nicht mein Fall. Sie ist mir zu dünn
und redet unaufhörlich. Außerdem ist sie sehr stark geschminkt. So stark, dass es bei diesem Licht fast schon
klebrig wirkt. Ich muss an meine Mutter denken. Sie war
eine einfache Frau. Nie geschminkt.
Mir schmerzt das Herz.
Die Frau redet von ihrem Mann und den Kindern. Sie
erzählt irgendwas von einer Tagung und dass sie mit
ihren Freundinnen mitgefahren ist. Ich weiß nicht, ob es
am Lärm liegt, oder ob ich einfach keine Lust zum Zuhören habe. Jedenfalls verstehe ich nicht, was sie mir eigentlich sagen will. Vielleicht will sie ja auch gar nichts
sagen. Vielleicht ist sie ja glücklich, wenn sie sich reden
hört. Dann weiß sie, dass sie nicht tot ist. Das ist gut für
sie. Plötzlich bereue ich, dass ich Andrea nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen habe. Ich stehe auf, um
in Freddys Büro zu gehen. Meine Tischnachbarin lässt
sich davon nicht stören; sie hört einfach nicht auf zu
reden. Im Büro wähle ich Andreas Nummer. Sie geht
nicht ran. Widerwillig spreche ich auf den Anrufbeantworter. Sie soll sich melden, sage ich, und gehe wieder
zu meinem Tisch zurück.
Dieter amüsiert sich. Fred amüsiert sich. Schließlich sa17
ge ich zu der Quasselstrippe neben mir: »Sag mal, wollen wir nicht irgendwohin fahren, wo es etwas ruhiger
ist?«
Sie ist plötzlich still und schaut mich an, so als wüsste
sie nicht, warum sie in Hamburg ist. In einem Laden wie
diesem. Ich weiß nun, dass es genauso kompliziert werden würde, wie ich es geahnt habe. »Okay«, sagt sie da
überraschend. »Aber was ist mit den anderen?«
»Das wird sich morgen früh finden. Ich weiß, wo Fred
wohnt, ich weiß, wo Dieter wohnt. Und außerdem
könnt ihr euch ja auch im Hotel treffen. Wo ist das Problem?«
Sie kann nicht verbergen, dass sie sich das irgendwie
ganz anders vorgestellt hatte. Nun überlegt sie und
rutscht nervös auf ihrem Stuhl umher. »Okay, ich sag
nur eben Bescheid.«
Was bin ich bloß für ein Blödmann! Dass ich nicht auf
Andrea gewartet habe. Wir gehen nach draußen. Es ist
eine warme Sommernacht. Die Straße ist voll von Menschen. An meinem Porsche stehen einige Punker. Einer
sitzt sogar auf der Haube. Ich gehe zurück zu den Türstehern und gebe ihnen fünfzig Euro. »Vertreibt das
Pack von meinem Auto«, sage ich zu ihnen. Sie gehen
rüber. Es wird etwas laut. Der auf der Haube bekommt
eine gelangt. Breit grinsend kommen sie zurück. »Zufrieden?« Ich nicke. Wir steigen in den Wagen und ich öffne das Verdeck. Leise summt der Motor dazu. Ich liebe
dieses Geräusch. Ich schaue mir die Punker an. Einige
hundert Meter weiter haben sie sich erneut niedergelassen und schnorren jetzt Passanten an. Ich überlege, was
18
als Nächstes zu tun ist. Da ich keine Lust habe, meine
Zeit zu verschwenden, beschließe ich, ganz direkt zu
sein. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt zu mir fahren
und eine Nummer schieben? Anschließend können wir
was Essen gehen oder wir bleiben liegen und schauen
uns den Sonnenaufgang an. Ich habe von meinem
Schlafzimmer aus ein astreines Panorama mit Blick über
die Elbe.« Ich schaue sie von der Seite an und freue mich
über meine Klugheit. Keine Zeitverschwendung.
Sie schaut mich giftig an: »Meinst du, dass ich eines
deiner billigen Flittchen bin? Du meinst wohl, dass du
unwiderstehlich bist, du mit deiner Kohle? Du denkst
wohl, du schnippst mit den Fingern und ich mache die
Beine breit? Da hast du dich getäuscht!« Sie ist richtig
sauer geworden. Ich versuche ein Lachen, obwohl ich
vor Wut koche. Dieses blöde Miststück. So was habe ich
mir schon gedacht. Ich greife rüber zur Beifahrertür und
öffne sie. »Raus, ganz schnell raus!« Sie steigt aus und
geht wieder Richtung Bar. »Und störe deine Schwestern
nicht beim Vögeln, wenn du da wieder angewackelt
kommst«, schrei ich ihr hinterher. Sie zeigt mir den Finger, den kein Mann von einer Frau sehen will und sie
dreht sich dabei nicht mal um. Ich knalle die Beifahrertür
zu.
Ich hab es doch gewusst, verdammter Mist! Ich lasse
den Wagen an. Der Motor jault auf und mit quietschenden Reifen schieße ich aus der Parklücke. An der nächsten Tankstelle kaufe ich eine Flasche Sekt. Dann fahre ich
zu Andreas Wohnung. Gott sei Dank, es brennt noch
Licht. Ich schelle. Keine Reaktion. Es wird schon langsam
19
hell. Die ersten Vögel zwitschern. Ich drücke noch einmal
auf die Klingel, und zur Sicherheit lasse ich meinen Finger
einfach darauf liegen. Dauerton. Die Gegensprechanlage
knackt. »Kurt? Sag nicht, dass du das bist.«
»Doch, mach auf.«
»Nein.«
»Nun mach schon auf!«
»Nein, es geht nicht, weil ich Kundschaft habe. Ich
kann jetzt wirklich nicht. Komm morgen wieder.«
»Schick ihn weg, ich bezahl auch. Meinetwegen das
Doppelte.«
»Sag mal, du bist wohl komplett verrückt geworden.
Du hättest vorhin nur zu Hause sein müssen. Ich habe
eine halbe Stunde vor deiner Tür gestanden. Jetzt
tauchst du hier auf und meinst, ich müsste springen,
oder was?«
»Okay, dann warte ich eben, bis ihr fertig seid. Reg
dich wieder ab.«
»Da kannst du lange warten. Er hat für die ganze
Nacht bezahlt. Wenn du willst, komm morgen wieder.«
»Mensch Andrea, ich brauche dich. Jetzt, als Freund!
Ich bin fertig. Ich muss mit dir reden. Verstehst du das?«
»Meinst du, ich mach das hier zum Vergnügen? Das
ist mein Job. Vorhin hab ich gewartet, jetzt wartest du.
Und nun zisch ab, du kannst morgen wiederkommen.«
Die Gegensprechanlage knackt.
»Das darf ja wohl nicht wahr sein!« Voller Zorn werfe
ich die Sektflasche gegen die Hauswand, wo sie mit einem lauten Knall zerplatzt. Ich steige in mein Auto. Jemand öffnet ein Fenster und ruft etwas. Ich hupe. Der
20
Mann schreit nun. Ich hupe wieder. Diesmal länger.
Mehr Lichter gehen an. Ich lege den ersten Gang ein
und fahre dann hupend und langsam die enge Einbahnstraße entlang. Obwohl ich eigentlich wütend bin, muss
ich doch lachen. Jetzt ist es schon hell. Vereinzelt torkeln
Betrunkene durch die Straßen. Müllwagen und Busse sind
unterwegs. Ich muss an die Tante aus Berlin denken. Wo
die jetzt wohl ist? Bestimmt allein in einem Hotelbett.
Oder sabbelnd neben einem Betrunkenen, in einer Bar.
Oder heulend, doch noch mit einem Fremden im Bett,
mit verschmierter Schminke im Gesicht. Gut, dass mir
das erspart geblieben ist.
Ich bin zufrieden. Ich lasse meinen Blick über das Armaturenbrett schweifen. Umfasse das Lenkrad fester.
Geile Karre!
An einer Ampel halte ich neben einem BMW. Ich
schaue rüber. Der Fahrer schaut stur geradeaus. Ich spiele mit dem Gas, und der Motor heult infernalisch auf.
Jetzt schaut er doch. Die legen sich wirklich mit jedem
an, denke ich noch, als er schon bei Gelb losschießt. Ich
lasse ihn. Das ist mir dann doch zu blöd. Dann fahre ich
auf die Autobahn Richtung Flensburg, um Ausschau zu
halten. LKWs, Familienkutschen, Wohnmobile, hin und
wieder ein Motorrad. Nichts dabei. Doch dann sehe ich
ihn. Zwischen zwei bunt beleuchteten LKW. Ein fünfhunderter Benz. Tiefer und breiter, dunkle Scheiben. So
mag ich das. Ich fahre neben ihm. Vorne sitzen zwei
junge Typen. Dänisches Kennzeichen, also bestimmt
keine Bullen. Doch scheinbar haben sie keine Lust auf
ein Rennen. Auf meine Versuche, sie zu animieren, rea21
gieren sie nicht. Eine ganze Weile fahre ich hinter ihnen
her. Plötzlich beschleunigen sie wie die Verrückten. Geht
doch! Ich trete das Gaspedal voll durch und werde in
den Sitz gedrückt. Ich will gerade auch nach links rüber,
da schert die Familienkutsche vor mir auch aus. Der Benz
ist weg. Ich fahre rüber nach rechts auf den Standstreifen und jage an ein paar LKWs und Autos vorbei.
Zwecklos, der Abstand ist zu groß. Das würde mir zu
lange dauern. Schade! Ich fahre die nächste Ausfahrt
wieder runter.
Als ich endlich in meinem Bett liege, ist der Tag schon
angebrochen. Straßenlärm dringt von draußen herauf
und es wird sehr warm. Ich kann nicht schlafen. Da fällt
mir wieder diese Frau ein. Warum die wohl nicht wollte?
Ich weiß nicht mal ihren Namen. Entweder hat sie ihn
nicht gesagt oder ich habe genau in dem Moment nicht
zugehört. Eigentlich weiß ich nichts, ich habe überhaupt
nicht zugehört. Ich habe eh keine Lust mehr auf diese
endlosen Nächte in irgendeiner Bar. Dann ständig diese
fremden Frauen. Immer das Gleiche, erst ein bisschen
Anstandsgequatsche und schließlich landet man in irgendeinem Bett. Mal macht es Spaß, und mal nicht.
Da fällt mir wieder Andrea ein. Sie fehlt mir. Es müsste
eine Frau geben, die immer an meiner Seite ist. Einfach
immer da. Soll ich heiraten? Schließlich bin ich schon
vierundfünfzig. Es kann ja nicht immer so weitergehen.
Vielleicht sollte ich tatsächlich heiraten. Ehrlich!
Dann schlafe ich endlich ein.
Nach ein paar Stunden Schlaf bin ich wieder munter
22
und rufe Andrea an. Sie ist nicht zu Hause. Nun rufe ich
bei Fred an. Er hat keine Zeit, aber wir verabreden uns
für den Abend. Schließlich vertrödele ich den Rest des
Tages. Die ganze Zeit geht mir die Sache mit der Heirat
nicht aus dem Kopf. Plötzlich ist diese Idee da! Sie gibt
meinem Leben eine ganz neue Perspektive.
Abends fahre ich zu Fred. Er ist allein zu Haus und sieht
genervt aus. »Was ist los?«
»Hör bloß auf. Mein Bruder war mit seiner Frau und
den beiden Kindern da. Ich bin total gestresst. Überall
haben diese Hosenscheißer ihre Finger dran. Ständig
muss man hinter denen her rennen und aufpassen, dass
die keinen Mist machen. Und dann dieser Lärm. Keinen
Satz kannst du zu Ende sprechen. Ich weiß nicht, wie
mein Bruder das aushält.«
Er geht in die Küche und kommt mit einem Glas Milch
in der Hand zurück. Er bleibt im Türrahmen stehen und
betrachtet seinen Teppich. Wahrscheinlich prüft er, ob
die Kinder Spuren auf ihm hinterlassen haben. »Willst du
auch was trinken?«
»Nein danke, lass mal.«
Fred setzt sich hin und betrachtet die Milch in seinem
Glas.
»Wo ist die Frau von gestern Abend?«, will ich wissen.
Fred schaut mich erstaunt an. »Ich dachte, die sind bei
dir. Ihr seid doch irgendwann raus, und dann war auf
einmal die andere auch weg. Ich habe später nur noch
Dieter mit seiner gesehen.« Ich sage nichts dazu. Fred
23
betrachtet wieder seine Milch. »Ich glaube«, sagt er
plötzlich, »wenn die nicht bei dir waren, dann können
wir die vergessen. Die sehen wir bestimmt nicht wieder.«
»Scheißegal«, sage ich, stehe auf und gehe zum Fenster rüber. Draußen steht ein großer Baum mit einer
mächtigen Krone. Direkt vor dem Haus. Blätter aus sattem Grün. Ein Schwarm Spatzen balgt in ihm umher. Mit
lautem Gezwitscher und Gezeter.
»Gut, dass ich nicht so einen Baum vor meinem Fenster habe«, sagte ich. »Dieser Lärm von den Viechern. Da
ist mir der Krach einer Straße doch lieber. Der macht
Sinn, da sind Menschen unterwegs, Menschen, die etwas erledigen wollen. Was auch immer. Nicht so was
hier.«
Ich drehe mich um. Fred starrt noch immer in die
Milch. Hoffentlich verliert er nicht den Verstand, denke
ich. Wer weiß schon, was durch übermäßigen MilchKonsum alles passieren kann. Bei dem Gedanken, wie ich
Fred in der Klapse besuche, weil er durch sein ewiges
Milch trinken den Verstand verloren hat, muss ich lächeln.
»Was ist?«
»Nichts, es ist nichts«, sage ich.
Ich zögere. »Hör zu Fred, ich muss dir was sagen. Eigentlich wollte ich erst mit Andrea drüber reden, aber
das ist jetzt egal. Ich werde heiraten!«
Fred fällt fast das Glas aus der Hand. Er kann gerade
so noch mal zugreifen. Jetzt schaut er mich tatsächlich so
an, als wenn er jeden Moment irre werden würde. Große runde Augen, den Mund halb offen. Er sagt nichts.
24
Glotzt mich bloß an. Ich warte. Seine Mimik verändert
sich gar nicht mehr. Bleibt das jetzt so? Um die Sache
wieder in Fluss zu bringen, sage ich: »Toll, du reagierst
genau so bescheuert, wie ich mir das vorgestellt habe.
Hätte ich bloß nichts gesagt.« Ich mache eine Pause,
schaue ihn an. Sein Zustand bessert sich nicht. Also fahre
ich fort, versuche zu erklären: »Ich habe es halt satt.
Diese ewigen Sauftouren, und ständig sind wir unterwegs. Die ganzen Weiber, die uns sowieso bloß hinterher rennen, weil wir so viel Kohle haben. Da habe ich
mir gedacht, dass eine Frau an meiner Seite genau das
Richtige wäre. Was ist so schlecht daran?«
Fred fängt sich. Die Bewegungen seiner Gesichtsmuskeln heben die scheinbar steinerne Starre auf. Doch er
sagt nichts. Nach einer Weile schaut er wieder auf die
Milch. Fred ist Internist in irgendeiner Gemeinschaftspraxis. Komischerweise muss er kaum arbeiten. Ich habe
keine Ahnung, wie so etwas geht. Es nervt mich, dass er
nichts sagt. »Nun stell doch endlich mal die Milch weg.
Mir wird schon schlecht von dem Zeug, wenn ich es nur
ansehen muss.«
Fred stellt das Glas mit der Milch auf den Tisch. »Wen
willst du heiraten?«, bringt er endlich hervor. »Andrea
etwa?«
»Bist du bescheuert? Die macht es doch mit jedem.
Ich weiß auch noch nicht, welche Frau ich heiraten
kann.«
»Hätte mich auch gewundert.«
»Warum?«
Er grinst mich an: »Du kennst doch keine. Schon gar
25
keine, bei der du wüsstest, dass du es mit der fünf oder
zehn Jahre aushalten könntest.«
»Fünf oder zehn Jahre. Was interessiert es mich, was
in fünf oder zehn Jahren ist. Der Moment zählt.«
Wir schweigen.
»Mensch Kurt, lass den Scheiß. Du hast nicht mal ’ne
feste Frau. Und stell dir bloß mal vor, immer die Gleiche.
Morgens, mittags, abends. Jede Nacht! In der Bar, in deinem Auto, bei dir zu Hause, auf Schritt und Tritt. Und
immer sagen, wo du herkommst, wo du hingehst. Ich
kenn dich, das hältst du niemals aus. Niemals.« Er steht
auf, kommt zum Fenster und schaut nun auch auf den
Baum. Plötzlich fängt er an zu kichern. Er versucht es zu
unterdrücken, aber dadurch wird es natürlich nur noch
schlimmer. Nach einer Weile hat er sich wieder im Griff. Er
wischt sich die Tränen ab. »Ich kenne dich. Wenn du tatsächlich heiratest, gebe ich dir drei Jahre und du bist blöd
im Kopf. Dann fährt deine Alte die Karre, du hast Kulleraugen, schaukelst mit dem Oberkörper und Sabber läuft
dir aus dem Mundwinkel …« Mehr kann ich von dem,
was er noch sagen will, nicht verstehen, weil es in seinem
schallenden Gelächter, dem er sich nun ganz hingibt, untergeht. Wieder laufen ihm Tränen über die geröteten
Wangen und er kann sich nicht mehr beruhigen.
»Hahaha. Wirklich sehr komisch! Wirklich. Die Reaktion von meinem besten Freund habe ich mir etwas anders vorgestellt. Ich denke, wir lassen das Thema. Es hat
offensichtlich keinen Sinn, mit dir über ernsthafte Dinge
zu reden.«
Unten im Hof, unter dem Baum mit den Spatzen,
26
spielen Kinder. Fred steht neben mir am Fenster, wir
schauen ihnen zu. »Entschuldige bitte, es tut mir leid.
Aber dass du heiratest, ist für mich unvorstellbar. Es
passt so wenig zu dir.« Wir reden schließlich über andere
Dinge. Und es wird noch ein ganz netter Abend.
Am nächsten Morgen versuche ich, Andrea zu erreichen.
Vergeblich. Ich will gern mit ihr über meine Pläne reden.
Vielleicht ist es auch eine bescheuerte Idee, mit ihr darüber zu reden. Fred hat ganz recht, ich habe ja nicht
mal eine Frau. Irgendwann ruft mich Fred ganz aufgeregt an. Obwohl wir abgemacht hatten, mit niemandem
darüber zu reden, hat er Freddy angequatscht. Freddy
kann alles. Er findet immer für alles eine Lösung und er
kann auch immer alles besorgen. »Hör zu«, sagt Fred,
»ich weiß vielleicht, wie wir an eine Frau für dich kommen. Freddy kennt da einen Typen in Hannover, der hat
in den Achtzigern mit Asiatinnen gehandelt. Dann war er
mal weg vom Fenster, weil das wohl nicht so astrein
gelaufen ist. Aber der ist jetzt wieder da. Voll drin im
Geschäft. Alles ganz legal. Der hat ständig an die hundert Frauen aus dem Osten im Programm. Mit Bildern
und allem drum und dran. Dauert höchstens sieben Tage. Sogar mit Umtausch.«
»Bist du jetzt total bescheuert, Fred? Und überhaupt,
mit Freddy darüber zu reden. Du solltest doch deinen
Mund halten.«
»Wieso, ist doch eine prima Idee von Freddy. Wenigstens mal hinfahren und anschauen. Außerdem, wenn du
länger mit einer klarkommen willst, dann geht das bei dir
27
nur mit einer, die dir völlig gehorcht. Ich kenne dich
doch. Ich glaube, da sind die aus dem Osten genau die
Richtigen für dich.«
Ich überlege eine Weile. Da kann was dran sein, vielleicht hat er recht.
»Na, was ist nun?«, drängelt Fred. »Raff dich auf! Nur
mal anschauen.«
Ich muss zugeben, Fred hat recht. Wenn ich bisher
länger mit einer Frau zusammen war – sagen wir mal
zwei, drei Monate –, dann ging sie mir meist auf den
Zeiger. Die Frauen wurden mit der Zeit immer dickköpfiger, hatten Wünsche, verplanten meine Zeit. Vielleicht
ist das mit den Frauen aus dem Osten ganz anders. Mag
tatsächlich so sein. Die Polen haben die schönsten Frauen. Das habe ich schon des Öfteren gehört. Kann ja
auch sein, dass die dankbar sind, wenn man sie da rausholt. Ist doch ein schöneres Leben, hier im Westen. Und
was es hier alles gibt. Kaufhäuser, Restaurants, Bars. Und
jeder kann sich frei bewegen. Grundgesetz und so. Die
Ossis waren damals bei der Grenzöffnung auch ganz
froh. Und noch weiter drüben sind alle arm. Da haben
sie erst recht keine Zukunft.
»Ist gut«, sage ich gut gelaunt, »wir werden sie uns
alle anschauen. Alle tausend!«
Wir lachen beide.
In Hannover haben wir den Heiratsvermittler schnell
gefunden. Er ist ein gut aussehender, glatt rasierter
Mann. Sein Büro hat er in einer Wohnstraße, in dem
Keller eines Einfamilienhauses. Das Büro sieht improvi28
siert aus. Ein runder Tisch mit Sesseln, ein Schreitisch in
der Ecke und ein Metallschrank mit Ordnern. Das ist
alles. Aber insgesamt nicht ungemütlich. Die Tür geht
auf und eine junge, hübsche Frau bringt Kaffee und Kekse. Als sie wieder draußen ist, sagt der Heiratsvermittler:
»Polin – die Polen haben die hübschesten Frauen der
Welt.«
Fred nickt eifrig, ihm scheint es hier gut zu gefallen.
»Ja, meine Herren, ich brauche Anhaltspunkte von
Ihnen, von dem was sie suchen. Charaktereigenschaften,
Bildung, Vorlieben, Interessen, Sprachkenntnisse, Haarfarbe, Größe … Je ausführlicher desto besser.« Er schaut
uns erwartungsvoll an.
Fred und ich schauen einander an. »Er, nur er sucht
eine Frau. Nicht ich, ich suche keine.« Fred zeigt mit
dem Finger auf mich, als wenn ich Ausschlag hätte. Nun
schauen beide auf mich. Was soll ich denn jetzt sagen?
Woher soll ich wissen, wie die sein soll? Was soll überhaupt der Quatsch mit dem Charakter und so? Bildung.
Ich bin auch nur zur Volksschule gegangen. Bin ich deswegen blöd, oder was? »Haben Sie keine Bilder?«, will
ich wissen. Der Heiratsvermittler grinst mich überheblich
an. »Fotos, meinen Sie, Fotos. Na ja, wenn sie keine
Vorstellungen haben, dann können wir natürlich mit den
Fotos beginnen.« Wieder lächelt er, steht auf und geht
zum Schrank mit den Ordnern. Er ist ein arroganter Vollidiot, denke ich.
»Ach ja, es kommt nur eine Polin in Frage«, sage ich
ärgerlich. Mein Blick fällt auf Fred. Es ist ihm peinlich,
dass ich zeige, wie ärgerlich ich bin. Er ist da ganz an29
ders, er zeigt so etwas nicht, spielt dann lieber Theater.
Nun ist er rot geworden und fummelt an den Keksen auf
dem Teller rum. So, als könnte er sich bei drei Keksen
nicht für einen entscheiden. Man sieht dich trotzdem,
Fred. Man sieht dein errötetes Gesicht trotzdem!
Der Heiratsvermittler legt einen Ordner auf den Tisch.
Ich habe mich gefangen und jetzt fällt mir doch etwas ein:
»Erst einmal muss sie Traummaße haben, sie soll zwischen
eins siebzig und eins achtzig groß sein. Auf gar keinen Fall
größer. Sie muss Deutsch sprechen können. Sie soll aus
einfachen Verhältnissen kommen, darf aber nicht blöd
sein. Aber auch nicht zu clever.« Fred kaut auf einem Keks
und schaut auf seine Schuhe. Der Heiratsvermittler geht
noch mal zu seinem Schrank und holt noch zwei Ordner.
Er nimmt den anderen Ordner wieder weg und bringt ihn
zum Schrank zurück. Das gefällt mir nicht.
»Alle Frauen aus diesen Ordnern sprechen ein perfektes Deutsch. Blättern Sie die einmal durch und nehmen
Sie die raus, die Ihnen gefallen. Wegen der Details müssen wir dann mal sehen.«
Ich schlage einen Ordner auf. Fred starrt aus der Ferne
verstohlen zu ihm rüber. Das Ganze ist aufgezogen wie
bei Bewerbungen für Arbeitsstellen. In Klarsichtfolien
sind Fotos mit Texten. Zettel mit Bemerkungen sind daran geheftet. Und so etwas wie Straßenkarten sind auch
bei einigen Frauen dabei. Nachdem ich die Ordner
durchgeschaut habe, kommen sechs Frauen in die engere Wahl. Ich breite sie auf dem Tisch aus und betrachte
sie nachdenklich. »Was ist, wenn eine schon weg ist?«
»So etwas kommt bei mir nicht vor. Was im Sortiment
30
ist, kann auch geliefert werden«, lächelt der Heiratsvermittler und betrachtet dabei selbstverliebt seine Fingernägel.
»Ist gut«, sage ich, »dann will ich die hier.«
Er greift nach den Unterlagen. »Sie kommt aus der
Gegend von Oppeln, ländliche Gegend, sehr wahrscheinlich einfache Verhältnisse. Das kommt Ihnen doch
entgegen. Es gibt nun zwei Möglichkeiten. Entweder die
Dame reist gleich an, oder Sie fahren nach Polen und
verschaffen sich erst einmal einen Eindruck vor Ort. Rein
theoretisch können Sie noch heute starten.« Er wartet,
schaut mich erwartungsvoll an.
»Ich fahre doch nicht nach Polen. Die Straßen dort
sind das reinste Gift für meinen Wagen. Nein, nein, das
kommt überhaupt nicht in Frage.«
»Nun gut. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sollen wir die Dame anreisen lassen?«
Ich nicke.
»Sie sind schnell entschlossen, ein Mann der Tat. Das
gefällt mir. Jetzt das Geschäftliche. Ich bekomme von
Ihnen hier vier Unterschriften auf den Verträgen. Das
Vermittlungshonorar von vierzehntausend Euro und die
Reisekosten von sechstausend sind sofort fällig. Das sagte ich Ihnen bereits am Telefon. Sollte es in den ersten
fünf Tagen zu Schwierigkeiten kommen, müssen wir uns
unterhalten. Nach den fünf Tagen ist dann Ihre Sache,
wie Sie mit der Dame verfahren. Alles klar?«
Ich nicke. Der Heiratsvermittler steht auf und telefoniert. Er spricht Polnisch oder so.
Ich schaue mir das Bild noch mal an. Ich bin zufrieden.
31
Gut gemacht, denke ich, das habe ich wirklich gut gemacht. Fred hat sich endlich entkrampft. Der Heiratsvermittler legt auf. »Es klappt, meine Herren. Die Dame
landet in drei Tagen in Hamburg, auf dem Flughafen.
Mein Mitarbeiter ist sowieso in Hamburg. Der holt sie ab
und bringt sie so gegen einundzwanzig Uhr vor Ihre
Haustür. Das machen wir sonst nie. Betrachten Sie das
als kleinen Service des Hauses. Jetzt brauche ich noch
Ihre Adresse – sie wird ja wohl bei Ihnen wohnen, nehme ich an? Und hier noch die Unterschriften und das
Geld.«
Als das alles erledigt ist, bringt er uns zur Tür. Wir
kommen an der jungen Frau vorbei, die uns den Kaffee
gebracht hat. Sie lächelt. Ich bin stolz. In ein paar Tagen
habe ich auch eine hübsche Polin. An der Haustür drückt
er uns noch einmal die Hand. »Für gewöhnlich bringen
die Damen nicht viel Gepäck mit. Sie haben eine gute
Wahl getroffen. Und empfehlen Sie uns in Hamburg
weiter.« Er lächelt und schaut dann demonstrativ auf die
Uhr.
»Eine letzte Frage«, wende ich ein. »Ich wollte mich
nur noch mal vergewissern: Die Maße, die stimmen
wirklich?«
»Aber natürlich, was denken Sie!«
Auf der Autofahrt betrachtet Fred die Fotos. »Warum
hast du eigentlich die ganze Zeit nichts gesagt?«
»Weiß ich auch nicht«, antwortet Fred.
»Gefällt sie dir wenigstens?«
»Sie sieht Hammer aus. Wenn die Maße auch stim32
men, ist bei Freddy der Teufel los.« Er lacht und schaut
fröhlich aus dem Fenster. Wie ein kleiner Junge sitzt er
da. Lustig sieht das aus. Man könnte denken, dass er
erst zwölf ist. Draußen zieht die Landschaft vorbei. Ich
bin stolz auf mich. Das habe ich super gemacht. Das ist
ein richtig gutes Gefühl. Nach einer Weile sagt Fred
plötzlich: »Eines muss ich aber noch mal wissen. Diese
Frau, die du dir ausgesucht hast, sie sieht wirklich am
allerbesten von allen aus. Das meine ich ehrlich. Aber mir
ist aufgefallen, und jetzt versteh mich nicht falsch, sie
sieht anders aus als die anderen. Sie sieht irgendwie
krank aus.«
Fred zögert, scheint meine Reaktion abzuwarten. Ich
schaue ihn an. Wieder ist er rot geworden. »Ja, sie sieht
anders aus. Du hast recht. Aber nicht krank. Nicht so,
wie du es meinst. Ich würde sagen, dass sie aussieht wie
eine von ganz unten. Arm eben. Verstehst du?«
Fred schaut mich verdutzt an. Er schweigt eine Weile.
»Du Arsch«, sagt er plötzlich. Er hat es endlich begriffen
und wir lachen beide.
Am Abend machen wir bei Freddy noch tierisch einen
drauf. Am nächsten Tag versuche ich, Andrea zu erreichen. Es meldet sich aber nur der Anrufbeantworter. Ich
boykottiere das Ding. Wie ich auch Handys und allerhand andere Dinge boykottiere. Angeblich sind sie dazu
gemacht, uns das Leben zu erleichtern. Aber sie verwirren uns nur. Ich erreiche sie nicht, was soll da der Anrufbeantworter?
Jetzt ist es schon einundzwanzig Uhr. Den ganzen Tag
33
habe ich wieder vertrödelt. Noch achtundvierzig Stunden. Dann ist SIE endlich da. Soll ich eigentlich etwas
vorbereiten? Ich schwanke zwischen großer Empfangsparty und Zweisamkeit mit Schummerlicht. Nach
langem Überlegen komme ich zu dem Entschluss, nichts
zu machen. Einfach neutral. Ich gehe in den Flur und
nehme die Fotos von Andrea und Babs von der Wand.
Eigentlich will ich sie gleich im Wäscheschrank verschwinden lassen. Doch nun setze ich mich erst einmal
auf mein Sofa, um sie zu betrachten. Ich halte Fotos von
Babs in der Hand. Das mit Babs muss jetzt sieben Jahre
her sein. Ich hatte sie mal in einer Disco kennengelernt.
Sie war gerade einundzwanzig geworden, da hatte ihr
Jugendfreund mit ihr Schluss gemacht. Meine Herren,
war das ein Superweib! Sie hatte einen wunderschönen
Busen, einen knackigen Hintern, eine Traumfigur – und
war nicht mal blöd dabei. Sie war damals voll von der
Rolle, wegen des Mackers. In der Situation war das natürlich ein leichtes Spiel mit ihr. Ich hatte mir damals
gerade mein Penthouse zugelegt und sie sollte schon mit
einziehen. Es war schon alles klar, da taucht dieser
Schnösel plötzlich wieder auf. Ich weiß es noch, als sei es
erst gestern gewesen: Er unten an der Sprechanlage, sie
hier oben. Über eine Stunde haben die beiden rumgedröhnt. Und dann nahm sie einfach ihre Klamotten, war
ja nur ein Koffer voll, und verschwand auf nimmer Wiedersehen. Und das nach zwei Monaten! Schnappt sich
einfach die Klamotten und geht. Ist das hier eine Absteige? Ein Bahnhof, wo es rein und raus geht? Das war
echt frech von ihr! Ich bin noch bis zum Fahrstuhl hin34
terher. Das hatte aber keinen Sinn gemacht. Dann bin
ich auf die Dachterrasse gerannt. Ihr Macker stand unten
neben so einem alten verbeulten Ford. Er glotzte nur
blöd hoch. Dann kam Babs auf die Straße, die Haare
noch nass vom Duschen, den Koffer in der Hand. Erst da
begriff ich richtig, was passierte. Sie meinte es ernst! Es
zerriss mir das Herz.
Ich hab noch runter geschrien: »Du kannst wählen.
Sekt oder Selters. Wenn du jetzt mit diesem Idioten
gehst, brauchst du hier nie wieder aufzutauchen!«
Sie ging.
Dann habe ich sogar noch ein paar Blumen runter
geworfen, aber das Auto nicht getroffen. Da war auch
ein großer Kaktus dabei, den ich mal von Andrea geschenkt bekommen hatte. Sie war stinksauer deswegen
und hat ein paar Tage nicht mit mir gesprochen. Babs
habe ich nie wiedergesehen. Auch von den anderen
wusste niemand, wo sie abgeblieben war. Ich glaube, ich
habe sie richtig geliebt, da hätte was draus werden können.
Ich frage mich, warum die Bilder von ihr da noch immer hingen? Ich nehme sie aus dem Rahmen und zerreiße sie. Die Bilder von Andrea hänge ich wieder auf.
Dann gehe ich ins Bett. Ich bin aufgeregt und kann nicht
schlafen, mache noch mal das Licht an. Ständig muss ich
an Jadwiga denken. So heißt sie, meine zukünftige
Braut. Im Schein der Nachttischleuchte betrachte ich ihre
Fotos. Plötzlich klingelt das Telefon. Ich gehe ran. Es
meldet sich niemand. So lege ich wieder auf. Nun nehme
ich mir ein Buch zur Hand und lese, um mich abzulen35
ken.
Durch das Klingeln des Telefons werde ich geweckt. Es
ist vier Uhr morgens. Das Licht brennt noch. Ich muss
wohl beim Lesen eingeschlafen sein. Wieder gehe ich
ran, weil das Klingeln nicht enden will. Niemand meldet
sich. Es hört sich so an, als ob im Hintergrund ein Kind
weint. Ich lege wieder auf und schalte das Telefon aus.
Vermutlich so ein Perverser, der sich die Langeweile in
der Nacht vertreibt. Vor dem Einschlafen denke ich an
Babs und wo die wohl ist.
Es ist komisch, im weiteren Verlauf des Tages fällt sie mir
immer wieder ein. Da laufe ich nun jahrelang an ihren
Fotos vorbei und muss nie an sie denken und jetzt, da
eine Frau zu mir zieht, ist das ständig der Fall. Ich kann
mir das nur mit dem Zerreißen der Fotos erklären, der
Endgültigkeit dieser Aktion und meinem inneren Aufruhr
deswegen, will dem aber keine weitere Beachtung
schenken.
Am nächsten Tag überlege ich mir, dass ich doch noch
etwas für Jadwiga arrangieren sollte. Ich bestelle Blumen
und in einem Delikatessengeschäft einen kleinen Imbiss.
Die machen das immer perfekt. Mit Tischdecke, Kerzen
und allem Drum und Dran. Das Ganze lasse ich um
neunzehn Uhr anrollen, damit alles rechtzeitig fertig ist.
Endlich ist es einundzwanzig Uhr und ich bin verdammt
aufgeregt. Hoffentlich merkt sie das nicht. Ich war nur
36
einmal in meinem Leben so aufgeregt wie heute. Das
war bei meiner Konfirmation. Damals glaubte ich noch
an GOTT, und ich war davon ausgegangen, dass an
diesem Tag irgendetwas Außergewöhnliches passieren
müsste. Irgendetwas Mystisches, eine Offenbarung oder
wenigstens ein Zeichen. Zum Beispiel blutende Löcher an
meinen Händen, eine weiße Taube, die sich in mein
Zimmer verirrt, oder Tränen an der Holzfigur in der Kirche. Doch nichts geschah. Ich war sehr enttäuscht von
IHM. Trotzdem glaubte ich noch eine Weile weiter, hörte aber, als ER mir auch weiterhin keine Zeichen sandte,
irgendwann damit auf. Ich kann gar nicht sagen, wann
das war. Es gab keinen besonderen Anlass, vom Glauben
abzufallen, aber auch keinen, weiter an ihm festzuhalten.
Es schellt. Ich gehe zur Türsprechanlage und melde mich.
»Ihr Paket ist da. Lassen Sie sie rein und viel Spaß.«
Ich drücke den Summer und höre, wie die Tür ins
Schloss fällt. Dann öffne ich die Wohnungstür und warte. Mein Herz schlägt wie wild. Schließlich steht sie mir
gegenüber. Sie ist besser gekleidet als ich vermutet habe.
Unbeholfen strecke ich ihr die Hand entgegen.
37
Was ist das Problem
Co to jest problemem
H
allo, ich bin Kurt«, sage ich hastig.
»Jadwiga«, sagt sie nur und schaut mir in die Augen. Es macht mich verlegen und ich schaue schnell auf
ihre Hand. Etwas stimmt nicht, schießt es mir kurz durch
den Kopf. Prüfend schaue ich ihr wieder ins Gesicht.
Was ist es bloß? Sie lächelt mich geduldig an. »Wollen
wir nicht reingehen?«, fragt sie mich schließlich.
»Ach ja, Entschuldigung.« Ich mache ihr Platz und
greife nach ihrem Koffer. Sie geht an mir vorbei. Genau,
das ist es! Sie ist zu groß! Ich schaue auf ihre Schuhe.
Die Absätze sind höchstens fünf Zentimeter hoch. Wenn
ich die abziehe, ist sie bestimmt eins vierundachtzig
groß. Dann ist sie zwei Zentimeter größer als ich. Ich bin
mir aber sicher, dass in der Beschreibung nur von eins
neunundsiebzig die Rede ist.
Sie gibt mir ihren Mantel. Darunter trägt sie einen Pullover und einen Rock von minderer Qualität. Von ihrer
Figur kann ich, wegen der Weite der Kleidung, nicht viel
erkennen.
»Nimm irgendwo Platz, ich komme gleich wieder.«
Schnell flitze ich ins Schlafzimmer. Eins neunundsiebzig
steht in der Beschreibung. Hab ich es doch gewusst!
Schnell überfliege ich noch mal die letzte Seite: ›Ver38
tragswandlung bei erheblichen Mängeln‹. Ich gehe ins
Wohnzimmer zurück. Sie steht auf der Dachterrasse und
schaut über die Elbe. Ich stelle mich neben sie und vergleiche heimlich unsere Körpergrößen. Sie ist so groß wie
ich. Also muss sie flache Schuhe tragen. Das ist sehr
schade, weil ich High Heels sehr mag.
»Zeigst du mir deine Wohnung?«
Und nun schon wieder jemand, der mich erwartungsvoll ansieht. Ich zeige ihr selbstverständlich alle Räume.
Dann sitzen wir bei Kerzenlicht und Essen. Sie redet viel
und scheint sehr glücklich zu sein. Ihr Deutsch ist wirklich sehr gut, einige Worte spricht sie nur merkwürdig
aus. Daran muss ich mich erst gewöhnen. Wir sitzen
gemeinsam auf dem Sofa.
»Morgen gehen wir einkaufen und vielleicht noch
zum Friseur, wenn du Lust hast.«
Sie sieht mich erstaunt an. »Warum?«
»Weil du so nicht los kannst. Ich habe uns für morgen
bei einem von diesen Nobelausstattern angemeldet. Die
führen die Klamotten sogar vor.«
Jetzt schaut sie ernst. Ich weiß nicht, was dieser Blick
zu bedeuten hat. Schließlich schaut sie auf ihr Glas und
schweigt eine ganze Weile. Dann sagt sie plötzlich sehr
ernst: »Gut, dann morgen um zehn. Wir werden sehen,
ob wir was finden.«
Ich spüre eine komische Schwingung. Es ist wie bei einer geschäftlichen Besprechung. Kühl und sachlich,
trotzdem enorm wichtig für mich. Es ist unangenehm
und lässt mich auf Distanz gehen. Mir fallen die fünf
Tage Umtauschrecht ein. Das beruhigt mich und ich
39
verdränge das Gefühl.
Inzwischen ist es recht spät geworden und Jadwiga
wirkt müde. Eigentlich ist es gar nicht meine Art, aber ich
schlage ihr vor, dass sie mein Bett benutzen kann. Ich
werde die Nacht auf dem Sofa verbringen. Dabei ist es
ein breites Bett, ein verdammt breites Bett. Und ich hatte
es frisch beziehen lassen. Jadwiga schaut mich an und
willigt leider ein. Ich glaube, dass sie erleichtert ist. Das
wiederum empfinde ich als Kränkung. Aber das lasse ich
mir nicht anmerken. Als sie sich fürs Bett fertig macht,
überlege ich kurz, ob ich sie heimlich beobachten soll.
Schließlich muss ich herausfinden, ob sie die angepriesenen Traummaße hat. Aber ich lasse es lieber bleiben.
Irgendwie habe ich Respekt vor dieser Frau und traue
mich nicht. Dass ich mich nicht traue, macht mir Angst.
Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob die Idee mit
dem Heiraten wirklich so gut ist.
Fast bin ich eingeschlafen, da bemerke ich plötzlich, dass
sie das Zimmer betritt. Sie kommt auf mich zu und bleibt
vor dem Sofa stehen. In der Dunkelheit kann ich sie nur
schemenhaft erkennen. »Du bist ganz schön schüchtern,
was?« Sie sagt es und steigt aufs Sofa. Ohne zu zögern
fällt sie über mich her. Sie beschert mir eine Nacht, wie
ich sie schon lange nicht mehr erlebt habe.
Um acht Uhr weckt uns der Wecker. Jadwiga steht auf
und geht duschen. Eigentlich müsste ich ja begeistert
sein, aber es stört mich, dass sie mich einfach so vernascht hat. Sie bestimmt jetzt schon, wo es lang geht.
40
Als ich dusche, verfliegen diese Gedanken. Schließlich
durfte ich feststellen, dass das mit den Traummaßen
stimmt, schneller und eindrucksvoller, als ich gehofft
hatte.
Wir sitzen beim Frühstück.
»Wer ist diese Frau auf den Fotos im Flur?«
Ich sehe sie überrascht an. Jadwiga sieht traumhaft
schön aus. »Die Fotos im Flur? Das ist Andrea, eine
Freundin von früher. Niemand Besonderes. Warum?«
»Dann nimm diese Fotos ab!«
Ich atmete tief ein, das geht mir jetzt zu weit. »Andrea
ist …« Mir fällt nichts Vernünftiges ein, was ich jetzt
sagen kann.
»Gut«, sagt sie bestimmt, »dann kannst du sie ja abnehmen. Ein Mann sollte die Fotos von seiner Frau aufhängen. Von seiner Mutter und seinen Kindern. Aber
nicht von irgendeiner Frau.«
Ich will etwas entgegnen, aber mir fehlen die Worte –
und die Kraft. »Okay«, sage ich schließlich. Sie lächelt
mich an.
Um zehn Uhr sind wir in dem Nobelschuppen. Jadwiga
sieht glücklich aus. Das Einkaufen ist eine langwierige
Prozedur. Als wir das Geschäft endlich am Nachmittag
verlassen, bin ich völlig fertig. Ich habe einen Bärenhunger. Wir gehen etwas essen. Ich bin stolz auf Jadwiga.
Sie sieht gut aus und ich kann mich wirklich überall mit
ihr sehen lassen. Der Heiratsvermittler hat gute Arbeit
geleistet. Ich glaube, dass ich ihm was schuldig bin und
ihn tatsächlich weiter empfehlen muss. Jadwiga will nun
41
noch zum Friseur. Ich habe aber keine Lust mehr und
maule erst einmal rum.
»Was soll das jetzt? Wir haben jede Menge hübscher
Klamotten gekauft, genau wie du es wolltest. Nun gehe ich
auch zum Friseur, sonst gehe ich nirgendwo mit dir hin.«
»Was soll das jetzt?«, entgegne ich sauer und wiederhole ihre Frage bewusst. »Du warst in Polen wahrscheinlich jahrelang nicht …« Ich bringe den Satz nicht zu Ende. Das Blitzen in ihren Augen lässt mich schlagartig
verstummen.
»Sag das nie wieder … Sag es nie wieder, wenn wir
Freunde bleiben wollen.«
Meine Handflächen sind mit einem Mal ganz nass.
Das Blut schießt mir in den Kopf. Ich glaube, ich bin rot
geworden. »Okay, war scheiße. Entschuldigung.«
»Das nächste Mal kannst du dich ruhig richtig entschuldigen und nicht nur drei Worte stammeln. Nur so
eine Floskel reicht mir nicht. Und jetzt gib mir Geld, ich
gehe zum Friseur.« Sie hält mir ihre Hand entgegen. Die
Leute von den Nachbartischen schauen herüber. Einige
grinsen übers ganze Gesicht. Die ganze Sache ist mir
äußerst peinlich.
»Soll ich nicht lieber mitkommen? Ich meine, du so allein, in der fremden Stadt …«
Sie sieht mich an, ihre Hand noch immer ausgestreckt.
Um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, gebe ich ihr
Geld. Lächelnd steckt sie es ein und steht auf. »Wir sehen uns dann nachher in deiner Wohnung.« Sie kommt
um den Tisch herum und beugt sich zu mir herab. Eine
groteske Situation nach dieser Differenz. »Ich hoffe, du
42
hast dann etwas Zeit für mich«, flüstert sie mir ins Ohr.
Dann beißt sie mir zärtlich hinein, lacht und verschwindet. Die Leute an den Nebentischen wenden sich schmunzelnd ab. Die Show ist zu Ende. Ich bezahle und gehe eilig.
Als ich im Auto sitze, denke ich über die ganze Sache
nach. Ich bin ratlos. Dieses Verhalten … Führt sie was im
Schilde? Mir ist nicht wohl in meiner Haut. Ich beschließe, die ganze Sache wieder in die Hand zu nehmen. So
etwas wie eben brauche ich mir nicht gefallen lassen.
Traumfrau hin, Traumfrau her. Schließlich ist es eine
Tatsache, dass sie aus ärmlichen Verhältnissen kommt.
Und jetzt bekommt sie alles, einfach so. Sie sollte dankbarer sein. Was war das eben für eine peinliche Situation
für mich. Gar nicht auszudenken, wenn mich dort jemand gekannt hätte. Ich werde mit ihr reden müssen.
Dieses Verhalten muss ein Ende haben.
In meiner Wohnung bin ich gerade damit beschäftigt,
die Bilder von Andrea zu entfernen, da werde ich durch
das Läuten des Telefons gestört. Ich geh ran. »Kurt«,
melde ich mich.
»Hallo Kurt«, antwortet eine Frauenstimme. »Du
kennst mich sicher gar nicht mehr. Hier ist Babs. Na, du
weißt schon … vor sieben Jahren. Ich habe mir gedacht,
ich melde mich einfach mal. Ich wollte nur mal wissen,
was du so machst.«
Es entsteht eine Pause. Erinnerungen jagen mir durch
den Kopf. Blöderweise fällt mir der Kaktus ein. Der, den
ich von der Dachterrasse warf.
»Freust du dich? Oder soll ich lieber wieder aufle43
gen?« Wieder Pause. »Du sagst ja gar nichts«
»Doch, doch schon. Also, ich freu mich. Nur, es ist so
unerwartet. Ich habe, ehrlich gesagt, gar nicht damit
gerechnet, dass ich jemals wieder etwas von dir höre.«
Es ist eigenartig, vorgestern habe ich noch an sie gedacht und nun ruft sie an. Im Moment weiß ich eigentlich gar nicht, ob ich mich freuen soll.
»Wie sieht es aus, wollen wir uns nicht mal wieder
treffen? Wohnst du eigentlich noch immer in dieser tollen Wohnung?«, fragt sie.
Panik kriecht in mir hoch. Will sie mich etwa besuchen? Das will ich nicht. Allein wenn ich an Jadwigas
Reaktion denke … Die ist ja schon bei Fotos ganz giftig
geworden. »Ja, ja, ich wohne noch hier. Aber im Moment kannst du nicht kommen. Ich muss erst noch einiges klären.«
»Will ich auch nicht«, antwortet sie.
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich habe Babs als sehr
spontan in Erinnerung, und so etwas wie einen unangemeldeten Besuch kann ich jetzt gar nicht gebrauchen. Da
ich befürchte, dass Jadwiga jeden Moment zur Tür reinkommt, will ich das Gespräch möglichst schnell beenden.
Babs einfach abwimmeln will ich allerdings auch nicht.
Wer weiß, wie sie jetzt aussieht und was sie so macht?
Außerdem schmeichelt es mir, dass sie mich angerufen
hat. Und wer weiß schon, wie das mit Jadwiga weiter
geht. »Pass auf, Babs, gebe mir doch einfach deine Telefonnummer und ich rufe dich in den nächsten Tagen
an.«
Ich verrenke mich, um an ein Blatt Papier und einen
44
Stift zu kommen.
»Ich habe kein Telefon.«
»Was?«
»Ich habe kein Telefon.«
»Du hast kein Telefon? Was ist mit E-Mail oder so? Irgendwo muss doch ein Telefon sein. Jeder hat ein Telefon.« Ich verstehe das nicht. Es ist mir unbegreiflich.
»Ich habe kein Telefon und auch keine E-Mail.«
»Gut«, sage ich und ignoriere die Tatsache, dass sie
mich grad anruft, »dann gib mir deine Adresse.«
Sie ziert sich. Scheinbar ist es ihr nicht recht. Sie wohnt
jetzt in einer Hochhaussiedlung in Bremen. Gott sei Dank
– Bremen. Das ist nicht einfach so um die Ecke. Frankfurt
wäre noch besser. Ich schreibe mir die Adresse auf. Dann
muss ich ihr versprechen, auch bestimmt einmal vorbei
zu schauen. Ich vertröste sie auf die nächsten vier Wochen. Etwas musste ich ihr schließlich anbieten. Ich will
nicht, dass sie noch mal einfach so anruft. Nicht auszudenken, was passiert, wenn Jadwiga mitbekommt, dass
mich eine Ex anruft. Als ich aufgelegt habe, atme ich erst
einmal tief durch. Das war ja eine nette Überraschung.
Ich setze mich aufs Sofa und starre auf den Zettel. Das
war damals eine wilde Zeit mit ihr.
Bremen.
Ich denke, dass ich den Zettel besser verstecken sollte.
Bloß wo? Mit einem Mal habe ich das Gefühl, dass es in
dieser Wohnung keinen sicheren Ort für diesen Zettel
gibt. Auf jede Idee für ein Versteck folgt eine Szene in
meinen Gedanken, die es nur zu logisch erscheinen lässt,
dass Jadwiga den Zettel findet. Mein Denken ist blo45
ckiert. Was ist nur los mit mir? So ein kleiner Zettel, und
ich benehme mich wie ein Volltrottel. Ich gehe auf die
Dachterrasse. Es ist warm. Ein schöner Tag mit blauem
Himmel.
So. Jetzt mal ganz langsam und logisch. Ich habe einen Zettel, der verschwinden muss, und keine Zeit. Jadwiga kann jeden Augenblick vor mir stehen und ich habe
diesen Zettel in der Hand. Ich stelle mir vor, wie sie mir
den Zettel abnimmt, ihn liest, mich zur Rede stellt, mich
beschimpft … mich schlägt. Schluss jetzt, das ist ja kompletter Blödsinn! Jadwiga ist aus Polen. Polen sind katholisch. Katholiken sind wohlerzogen, anständig und mögen
keinen Sex. Noch mal Blödsinn. Polen? Genau! In Polen
gibt es nix zu kaufen. Die haben keine Supermärkte.
Jedenfalls nicht solche wie wir. Glaube ich zumindest.
Vielleicht einen Konsum wie in der DDR. Die Polen müssen alles selber machen. Das ist die Lösung. Jadwiga
kann kochen! Es gibt ein ziemlich sicheres Versteck. Ich
werde den Zettel im Kochbuch verstecken. Da sie ja kochen kann, wird sie das Kochbuch niemals brauchen.
Also niemals hineinschauen. Genial. Ich liebe diese Polen! Das Telefon läutet wieder. Ich überlege kurz, ob ich
abheben soll. Vielleicht ist es wieder Babs, weil sie was
vergessen hat. Ich zögere, das Läuten hört nicht auf.
Wenn ich jetzt abhebe und Jadwiga kommt rein?
Schließlich greife ich doch zum Hörer. Wenn ich nicht
rangehe und es klingelt immer noch, wenn sie reinkommt, ist das noch verfänglicher. Gehe ich nicht ran
und Babs versucht es später noch einmal, nur um mir
noch irgendetwas Überflüssiges mitzuteilen, dann kann
46
ich sicher sein, dass Jadwiga dann da ist und meine Beerdigung stattfindet. Ich räuspere mich und sage »Hallo«. Dieses Hallo bleibt mir fast im Halse stecken.
»Hier ist Fred. Kurt bist du das?«
Ich bin erleichtert. »Ja.«
»Was ist los mit dir, bist du krank? Du hörst dich gar
nicht gut an. Ich habe deine Stimme eben nicht erkannt.«
»Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur
verschluckt«, lüge ich ihn an.
»Und«, platzt es aus ihm heraus. »Wie ist sie?«
Ich überlege kurz. Was soll man da sagen? Das ist doch
eine total blöde Frage. »Spitze«, sage ich schließlich.
»Na was, spitze? Nun rede schon! Ich will alles wissen.«
Fred will alles wissen. Zwischendurch versuche ich, ihn
abzuwimmeln, was natürlich nicht klappt. Ich beschreibe
sie also so gut es geht. Nur das mit der Körpergröße und
das mit meinem flauen Gefühl, das erzähle ich ihm nicht.
Als sein Wissensdurst endlich gestillt zu sein scheint, sagt
er schließlich: »Okay, dann sehen wir uns heute bei Freddy. Ich bin schon ganz gespannt. Ich glaub, die anderen sind auch alle da.«
»Nein, Fred, ich glaube nicht, dass wir uns heute noch
sehen. Wir waren den ganzen Tag unterwegs. Klamotten kaufen und so. Ich bin kaputt. Wir gehen heute
Abend bestimmt früh ins Bett. Vielleicht sehen wir uns
am Wochenende.«
»Was ist los, Kurt? Gerade mal einen Tag eine feste
Frau und schon hängst du in den Seilen? Ihr gehört nicht
47
ins Bett, ihr gehört erstmal auf die Bahn. Nett sein zu
den Kumpels. Vorstellen und so!« Fred hat sichtlich gute
Laune und redet sich richtig in Rage. Dann wird es gefährlich. Er bringt es glatt, dass er hier mit einem Haufen
Leute aufläuft, nur weil er seine Neugierde nicht unterdrücken kann. Da platzt es auch schon aus ihm heraus:
»Kurt, wenn ihr nicht in die Bar kommt, dann komme ich
mit den Jungs zu dir. Alle wollen die Braut sehen.« Er
lacht und legt auf.
»Schöne Scheiße«, brumme ich in den Hörer. Er hört
es nicht mehr.
Ich mache den Fernseher an. Schalte die Programme
durch. Da bleibe ich hängen bei einer Sendung über
Wildschweine in Berlin. Dass diese Viecher in der Stadt
rumlaufen, Gärten verwüsten und sogar tagsüber mitten
im Autoverkehr spazieren gehen. Ich interessiere mich
nicht für Tiere. Schon gar nicht für Schweine. Ich weiß
nicht einmal, warum ich mir diesen Mist anschaue. Endlich schaffe ich es, den Fernseher auszumachen.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist verdammt spät geworden. Wo bleibt sie nur? Ich gieße mir einen Martini ein
und gehe auf die Dachterrasse. Die Sonne steht schon
weit im Westen. Sonst konnte ich hier lange stehen und
zusehen. Zusehen wie sie langsam rot wurde. Das Rot
immer mehr zunahm. Sie immer tiefer sank. Die ersten
Lichter der Stadt angingen. Alle Lichter angingen. Bis es
schließlich dunkel war. Am Verkehrslärm konnte ich die
Uhrzeit bestimmen und durch den Smog hindurch die
ersten Abendsterne flimmern sehen. Doch heute fehlt
mir die Ruhe dazu. Nervös laufe ich auf der Dachterrasse
48
auf und ab. Wo ist sie nur? Vielleicht hat sie sich ja verlaufen. Aber das ist unwahrscheinlich. Da muss man
schon ganz schön blöde sein. Ich gehe rein und gieße
mir noch einen Martini ein. Plötzlich fällt mir ein, dass ich
ja noch Andreas Bilder entfernen muss. Und sie anrufen.
Ihr sagen, dass sie sich auf keinen Fall bei mir melden
soll. Erst einmal jedenfalls. Ich wähle Andreas Nummer.
Sie ist nicht da. Anrufbeantworter. Ich lege wieder auf.
Dann wähle ich noch einmal ihre Nummer. Ich muss das
Ding benutzen. Es piept. Hektisch und völlig verkrampft
spreche ich auf das Band: »Hallo Andrea, ich habe ja
versucht, dich zu erreichen. Das hat sich erledigt. Bitte
rufe erst einmal nicht mehr an. Ich habe keine Zeit. Ich
melde mich dann irgendwann bei dir. Ach so, hier ist
Kurt.« Schnell lege ich auf.
Mann, muss sich das bescheuert anhören. Viel zu
schnell gesprochen und so, als ob ich unter Atemnot
leide. Ich hasse diese Dinger! Hoffentlich hält sich Andrea daran. Vielleicht hätte ich das bestimmter sagen
sollen. Oder vielleicht erklären. Aber was hätte ich erklären können? Dass seit gestern eine Frau bei mir wohnt?
Eine Frau, die langsam die Kontrolle übernimmt? Eine
Frau, vor der ich kusche, vor der ich Schiss habe?
Zufällig schaue ich in den Garderobenspiegel. Ich sehe
gut aus! Ich bin der Lottokönig! Ich mache die Ansage!
Ich glaube, dass es dazu höchste Zeit ist. Ich werde mit
ihr reden müssen … Ich fühle mich nicht gut bei dem
Gedanken daran. Kaum sind diese Gedanken verflogen,
ist die Unruhe wieder da. Ich schaue auf die Uhr.
Ist das Liebe? Ich war, das glaube ich zumindest, noch
49
nie verliebt. So richtig, meine ich. Wenn das Liebe ist,
warum wird darum so ein Geschrei veranstaltet? Ich
kann nicht sagen, dass mir dieses Gefühl gefällt. Vielleicht ist es ja Abhängigkeit. Aber von wem? Etwa von
Jadwiga? Sie ist keine vierundzwanzig Stunden hier. Das
kann nicht sein. Außerdem, warum? Frauen gibt es Tausende in Hamburg. Ich bin verwirrt.
Endlich schellt es an der Tür. Es ist Jadwiga. Mir fällt
ein Stein vom Herzen. Ich bin glücklich, sie zu sehen.
»Du musst mir unbedingt einen Schlüssel geben. Ich
hatte schon Angst, dass du nicht da bist.«
»Ich und nicht da?«, antwortete ich mit hysterischer
Stimme.
Sie schaut mich verblüfft an. Alter, sieht die gut aus!
»Ich sitze hier und mache mir Sorgen. Du glaubst
doch nicht, dass ich da auch nur einen Schritt vor die Tür
setze, um mich irgendwo zu vergnügen?« Das sollte
möglichst vorwurfsvoll klingen.
»Mach dich nicht lächerlich. Ich war bei einem Friseur.
Immerhin musste ich erst einmal einen finden … und
danach habe ich mir noch Schaufenster angeschaut. Du
weißt doch; da wo ich herkomme, gibt es nichts anzuschauen. Das ist ein Dorf. Da gibt es nur Schweine,
Hühner und Kühe. Noch Fragen?«
Ich bin hilflos. Es hat nicht funktioniert. Sie geht ins
Bad. Ich höre, dass sie sich Wasser einlässt. Nach einer
Weile gehe ich zögernd hinterher. Nicht sicher, ob ich
das Bad betreten darf. Schließlich bleibe ich dann in der
halb geöffneten Tür stehen. Sie liegt in der Wanne. Der
Schaum reicht bis an ihr Kinn. Ihre Augen sind geschlos50
Impressum
Joachim Harms
Vom Schrecken des Reichtums
1. Auflage • April 2015
ISBN Buch: 978-3-95683-024-2
ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-025-9
ISBN E-Book epub: 978-3-95683-194-2
Korrektorat: Ulrike Rücker
[email protected]
Umschlaggestaltung: Ralf Böhm
[email protected] • www.boehm-design.de
© 2015 KLECKS-VERLAG
Würzburger Straße 23 • D-63639 Flörsbachtal
[email protected] • www.klecks-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Verlages gestattet. Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes, liegen beim KLECKS-VERLAG. Zuwiderhandlung ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz.
Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden vom Autor nach
bestem Wissen erstellt und erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Der Verlag übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unstimmigkeiten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
168
Leseempfehlung ...
169
Ron Hardt
Rotznasenrock
Roman
Taschenbuch • 489 Seiten
ISBN Buch: 978-3-944050-61-4
ISBN E-Book PDF: 978-3-944050-62-1
ISBN E-Book epub: 978-3-95683-182-9
Benjamin Martin steht mit seiner Band, den Monomaniacs, seit
Jahren kurz vor dem Durchbruch.
Er durchlebt Ende der Neunziger seine wilden Jahre, oder
das, was er dafür hält.
Uneinsichtig krallt er sich an die Ausrede, jünger zu wirken
als zu sein und auch dementsprechend handeln zu dürfen. Ist
man Jugendlicher, solange man auf der Rückenlehne einer
Bank sitzt und nicht auf der Sitzfläche?
Auch als er Julia und Analea kennenlernt, verbaut er sich
gewissenhaft jede Chance auf ein glückliches Leben.
Es erklärt einem ja auch keiner. Da gibt es keine Songtexte,
die einem dadurch helfen. Die Steuerklärung machen und das
Leben händeln, soll man einfach so können. Womöglich instinktiv. Veränderungen liefern Konsequenzen, Freundschaften
strapazieren und brechen. Liebe wird zu Reife und Lederjacken
werden zu Boss-Sakkos.
Endlich scheint der Erfolg der Band in greifbarer Nähe. Sie
werden Supporting Act, nehmen ihre erste CD auf und bekommen die Gelegenheit, bei einem großen Festival in ihrer
Heimatstadt aufzutreten. Lokalheldentum ade, hello Media
Control.
Doch Benjamin erkennt, dass alles, was er sucht, die Veränderung selber ist. Er muss einen Schlussstrich unter sein
bisheriges Treiben setzen und zwar allegro ma non troppo.
170
Leseempfehlung ...
171
Silke Grünberg
Alles hat auch eine gute Seite ...
Such sie doch!
Erzählungen
Taschenbuch • 101 Seiten
ISBN Buch: 978-3-95683-056-3
ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-057-0
ISBN E-Book epub: 978-3-95683-112-6
Niemand schreibt so herrlich skurrile, ärgerliche, witzige Geschichten wie das Leben selbst ...
Abgesehen von Silke Grünberg. Ob nun Nachbarn, die man
am liebsten erwürgen würde, wenn sie morgens um 6:00 Uhr
ihrem Putzwahn nachgehen, oder die leidigen Arzt- oder Behördengänge, bei denen man schon mitunter an seinem eigenen oder dem Verstand der anderen zweifeln könnte – auf
humoristische Art führt Grünberg durch die Merkwürdigkeiten
des Lebens
Pur, echt, aus dem Alltag gegriffen – zum Schmunzeln und
Sich-mit-Ärgern. Viel Spaß und amüsante Stunden!
172
Leseempfehlung ...
173
Ercan Aydin
Schicksalhafter Gewinn
Wer wagt ... kann viel verlieren
Erzählung
Taschenbuch • 97 Seiten
ISBN Buch: 978-3-95683-096-9
ISBN E-Book PDF: 978-3-95683-097-6
ISBNM E-Book epub: 978-3-95683-098-3
Sein Leben beginnt nicht einfach. Für alles muss er hart arbeiten, seine Familie kann ihm keine finanziellen Sicherheiten
bieten. Schon früh beginnt er vom „Großen Los“ zu träumen,
von einem Geldgewinn, der ihm alle Wünsche erfüllen könnte.
Doch das Schicksal scheint nicht auf seiner Seite zu sein. Sein
Studium erarbeitet er sich durch viel Mühsal und Fleiß, um
dann schließlich doch in der Arbeitslosigkeit zu enden. Aber
dann wendet sich das Blatt: Er lernt seine große Liebe kennen
und gründet eine Familie. Aber immer noch haben alle anderen viel mehr als er, und zurück kehrt der Traum vom großen
Gewinn – und mit ihm die Unzufriedenheit. Und dann passiert
das Unglaubliche: Eine Million – und das Unglück bricht endgültig herein ...
174