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Carlos Bley Rodriguez
OHNE TITEL
Die Schatten wurden länger. Schon bald würde der letzte Sonnenstrahl hinter den
Dächern verschwinden. Vorsichtig bahnte sich die Truppe einen Weg durch das zerstörte,
verregnete Dorf.
Michel ging seinen Kameraden weit voraus, stieg hier und da auf einen Schutthaufen,
hielt Ausschau nach einem Intakten Gebäude. Die abgebrannten Häuser standen um
einen kleinen Hof herum. Dachbalken waren zwischen die Häuser gestürzt, ihre
verkohlten
Überreste
versperrten
manche
Wege
aus
dem
Dorf
hinaus.
In
der
Ruinenlandschaft bewegte sich nichts, es war nichts zu hören. Nur die Krähen, die sich
um eine verweste Kuhleiche scharten, durchbrachen die Totenstille beim Kampf um das
letzte Stück Fleisch. Der schlammige Boden war übersät mit Fussspuren. Kreutz und quer
führten sie über den Hof. Michel liess seinen Trupp unter einem kleinen Holzunterstand
rasten und begann die Häuser genauer in Augenschein zu nehmen. Fünf Holzgebäude
waren bis auf die Steinfundamente niedergebrannt. Bei drei weiteren Häusern war nur
das Dach den Flammen zum Opfer gefallen. Michel lief vorsichtig durch die Ruinen. Nichts
regte sich in ihnen. Michel lief zurück über den Hof zum Unterstand.
«Kameraden, weiter geht’s, hier gibt’s nichts. Keine Sau da», sagte Michel und nahm
dankend eine Zigarette entgegen. «Woher hast denn die, Schröder?»
«‘nem Russen geklaut, er braucht sie sicherlich nicht mehr.», Schröder grinste und liess
die Packung zurück in seinen Mantel verschwinden. Er zündete erst Michels, dann seine
Zigarette an.
«Wo sind wir hier eigentlich?», fragte er in die Runde und nahm einen tiefen Zug. Michel
zuckte mit den Schultern und rauchte weiter.
«Ich bin mir nicht sicher, wart mal…», Hans packte ein Papierbündel aus seinem Mantel
und zog eine zerrissene, gefaltete Landkarte daraus hervor und breitete sie auf ein paar
Fässern aus. <<Hier, nördlich von Minsk. Die Unfallstelle muss irgendwo hier zwanzig
Kilometer südlich von uns liegen»
«Wie weit noch bis zur Kreuzung?», fragte Michel.
«Ich würde sagen einen Tagesmarsch. Wir sollten jetzt aber dafür sorgen, dass wir einen
Unterschlupf finden.», sagte Hans. Michel nickte und betrachtete seine Männer. Neun
Tage war es her, dass sie einander zugeteilt worden sind. Als er den Blick über jeden
einzelnen gleiten liess, bemerkte er, dass jemand fehlte. «Wo ist Peter?», fragte er.
«Der ist pissen gegangen», antwortete Hans, als plötzlich Peter angerannt kam.
Alle schauten ihn fragend an. Peter war bleich. «Kommt», sagte er.
Peter führte sie stumm wie eh und je vom Dorf Zentrum weg. Sie liefen zwischen
weiteren Ruinen hindurch. Das Dorf schien grösser zu sein als Michel gedacht hatte. Er
bemerkte, dass der Weg gesäumt war mit Fussspuren, denen Peter folgte. Schliesslich
waren sie am Dorfrand angelangt. Vor ihnen erstreckte sich ein längliches, fast gänzlich
verbranntes Holzgebäude. Die vordere Seite und die Grossen Flügeltüren waren
Russschwarz. Der gesamte Dachstuhl war in sich zusammengefallen und hatte eine
Bretterwand mit sich gerissen.
«Eine Scheune», sagte Michel
Peter nickte stumm und ging zu der zerstörten Seitenwand. Michel und die anderen
blieben stehen und schauten ihm hinterher.
«Peter! In einer abgebrannten Scheune können wie wohl schlecht schlafen. Was gibt’s
hier denn zu sehn», rief im Michel hinterher. Peter drehte sich um und nickte Richtung
Seitenwand.
«Seht selber…», sagte er und kletterte ohne zurück zu blicken in die Scheune. Einer nach
dem anderen folgten sie ihm über die Überreste der Wand. Michel schaltete in der
Scheune seine Daimon an. Ihr Licht war schwach, die Batterie ging zur Neige. Die
anderen Taten es ihm gleich. Michel wollte gerade losgehen um sich umzusehen, doch
Peter hielt ihn zurück und zeigte vor Michel auf den Boden. Zwischen dem Dachgebälk
und der Asche, lag ein verkohlter Körper. Michel blick wanderte weiter. Ein zweiter lag
gleich daneben. Plötzlich erkannte er zwischen dem Schutt noch mehr Leichen. Die
Körper waren fast nicht mehr zu erkennen und mancher hatte die Grösse eines
Kleinkindes. Michels Knie liessen nach, ihm wurde schwarz vor Augen. Er fiel auf alle
vieren und erbrach. Vor seinem inneren Auge spielten sich grauenvolle Szenarien ab, sie
lähmten seinen Körper. Hans war beim Anblick der verbrannten Leichen auf den Boden
gesunken und schlug das Kreuz Zeichen. Schröder stütze dich an einen Balken und
rauchte, die anderen taten es ihm gleich und Schulze, der Glotzte nur neugierig. Peter
zog Michel auf die Beine und brachte ihn aus der Scheune. Die Anderen folgten Stumm.
Draussen Atmete Michel tief ein und versuchte sich zu beruhigen. Er ging in die Hocke
und schaute zum Himmel hinauf. Sein Herz schlug wie wild. Er wollte weg von diesem
Ort.
So schnell wie möglich.
Alsbald hatten sie das Dorf hinter sich gebracht. Der Waldweg verlor
sich in einem
überschwemmten Feldweg. Ihre Stiefel versanken tief im Schlamm. Mühsam kämpften
sie sich durch die Landschaft, die kühle Märznacht hatte sich über sie gelegt.
Michel
lief
energisch,
ignorierte
den
Marschgesang
der
anderen
und
starte
gedankenverloren auf seine auftauchenden und wieder verschwindenden Stiefelspitzen.
Alls er erschöpftes Jubeln hinter sich vernahm, blieb Michel stehen und drehte sich
verwundert um. In der Dunkelheit machte er seinen sich ihm nähernden Trupp aus, an
der Spitze der fröhlich grinsende Schultze.
«Schultze! Was grinst du so blöde?», rief Michel ihm entgegen, worauf dieser rechts von
Ihm in die Dunkelheit zeigte.
Michel folgte seinem Finger: Am Horizont, hinter den weitläufigen Wiesen war ein Haus
aufgetaucht. Euphorisch liefen sie über die verschlammte Wiese, verloren das Haus
hinter den Bäumen aus der Sicht, bis es besser erkennbar wieder erschien. Das simple
Holz Gebäude hatte an der sichtbaren Frontseite drei Fenster mit weissen Rähmen und
zwischen den Dachschrägen ein viertes. Dieses war leicht erleuchtet.
Mit einer erhobenen, geballten Hand hiess Michel seinem Trupp zu halten und winkte sie
hinter den
nahgelegenen Holz schuppen. Alleine schlich er sich zum Haus, stellte sich
neben dem rechten Fenster mit dem Rücken zur Wand auf und blickte kurz durch das
Fenster. Sofort schnellte er zurück. Er hatte zwar niemanden im dunklen Raum
ausgemacht, wollte aber kein Risiko eingehen gesehen zu werden.
Michel winkte seine Männer zu sich, schlich um die Ecke und führte sie zur Haustür. Er
drückte die Türklinke und sie ging ohne weiteres auf.
Leise drangen sie ins Haus ein und sicherten das leere Wohnzimmer und die Küche. Die
Holzdielen knarrten unter dem Gewicht der bewaffneten Männer. Michel legte den
Karabiner auf den Fussboden und nahm die Luger in die Hand. Langsam stieg er die
Treppe hinauf, an der oberen Ecke blieb er stehen und blickte um die Sie. Im hinteren
Bereich des Dachbodens war eine Tür, die in den Raum hinter dem Fenster führen
musste. Er hielt auf die Tür zu, hörte Schritte die sich der Tür näherten und hob die
Pistole. Er blieb mitten im Gang stehen, den Finger auf dem Abzug, die Waffe auf die Tür
Gerichtet. Die Schritte verstummten und die Tür ging auf. Vor Angst geweitete Blaue
Kinderaugen blickten in den Pistolenlauf.