Andreas Stoch MdL Minister für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg "Umgang mit Vielfalt - Inklusion" Es gilt das gesprochene Wort Ulm, 19.03.2015, 15:30 Uhr 1. Bundespräsident Joachim Gauck hat sich im ver- gangenen Jahr dazu geäußert, was aus seiner Sicht eine inklusive Gesellschaft auszeichnet. Für ihn ist es "eine Gesellschaft, die sich nicht aufteilen will und aufteilen lässt in die Einen und die Anderen, sondern die gemeinsame Werte, gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Ziele in den Mittelpunkt rückt. Eine Kraftanstrengung, die von allen getragen wird, also von Menschen mit und ohne Behinderung, und ein Gewinn, der sich nicht allein materiell bemisst, sondern an einem universellen Kriterium, an der Menschenwürde", so Bundespräsident Gauck -2- Neulich wurde ich nach einer Diskussionsrunde zum Thema Inklusion von der Mutter eines behinderten Kindes angesprochen. Sie erzählte von den positiven Erfahrungen mit der inklusiven Beschulung ihres Kindes. Ihr Kind geht sehr gerne in die Grundschule und kann dort mit seinen Freunden aus der Kita weiter gemeinsam lernen. In der Diskussionsrunde ging es auch darum, was Inklusion in der Umsetzung bedeutet - nicht nur für Eltern und Kinder, sondern gerade auch für die Lehrerinnen und Lehrer, für die Schulleitungen und für alle, die im schulischen Umfeld arbeiten. Es wurde auch deutlich, dass manche sich über den Mehraufwand Sorgen ma- -3- chen, den die Inklusion für sie bedeutet - zumal sie sich diesen ja nicht ausgesucht hätten. Die Mutter des Kindes sagte mir, dass sie Verständnis für diese Bedenken hätte. Sie sagte aber auch, dass behinderte Menschen sich ihre Behinderung auch nicht ausgesucht haben. Inklusion, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollte nicht als lästige Pflichtaufgabe verstanden werden, sie ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Inklusion ist Ausdruck der Grundüberzeugung, dass jedem Menschen in unserer Gesellschaft das gleiche Recht zusteht, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Für eine -4- moderne, offene und tolerante Gesellschaft sollte diese Zielsetzung außer Frage stehen. Deshalb ist die Inklusion auch eines der zentralen Anliegen dieser Landesregierung und wurde im Koalitionsvertrag fest verankert. Für uns ist die Inklusion von behinderten Menschen – und insbesondere auch von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung – unverzichtbarer Bestandteil einer Gesellschaft, die sich durch Chancengerechtigkeit und die gleichberechtigte Teilhabe aller auszeichnet. -5- Dazu zählt auch, dass wir für die jungen Menschen mit Behinderung ein Bildungssystem gestalten, das ihnen entsprechend ihrer individuellen Voraussetzungen - die Chance bietet, ihre Potenziale möglichst gut zu entfalten. Für diese Zielsetzung hoffe ich auf Ihre Unterstützung. Wir brauchen Sie für dieses Vorhaben. -6- 2. Baden-Württemberg wird bei der Inklusion im Schulbereich in Kürze einen großen Schritt nach vorne machen. Mit der heutigen Veranstaltung möchte ich Sie über die anstehenden Veränderungen informieren und auch dafür werben, dieses Vorhaben als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen. Inklusion berührt unsere Gesellschaft in vielen unterschiedlichen Bereichen und wird aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommen. Deshalb freue ich mich besonders, dass heute so viele Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Bezug zur Inklusion unserer Einladung gefolgt sind. -7- Vertreterinnen und Vertreter der Politik, der Verbände, der Schulverwaltung, der Kommunalverwaltung, der Schulen, der Hochschulen, der Seminare, Eltern und weitere interessierte Personen sind anwesend. Sie alle heiße ich herzlich willkommen. Ich bin der festen Überzeugung, dass Inklusion nur dann gelingen und zur Normalität und Teil unseres Alltags werden kann, wenn dieses Vorhaben in einem gesamtgesellschaftlichen Schulterschluss angegangen und umgesetzt wird. Dazu rufe ich Sie alle auf und darf Ihnen versichern, dass sie die Landesregierung dabei unterstützen wird. -8- 3. Viele Menschen in Baden-Württemberg warten seit langer Zeit auf den Tag, an dem die Inklusion im Schulgesetz verankert und ein inklusives Bildungssystem Realität wird. Bereits 2009 hat die Bundesregierung die UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ratifiziert, die alle gesellschaftlichen Bereiche umfasst. Die Bundesländer sind aufgefordert, die Vorgaben aus der UN-Konvention umzusetzen. -9- Im Schulbereich setzt die Konvention verschiedene Schwerpunkte und Akzente, die von den Bundesländern passend zu den jeweiligen Strukturen und Gegebenheiten mit Leben gefüllt werden müssen. Die UN-Konvention regelt nicht konkret, wie Inklusion im Bildungsbereich gestaltet werden soll. Es ist unsere Aufgabe, dieses Ziel umzusetzen. -10- 4. Wir haben in den vergangenen Jahren gründlich geprüft, wie wir bei der Inklusion den unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Beteiligten am besten gerecht werden können. Das hat Zeit gekostet, aber es hat sich auch gelohnt. Baden-Württemberg war und ist im Bereich der Sonderpädagogik traditionell sehr gut. Deshalb haben wir bei der Inklusion großen Wert darauf gelegt, die Professionalität und die Kompetenzen in diesem Bereich zu bewahren und so weiterzuentwickeln, dass die jungen Menschen auch künftig maximal von diesem Wissen profitieren. -11- Wir wollen diese Kompetenzen aber nicht mehr an einer Institution festmachen, sondern den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern die Entscheidung überlassen, wie sie diese nutzen möchten. Der Politik wird oft vorgehalten, überhastet zu handeln und mögliche Folgen und Konsequenzen einer Entscheidung nicht gut genug zu überprüfen. Anderen wiederum geht es nicht schnell genug und sie sehen das Problem eher in einem zögerlichen Handeln der Politik. Ich bin überzeugt, dass wir bei der Inklusion die richtige Balance gefunden haben. -12- Es ist mir wichtig zu betonen, dass wir bei der Inklusion nicht bei Null anfangen, sondern dass wir uns auf vielfältige Erfahrungen und Erkenntnisse stützen können. In den Schwerpunktregionen des Schulversuchs und in den übrigen Schulämtern wurde in den letzten Jahren intensiv an diesem Thema gearbeitet. Auch über die Gemeinschaftsschulen haben wir wichtige praktische Erfahrungen bei der Umsetzung der Inklusion gesammelt. An vielen Stellen im Land wird schon so gearbeitet, wie wir uns das vorstellen. Dementsprechend sind auch viele Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Praxis in den Gesetzesentwurf zur Inklusion eingeflossen. -13- Und wir haben auch in andere Bundesländer geschaut und genau ausgewertet, was dort gut funktioniert und an welchen Stellen möglicherweise Probleme auftreten können. Am Ende haben wir uns für einen eigenen badenwürttembergischen Weg entschieden, der zum kommenden Schuljahr Realität werden soll. -14- 5. Kern unseres Inklusions-Konzepts ist, dass wir die Pflicht zum Besuch einer Sonderschule abschaffen. Eltern von Kindern mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot sollen künftig entscheiden können, ob ihr Kind an einer Sonderschule oder an einer allgemeinen Schule unterrichtet wird. Bei dieser wichtigen Entscheidung werden wir die Eltern intensiv beraten und unterstützen, damit sie eine gute Wahl für ihr Kind treffen können. Unser Grundsatz lautet: Der Wunsch der Eltern ist Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen und Planungen. -15- Bei der Realisierung des Elternwunschs spielen die Bildungswegekonferenzen eine entscheidende Rolle. Dort werden die Wünsche der Eltern beraten. Die Schulverwaltung holt die beteiligten Schulen, Schulträger und die Kosten- und Leistungsträger an einen Tisch und prüft intensiv, welches Bildungsangebot unter den jeweiligen Rahmenbedingungen für das einzelne Kind am besten geeignet ist. Dabei ist auch klar, dass nicht immer jedem Wunsch nach einem inklusiven Bildungsangebot an einer bestimmten Schule entsprochen werden kann. -16- 6. Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und damit auch Aufgabe aller Schularten und aller Schulen im Land. Jede Schule soll sich diesem Entwicklungsauftrag stellen. Das haben wir in unserem Konzept klar verankert. Es geht nicht darum, Schwerpunktschulen zu bilden und damit faktisch eine neue Sonderschulform zu schaffen. Es geht darum, möglichst jede Schule in die Lage zu versetzen, potenziell inklusiven Unterricht umsetzen zu können, auch wenn mit Sicherheit nicht an jeder Schule zeitgleich inklusive Bildungsangebote platziert werden. Wir werden hier schrittweise vorgehen. -17- 7. Wir werden im Schulgesetz auch die Möglichkeit des zieldifferenten Unterrichts verankern. Dass behinderte Kinder, die voraussichtlich den jeweiligen Schulabschluss nicht erreichen werden, zusammen mit nicht behinderten Kindern lernen, ist für viele Menschen eine ungewohnte Vorstellung. Diskussionen im letzten Jahr haben uns das deutlich gezeigt. Wir sagen: Wenn Eltern es wünschen und überzeugt sind, dass es für die Entwicklung ihres Kindes am besten ist, an einer allgemeinen Schule zu lernen, dann müssen die Eltern auch die rechtliche Möglichkeit ha- -18- ben, diese Entscheidung zu treffen. Und dann wird es Aufgabe sein, gemeinsam die Umsetzung zu realisieren. Dies gilt grundsätzlich auch für jede Schulart. Das ist der Kerngedanke von Inklusion. -19- 8. In der Arbeit mit behinderten Kindern haben die Sonderschulen die größte Erfahrung. Unser Ziel ist es, dass künftig alle Schularten noch stärker von diesen Kompetenzen profitieren. Deshalb entwickeln wir die Sonderschulen zu sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren weiter. Die sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren werden natürlich weiterhin eigene Bildungsangebote machen, so dass Eltern auch künftig ein Sonderschulangebot für ihr Kind wählen können. Die Zentren werden aber auch stärker beratend tätig sein und die verschiedenen Beteiligten bei der Inklusion im Bildungsbereich intensiv unterstützen. -20- Unser Ziel ist es, dass sich allgemeine Schulen und die sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren so miteinander verzahnen, austauschen und vernetzen, dass beide Seiten maximal profitieren. -21- 9. Unser Ziel ist die Normalität des Miteinanders von Kindern mit und ohne Behinderung, aber auch von Lehrern an allgemeinen Schulen und Sonderpädagogen. Dazu zählt auch, dass Lehrer und Schüler - unabhängig von ihrem jeweiligen Status - künftig an der Schule verortet werden, an der sie unterrichten oder lernen. Allgemeine Schulen können künftig beispielsweise auch Stellen für Sonderpädagogen ausschreiben. Sonderpädagogen haben die Möglichkeit, sich auch an eine allgemeine Schule versetzen lassen. -22- Schülerinnen und Schüler, die ein inklusives Bildungsangebot an einer allgemeinen Schule besuchen, zählen künftig an der allgemeinen Schule. -23- 10. Es ist mir bewusst, dass die Inklusion ein enormer Entwicklungsschritt für unser Schulsystem ist. Wir haben bei unserem Konzept deshalb großen Wert darauf gelegt, pragmatische Lösungen zu finden und niemanden zu überfordern. So wird die Schulverwaltung beispielsweise darauf achten, die Wünsche nach inklusiver Beschulung grundsätzlich in gruppenbezogenen Angeboten zu organisieren. Nur so lässt sich im zieldifferenten Unterricht auch das angestrebte Zwei-Pädagogen-System umsetzen. -24- Insgesamt spielt die Schulverwaltung eine zentrale Rolle dabei, dass Inklusion in Baden-Württemberg gut funktionieren und erfolgreich umgesetzt werden kann. Die Kolleginnen und Kollegen in den Staatlichen Schulämtern nehmen die Wünsche der Eltern auf, sie organisieren die Bildungswegekonferenzen, steuern die Schülerlenkung und koordinieren den Einsatz der Lehrerressourcen. Die gute Arbeit, die hier geleistet wird, ist entscheidend dafür, dass Inklusion gelingen kann. Dafür danke ich allen Beteiligten. -25- 11. Das Land ist sich seiner Verpflichtungen bewusst. Auch im kommenden Schuljahr werden wir 200 zusätzliche Deputate zur Verfügung stellen. Damit werden inklusive Bildungsangebote weiter ausgebaut. Und einen Teil der Stellen setzen wir dafür ein, dass die Schulverwaltung ihre hochkomplexen Steuerungsaufgaben gut erfüllen können. Mit den Kommunalen Landesverbänden haben wir uns nach nicht immer einfachen Verhandlungen - verständigt, dass das Land diesen in drei Schritten 30 Millionen Euro jährlich für Aufgaben der schulischen Inklusion auszahlt. Für die Privatschulen - mit denen wir im Gespräch sind - sind ebenfalls Mittel vorgesehen. -26- Alle diese Mehrausgaben werden wir im aktuellen Nachtragshaushalt berücksichtigen. In diesem werden weitere wichtige Maßnahmen im Bereich der Bildungspolitik – z.B. die Weiterentwicklung der Realschulen, Stärkung der Grundschulen, vorschulische Sprachförderung und Erhöhung der Mittel für Vertretungslehrkräfte – abgesichert. -27- 12. Lassen Sie mich abschließend nochmals unseren Bundespräsidenten zitieren: "Inklusion, so habe ich begriffen, ist eine enorme Herausforderung, keine Frage. Aber Inklusion ist auch keine Utopie. Sie ist eines der anspruchsvollsten Emanzipationsprojekte unserer Zeit. Inklusion folgt einem zutiefst humanen Prinzip, denn allen Menschen – ungeachtet ihrer angeborenen oder erworbenen Unterschiede – soll die bestmögliche Teilhabe und die bestmögliche Entwicklung möglich sein.". Die Änderung des Schulgesetzes zum kommenden Schuljahr wird ein Meilenstein auf dem Weg zu einem -28- inklusiven Bildungssystem sein, sie ist aber auch nur ein erster Schritt. Langfristig kann Inklusion nur gelingen, wenn sie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird und alle Beteiligten ihren Beitrag dazu leisten. Inklusion ist ein Thema, das geeignet ist, um unsere Gesellschaft zusammenzuschweißen. Inklusion ist ein Thema, das vereinen sollte und nicht trennen - davon bin ich fest überzeugt. -29- Ich appelliere an dieser Stelle deshalb noch einmal an Sie alle und werbe dafür, den Kurs zur Umsetzung der Inklusion in Baden-Württemberg zu unterstützen. Herzlichen Dank. -30-
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