Prolog Auf den Straßen herrschte wenig Verkehr für einen Montagmorgen. Die üblichen Frühaufsteher, ein paar Jogger und die Taxifahrer auf der Suche nach den ersten zahlenden Fahrgästen des Tages. Doch ließ man den Blick in Richtung Straße des 17. Juni gleiten, entdeckte man zwei Gestalten. Sie sprinteten durch die schwindende Nacht. Ihre Hektik störte die idyllische Ruhe, verwandelte den mystischen Aufgang der Sonne in ein Hintergrundspiel, das nicht mehr bedeutend erschien. Ihre ruppige Art erregte die Aufmerksamkeit der Passanten, die sich um diese Zeit bereits auf dem Weg zur Arbeit oder zum Bäcker befanden. Die meisten Fußgänger drehten sich nach ihnen um, weil sie den kompletten Bürgersteig in Beschlag nahmen, obwohl sie hintereinander liefen. Julan, der vordere der beiden, rammte rücksichtslos jeden um, der seinen Laufweg kreuzte. Der andere Mann war ihm dicht auf den Fersen. Er wich den gestoßenen oder umgefallenen Menschen aus. Schaute man nicht genau hin, konnte man die beiden Läufer für Überreste der sonntäglichen Partynacht halten. Riskierte man jedoch einen zweiten Blick, so offenbarte sich dem wissenden Beobachter, wie verbissen der erste versuchte, seinen Verfolger abzuhängen. Julan fixierte sein Ziel. Die Siegessäule. Er musste sie erreichen, unter allen Umständen. Er erhöhte sein Tempo. In seinen Oberschenkeln schrien die Muskeln auf, aber er hatte es versprochen. Er musste es zur Säule schaffen, bevor die Sonne aufging. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass er immer noch verfolgt wurde. Seit beinahe einer halben Stunde wollte er den Fremden abschütteln. Egal, ob in der Bahn oder auf freier Fläche, es gelang ihm einfach nicht. Verbissen kämpfte er sich vorwärts. Sein Verfolger holte hin und wieder auf, um dann erneut zurückzufallen. Fast so, als spiele er mit Julan. Die Siegessäule kam in greifbare Nähe. Rot und orangegold erhoben sich der Sockel und der schmale Turm in der Dämmerung. Victoria. Genau dort musste er hin. Endlich erreichte er den Goldenen Stern, den Kreisel, in dessen Mitte sein Ziel stand. Er verließ sich ausschließlich auf sein Gehör, als er die Straße überquerte. Mit einem kräftigen Sprung überwand Julan die schmale Hecke, die die Grünfläche rund um die Säule beschützte. Er biss die Zähne zusammen. Sie lag so nah. Julan durfte nicht versagen. „Gib auf. Es ist Wahnsinn, was du da versuchst.“ Die Stimme erklang dicht neben seinem Ohr. Erschrocken wandte Julan den Kopf. Zwei Schritte hinter ihm lief sein Verfolger. Wie konnte das sein? Eben war er doch noch auf der anderen Straßenseite gewesen. Bevor er es verhindern konnte, packte sein Gegner ihn am Kragen und stoppte ihn. Ruckartig wurde Julan von den Beinen gerissen. Die Kraft, die in diesem Griff lag, ließ ihn erschauern. Julan prallte auf dem fein säuberlich gestutzten Gras auf, rollte sich über den Rücken ab und blieb mit einem Knie auf dem Boden. Seine Finger gruben sich in das vom Morgentau benetzte Grün. Sein Verfolger stellte sich vor die Siegessäule und versperrte Julan den Weg. „Du weißt, dass ich dich nicht passieren lassen kann.“ Die Worte wehten zusammen mit einem letzten Rest Morgennebel zu Julan hinüber. Sein Gegenüber hob die Faust. Bereit, zuzuschlagen, wenn es sein musste. „Und du weißt, wie dringend ich dort hinauf muss. Ich denke, wir kommen nicht ins Geschäft, mein Freund.“ Bevor sein Kontrahent etwas erwidern konnte, sprang Julan auf und rannte auf ihn zu. Seine Schritte waren auf dem weichen Gras beinahe nicht zu hören. Der Verfolger, Nival, beugte die Knie, um sich seinem heran rauschenden Gegner zu stellen. Schweiß trat Nival auf die Stirn. Der Lauf hatte ihn viel Kraft gekostet, aber er hielt durch. Das jahrelange Training zahlte sich endlich aus. Julan hob den Arm und schlug zu. Wie in der Übung, redete Nival sich Mut zu. Wie im Training. Instinktiv blockte sein Arm den Schlag ab. Dann den nächsten und den übernächsten. Julans Fäuste prasselten auf Nival ein wie ein Hagelschauer, dem man nicht entkam. Er drängte Nival weiter zurück. Nivals Atem ging stoßweise, während der von Julan sich kaum veränderte. Verzweifelt riss er sein Bein hoch, um Julan zu treffen. Dieser sah den Angriff vorher. Mit beiden Armen packte er den Unterschenkel, fing den Tritt ab. Ein Ruck nach links. Nival schrie auf. Pein donnerte durch seinen Körper. Mit einem Blick in Richtung des heller werdenden Himmels sammelte er neue Kraft. Mühsam atmete er ein und aus, verschob den Schmerz in eine Ecke seines Kopfes, in der er keinen Schaden anrichtete. Das Licht war sein Freund, sein Begleiter, sein Helfer. Es umschlang ihn und schützte ihn wie Wasser vor Feuer. Julan warf seinen Gegner von sich und setzte zum erneuten Spurt an. Auch er bemerkte die hellrosa gefärbten Wolken. Wenn er nicht aufpasste, schaffte er es nicht mehr rechtzeitig. Verbissen lief er weiter. Seine Mission. Die letzte in einer langen Reihe. Beendete er sie siegreich, blieb er auf ewig im Gedächtnis. Sein Volk würde ihn als Helden verehren. Erleichterung durchströmte ihn, als er die Tür zum Aufgang der Siegessäule erreichte. Noch 285 Stufen bis zum Ziel. Hinter sich vernahm er Schritte. Nival verdrängte den Schmerz erfolgreich und rannte voller Kraft auf Julan zu. Dieser legte die Hand auf die Tür. Der dunkle Leberfleck auf Julans linkem Ringfinger flammte für den Bruchteil einer Sekunde auf. Das Metall leuchtete auf. Ein Klicken erklang und im nächsten Moment erlosch das Leuchten des Türknaufs. Der Fleck verdunkelte sich. Julan riss die Tür auf. Das Schloss tropfte als leuchtend rote Masse auf den Boden. Mit ausholenden Schritten lief er die Wendeltreppe empor. Er zog sich am rostigen Geländer hinauf, um schneller voranzukommen. Sein Blick richtete sich einzig nach oben. Hinter sich hörte er seinen Verfolger. Nival keuchte bereits, gab aber nicht auf. Wiederholt sammelte er alle Kraft in seinen Beinen. Auf der Hälfte der Höhe holte er Julan ein. Der Innenraum lag im Dunkeln, so dass Nival riet, wohin er zielen musste, um Julan aufzuhalten. Der erste Schlag traf Julan im Lendenbereich. Ein gellender Schrei durchzog den Treppenaufstieg. Julan brach zusammen, fing sich unbeholfen mit den Händen auf den Steinstufen ab. Nival hob den Arm und setzte erneut zu einem Angriff an. Rasch rollte Julan zur Seite, einige Stufen hinab in Sicherheit. Wieder stellte Nival sich zwischen ihn und seine Absicht. Doch ein Teil von Nival hatte sich verändert. Zufrieden bemerkte Julan, dass sein Kontrahent mit hängenden Schultern nach Luft rang. „Gib endlich auf. Du kannst es nicht rechtzeitig schaffen.“ Julan reagierte nicht. Er wusste genau, wie wenig Zeit ihm noch zur Verfügung stand. Die Dunkelheit im Treppenhaus trübte sein ausgeprägtes Zeitempfinden nicht. Draußen fanden scheinbar die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg über den Rand der Stadt. Minuten, mehr Zeit blieb ihm nicht, bis seine Kraft schwand. Er stürmte auf seinen Gegner zu. Er musste es einfach versuchen. In schierer Verzweiflung rannte er Nival um. Zwei Stufen drängte er ihn nach oben, ehe die Wand sein Vorankommen erneut stoppte. Julan wollte an ihm vorbei schlüpfen. Nival griff dessen hochstehenden Kragen. Mit einer Drehung probierte Julan, aus der Anzugjacke zu entkommen. Nival hielt ihn zurück. Julans Ellenbogen rammte sich schmerzhaft in Nivals Magen, raubten ihm den Atem. Nival musste loslassen. Dafür trat er in derselben Sekunde nach Julans Füßen und brachte ihn zu Fall. Klatschend fiel Julan auf das Metall. Nival packte ihn, hob ihn auf. Er wollte ihm einen weiteren Schlag verpassen, um ihn aufzuhalten und anschließend ins Gefängnis zu begleiten, aber soweit kam es nicht. Julan holte mit dem Bein aus und traf Nivals Weichteile. Mit schmerzverzerrtem Gesicht brach Nival zusammen. Julan kam frei. Hastig sprang er von seinem Verfolger fort, mehrere Absätze nach oben. Glückseligkeit durchströmte ihn, erfüllte ihn mit Kraft. Noch ein paar Meter, dann hatte er es geschafft. Zwei Stufen überspringend raste er die Treppe hinauf. Seine Füße berührten dabei kaum den Boden. Julan erreichte das Tor zur Plattform. „Egal, wie du heißt, ich appelliere an dein Gewissen. Tu es nicht!“, hörte Julan von unten. Zufrieden grinste er und durchbrach das Schloss. „Niemals!“, flüsterte Julan und lief weiter. Zu viel war ihm und den anderen widerfahren, als dass er vergessen konnte. Als dass er aufgeben konnte. Nein. Er lebte für diese Mission und er hatte seinem Rat versprochen, sie auszuführen. Genau das tat er jetzt. Nival kämpfte sich auf. Er musste den Verräter aufhalten, bevor er es auf die Aussichtsplattform schaffte. Seine Zähne knirschten, als er sich aufrappelte. Mit schweren Schritten stieg er höher. Kurz fühlte er in sich hinein. Die Oberschenkel brannten, seine Muskeln zitterten. Lange würde er Julan nicht mehr die Stirn bieten können. Ich muss noch ein paar Momente aushalten, dachte er und steigerte sein Tempo erneut. Worte halfen nicht bei dem Mann, den er verfolgte. Zeit für härtere Geschütze. Nival lief die Treppe hinauf. Licht drang durch die Öffnung zur Plattform. Sein Auftrag ließ keinerlei Zweifel. Grimmig senkte er den Blick und preschte an der zerstörten Tür vorbei auf die Plattform. Helle Strahlen erleuchteten das Brandenburger Tor, das eingebettet inmitten Dutzender von Häusern lag. Doch weder Nival noch Julan bemerkten den atemberaubenden Ausblick, der sich ihnen an diesem frühen Morgen bot. Sie fixierten sich auf ihre sich gegenseitig ausschließenden Aufgaben. Julan stand knapp fünf Schritte von Nival entfernt. Ein eiskalter Lufthauch fuhr zwischen die Säulen des Metallgeländers. Nival bewegte sich als erster. Einen Teil seiner Energie ließ er in seine Beine strömen, setzte zum Sprint an. Einen Wimpernschlag später befand er sich neben Julan. Er nutzte den Schwung seines Laufs, um einen gezielten Schlag in Julans Magengrube zu versenken. Die Wucht der Faust raubte Julan den Atem. Er krümmte sich, holte tief Luft und richtete sich gleich darauf auf. Rasch wehrte er den nächsten Hieb ab, der von der rechten Seite kam. Schläge, Tritte, voller Körpereinsatz. Julan parierte alles mit einem Block, einem Ausfallschritt. Dann ging er zum Angriff über. Unter Nivals geballter Hand vibrierte das Außengitter der Plattform, als er knapp an Julan vorbei schlug. Einen Moment später bemerkte er seinen Fehler. Julan hielt Nivals Arm an Ort und Stelle, presste ihn schmerzhaft in das Metallgitter. Die schmalen Metallstreben bohrten sich in Nivals Haut, als Julan den Kopf seines Rivalen mit voller Wucht an eine der gold lackierten Spitzen des Zauns donnerte. Sterne tanzten vor Nivals Augen, versperrten ihm die Sicht auf den Tiergarten, der unter ihnen wie in Zeitlupe erwachte. „Bitte!“, keuchte Nival. „Dein Gnadengesuch kommt Jahrzehnte zu spät“, zischte Julan wütend. Auf keinen Fall gab er nach. All seinen Hass auf seinen Gegner packte Julan in den nächsten Griff. Eine Hand an der Schulter, die andere an der Hüfte, hob er Nival nach oben und rammte ihn in die überhängenden, spitzen Zaunenden des Schutzgitters. Beide Kontrahenten schrien auf. Nival vor Schmerzen, Julan vor Anstrengung. Noch ein abschätziger Blick auf Nival, dann ließ Julan ihn los und entfernte sich einige Schritte von ihm. Nicht weit, nur soweit, dass er erkennen konnte, was für einen Plan Julan umsetzte. Nival spürte seinen Körper nicht mehr, als er allmählich von den Metallspitzen rutschte. Er wusste nicht, wo der Schmerz begann und wo er endete. Alles in ihm schrie nach Erlösung. Nival stürzte auf die Plattform. Er wollte schreien. Als er den Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Nival streckte die Hand aus, als könne er Julan damit stoppen, aber er hatte seine Restenergie aufgebraucht. Ihm blieb nur noch die Hoffnung, seinen Gegner mit Worten zu überzeugen. Er durfte nicht versagen, durfte sein ganzes Volk nicht im Stich lassen. „Du kannst das nicht tun“, keuchte Nival. „Sie ist die Letzte.“ Ein zufriedenes Schmunzeln überzog Julans Lippen. „Genau deswegen.“ Im nächsten Augenblick schloss Julan die Augen. Nival biss die Zähne zusammen, schob einen Arm nach vorne, um seinen Körper nachzuziehen. Ohne Erfolg. Er war zu kraftlos. Die Gewalt, die ihm innewohnte, flutete Julans Inneres. Dutzende von magischen Fäden, zuvor fein säuberlich voneinander getrennt, vereinten sich in seinem Herzen. Er fühlte, wie die Kraft sich ausdehnte, wie er Schwierigkeiten bekam, die Macht zu bündeln. Nival versuchte, sich aus der Dunkelheit zu befreien, die ihn immer mehr umfing. Mit zitternden Muskeln blickte er auf. Wenn er Julan schon nicht aufhalten konnte, so schaffte es vielleicht die Sonne am Horizont. Bedächtig drangen die Strahlen über den Rand der Plattform, doch sie erreichten Julan nicht. Er stand zu tief im Schatten. Nival kämpfte gegen die Finsternis, die ihn auf dem Boden hielt. Dann sah er das Schimmern um Julans Leib. Grell leuchtete es, bedeutsam und angsteinflößend zugleich. In Nivals Kopf pochte sein Puls, presste die Vene nach außen, so angestrengt zwang er sich, bei Bewusstsein zu bleiben. Vergebens. Die Dunkelheit senkte sich stetig über ihn. Immer weiter stieg die Kraft in Julan an, legte sich mit einem Vibrieren auf seine Haut. Julan bemühte sich, sie in sichere Bahnen zu lenken, sie in seinem Körper zu halten. Einen Moment, dachte Julan glückselig und ballte seine Fäuste vor Anstrengung. Noch einen Moment und er wür- Er schaffte es nicht, den Gedanken zu beenden. Die Gewalt in ihm zerriss ihn und jedes Atom, das sich in seiner Nähe befand. Julan starb sofort. Die erste Druckwelle katapultierte Nival gegen den Rand der Plattform. Nivals letzte Augenblicke galten seinem Versagen. Er war an der Aufgabe gescheitert, die sein Rat ihm aufgetragen hatte. Die Feuerbrunst griff seine Haut an und tötete auch ihn. Gefräßig verschlangen die Flammen alles auf ihrem Weg von der Aussichtsplattform hinauf zu Victoria. Die Explosion zerschmetterte die Statue, die seit Jahrzehnten über dem großen Stern thronte, in tausend Einzelstücke. Die Metallteile regneten auf den gepflegten Rasen rund um den Sockel, bohrten Löcher in das Grün. Ein einzelner Sonnenstrahl schaffte es, sich den Weg durch die Bäume zu suchen. Er tauchte das Trümmerfeld, das kurz zuvor noch ein Wahrzeichen Berlins gewesen war, in ein verhaltenes, surreales Licht. Kaum jemand in Berlin ahnte jedoch, dass Julan mit der Siegessäule etwas anderes vernichtete: Die Explosion tötete die letzte Wächterin. Kapitel I - Die Lesung „Ihre Finger glitten zärtlich an seinem Hals hinab, blieben an der kleinen Senke direkt unter seinem Adamsapfel hängen. Sie wusste, es würde das letzte Mal sein, dass sie einander berühren konnten. Nahm sie erst ihre Aufgabe als neue Hüterin des Kristalls an, untersagten die Götter ihre Liebe. Volle Hingabe forderten sie für diese einmalige Möglichkeit. Und Virela hatte sich dafür entschieden. Bevor ihr die Tränen in die Augen stiegen, kehrte sie Tailon den Rücken zu. Ihre Füße rannten von alleine. Stundenlang, bis sie den Rand des Tals erreichte. Virela warf einen allerletzten Blick auf ihre Heimat. Sehnsucht kam in ihr auf, Heimweh, obwohl sie noch mit einem Bein in ihrem Land stand. Für den Bruchteil einer Sekunde zweifelte sie an ihrer Entscheidung, wollte zurück. Ihr Verstand hielt sie davon ab, das zu tun, was ihr Herz verlangte. Stattdessen straffte sie die Schultern und wandte sich einer neuen, ungewissen Zukunft zu. Einer Zukunft, in der sie mit den Göttern zu reden vermochte, aber nicht mehr mit denen, die sie liebte.“ Totenstille legte sich über die Zuhörer in der Buchhandlung, als Stefanie das Buch zuklappte. Einen Moment gönnte sie dem Publikum, um den Anfang des vierten Romans über die magisch begabte Elfin Virela zu verarbeiten. Sanft strich Stefanie über den Einband, den sie mitgestaltet hatte. Ihr persönlicher Liebling in der Serie. Grün mit einem Hauch schwarz. Wie so häufig bei ihren Lesungen, lauschten ihr hauptsächlich weibliche Leser. Als sie ihr Leseexemplar ablegte, brach tosender Beifall aus. Dutzende Buchreihen um sie herum schluckten das Klatschen, so dass es sich in den Gängen der Buchhandlung verlor. Dankbar lächelte Stefanie und nickte in Richtung der ersten Reihe. Die Strapazen eines Projekts lohnten sich jedes Mal, wenn sie diesen Moment erlebte. In den Augen der Frauen erkannte sie, dass dieser Band sich ebenfalls gut verkaufen würde. Die dritte Staffel von Game of Thrones in der Sonderedition kann ich mir jetzt problemlos leisten, dachte sie mit einem Schmunzeln. „Vielen Dank. Ich hoffe, ich konnte Ihnen das nächste Abenteuer von Virela schmackhaft machen. Ansonsten stehe ich ab jetzt für Autogramme und Fragen zur Verfügung. Nochmals danke schön.“ Damit erhob sie sich unter erneutem Applaus und bewegte sich in Richtung des eigens für sie eingerichteten Signiertischs. Dutzende ihrer letzten vier Romane lagen dort bereit. Ihr Agent nahm sie an die Seite und geleitete sie zu ihrem Stuhl. Nicht, dass sie das nicht selber geschafft hätte. Phillip besaß einen Beschützerinstinkt, der sich speziell auf sie ausbreitete. Seinen Schatz, wie er sie gerne mit Gollumstimme nannte. Dabei gab sie sich alle Mühe, nicht mehr von einem Mann abhängig zu sein. Phillip war eine Ausnahme: Er liebte seine Frau abgöttisch und machte keine Anstalten, Stefanie anzugraben. Außerdem achtete er auf sie, als wäre sie seine verlorene Tochter. Kaum saß sie, prasselten die üblichen Fragen auf sie ein. „Wann haben Sie mit dem Schreiben angefangen?“ „Was inspiriert Sie?“ „Wird es einen fünften Teil geben?“ Stefanie hatte für die meisten davon eine Standardantwort in ihrer Antwortenschublade parat. Leider durfte und konnte sie nie viel Zeit für den einzelnen Leser aufbringen, obwohl sie sich genau das wünschte. In ihren Anfängen, als maximal fünf bis zehn Leuten zu ihren Lesungen gekommen waren, hatte sie noch angeregte Diskussionen mit den Zuhörern geführt. Heute erschienen deutlich über fünfzig. Da blieb ihr keine Möglichkeit. Phillip achtete wie ein Schießhund darauf, dass sie keine Minute verschwendete, um ein Buch zu signieren. Tauchte eine Frage auf, die von dem üblichen Standard abwich, ging es mit Stefanie durch und sie antwortete ausführlich. Das konnte alles mögliche sein. Von dem Wunsch, den schwangeren Bauch zu unterschreiben, bis hin zu Dialogen, die so intensiv die Welt von Virela durchleuchteten, dass selbst sie als Autorin ins Schleudern geriet. „Wie viele sind es noch?“, murmelte sie gedämpft zu Phillip hinüber. „Etwa zehn. Dann sind wir hier fertig.“ „Es ist die letzte Lesung?“ Phillip nickte, als sie kurz aufschaute. „Im Anschluss stehen dir einige Tage Ruhe zur Verfügung, ehe es an das Folgeprojekt geht.“ Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu. Stefanie seufzte, reichte das Buch der jungen Frau, die es gekauft hatte, und griff automatisch zum nächsten. „Für wen darf ich es signieren?“ Auch diese Frage ging ihr leicht über die Lippen. „Für Claudia.“ Stefanie lächelte höflich und betrachtete den Roman. Einer ihrer ersten–bevor sie mit Virela den Durchbruch geschafft hatte. Überrascht schaute sie auf. „Wo haben Sie denn den ausgegraben?“ Die Frau spielte nervös mit ihren Händen. „Ich sammle Ihre Geschichten seit einiger Zeit.“ „Na, in dem Fall bekommen Sie natürlich eine besondere Widmung.“ Phillip stieß sie unter dem Tisch an, aber Stefanie ignorierte es. Letzten Endes lag es in ihrer Entscheidung, was sie tat und was nicht. Aus Trotz trat sie zurück und streckte ihm die Zunge raus, wie so oft, wenn sie mit ihm nicht einer Meinung war. „Viel Spaß mit dem neuen Roman.“ Stefanie reichte ihr mit der einen Hand ein kostenloses Exemplar, während die andere ihr weites Oberteil auf die angestammte Position auf der Schulter schob. Dabei malte sie aus Versehen einen feinen Strich mit dem Roll-Pen über ihre Haut. „Mist!“ Die Frau nahm die Farbe eines Regionalzuges an und rauschte ebenso fix unter dankbarem Gemurmel davon. Nachdem sie das letzte Buch signiert hatte, ließ sie den Stift fallen und lümmelte sich in den Stuhl. Einige Leute aus der Lesung saßen noch auf ihren Plätzen, doch die meisten hatten die Buchhandlung bereits verlassen. „So. Geschafft. Jetzt habe ich mir einen Urlaub verdient.“ Wohlig räkelte sie sich auf dem Stuhl und grinste zu Phillip hinüber. „Eine Woche. Du weißt, du hast eine Deadline.“ „Mir schon klar. Allerdings: was, wenn ich aus Versehen in einen Sturm gerate? Mein Flieger nicht zurück kommt? Ich auf einer Insel ohne Strom strande? Wie soll ich da am neuen Roman schreiben?“ „Zunächst einmal: Du steigst nicht in Flugzeuge. Schlimm genug, bedenkt man, dass der erste Band von Virela übernächsten Monat in Italien erscheint und du zur Premiere nicht da sein kannst.“ „Hey, ich habe gesagt, organisiere mir jemanden, der mich fährt und ich komme da hin“, unterbrach sie ihn sofort. „Zweitens: Du hast keinen Urlaub gemacht, seit ich dich kenne, Stefanie. Also drück dich nicht vor der Arbeit.“ Zähneknirschend lehnte sie sich nach vorne. „Naja, ich bezeichne die Recherche in Schottland als Urlaub. Aber wenn du meinst.“ „Ruh dich aus und fang nächste Woche an. Sonst komm ich rum und klau dir deinen Computer für die Zeit.“ Stefanie lachte lauthals auf, als sie an ihr geheimes Büro dachte, von dem er nichts wusste. Zwei verbliebene Zuhörer, die in der hintersten Reihe saßen, schreckten auf. Beide starrten zu ihr hinüber. Stefanie schenkte ihnen ein entschuldigendes Lächeln und betrachtete sie flüchtig. Die beiden waren ihr bereits während der Lesung aufgefallen. Eventuell ein Pärchen, wenn sie es richtig beobachtete. Zumindest steckten ihre Köpfe ständig zusammen und sie unterhielten sich. Stefanie verstand nichts, sie flüsterten. Dennoch besaßen sie etwas, was Stefanie stetig in ihre Richtung schauen ließ. Allerdings konnte Stefanie nicht deuten, was sie so intensiv begutachteten. „Schon gut. Ich verspreche dir, dass du wie jedes Mal zeitnah das Manuskript auf dem Tisch liegen hast. Habe ich dich jemals enttäuscht?“ Sie erhob sich von ihrem Stuhl, rückte die schwarze, geschnürte Korsage über dem weiten, grün gemusterten Oberteil zurecht und fuhr sich durch die dunkelbraunen Haare. „Nein. Du gibst immer pünktlich ab. Du bist die Beste, du bist der Hammer.“ Phillip stand ebenfalls auf, gab ihr einen Kuss auf die Wange und drückte sie. „Ich denke, du kommst zurecht? Ich kläre die Bezahlung mit dem Verkäufer und wir können nach Hause.“ „Danke, aber ich wohne nur ein paar Straßen von der Buchhandlung entfernt. Du musst mich nicht bringen.“ „Das sehen wir gleich.“ Er ging um den Tisch herum und verschwand hinter einem Regal. Stefanie sah ihm nach, schüttelte den Kopf und packte ihre Sachen in ihren Rucksack. Ihre Finger wühlten in dem schmaleren Fach nach ihrem Telefon. Sie würde ihm eine SMS schreiben, während sie sich heraus schlich. Mit einem geflüsterten Tadadaaa zog sie das altmodische Kastenhandy hervor und erschrak. Das Pärchen, das eben noch einige Meter von ihr entfernt gesessen hatte, stand nun unmittelbar vor ihr und starrte sie an. „Gott, haben Sie mich erschreckt. Möchten Sie ebenfalls ein Buch signiert bekommen?“, fragte Stefanie, während sie versuchte, mit der Faust ihr explodierendes Herz zurück in ihren Brustkorb zu drücken. Aus der Nähe betrachtet bemerkte sie einen feinen Unterschied zwischen den zwei Gestalten. Der Mann schaute sie an und gleichzeitig nicht. Für einen Moment glaubte Stefanie, er wäre blind. Als sich seine Pupillen auf sie fokussierten, belehrte er sie eines Besseren. Keiner von ihnen reagierte, also streckte Stefanie die Hand aus. Einige wenige trauten sich nicht, sie anzusprechen. Da musste sie nachhelfen. Nervös knetete der Mann seine Finger. Er blickte zu Stefanie hinüber und im Anschluss zu seiner Partnerin. Verwirrt betrachtete Stefanie die beiden. „Kann ich Ihnen helfen?“ „Du fragst sie.“ Damit stieß er seiner Freundin in die Seite. Jetzt bemerkte Stefanie die Hektik an ihr. Sie stach nicht so offensichtlich wie die des Mannes hervor. Sie verbarg sich mehr in ihrer Ausstrahlung als in ihren Gesten. Stefanie bildete sich in manchen Momenten ein, die Gefühlslage ihrer Mitmenschen erkennen zu können. In den hellblauen Augen ihr gegenüber lag der Wunsch nach Sicherheit und Ruhe, doch beides blieb der Trägerin verwehrt. „Was, wenn sie es nicht versteht?“ Als die Frau das erste Mal redete, verschlug es Stefanie die Sprache. Zumindest für einen Wimpernschlag lang. „Sie klingen exakt so, wie ich mir Virelas Stimme vorstelle“, entfuhr es ihr. „Genau den rauchigen Hauch, den das übermäßige Üben mit den Kräutern für die Zaubersprüche verursacht. Dazu ein kleiner Spritzer Dunkelheit, bei dem niemand weiß, woher er kommt.“ Fasziniert musterte Stefanie die Frau. Sonst fand sie nicht viel Ähnlichkeit mit Virela. Die Frau war größer als ihre Hauptprotagonistin. Sie besaß auch keine kurzen Stoppelhaare, sondern eine schulterlange, glatte Haarpracht, um die Stefanie sie augenblicklich beneidete. „Nicht einmal ich kenne den Grund bisher“, scherzte sie, um die Situation aufzulockern. Etwas an den beiden ließ sie schaudern. Wahrscheinlich das zerlumpte Aussehen des Pärchens. Ja, das trifft es wohl am besten, nickte sie sich zu. Er trug lange Haare, die über einen verwaschenen, zu häufig getragenen Pullover mit gallifreyischen Schriftzeichen nach vorne fielen. Für einen Moment packte sie der Ehrgeiz, die Zeichen zu entziffern. Doch dann riss sie sich zusammen. Seine Hände versteckten sich in dem Bauchbeutel des weiten Pullis. Stefanie wusste sofort, in welche Kategorie sie ihn stecken konnte. Bei ihr gelang ihr das nicht so selbstsicher. „Da liegen Sie nicht mal falsch“, murmelte der Kerl abwesend, drehte sich um und fuhr sich nervös durch die Haare. „Was meinen Sie?“, fragte Stefanie nach. Der Mann reagierte nicht, sondern suchte stattdessen die Buchhandlung mit seinem Blick ab. „Wir brauchen Ihre Hilfe.“ Erneut diese rauchige Stimme. Stefanie lauschte fasziniert. Die Frau besaß die Ausstrahlung einer aufblühenden Knospe, versteckte ihr wunderschönes Äußeres jedoch hinter einer kühlen, abweisenden Schale. Stefanie hielt das nicht davon ab, sie weiterhin zu mustern und Schlüsse aus dem absurden Kleidungsmix zu ziehen, in der die Frau steckte. Entweder ein Punk oder absolut keinen modischen Geschmack, dachte Stefanie. „Es tut mir leid. Sollten Sie Autoren sein: ich gebe auf einigen Conventions Workshops zum Thema Schreiben. Wenn Sie möchten, können Sie sich dort anmelden.“ Stefanie lächelte, schulterte ihre Handtasche und machte Anstalten, an den beiden vorbei zu gehen. Noch vor dem ersten Schritt stellte sich die Frau ihr in den Weg. Stefanie stoppte. In den Augen der Frau entdeckte sie eine Entschlossenheit, die sie von sich selbst kannte, seitdem sie sich befreit hatte. Stefanie fuhr sich über die Stirn, um die Gedanken fortzuwischen, die sich in ihr ausbreiten wollten. Ein Funke der beeindruckenden Ausstrahlung sprang zu Stefanie über und baute eine bedrohliche Spannung zwischen ihnen auf. Stefanie hörte gedämpfte Stimmen aus Richtung des Verkaufstresens, aber sie sah niemanden. Die Frau legte eine Hand auf Stefanies Schulter. Stefanie stieß sie nicht weg. Im Gegenteil. Die zartgliedrigen Finger verbanden sich mit ihrem Körper, gehörten genau dort hin. Nirgendwo anders. „Das Schicksal Ihrer Welt steht auf dem Spiel.“ Stefanie hob eine Augenbraue. Diese Worte zerstörten den Augenblick. „Ähm, Arvariél, dieser Satz funktioniert bei uns nicht mehr, seit es Kinofilme gibt.“ Verwirrt starrte Arvariél den Mann an. „Was bedeutet Kinofilme?“ „Das erkläre ich dir, wenn wir Zeit haben. Lass mich mal versuchen.“ Nun kam der Kerl zu ihr hinüber. Von ihm akzeptierte sie diese aufgedrängte Nähe nicht so mühelos wie von Arvariél. Was hegten die beiden komischen Gestalten für Pläne? Unsere Welt? Als ob Arvariél aus einer anderen käme. Erneut betrachtete Stefanie die junge Frau. Niemand konnte ihre schmale Statur und die eindeutig menschlichen Züge verkennen. Sie meinte in Arvariéls Gesicht einige asiatische Ansätze zu entdecken: mandelförmige Augen und wenige Wimpern auf den Lidern. Vielleicht meinte Arvariél mit Stefanies Welt ja Europa? „Hören Sie zu, Frau Harnetz.“ Normalerweise bot Stefanie Fans direkt das Du an. Sie fühlte sich noch nicht antik und wollte nicht wirken, als ob ihre Mutter sich in der Nähe aufhielt. Zu den beiden hielt sie jedoch lieber Abstand, denn sie versperrten Stefanies Wege in Richtung Ausgang. „Im Internet haben wir gelesen, dass Sie als eine Expertin über die Kunde von Elfen auf der Erde gelten.“ Zumindest nahm der Mann kein Blatt vor den Mund, kam gleich zum Punkt. „Eine Expertin würde ich das nicht nennen. Ich forsche nur gründlich für meine Romane. Jeder kann sich die Kenntnisse aneignen, die in der Edda und anderen Büchern stehen.“ Ein wenig Stolz schwang in ihrer Stimme mit, auch wenn sie es nicht wollte. Lange Jahre war sie in die Mythen abgetaucht und hatte die Welt von Virela erfunden. Das hatte ihr einiges an Wissen eingebracht. Dass sie damals einfach vor der Realität hatte fliehen wollen, gestand sie sich nur in schwachen Momenten ein. „Die Zeit bleibt mir nicht. Wir brauchen Ihre Hilfe.“ Ein Schwall Dringlichkeit schwamm in seiner Intonation mit und überspülte sie. „Steht eine Hausarbeit an, für die Sie vergessen haben, zu recherchieren?“, fragte Stefanie mit einem Schmunzeln. Das schludrige Aussehen, die mäßig gesäuberten Fingernägel. Beide noch jung. Wieso war sie nicht gleich darauf gekommen? Selbstredend: vor ihr standen Studenten. „Nein, bitte. Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber Sie müssen mir glauben.“ Stefanie verspürte Unbehagen. Normalerweise liebte sie die Gesellschaft von Büchern. Im Moment allerdings beengten die hohen Regale sie in ihrem Freiheitsempfinden. „Hören Sie, ich kann Ihnen nicht helfen. Egal, was es ist. Fragen Sie den Professor für nordische Geschichte hier in Berlin. Lehmann ist sein Name. Schicken Sie mir eine E-Mail. Ich vermittle den Kontakt, doch nun möchte ich gerne Feierabend machen.“ Stefanie sprach entschlossen, sah dem Mann direkt in die Augen. Wie sie seinen Körperbau einschätzte, ging von ihm die größere Gefahr aus. Um gut einen Kopf überragte er sie und besaß die breiten Schultern eines Schwimmers, wenn er auch sonst eher von schlaksiger, unkontrollierter Statur war. Auf jeden Fall wollte sie kein Handgemenge riskieren. Sie wichen nicht aus. „Sie können nicht passieren. Wir brauchen Sie.“ Der Mann fixierte sie von oben herab. „Wollen Sie mich zwingen? Mein Agent steht dort vorne und wartet auf mich. Lassen Sie mich vorbei und wir bekommen keine Probleme.“ Stefanie ballte die Fäuste. Sollte es zu einer Prügelei kommen, würde sie sich schon zu wehren wissen. Die Kenntnisse aus dem Selbstverteidigungskurs für Frauen von vor vier Jahren steckten mit Sicherheit noch irgendwo in ihren Armen und Beinen. Stefanie deutete auf die Fläche, in dem sie den Verkaufstresen wusste und machte Anstalten, zu gehen. Erneut lief sie gegen die beiden. Arvariél drückte sie von sich. Sie hielt Stefanie an Ort und Stelle. Stefanie wollte gerade nach Phillip schreien, als im vorderen Bereich der Buchhandlung Unruhe ausbrach. Menschen schimpften, der Verkäufer rief lautstark unverständliche Worte. Im nächsten Augenblick hörte Stefanie, wie Dutzende von Büchern auf den Fliesenboden fielen. Das Aufklatschen schmerzte unverkennbar in ihren Ohren. Ein Banause, der es wagte, Werke so zu misshandeln. Die Köpfe des Pärchens, von dem sich Stefanie nicht mehr sicher war, ob es überhaupt eines war, wandten sich zeitgleich in Richtung des Lärms. Ein Mann, hochgewachsen und im Anzug, kam um die Ecke geschossen. Als er Arvariél erblickte, blieb er abrupt stehen. Stefanie erschrak zutiefst, als sie die Augen des Eindringlings sah. Ein Feuer sprach daraus, das alles verschlang, was es erfasste. Ein dicker Kloß blockierte den Schrei in Stefanies Kehle, so dass nur ein klägliches Krächzen erklang. Ganz langsam ging der dunkle Schatten auf Arvariél zu. Diese ergriff die Arme von ihrem Begleiter und von Stefanie und zog mit solch einer Kraft daran, dass Stefanie nicht anders konnte, als mitzulaufen. Zumindest, wenn sie ihren Arm nicht verlieren wollte. Dabei verstand sie überhaupt nicht, was gerade passierte. „Lass mich los!“, keuchte sie. Stefanie versuchte, sich zu befreien. Keine Chance: Arvariél packte mit eisenhartem Griff zu. Stefanie stolperte hinter ihr her und sah sich um. Der Mann folgte mit raschen Schritten, kam näher. Bücherregale flogen an ihr vorbei, während Stefanie sich bemühte, die Füße halbwegs elegant aufzusetzen. Noch einmal zog sie an ihrem Arm. Arvariél verstärkte den Druck und drehte sich zu ihr um. „Wenn ich Sie jetzt loslasse, sterben Sie.“ Die wenigen Worte von Arvariél gingen Stefanie durch Mark und Bein. Ihr Herz erschauerte, pumpte im selben Augenblick schneller Blut in ihre Venen. „Wieso?“, brachte Stefanie heraus. „Weil er Sie mit uns gesehen hat.“ „Ich habe nichts mit Ihnen zu tun!“ Stefanies Stimme tönte viel zu hoch für ihre Verhältnisse. Arvariél ignorierte sie und rannte weiter. Ihr Weg führte zwischen prall gefüllten Bücherregalen hindurch, vorbei an den letzten Besuchern der Buchhandlung. Stefanie schnaufte, als sie dem Ausgang hakenschlagend näher kamen. Phillip stand am Tresen. Auf seinem Gesicht lag ein erstaunter Zug, als sie an ihm vorüber hetzte. Sie überlegte, wie sie ihm zu verstehen geben konnte, dass diese zwei sie gegen ihren Willen mitschleiften. Als ihr endlich das eine richtige Wort einfiel, stand sie schon vor dem Buchladen. „Tobias, wir müssen schnellstmöglich hier abhauen. Tharânel darf uns nicht kriegen.“ „Soll ich ihn ablenken?“ „Nein. Wir müssen mit Stefanie verschwinden. Ich fürchte, diesmal lässt es sich nicht vermeiden, Tobias.“ Die Blicke, die die beiden wechselten, vermochte Stefanie nicht zu deuten. Vertrautheit? Gleichzeitig Widerstreben? Irgendetwas stimmt da nicht, dachte Stefanie. Sie grub ihre Fingernägel in den Oberarm der Frau, versuchte Arvariél von sich drücken, ohne Erfolg. Während sie sie mitrissen, wurde Stefanie klar, dass sie einer Täuschung unterlegen hatte. Die größere Gefahr ging von Arvariél aus, nicht von Tobias. Stefanie stöhnte, als sich der Griff um ihren Arm verstärkte. Wenn Arvariél weiter zudrückte, trug sie mindestens einen Bluterguss davon. Dabei fing der Sommer erst an und sie wollte ihre kurzärmligen Sachen tragen. Kopfschüttelnd schimpfte sie über ihre eigenen Überlegungen. Jemand entführte sie und sie dachte an ihr Aussehen? Was war bitte falsch mit ihr? Kaum erreichten sie die Straße, blieb Arvariél abrupt stehen. Sie riss Stefanie hart am Arm zurück, als diese nicht rechtzeitig bremste. „Tu es, Arvariél, wir finden einen anderen Weg.“ Eventuell sind sie doch ein Paar, schoss es ihr durch den Kopf. Stefanie verdrehte die Augen. Von Männern hatte sie die Schnauze voll. Ihre Entscheidung war eindeutig ausgefallen, als ihr letzter Freund sie vor einem Jahr vor die Wahl gestellt hatte: Bücher oder er. Dabei hätte sie es von Anfang an besser wissen müssen. Nach all der Zeit, die sie benötigt hatte, um über ihren debilen ExMann hinweg zu kommen. Stefanie lenkte ihre Gedanken fort von diesen schmerzhaften Erinnerungen, ins Innere des Buchladens. Phillip kam einen Schritt auf sie zu, blickte sie verstört an. Mit ihrem freien Arm winkte sie ihm zu. Sie deutete auf Tobias und Arvariél und wedelte vor dem Gesicht, um ihm zu signalisieren, dass die beiden verrückt waren. Neben ihr flüsterte Arvariél Worte in einer fremden Sprache. Womöglich ihrer Muttersprache. Phillip öffnete den Mund, als er auf einmal mitten im Gehen anhielt. Zunächst glaubte Stefanie, dass etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte, aber er drehte weder den Kopf, noch wandte er sich um. Phillip blieb einfach an Ort und Stelle stehen, ohne sich zu bewegen. Beinahe, als habe ihn ein Eisstrahl erfasst. Nur, dass keine dünne Schicht seine Erscheinung überzog und er nicht wie in einem schlechten Comic zu tropfen begann. Kälte rann ihren Rücken hinab. Nichts in dem restlichen Laden bewegte sich mehr. Eine der Angestellten griff nach den am Boden liegenden Romanen. Ihre Hand schwebte in der Luft, kurz davor, das Buch vor ihr aufzuheben. Ihr Verfolger stand ebenfalls starr wie ein startender Sprinter. Sogar mit demselben grimmigen, entschlossenen Gesichtsausdruck. „Was zum Henker ist das?“, fragte Stefanie verstört. „Erklär ich dir später. Ich kann das Kraftfeld nicht lange aufrecht halten. Wir müssen los, sonst sieht er, wohin wir verschwinden.“ Stefanie riss die Augen auf. „Du warst das?“ „Lauf. Oder willst du sterben?“ Diese Frage brauchte sie nicht zu beantworten. Trotz ihrer Zweifel an ihrem eigenen Verstand und dem, was sie in der Buchhandlung sah, sprintete sie los, als Arvariél an ihrem Arm zog. In ihrem Kopf herrschte Chaos. All das, was in diesem Augenblick ihr zustieß, tat sie normalerweise ihren Protagonisten an. Mit dem Unterschied, dass sie nicht in einem Buch steckte. Sie arbeitete als Autorin. Sie erfand genau solche Sachen, da sie sie sich immer vorstellte, aber nie erlebte. Nicht aus Feigheit, sondern weil dermaßen Unglaubliches einfach nicht passierte. Gefangen in dem eisernen Griff von Arvariél rannten sie, bis sie den Großen Tiergarten erreichten. Dort zog Arvariél Stefanie in den Schatten der Bäume hinein. Als sie endlich zum Stehen kamen, keuchte Stefanie aus allen Rohren. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung und sie spürte einen Druck auf dem Bauch, als müsse sie sich gleich übergeben. Mit Mühe hielt sie die Galle zurück. Auch Tobias schnaufte heftig. In seiner Atmung lag ein Pfeifen, als hätte seine Lunge ein Loch, durch das er verzweifelt zusätzliche Luft einzuatmen versuchte. „Hier sollten wir zunächst in Sicherheit sein.“ Kaum ließ Arvariél von ihrem Arm ab, warf Stefanie sich auf den Boden und schnaufte geräuschvoll. Arvariél schien der Dauerlauf, den sie zurückgelegt hatten, keine Probleme zu bereiten. Ihre Atemfrequenz beruhigte sich innerhalb weniger Sekunden. Stefanie betrachtete die Frau neidisch. Einmal im Leben so in Form sein. Mit Schrecken dachte sie an ihren alljährlichen Vorsatz, sich fit zu sporteln. Sie besaß sogar eine Dauerkarte für das Fitnessstudio um die Ecke, zahlte jeden Monat 40 Euro für die Mitgliedschaft. Meist ging sie zwei, in seltenen Fällen drei Mal, ehe ein wichtiges Projekt sie so in Anspruch nahm, dass sie den nächsten Besuch wieder vor sich her schob. Zumindest bis zum Anfang des folgenden Jahres–dann wagte sie in der Regel eine neue Runde. „Gut. Dann ... erklär ... mir, warum ... ihr ... mich ... entführt ... habt.“ Stefanie war stolz auf sich. Ein Wort pro Atemzug. Immerhin. Arvariél blickte sich suchend um, setzte sich neben Stefanie. Die plötzliche Nähe erschreckte Stefanie. Instinktiv rückte sie ein Stück ab und richtete sich auf. Sie hatte zu viele Thriller gelesen, um nicht zu wissen, dass das Opfer eine Antwort eher spürte als hörte. „Wir haben dich nicht entführt.“ Stefanie hob misstrauisch eine Augenbraue. „Ach so. Ich renne seit neuestem freiwillig wie ein tollwütiger tasmanischer Teufel durch die Stadt, ohne zu entscheiden, wohin ich gehe. Danke für die Aufklärung.“ „Wir haben dir das Leben gerettet.“ „Oh, in diesem Fall.“ Stefanie verbeugte sich im Sitzen vor ihnen. „Gern geschehen.“ Verwirrt schnaubte Stefanie, als sie Arvariél ansah. Sarkasmus schien dieser Frau fremd zu sein. „Warte, Arvariél. Deswegen hast du mich um Hilfe gebeten. Du kennst unsere Gepflogenheiten nicht.“ Tobias kam langsam zu Luft, obwohl er nach wie vor bedrohlich blass um die Nase war. Stefanie empfand fast Mitleid mit ihm. Er rückte ebenfalls näher an sie heran, woraufhin Stefanie vorsichtig den Abstand zu beiden vergrößerte. „Ich habe keine Ahnung, was ihr wollt - geschweige denn, wer ihr seid. Aber ihr habt definitiv die Falsche entführt.“ „Deine Bücher handeln von Elfen. Oder nicht?“ Arvariél fixierte sie mit ihren stahlblauen Augen, so dass Stefanie Schwierigkeiten bekam, sich abzuwenden. „Ja, klar, ihr wart doch auf meiner Lesung.“ „Du studierst die Legenden über Elfen auf der Erde?“ „Ja, allerdings ...“ „Und du wirst auf vielen wichtigen Versammlungen deines Landes zu diesem Thema befragt und hältst Reden?“ Stefanie runzelte die Stirn. Reden? Sie hielt keine Vorträge auf irgendwelchen Tref... Mit aufgerissenen Augen wandte sie sich an Tobias. „Meint sie meine Workshops auf den Conventions?“ Dieser legte eine Hand an die Schläfe und nickte. „Wie gesagt, Arvariél ist nicht von hier.“ „Hör zu. Das ist ein Missverständnis. Es gibt andere Menschen, die sich viel besser mit Elfen auskennen als …“ Arvariél hob die Hand und unterbrach damit ihren Redefluss. Die Worte blieben auf ihrer trockenen Zunge kleben. „Laut Tobias bist du die einzige, die derzeit in Berlin lebt und uns helfen würde.“ „Dir verdanke ich das also?“ „Ich will es erklären. Leider haben wir kaum Zeit. Wir müssen ein sicheres Versteck finden, bevor die Sonne untergeht.“ Stefanie betrachtete die zwei. Abgesehen von den schmerzenden Lungenflügeln und einem Bluterguss am Oberarm taten die beiden ihr nichts. Zudem machten sie keinen gewaltbereiten Eindruck. Im Gegenteil: Vor allem Arvariél wirkte verzweifelt und nervös, obwohl eindeutig zu viel Kraft in diesem zierlichen Körper wohnte. Ihr Blick flog alle paar Sekunden hinauf und durchsuchte den Wald, in dem sie saßen. Stefanie seufzte. Das, was Arvariél in der Buchhandlung getan hatte, ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Scheiß Neugierde, dachte sie und verfluchte sich. Eines Tages wird das noch mein Untergang sein. „Meinetwegen. Ich gebe euch fünf Minuten, mir zu erklären, was hier los ist. Sonst rufe ich die Polizei.“ Tobias hob beide Augenbrauen und die Hände. „Glaub mir, fünf Minuten reichen nicht aus. Da helfen nicht mal fünf Stunden.“ Irgendwo weit von ihnen entfernt zwitscherten einige Vögel, als wollten sie ihm zustimmen. „Versuch es.“ Tobias wechselte einen Blick mit Arvariél, die ihm aufmunternd und mit einem Spritzer Verachtung zunickte. Er holte Luft. „Erinnerst du dich an den Anschlag auf der Siegessäule vor ein paar Wochen?“
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