Wie Sie der Perfektionismusfalle entkommen und - yoga

Perfektionismus – (Aus Psychologie heute 01/2015 – von Ursula Nuber)
Wie Sie der Perfektionismusfalle entkommen und zufriedener werden
können.
Sie heben den Ehrgeiz immer 100% Leistung zu erbringen? Sie dürfen auf keinen
Fall einen Fehler machen? Sie fragen sich ständig was andere von Ihnen denken?
Dann sind Sie wahrscheinlich ein Opfer des Perfektionismus. Der Wunsch nach
permanenter Selbstverbesserung ist unendlich anstrengend und auf Dauer gefährlich.
Facebook macht neidisch und verdirbt die Laune. Dieses erstaunliche Ergebnis einer Studie
veröffentlichten im Jahr 2013 Forscher der Technischen Universität Darmstadt und der HumboldtUniversität Berlin. Ausgangspunkt ihrer Unter5suchung mit knapp 600 Facebook-Usern war die
Frage: Wie fühlt man sich wenn man all die fröhlichen und glücklichen Gesichter auf Facebook
sieht und liest welch tolle Sachen „die Freunde“ gerade wieder erleben? Die Fülle an positiven
Posts, so stellen die Wissenschaftler fest, hinterlässt schale Gefühle: Über ein Drittel der Befragten
gab zu, sich während und nach der Nutzung von Facebook-Seiten frustriert, unzufrieden, einsam,
traurig und neidisch zu fühlen. Im Vergleich zu den vielen positiven Erlebnissen der anderen
erschien ihnen das eigene Leben als ereignisarm und langweilig. Um das scheußliche Gefühl der
Minderwertigkeit zu kompensieren, gingen viele zum „Gegenangriff“ über: Sie posteten ihrerseits
die tollsten Storys und brillantesten Fotos – vieles geschönt und zum Teil ziemlich weit weg von der
Realität.
Facebook ist nicht die einzige moderne Quelle die das Selbstbewusstsein ihrer Nutzer schwächt.
Auch technische Neuerungen, wie z.B. die Apple-Watch (sie zählt nicht nur jeden Schritt, den ihr
Besitzer geht, sondern misst auch die Zeiten, in denen er faul auf der Couch liegt) oder Apps für´s
Smartphone, die den Stresspegel unter Kontrolle halten, die Stimmung überprüfen oder den
Alkoholkonsum überwachen, geben Experten inzwischen Anlass zur Sorge: Denn diese digitalen
Helfer vermitteln die Illusion, ein besseres, gesünderes, fitteres, kurz: perfekteres Leben sei
machbar, und vergrößern damit die ohnehin schon weitverbreitete Bereitschaft, die eigenen
Unvollkommenheiten und Schwächen zu bekämpfen.
Die Zahl der Menschen die von der Stimme eines inneren Tyrannen mit Befehlen wie „Du musst“,
„Du sollst“, „Du darfst nicht“ täglich zu Höchstleistungen und Selbstverbesserungsmaßnahmen
angetrieben werden, ist groß und nimmt stetig zu. Perfektionismus ist inzwischen „in der westlichen
Welt endemisch“, das heißt, er ist wie eine Krankheit die immer häufiger in einer Population auftritt.
Diese Feststellung treffen die kanadischen Forscher Gordon L. Flett von der New York University
und Paul L. Hewitt von der University of British Columbia, die sich seit langem mit diesem Thema
beschäftigen. Und auch der Psychotherapeut und Psychiater Raphael Bonelli schreibt in seinem
aktuellen Buch: „Perfektionismus prägt den Zeitgeist, liegt unseren Wertvorstellungen zugrunde,
dominiert unsere Köpfe. Fast niemand kann sich ihm ganz entziehen.“
Viele sehen allerdings auch keine Notwendigkeit, sich zu entziehen. Sie halten Perfektionismus für
ein lohnenswertes Ziel und kokettieren häufig sogar mit ihrem Streben nach dem Optimum.
Während man sich – beispielsweise - zu zwanghaftem Verhalten, depressiven Stimmungen oder
Ängsten in der Regel kaum offen bekennt, gibt man meist offen zu: „Ich bin eben ein
Perfektionist!“ Raphael Bonelli wundert das nicht, schließlich handle es sich um ein „attraktives
Laster“. Einen Perfektionisten umgeben „ein Nimbus von Ernsthaftigkeit, Ordentlichkeit, Fleiß und
Verlässlichkeit“. Perfektionismus wird in unsrer Gesellschaft belohnt. Der Mitarbeiter, der sich in
langen Überstunden für das Gelingen eines Projekts einsetzt, bekommt Anerkennung. Die Eltern,
deren Kinder es mit viel Nachhilfe auf das angesagte Gymnasium schaffen, haben das gute Gefühl,
etwas richtig gemacht zu haben. Und die Frau, die nach einem langen Arbeitstag ihre To-do-Liste
abgearbeitet hat, kann zufrieden mit sich sein.
Selbstoptimierer erhalten einen Lohn für ihre Mühe – aber nur, wenn sie es schaffen, ihre Ziele auch
wirklich zu erreichen. Das ist aber, wenn überhaupt, nur punktuell möglich. Es liegt in der Natur der
Sache, dass die Betroffenen von sich meist Unmögliches und Unerreichbares verlangen.
Perfektionismus bedeutet nicht, wie viele glauben, „peinliche Ordnung halten, übergenau und
überpünktlich sein, immer genau das richtige Wort finden, die genau richtige Krawatte oder den
genau richtigen Hut tragen“, stellte schon im Jahr 1950 die berühmte Psychoanalytikerin Karen
Horney fest. Auf diese „belanglosen Kleinigkeiten“ komme es nicht an, wichtig sein dem
Perfektionisten „die makellose Vortrefflichkeit der gesamten Lebensführung“. Es geht ihm um nicht
mehr und nicht weniger als die „Beherrschung des Lebens“. Das ist aber eine Aufgabe die nicht zu
meistern ist.
Perfektionisten spüren ständig die „Faust im Nacken“, wie der Psychotherapeut Reinhold Ruthe
schreibt. Anders als Menschen, die ihre Sache „möglichst gut“ machen wollen, werden
Perfektionisten von einem inneren Richter verhöhnt, wenn sie nicht hundertprozentige Leistung
erbringen. Machen sie Fehler, erfüllen sie nicht ihre hochgesteckten Erwartungen oder haben sie das
Gefühl, dass ein anderer klüger, interessanter und erfolgreicher ist, klagt sie die innere Stimme
wegen Mittelmäßigkeit an.
Selbst durch eine perfekte Leistung, lässt sich der Richter nicht auf Dauer zum Schweigen bringen.
Seine ungeschriebenen Gesetze erlauben keine Entspannung:
Fehler sind nicht erlaubt! Perfektionisten glauben, sie seien in den Augen der anderen nur dann
etwas wert, wenn sie sich keinerlei Schnitzer erlauben. Misslingt ihnen etwas, sind sie am Boden
zerstört. Sie haben keine Mechanismen zur Verfügung, wie ie mit Niederlagen und Misserfolgen
fertig werden können. So zeigen beispielsweise Studien, dass perfektionistische Gewinner von
Silbermedaillen ihre Glücksgefühle auf einer 10-Punkte-Skala mit 4,8 einschätzen, wobei
„1“ völlige Niedergeschlagenheit und „10“ extreme Glücksgefühle bedeuteten. Sie empfanden es
als Versagen, keine 100-prozentige Leistung erbracht zu haben. Nichtperfektionisten dagegen halten
das für normal und menschlich.
Andere sind besser! Wir alle neigen zu sozialen Vergleichen. Diese laufen ganz automatisch und
permanent ab. In einem Experiment haben die Teilnehmer nur für den Bruchteil einer Sekunde
subliminal, also unterhalb der der bewussten Wahrnehmungsschwelle das Gesicht einer schönen
Frau zu sehen bekommen. Danach bewerteten sie ihr eigenes Aussehen schlechter als Teilnehmer,
denen man ein eher durchschnittliches Gesicht gezeigt hatte. Perfektionisten stellen diese sozialen
Vergleiche ununterbrochen an – und schneiden dabei grundsätzlich schlecht ab.
Es gibt nur perfekt – oder schlecht! Weil sie davon überzeugt sind, dass das Optimum erreichbar
ist, kennen Perfektionisten mit sich keine Gnade, wenn sie die eigenen hohen Erwartungen nicht
erfüllen. Typische Gedanken sind: „Ich habe die Beförderung nicht bekommen, also bin ich in
Versager“. Oder: „Ich wollte doch keine Süßigkeiten mehr essen, nun habe ich die Diät
abgebrochen und kann gleich die ganze Keksschachtel aufessen“.
Du sollst! Du musst! „Perfektionisten stehen unter der Tyrannei des Sollens und Müssens“, schrieb
Karen Horney. Der innere Antreiber sorgt ununterbrochen für Gedanken wie: „ich sollte
erfolgreicher sein“. „Ich sollte mich mehr beherrschen“. „Ich muss mehr trainieren“. Und ähnlich
streng gehen sie auch mit anderen um: „Sei sollte mich öfter anrufen“. „Er sollte mich mehr bei der
Hausarbeit unterstützen“.
Angesichts der Qualen, die mit dem Streben nach dem immer Besseren verbunden sind, stellt sich
natürlich die Frage nach dem Warum. Was bringt einen Menschen dazu, mit sich selbst so
unerbittlich umzugehen, sich keine Schwächen zu erlauben, geschweige denn Misserfolge oder
Fehler? Warum hören mache Menschen die Stimme ihres inneren Richters besonders laut, während
es anderen gelingt, sie leiser zu drehen, oder gar ganz zu überhören?
Obwohl inzwischen Ergebnisse aus der Zwillingsforschung den Verdacht nahelegen, dass
genetische Faktoren eine Rolle spielen könnten, sind sich die Experten einig. Man kommt nicht als
Perfektionist zur Welt, sondern man wird dazu gemacht. So zeigen Umfragen, dass Perfektionisten
fast immer Aussagen zustimmen wie: „Meine Eltern erwarten viel von mir, ich wollte sie nicht
enttäuschen“, „meine Eltern kritisieren mich, wenn ich ihre Erwartungen nicht erfülle“ und „meine
Eltern waren sehr anspruchsvoll“. Sie forderten viel von sich selbst“. Das Vorbild der Eltern und
ihre Reaktionen auf Leistungen oder Versagen hat das kindliche Gehirn ungeprüft gesammelt und
im „Eltern-Ich“ abgespeichert. So bezeichnet die Transaktionsanalyse jenen Ich-Zustand, in dem
„alle Ermahnungen und Regeln, alle Gebote und Verbote aufgezeichnet sind, die ein Kind von
seinen Eltern zu hören bekommen hat oder von ihrer eigenen Lebensführung ablesen konnte“,
erklärt der Psychiater Thomas A. Harris, der zusammen mit Eric Berne die Transaktionsanalyse
begründet hat. Wer von klein auf lernen musste, dass es nur durch Leistung die unendlich wichtige
Aufmerksamkeit und Anerkennung der Eltern bekommen konnte, wer Enttäuschungen in den
Augen des Vaters sah, wenn eine Schularbeit mit der Note Zwei bewertet wurde, glaubt: Nur wenn
ich Perfektes leiste, bin ich etwas wert.
Diese frühen im „Eltern-Ich“ gespeicherten Erfahrungen sind es auch, die den Erwachsenen
unerbittlich antreiben. Wie schon als Kind versucht er, sich seine Umwelt durch Leistung gewogen
zu machen. Und wie das Kind, lebt auch der Erwachsene in der Angst, „nicht zu genügen, nicht
geliebt zu werden, nicht zu gefallen, abgelehnt zu werden. Angst keine Existenzberechtigung zu
haben, wenn man nicht pausenlos Tadelloses, Bewundernswertes und Außergewöhnliches leistet“,
erklärt Raphael Bonelli. „Der Perfektionist ist ein liebenswerter Mensch, der nicht daran glauben
kann liebenswert zu sein … Er ist überzeugt, dass er sich die Liebe verdienen muss oder dass r
zumindest sicherer ist, wenn er etwas vorzuweisen hat“.
Wenn davon die Rede ist, dass der Perfektionismus epidemische Ausmaße annimmt, dann kommt
auch der Erziehung ganz sicher eine wichtige Rolle zu. Der Hinweis auf veränderte,
demokratischere Erziehungsstile überzeugt dabei nicht. Zu befürchten ist vielmehr, dass moderne
Eltern, die eigentlich nur das Beste für ihr Kind wollen, perfektionistische Tendenzen fördern.
Während frühere Generationen durch Strenge und Autorität auf Leistung getrimmt worden sind,
lernen Kinder heute auf eine andere Weise, dass Perfektsein ein lohnendes Ziel ist. „Noch nie ist so
viel erzogen worden wie heute“, schreibt Josef Kraus, der Präsident des deutschen Lehrerverbandes.
Eltern seien heute „Helikoptereltern“, so auch der Titel seines Buches, die versuchen, ein möglichst
„perfektes Kind zu produzieren“. Er diagnostiziert bei den heutigen Eltern einen „übersteigerten, ja
als narzisstisch zu bezeichnenden Perfektionismus, der gekennzeichnet ist durch Zwanghaftigkeit,
latente Selbstzweifel, Dünnhäutigkeit der Eltern gegenüber kleinsten Versäumnissen . Vor allem
aber durch überhöhte Erwartungen“.
Für die Kinder, die dem „Förderzirkus“ (Kraus) ihrer Eltern hilflos ausgesetzt sind, ist der Weg in
den Perfektionismus wohl vorprogrammiert. Und später, wenn sie dann größer sind, vergleichen sie
sich mit ihren tollen Facebook-Freunden und nutzen all die digitalen Möglichkeiten, um ihre
Leistung zu kontrollieren, sich mit anderen zu vergleichen und stetig an der Selbstverbesserung zu
arbeiten … Schöne, neue, endlich perfekte Welt?
So weit wird es nicht kommen. Denn auch wenn wir im „Zeitalter der Selbstoptimierer“ leben und
sich bald alle Lebensbereiche digital kontrollieren lassen – den perfekten Menschen wird es
natürlich nicht geben. „Es sei denn, man versteht darunter, dass jeder Mensch genauso in Ordnung
und perfekt ist , wie er ist“, meint der Autor und Psychotherapeut Elmar Woelm. Und gibt zu
bedenken. So attraktiv uns in der Leistungsgesellschaft Perfektion auch erscheint, „wie attraktiv
sind perfekte Dinge denn wirklich? Und was bedeutet es perfekt zu sein? Ein perfektes Bild, eine
perfekte Skulptur oder ein perfekter Baum – wie würden sie aussehen? Ist es nicht gerade die
Abweichung vom Perfekten, was die Dinge wirklich ansprechend und interessant macht?“
Ein wichtiger Gedanke, der motivieren kann, sich mit der eigenen „Mittelmäßigkeit“ anzufreunden
– und den inneren Richter, der nur mit Perfektem zufrieden ist, zum Schweigen zu bringen.