Rede anlässlich des Leibniz-Frühlingsempfangs 20. März 2015 Im Frühling der Nachwuchs – eine Reflexion von Matthias Kleiner, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft Der Frühling ist die Jahreszeit, in der Wachstum und Blüte beginnen – wieder beginnen, könnte man auch sagen. Neues und Vergangenes wächst, wächst wieder, wächst weiter und wächst nach. Nachwachsen – ja, sprechen wir doch über Nachwuchs. Wir sind ja auch in wissenschaftlich-struktureller Weise vertraut – oder besser: auch in Wissenschaft und Forschung betraut mit Nachwuchs. Unsere Institutionen sind nicht nur verantwortlich für die Ausbildung zukünftiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern umgekehrt beruhen die Existenz und das Funktionieren wissenschaftlicher Einrichtungen darauf, dass immer wieder junge Menschen in der Wissenschaft ein Zuhause finden und sich langfristig beruflich in Wissenschaft und Forschung engagieren – und engagieren können. Gerade werden dafür wieder die politischen und strukturellen Bedingungen im immer dynamischen Wissenschaftssystem diskutiert und neu bestimmt. Dazu gehören auch grundlegende Fragen, die ich gern stelle – auch als Zwischenresümee meiner ersten Besuche an etwa einem Viertel der 89 Leibniz-Institute, die mir regelmäßig Gelegenheit geben, mit Doktorandinnen und Doktoranden zu sprechen, die dort gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen an den Universitäten betreut werden. Gelegentlich habe ich dabei eine Frage aufgeworfen, die derzeit nicht im wissenschaftspolitischen Fokus steht, aber mir und auch anderen doch als wichtig erscheint: Sind drei Jahre Promotionszeit nicht eine Fiktion? – Und wenn dem so ist: Wollen wir sie wirklich aufrechterhalten oder die Gelegenheit nutzen, damit einmal aufzuräumen? Wäre ein bedachter Abgleich mit dem Zweck von Promotionen nicht zielführender? Denn Nachwuchsförderung ist natürlich kein Selbstzweck, sondern lässt sich vielmehr zurückführen auf den Zweck von Forschung selber – und damit meine ich nicht ihren unmittelbaren Nutzen, sondern den Grund, warum wir überhaupt Forschung betreiben – unabhängig davon, ob sie sich eher als erkenntnis- oder eher als anwendungsorientiert versteht. Die Antwort ist so einfach wie sonst wenig in Wissenschaft und Forschung: Forschung beantwortet Fragen. Sie dient der Erkenntnisgewinnung, der Erklärung von Dingen, die bisher nicht erklärlich waren, der Synthese von Ideen und Belegen zu neuen Verständniseinheiten, dem Nachvollzug von Prozessen und Abläufen beispielsweise in der Natur. Sie soll dies alles natürlich nicht so oder so tun, sondern immer bestmöglich. Und dieses „Primat der Qualität“, wie wir es für unsere Leibniz-Einrichtungen nennen, gilt von Anfang an – vom ersten forschenden Schritt bis zu späten wissenschaftlichen Aufarbeitungen – und damit auch und vielleicht ganz besonders für Promotionen. Qualität ist weniger keine Kür in der Wissenschaft, sie ist Pflicht, mehr noch: Voraussetzung. Nur hochwertige Forschung wird signifikant sein. Wenn wir uns das vergegenwärtigen und die Bedingungen dafür schaffen, dass Forschung immer auf ihr eigenes bestes Ergebnis ausgerichtet ist und sein kann, besteht nicht die Gefahr, dass aus Qualität ungewollt Quantität wird. Wie bei einem Durchlauferhitzer: Ist die Wassermenge zu groß, bleibt das Wasser lauwarm… Daher scheint mir, dass eine Regelpromotionsphase von zwei bis drei Jahren von vornherein einen – zu? – engen zeitlichen Rahmen steckt, der dazu verleitet – oder leicht dazu verleiten kann, wissenschaftlich dünnere Bretter zu bohren, zu frühe thematische Anpassung zu suchen und alle möglichen Risiken unbedingt vermeiden zu wollen – obgleich gerade dieses erste eigenständige Forschen für die wissenschaftliche Profilierung so wichtig und ausschlaggebend sein kann. Schließlich führt die Promotion in vielen wissenschaftlichen Disziplinen auch an die Weggabelung zwischen akademischem Karriereweg oder einer qualifizierten Laufbahn in anderen Berufsfeldern. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Promotionserfahrung entscheiden auch Doktorinnen und Doktoren selbst über ihre Zukunft. Biographisch betrachtet geht eine Promotion durchaus mit einer Lebensphase einher, die inhaltliche Risikobereitschaft in befristeten, aber darin immer verlässlichen Arbeitsverhältnissen zulässt und begünstigt. Und natürlich braucht es Risikobereitschaft: Weil eine Promotion ihrerseits Innovation und Innovativität, Originalität und Tiefe benötigt. Sie ist dann, nebenbei bemerkt, auch um ein Vielfaches befriedigender. Risikobereitschaft verlangt schließlich auch der weitere Verlauf einer wissenschaftlichen Karriere. Insofern wäre es mehr als schade, Sicherheit und Planbarkeit vorauseilend zu einem starren Korsett gerinnen zu lassen. „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen…“1 Herrmann Hesses Anspruch an unsere Lebensstufen gilt umso mehr für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich qua definitionem immer wieder ins Neue, Unbekannte wagen und deren Erfolg zurecht davon abhängt, sich auszutauschen und in internationale und interdisziplinäre – also häufig zunächst einmal wenig vertraute – Kontexte einzubringen. Immerhin – und da haben wir sicher aus der Vergangenheit gelernt – wird heute in den meisten Disziplinen Förderanträge zum darauf Beispiel Wert bei gelegt, Berufungen dass und Entscheidungen Kandidatinnen und über Kandidaten, Antragsstellerinnen und Antragssteller berufliche Stationen an unterschiedlichen Institutionen und im besten Fall im internationalen Raum vorweisen können. Das kommt nicht von ungefähr: Die individuelle Erprobung des einst Gelernten in neuen Kontexten und die Kombination unterschiedlicher Denkschulen und Methoden ergeben vielfältige wissenschaftliche Profile. Vergegenwärtigen wir uns: Die Wahl eines wissenschaftlichen Berufes ist gerade nicht die Inkaufnahme, sondern es ist die Entscheidung für eine lebenslange geistige und biographische Flexibilität. Gelegentlich habe ich schon einmal darauf hingewiesen, dass Wissenschaft und Forschung einen genuinen Charakterzug mit dem Abenteuer teilen. Neugier, Suche und Aufbruch sind Voraussetzungen wissenschaftlicher Tätigkeit, ebenso wie die Lust am Fragen und am Erkunden des Unbekannten. 1 Hermann Hesse, Stufen. Das kann sich an einem Ort allein kaum vollziehen. Die eigene wissenschaftliche Entwicklung sowie die Entwicklung wissenschaftlicher Fragestellungen kann sich selten an einer Forschungseinrichtung „zur vollen Blüte“ entfalten – um zwischendurch einmal wieder den Frühling zu honorieren. Sie bedarf des Anschlusses an neue Partner, bestimmter Arbeitsbedingungen und nicht zuletzt der frischen Inspiration. Insofern erfordern Wissenschaft und Forschung als Beruf geistige Beweglichkeit und damit auch Orts- und Kontextwechsel, die auch einmal mühsam sein mögen, aber aktiv, wach und rege halten. Abenteuer, das bedeutet eben „[Schnell] wechselnde Situationen und Schauplätze sowie fremdartiges Ambiente, in dem sich teils phantastische Ereignisse zutragen…“. … Um tatsächlich phantastische wissenschaftliche Ereignisse zu ermöglichen, braucht es in der strukturellen Ausgestaltung – auch im Hinblick auf gesetzliche Vorgaben oder gar einen Wissenschaftstarifvertrag? – wissenschaftsgemäße Balance. Balance, die diese besonderen Bedürfnisse von Wissenschaft und Forschung aufgreift, dabei die dynamischen Entwicklungen weder im System noch auf dem individuellen Karriere- und Lebensweg behindert, sondern begünstigt, die es den Universitäten und Forschungseinrichtungen möglich macht, ihrem Bildungsauftrag optimal nachzukommen, die engagierte Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer würdigt und es den öffentlichen Wissenschafts- und Forschungsinstitutionen erlaubt, im Wettbewerb mit dem Ausland und der Wirtschaft attraktive Vertragsangebote an exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu machen, um sie langfristig zu halten. Also muss doch die erste Aufgabe lauten, realistische, zuverlässige Rahmenbedingungen für Promotionen und die nächsten Stufen wissenschaftlicher Tätigkeit zu definieren. Denn wollen wir dauerhaft selbstbewusste, flexible, experimentierfreudige junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – oder wollen wir wirklich „nur“ Nachwuchs? Vor dem Hintergrund meiner Ausführungen gibt mir der heutige Frühlingsbeginn Anlass, dem etwas gönnerhaften Begriff des Nachwuchses für jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu misstrauen. [In der Deutschen Forschungsgemeinschaft haben wir vor einigen Jahren weitgehend von Stipendien auf Stellen umgestellt, um zu verdeutlichen, dass es sich bei Promotionen eben nicht mehr um ein wenn auch fortgeschrittenes Stadium der Ausbildung handelt, sondern eine erste selbständige Forschungstätigkeit – natürlich immer in guter Betreuung, wie es überhaupt heute mehr denn je dem Wesen der Wissenschaft entspricht, sie im Austausch und in Kooperation zu betreiben.] Auch die Treffsicherheit des Begriffs ‚Nachwuchs‘ scheint mir im wissenschaftlichen Kontext begrenzt: Was markiert Beginn und Ende des Daseins als Nachwuchs? Das Alter? Beginn und Ende der Promotion? Wir haben in der Leibniz-Gemeinschaft im vergangenen Jahr etwa 2.700 Doktoranden und über 700 abgeschlossene Promotionen gezählt und freuen uns natürlich über jeden einzelnen und jede einzelne von ihnen. Wir tun das aber vor allem, weil wir uns ihrer hohen Qualität und ausgezeichneten Ergebnisse sicher sind. Sind sie denn jetzt wissenschaftlich „aus dem Gröbsten raus“? Was zählt? Akademische Titel? Akademische Stellen? Eine bestimmte Anzahl von Publikationen oder Zitationen? Diese Kriterien erscheinen mir anfällig für Fehlschlüsse und Fehleinschätzungen und obendrein nicht konsensfähig über alle wissenschaftlichen Disziplinen hinweg. ‚Nachwuchs‘ bezieht sich begrifflich allzu stark auf so etwas wie ‚Vorwuchs‘ und impliziert eine zeitliche Ablösung von wissenschaftlichen Generationen, die doch besser neben-, nein, miteinander arbeiten, diskutieren, sich bereichern. Ich möchte es gern mit der Bezeichnung der „jüngeren Kolleginnen und Kollegen“ halten. -Passend zum Wachsen und zur Jahreszeit haben Ihnen das Leibniz-Institut für Gemüseund Zierpflanzenanbau in Großbeeren/Erfurt und das Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben Samentütchen mitgebracht, die Sie auf einem Tisch [einfügen: wo genau?] finden. Sie sind herzlich eingeladen, Sonnenblumen und Teltower Rübchen mitzunehmen und auszusäen. Letztere zeichnen sich übrigens auch durch eine gewisse Zeitlosigkeit aus: Die Aussaat erfolgt üblicherweise im Herbst, ist aber auch im März und April möglich, und sie lassen sich nicht nur gut kochen – ein Rezept finden Sie anbei – sondern auch gut lagern. Es handelt sich also um einen nachhaltigen Ertrag. Sonnenblumen dagegen werden – je nach Standort und Behandlung – groß und größer, und sie wenden ihren Blütenkopf stets der Sonne zu. Zusammengenommen ergeben sie eine treffende Metapher für unsere Wachstumsbedingungen in der Wissenschaft: Grundlagen, Standorte und passgenaue Behandlung ergeben nachhaltige Erkenntnisse und stete Fortschritte – auch im Sinne eines Überwindens und Hinauswachsens. Dafür lässt sich doch plädieren – oder? Herzlichen Dank und nun auf in den Frühling…
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