Ich würde dich so gerne verstehen

Ich würde dich so gerne
verstehen –
Begleitende in Berührung mit
der Trauer von Menschen
mit Demenz
Vom Trauern und Sterben bei Demenz
Fachtagung 22. April 2015, Roncalli-Haus Wiesbaden
Carmen Birkholz Dipl.-Theologin
Institut für Lebensbegleitung, Essen
www.institut-lebensbegleitung.de
Trauer ist...
... eine natürliche Reaktion auf den Verlust eines
Menschen, Lebewesen, einer Sache, einer Gewohnheit…,
zu der eine emotionale Bindung bestand.
... keine Krankheit, sondern ein natürlicher Prozess, der
durchlebt werden muss, um Verlusterlebnisse zu
verarbeiten.
Definitionen und Modelle
Es gibt eine Vielzahl von Modellen, die Trauer erklären
und Wege zu ihrer Bewältigung weisen möchten.
Den Begriff „Trauerarbeit“ hat Siegmund Freud geprägt in
seinem Aufsatz „Trauer und Melancholie“ von 1917
Einige Modelle folgen...
Elisabeth Kübler-Ross und ihre
Sterbephasen
Forschungssetting: Begegnung mit Menschen die schwerkrank und
sterbend sind in der Klinik. Sie nahm Emotionen wahr, die sie bei vielen
beobachtete und die sie in einem Phasenmodell beschrieb:
1. Nicht-wahrhaben-wollen
2. Wut / Zorn
3. Verhandeln
4. Depression
5. Annahme
Nach diesem Modell hat Verena Kast (u.a.) ihre Trauerphasen
entwickelt
Trauerphasen
nach John Bowlby
1. Betäubungsphase
2. Phase der Sehnsucht und Suche
3. Phase der Desorganisation und Verzweiflung
4. Phase der Re-Organisation
5. Neuorientierung
Trauerphasen nach
Verena Kast
1. Verdrängen
2. Aufbrechende Emotionen
3. Suchen und Sich-Trennen
4. Neuer Selbst- und Weltbezug
Verena Kast lebt in St. Gallen, doziert an der Uni Zürich
und Basel und bildet am C.G. Jung Institut in Zürich aus
„Abschiedlich leben“
„Auch bei unseren alltäglichen Begegnungen mit dem Tod scheint
mir das Trauern wichtig zu sein. Wir unterschätzen sonst seine
Wichtigkeit und unsere Verletzung.
An der Emotion der Trauer, so paradox es klingt, können wir
„gesunden“, denn sie bewirkt Wandlung. Wir können den Tod sehen
als jene Macht, die uns ständig antreibt, uns zu wandeln. Der
Gedanke der Wandlung kann ein faszinierender Gedanke sein,
aber der Preis der Wandlung ist Trennung, ist Verlust. Wenn wir das
übersehen, … findet kaum Wandlung statt: denn nur die Emotion der
Trauer bewirkt Wandlung, lässt wirklich Abschied nehmen und
macht den Menschen bereit für neue Beziehungen.“
Verena Kast, Trauern, 1999, S. 184
Gezeiten der Trauer
nach Ruthmareike Smeding (2005)
Schleusenzeit (Tod bis Beerdigung)
Januszeit (Auseinandersetzung damit, dass der Tote
nicht mehr da ist)
Labyrinthzeit (Lernen, mit dem Verlust umzugehen; neue
Krisenbewältigungsmechanismen werden entwickelt)
Das Loch oder die Quelle (Das Loch, in das ich fiel wurde
zur Quelle, aus der ich lebe)
Regenbogenzeit (Integration)
Traueraufgaben nach
J. William Worden
1. Den Verlust als Realität akzeptieren
2. Den Trauerschmerz erfahren
3. Sich anpassen an eine Umwelt, in der der
Verstorbene fehlt
4. Emotionale Energie abziehen und in eine andere
Beziehung investieren
William J. Worden „Traueraufgaben“
Wordens Traueraufgaben orientieren sich an John
Bowlby (Britischer Kinderarzt und Psychoanalytiker 1990) und
seiner Bindungstheorie
Trauer beobachtet er nach 4 Kriterien:
Gefühle
Körperliche Empfindungen
Wahrnehmungen
Verhaltensweisen
Gefühle
Traurigkeit
Zorn
Schuldgefühle
Angst
Verlassenheit, Einsamkeit
Müdigkeit
Hilflosigkeit
Schock
Sehnsucht
Befreiung
Betäubung, Abgestumpftheit
Körperliche Empfindungen
Leeregefühl im Magen
Brustbeklemmungen
Zugeschnürtsein der Kehle
Überempfindlichkeit gegenüber Lärm
Depersonalisation
Muskelschwäche
Energiemangel
Mundtrockenheit
Wahrnehmungen
Gedanken
Unglaube, Nichtwahrhabenwollen
Halluzinationen
Gefühl der Anwesenheit des Verstorbenen
Verwirrung
Intensive Beschäftigung mit dem Toten
Verhaltensweisen
Schlafstörungen
Appetitstörungen
Geistesabwesendes Verhalten
Soziales Sichzurückziehen
Träumen von dem Verstorbenen
Vermeiden von Erinnerungen
Suchen, Rufen
Seufzen
Rastlose Überaktivität
Aufsuchen von Orten oder Beisichtragen von
Gegenständen
Kult mit Objekten aus dem Besitz des Verstorbenen
Faktoren, die einen Trauerprozess
erschweren können, nicht müssen!
Umstände des Verlustes
Beziehung zum Verlorenen
Eigene Lebensgeschichte/eigene Lebensphase
Persönlichkeit des Trauernden
Familie und Umfeld /soziale, ökonomische Faktoren
Vorerfahrungen mit Trauer
Trauer von Menschen mit Demenz
in Bezug auf die Demenz
Verlust von Erinnerungen und Teilen der eigenen
Geschichte
Verlust von Sprache und dem Erkennen
Verlust von Autonomie und Steuerung
Verlust der Wertschätzung als Alte - in Abhängigkeit von
Umwelt und Gesellschaft
Verlust ihres Wertgefühls
Verlust ihres Personseins (durch Abwertung, Nichtwahrnehmung,
Pathologisierung)
Trauer von Menschen mit Demenz
im Erleben, wenn das Lebensbuch sich
rückwärts blättert
in Bezug auf die aktuellen Verlusterlebnisse
Erschwerte Trauer durch das Unverständnis der Umwelt und ihr
Ringen um „Realität“
In Bezug auf Verluste in ihrer Geschichte
Erschwerte Trauer durch das Unverständnis der Umwelt, wenn sie
nicht achtsam in die Welt des Menschen mit Demenz mitgeht
In Bezug auf nicht verarbeitete, verdrängte
Traumatisierungen
Erschwerte Trauer durch Unwissenheit der Begleitenden
Demenz als selbstheilender
Trauerprozess
Ist die Demenz selber eine Trauerreaktion am Ende des
Lebens?
Die Fähigkeit des Kontrollverlustes spült Emotionen nach
oben
Menschen mit Demenz sind ihren Emotionen ausgeliefert
Gleichzeitig sind ihre Emotionen eine starke Kompetenz,
die sich verstärkt entwickelt
„Demenzkranke verlieren wie erwähnt
schon relativ früh ihre Kontrolle. Das
macht es ihnen möglich, ihre Verluste
offen zu betrauern, ihre Gefühle frei
auszusprechen und sich so allmählich
selbst zu heilen. Ihre „Begabung“, die
Vergangenheit wieder zu beleben, sie zur
Gegenwart zu machen, schenkt ihnen
die Möglichkeit, alte, ungelöste Probleme
auf ihre eigene Art zu bearbeiten und so
zu einem guten Ende zu bringen.“
(Kojer, Marina 2007, 243)
„Demenzkranke habe bevor sie sterben auch nicht
mehr mit Altlasten zu kämpfen. Der Verlust der
Selbstkontrolle hat es ihnen leicht gemacht,
Kränkendes und Belastendes nicht länger im Inneren
zu verschließen, sondern loszulassen, es in der ihnen
eigenen, oft symbolisch verkleideten Weise
auszudrücken, auszuleben und zu verarbeiten. Wenn
sie sterben, haben sie längst von allem, was ihnen lieb
war, in ihrer Weise Abschied genommen; nun haben
sie nichts mehr loszulassen. Im Leben des sterbenden
alten Menschen besonders wichtige, mit starken
Emotionen besetzte Themen können aber bis zuletzt
ihre Bedeutung behalten.“ (Kojer 2007, 238)
Trauer von Menschen mit Demenz
durch die Reaktionen anderer auf ihre
Äußerungen in der Demenz
Reaktionen auf einen Menscehn mit
Demenz
Defizitorientiert und
pathologisierend:
Der betroffene Mensch muss
um seine Würde kämpfen.
Dies kostet Kraft und
erzeugt zusätzliche trauer.
Wer nicht mehr kämpfen
kann, emigriert nach innen
und verabschiedet sich aus
der Welt.
Ressourcenorientiert,
achtsam und zugewandt
Der betroffene Mensch lebt
stressfreier und hat dadurch
alle seine Kraft zum Leben
zur Verfügung. Liebe und
Beziehung können gelebt
werden – bis zum Schluss.
„Wollen wir ein Du verstehen lernen, müssen wir es nahe an
und heranlassen. Tun wir das nicht, bleiben wir bei allem
Bemühen im Leben und im Sterben auf großer Distanz zu
demenzkranken Menschen… Wenn ich ein Du primär als
fremdes, befremdliches Mangelwesen begreife, ist die
Distanz zwischen uns zu groß, um eine nähere Beziehung
zuzulassen. Wie unglaublich bereichernd und lehrreich es
dagegen sein kann, einem dementen Menschen dort, wo
er zuhause ist, nämlich auf der Gefühlsebene, zu
begegnen, kann nur der wissen, der sich schon einmal
darauf eingelassen hat. Der Entschluss dazu ist allerdings
nicht einfach. In der Welt der Gefühle, d.h. in der eigenen
Tiefe, dort wo unser Verstand nichts mehr glätten und
beschönigen kann, begegnen wir nicht nur dem anderen,
sondern auch uns selbst in all unserer Nacktheit und
Armseligkeit. Erst von hier aus eröffnen sich
Gemeinsamkeiten, wird das Gefühl des gegenseitigen
Verstehens, der Zusammengehörigkeit geboren. Nur hier
erahnen oder erfühlen wir für einen Augenblick die
Berührung zweier Welten.“ (Marina Kojer 2007, 232f.)
In Berührung mit der Trauer sein
Trauer berühren (wahrnehmen)
Herz berühren (menschliche Begegnung)
Körper berühren
Sinnliche und haltende Berührung
Trauer wahrnehmen, verstehen,
begleiten
Durch das wachsame Wahrnehmen der eigenen
Empfindungen – wir spüren Atmosphären und Fühlen,
was ist. In ihren Gefühlen sehen Begleitende wie in einen
Spiegel
Verstehen ist ein Grundanliegen und –bemühen in der
Begleitung von Menschen mit Demenz, es ist ein
emotionales Verstehen
Dasein, Mitgehen, Begegnungen von Herz zu Herz
Ein Beispiel: „Ja, das weiß ich“
Erschwerte Trauer einer alternden
Gesellschaft
Suizidwünsche angesichts einer Demenz
Passagen in Patientenverfügungen mit der Einschätzung
des Lebens als lebensunwert bei Demenz
Trauer von Menschen mit Demenz
durch den Umgang einer Gesellschaft mit
„Demenz“
Lat. Mens = Geist & de = von/weg
Absprechen des Personseins in einer „Welt nach Descartes“ („Ich
denke, also bin ich.“)
Das gesellschaftliche Bild ist geprägt von pathologisierenden
Bilder der Demenz
Ressourcenorientierte Bilder prägen mehr und mehr die
Einrichtungen und Dienste der Altenhilfe (N. Feil, T. Kidwood u.a.) –
dies setzt sich aber bisher nicht gesellschaftlich durch
Eine Wertschätzung und die Frage nach der für eine
Gesellschaft wichtigen Erkenntnis durch das „Phänomen
Demenz“ wird kaum gestellt (vgl. K. Dörner, R. Gronemeyer)
Trauer über de-mens
Wer es könnte
die Welt hochwerfen,
dass der Wind hindurchfährt!
Hilde Domin
Herzlichen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit
Literaturtipps
Baer, Udo; Schotte, Gaby (2014): Das Herz wird nicht dement, Landsberg
Birkholz, Carmen (2009): Spiritualität in: Kloke, Marianne u.a.: Grundwissen Palliativmedizin, Köln, 189-201
Birkholz, Carmen (2013): Demenz. mit Herz, in: Praxis Palliative Care 21, 32-33
Braam, Stella (²2007): „Ich habe Alzheimer“. Wie die Krankheit sich anfühlt, Weinheim, Basel
Buijssen, Huub (²2013): Die magische Welt von Alzheimer. 25 Tipps, die das Leben mit Demenzkranken
leichter und erfüllter machen, Weinheim, Basel
Depping, Klaus (³2008): Altersverwirrte Menschen seelsorgerlich begleiten, Band 1. Hintergründe,
Zugänge, Begegnungsebenen, Hannover
Dörner, Klaus (2007): Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem,
Neumünster
Feil, Naomi; Klerk-Rubin, Vicki de (92010): Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen,
München, Basel
Geiger, Arno (2011): Der alte König in seinem Exil, München
Gronemeyer, Reimer (2013): Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit, München
Heller, Andreas; Heimerl, Katharina; Husebø, Stein (Hg.) (32007): Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch
viel zu tun. Wie alten Menschen würdig sterben können, Freiburg, Br. (hier die Zitate von M. Kojer)
Kitwood, Tom (52008): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, Bern
Literaturtipps
Klie, Thomas (2014): Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft,
München
Kojer, Marina (Hg.) (2009): Alt, krank und verwirrt. Einführung in die Praxis der palliativen
Geriatrie, Freiburg, Br.
Kojer, Marina; Schmidl, Martina (2011): Demenz und palliative Geriatrie in der Praxis.
Heilsame Betreuung unheilbar demenzkranker Menschen, Wien
Kübler-Ross, Elisabeth: Interviews mit Sterbenden, Stuttgart 2001
Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, Stuttgart 1982 (1.
Auflage; mittlerweile immer wieder aufgelegt, eine Standardwerk)
Praxis PalliativeCare 11 / 2011 Thema: Unheilbar dement (darin Beispiele der
Musiktherapie) www.praxis-palliativecare.de/ausgaben-themen/einzelhefte
Sieveking, David (2012): Vergiss mein nicht. Wie meine Mutter ihr Gedächtnis verlor und ich
meine Eltern neu entdeckte, Freiburg
Smeding, Rm.E.W; Heitkönig-Wilp,M. (Hg.): Trauer erschließen. Eine Tafel der Gezeiten,
Wuppertal 2005
Worden, William: Beratung und Therapie in Trauerfällen, Bern 1999