MIT JEDEJETZT WOCHE MIT 6 NEUEN SEITEN SEITEN CHRIST&&WELT WELT CHRIST 19. MÄRZ 2015 No 12 DIE ZEIT WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR Christ & Welt PREIS DEUTSCHLAND 4,50 € Ist Genie männlich? Natürlich nicht. Aber es liegt auch an den Frauen, dass so wenige von ihnen damit auffallen Titelfoto [M]: Pari Dukovic/Trunk Archive FORTPFLANZUNGSMEDIZIN Nicht mit mir! Unheimliche Enkel J Das Gericht gibt den Schwarzen Peter weiter: An Mütter, Väter und Schulen Das Bundesverfassungsgericht weist diese Ansprüche nicht völlig zurück, bewertet sie aber neu. Nicht etwa weil bundesdeutsche Eltern das Kopftuch im Klassenzimmer so vermisst hätten. Sondern weil zwei muslimische Beschwerdeführerinnen ihr Recht auf freie Religionsausübung in der Schule gewahrt wissen wollten. Das Gericht gibt ihnen recht: Die Glaubensfreiheit der Lehrerinnen wiegt neuerdings schwerer als die Idee von der Neutralität der staatlichen Schule. Die Folge: Die Bundesländer werden ihre Schulgesetze ändern und an dem neuen Kopftuchurteil ausrichten müssen. Wem nutzt dieser angeblich so fortschrittliche Eingriff in den deutschen Schulalltag? In jedem Fall den Lehrerinnen, deren religiöse Selbstentfaltung in der Schule jetzt von Staats wegen gesichert ist. Wem er nicht unbedingt nutzt, sind die kleinen Endabnehmer des edlen Toleranzedikts. Die haben die Karlsruher Richter über der lobenswerten Anerkennung der Rechte muslimischer Frauen aus den Augen verloren. Und auch deren Eltern, die von der Notwendigkeit eines religiös gefestigten muslimischen Lehrkörpers vielleicht doch nicht so überzeugt sind, dass sie ihren Nachwuchs seinen Erziehungskünsten im Ernst überlassen möchten. Ich kann hier nur – Kopf und Kragen riskierend – für mich selbst sprechen: Meine eigene Begeisterung für die multireligiöse Gesellschaft wäre vermutlich nicht groß genug, um meine Töchter dem Vorbild einer Kopftuch tragenden Staatspädagogin auszusetzen. Denn bewundernswerte Vorbilder sollen Lehrer und Lehrerinnen schließlich sein. Ganze Menschen, die mit Haut und Haar nicht nur Rahmenpläne, sondern auch menschliche Haltungen vermitteln. Und dazu kann, bei allem Respekt, kaum diejenige gehören, nach der weibliches Lehrerinnenhaar unrein und vor Männerblicken zu verbergen sei. Einem sechsjährigen Mädchen zu erklären, dass derartige Auffassungen einerseits abwegig, andererseits zum Wohle der multikulturellen Vielfalt zu respektieren seien, ist eine ziemlich schwere Aufgabe. Die Eltern dürfen nun an zwei Fronten der liberalen Gesellschaft gegen Frauenbilder kämpfen, die den weiblichen Körper maßregeln und züchtigen: gegen die körperfeindlichen Vorbilder einer verheerenden Model-Industrie und gegen das patriarchalische Weiblichkeitsideal des Islams, das jetzt sogar bundesrichterlich geschützt wird. Denn weder das übersexualisierte und abgemagerte Girlie noch die verschleierte Lehrerin sind überzeugende Entwürfe einer undressierten Weiblichkeit, die man seinen Töchtern gern mit auf den Lebensweg geben möchte. Das Gericht drückt sich vor diesen Problemen. Wie es überhaupt den Schwarzen Peter allen anderen zuspielt. Den Müttern und Vätern. Und den Schulen, die zukünftig prüfen sollen, ob die fromme Kopfbedeckung ihres Personals im Einzelfall eine Störung des Schulfriedens darstellt, um partielle Verbote durchsetzen zu dürfen. Alle weiteren Fragen bleiben offen. Wenn das Kopftuch erlaubt ist, darf dann morgen der Ganzkörperschleier für die vollumfängliche religiöse Persönlichkeitsentwicklung der Pädagogin unverzichtbar werden? Dürfen muslimische Lehrer gar darauf drängen, dass die unbedeckten Häupter ihrer Zöglinge eine unzumutbare Provokation darstellen, die ihren Glauben verletzt? Denkbar ist auch, dass muslimische Väter ihre revoltierenden Töchter, nun mit Karlsruher Autorität ausgestattet, erst recht unters Kopftuch zwingen. Der alte, unrühmlich beendete Streit ums Kopftuch rührt an das Paradox freier Gesellschaften, deren Freiheit sich selbst aufhebt, wenn sie uneingeschränkt für alle und alles gültig ist. Siehe auch Seite 11 www.zeit.de/audio Gibt es ein Recht auf den Schwangerschaftsabbruch? Christ & Welt Seite 2 Liedermacher Konstantin Wecker verteidigt den Pazifismus Christ & Welt Seite 4 KOPFTUCHURTEIL Eltern müssen nun an zwei Fronten der liberalen Gesellschaft gegen körperfeindliche Frauenbilder kämpfen VON IRIS RADISCH Abgetrieben: Ein Grundsatzstreit Abgerüstet: Ein Friedensappell Das neu gestaltete Ressort CHANCEN, ab S. 71 etzt beginnt eine neue Ära im Kopftuchstreit: Das Bundesverfassungsgericht hat der Klage zweier nordrhein-westfälischer Lehrerinnen stattgegeben. Ein pauschales Kopftuchverbot an deutschen Schulen ist in Zukunft verfassungswidrig. Das Kopftuch gehört ab sofort zu Deutschland und in deutsche Schulen. Das Urteil löst allenthalben sonderbare Begeisterung aus. Die Lehrergewerkschaft, der Zentralrat der Muslime und der größte Teil der deutschen Presse loben den Einzug des Kopftuchs in deutsche Lehrerzimmer als einen Meilenstein auf dem Weg in die offene Gesellschaft. Endlich, heißt es, würdige man die Lebenswirklichkeit muslimischer Frauen in Deutschland. Wer jetzt noch dem Ideal einer religionsfreien Schule nachhängt, ist von gestern. Heute gilt die Selbstdemontage der säkularen Bildungsanstalten als fortschrittlich. Begonnen hat der Streit ums Lehrerinnenkopftuch im Jahr 2003. Damals hatte eine angehende muslimische Lehrerin das Land BadenWürttemberg verklagt, weil es sich weigerte, die Kopftuchträgerin in den Schuldienst zu übernehmen. Das Bundesverfassungsgericht traf in seinem ersten legendären Kopftuchurteil noch keine grundsätzliche Entscheidung, stellte den Ländern jedoch anheim, dem Lehrpersonal das Tragen eines Kopftuches zu verbieten. Die Gründe für ein solches Verbot haben ihre Plausibilität auch zwölf Jahre später nicht verloren. Religiöse Symbole widersprechen noch immer dem Neutralitätsgebot staatlicher Bildungsinstitutionen. Wer seine Kinder gern religiös erziehen lassen möchte, egal, ob durch Kutten- oder Kopftuchträgerinnen, hat dazu in privaten Konfessionsschulen hinreichend Gelegenheit. Wer sein Kind aber einer Staatsschule anvertraut, darf religiöse Enthaltsamkeit erwarten. IN DIESER AUSGABE VON CHRIST &WELT Wenn Gentechniker vor Gentechnik warnen, sollten wir auf sie hören. Sonst könnte es zu spät sein VON ULRICH BAHNSEN W ir müssen reden! Selten wendet sich die Wissenschaft so eindringlich an die Öffentlichkeit wie in diesen Tagen. Im Fachblatt Nature warnen ausgerechnet Genforscher vor einer historischen Zäsur in der Genforschung: Die Technik sei reif, das Erbgut menschlicher Embryonen gezielt zu verändern. Experimente dazu würden bereits durchgeführt, fürchten die Reproduktionsmediziner. Sie wollen den unmittelbar bevorstehenden Tabubruch verhindern: Eingriffe ins Erbgut, die an alle folgenden Generationen weitervererbt würden. Die Manipulation der sogenannten Keimbahn. Die Übernahme der Regie bei unserer eigenen Evolution. In Forscherkreisen kursieren Berichte über bereits erfolgte Manipulationen an menschlichen Embryonen, über gezielte Veränderungen von Eizellen und Spermien. Die Hinweise kommen aus den USA und China, wo solche Arbeiten – anders als in Deutschland und anderen europäischen Staaten – nicht ausdrücklich illegal sind. Bis heute sind die Forscher den Warnungen vor einem ethischen Dammbruch mit einem schlichten Argument begegnet: Selbst wenn man die Technik beherrsche, wisse man ja gar nicht, wozu man sie einsetzen solle. Das ist offensichtlich nur noch eine Schutzbehauptung. Die Werkzeuge zur Menschenzüchtung sind bereits in aller Welt verbreitet Was wir sicher wissen: Die rasante Entwicklung der Gentechnik macht solche Eingriffe möglich. In den Labors der Welt verbreitet sich ein gentechnisches Werkzeug, das Umbauten am Erbgut mit unerhörter Präzision erlaubt. Es trägt den kryptischen Namen Crispr, und man kann es sich so ähnlich vorstellen wie ein Textverarbeitungsprogramm für Gene: Ganze Sätze oder Wörter kann man damit aus dem Bauplan des Lebens entfernen, man kann sie einfügen, ersetzen oder korrigieren. Es gibt – zugegeben – noch einige Sicherheitslücken. Doch auch die sind überwindbar. Darum gibt es längst sehr konkrete Ideen für den Einsatz der Technik: Ein einziger Austausch im Erbgut könnte Menschen für immer vor HIV und Aids bewahren. Eine einzige Genkorrektur würde uns effektiv vor Alzheimer schützen. Ganze Familien könnten von erblichen Leiden befreit werden, die sie seit Generationen heimsuchen. Das ist keine Fantasie – Forscher wissen sehr genau, welche Genvarianten sie dafür bearbeiten müssten. Warum sollten wir nur einen Menschen heilen, wenn wir die künftige Menschheit von solchen Krankheiten befreien könnten? Warum soll das Tabu der Keimbahntherapie weiterhin gelten? Wir kennen inzwischen eine neue Wahrheit über die Keimbahn – und sie ist bei genauem Hinsehen ziemlich ernüchternd. Die Natur be- handelt unsere genetische Blaupause nicht im Entferntesten ehrfürchtig. Sie experimentiert mit uns in jeder Generation, in jedem neu gezeugten Menschen: Die deutliche Mehrzahl aller befruchteten Eizellen stirbt als misslungenes genetisches Experiment der Natur. Wir, die Lebenden, haben bloß Glück gehabt. Wenn unsere Erbanlagen von Natur aus so instabil sind, erscheint die Vorstellung, wir könnten in diesem Glasperlenspiel der Natur mitmischen, nicht mehr ganz so vermessen. Es gibt aber auch gute Gründe, die menschliche Keimbahn sakrosankt zu stellen: Wenn nach der Befruchtung der Embryo entsteht, bilden sich rasch jene Zellen, die später in Eierstock oder Hoden des erwachsenen Körpers die Geschlechtszellen hervorbringen. Sie sind die physischen Glieder jener Kette, die sich seit Millionen Jahren durch die Generationen zieht. Diese Keimbahn verbindet jeden lebenden Menschen mit dem Beginn des Lebens auf der Erde. Unabhängig von der Weltanschauung, ob entworfen in einem Schöpfungsakt oder geformt in Millionen Jahren Evolution: Ehrfurcht sollte die Keimbahn in jedem Fall gebieten. Ihr gegenüber steht die Faszination einer machtvollen Technologie. Crispr stellt uns vor ein besonders großes Dilemma: Nutzen wir es als sehr scharfes Skalpell, um etwa die Blutzellen von Immunschwäche-Patienten zu heilen oder um Leberzellen bei Stoffwechselleiden punktgenau zu therapieren: Applaus. Zur Waffe wird das Skalpell aber ganz leicht, wenn man mit ihm in das Schicksal ferner Generationen eingreift. Weil Kinder, Enkel und Urenkel mit manipuliertem Erbgut keine natürlich geformten Individuen mit Stärken und Schwächen wären, sondern Erzeugnisse einer wahnwitzigen Technologie. Wir würden künftige Generationen den vermeintlich pragmatischen Erfordernissen der Gegenwart unterordnen. Mehr noch, der Übergang vom therapeutischen Einsatz zur gefälligen Optimierung ist fließend. Der Abgrund der neuen Technik ist der Mensch, der sich nach eigenem Gutdünken umbaut. Crispr wird also zu einem Synonym werden: entweder für unsere endgültige Emanzipation von der Natur – oder für ein Vergehen des Menschen gegen die Schöpfung und sich selbst. Verbote, Empörung, Beschwörungen werden das Problem nicht mehr lösen. Wir müssen einen neuen Rubikon definieren. Die Werkzeuge zur Menschenzüchtung sind bereits in aller Welt verbreitet – und sie zu beherrschen ist leicht erlernbar. Mit der Begrenztheit unserer technischen Möglichkeiten können wir uns nicht mehr herausreden. Wir haben mit der Natur gleichgezogen. Abgezockt: AstroTV unter Druck Das esoterische Geschäftsmodell des Senders wackelt Christ & Welt Seite 5 KREUZ & QUER Woran glaubst du? Sie könne das Gelaber über kirchliche Strukturen nicht mehr hören, sagt die Dominikanerschwester Ursula im Leserdrucker von Christ & Welt. Sie weiß aus vielen geistlichen Gesprächen, was Menschen suchen: Halt, Sinn, Liebe. Manchmal nennen sie das Gott. Der Fernsehsender 3sat macht mit dieser Sehnsucht Programm: Woran glaubst du?, fragt die Themenwoche vom 22. bis 28. März. Es gibt Spielfilme, Dokumentationen und Diskussionen. Vor das Interview mit dem Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx hat 3sat am Montag den flotten Alphabetisierungskurs Glaube A bis Z geschaltet. Die katholische Kirche ist beim Buchstaben Q an der Reihe: Quo vadis. Es spricht kein Quardinal, sondern eine Querdenkerin aus einem Orden. Medien glauben an Nonnen. CHRISTIANE FLORIN Kleine Fotos (v.o.n.u.): istockphoto.com; Jens Wolf/dpa/picture alliance; screenshot Astro TV ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 - 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DKR 45,00/NOR 65,00/FIN 7,00/E 5,50/ Kanaren 5,70/F 5,50/NL 4,80/A 4,60/ CHF 7.30/I 5,50/GR 6,00/B 4,80/P 5,50/ L 4,80/HUF 1960,00 o N 12 7 0. J A H RG A N G C 7451 C Siehe auch Stefan Schmitt im Wissen, S. 37: Eine Denkpause für die Genom-Ingenieure www.zeit.de/audio 4 190745 104500 12 Christ & Welt Der Esoterik-Sender Astro-TV verdient mit arglosen Anrufern viel Geld. S E ITE 5 WO C H E N Z E I T U N G F Ü R G L AU B E , G E I S T, 19. M Ä R Z 2 0 15 12 G E S E L L S C H A F T SEIN MOTIV: DER KREUZRITTER Jeder hat sein Kreuz zu tragen A uch ein Kreuzritter hat Feierabend. Ist seine Mission erfüllt, will er nur noch nach Hause. Stundenlang musste er ausharren. Dabei wollte der Mann mit dem Kreuz voraus doch nur für seine christlichen Werte auf die Straße gehen. Die Sicherheit lasse den geplanten Demonstrationszug nicht zu, sagten die Beamten. Der Rollstuhlkreuzfahrer musste warten – eingepfercht zwischen Polizisten (ausgestattet mit Schlagstock und Reizgas), Wasserwerfern (Modell WaWe 10 000) und einigen »Hooligans gegen Salafisten« (betrunken). Wuppertal war am vergangenen Wochenende in der Hand von Extremisten. Scharia-Polizist Sven Lau kam aus Düsseldorf, um einige Dutzend radikale Salafisten auf dem Willy-Brandt-Platz zu versammeln und gegen Christen, Juden und die USA zu hetzen. Lutz Bachmann, der Pegida-Star aus Dresden, brachte wenige hundert Abendländer auf die rechte Straßenseite vor dem Schauspielhaus, um wiederum gegen Salafisten zu hetzen. Zusammen aber riefen sie immerhin knapp eintausend Gegendemonstranten und noch einmal so viele Polizisten und Medienvertreter auf den Plan. Doch dann, gegen 17 Uhr, lässt die Polizei Teilnehmer der Pegida-Demonstration vereinzelt ziehen – vorausgesetzt, sie sind behindert oder minderjährig. Die Polizisten bilden einen Durchlass. Stolz präsentiert sich der Kreuzritter ein letztes Mal den Fotografen. Lange hält er das Blitzlichtgewitter aber nicht aus. »Habt ihr jetzt alle euer Bild gemacht?«, fragt er. Und dann steuert er seinen Streitwagen an den Objektiven vorbei gen Abendland. Hannes Leitlein Das letzte Geheimnis Eine italienische Journalistin protokolliert Beichtgespräche, und ganz Italien ist empört. Dabei wird das Bußsakrament heute kaum mehr nachgefragt. Ist das vertrauliche Wort uns heiliger, als wir denken? V O N R A O U L L Ö B B E R T D aus kleinen und großen Beichtgeheimnissen »Tatort«-Folgen konstruiert. Da sitzt der großstädtische Rudel-PublicViewer gebannt vor der Kneipenleinwand und murmelt »Respekt«, wenn der Fernsehpfarrer dem -ermittler partout nicht erzählen will, welche Leichen der TV-Psychopath im Keller versteckt, und das nur, weil der ihm das gebeichtet hat. Es ist paradox: Immer weniger Menschen glauben heute daran, ohne Beichte auf dem Sterbebett in der Hölle Beichte für den Priester – die Meinung dürfte mehrheitsfähig sein. Doch warum ist das so? Wer beichtet, so viel steht fest, braucht Beistand, Hilfe, Rat, der gibt kostbare Selbstbestimmung auf und wird verletzlich. Gerade die Selbstreflexion, sagte der Theologe und Psychoanalytiker Tomas Halik einmal im C&W-Interview, mache die Beichte zeitgemäß. Schließlich sei die Selbstbestimmung, so Halik, eines der Kennzeichen des »modernen Individualismus« mit sei- zu landen. Und doch gilt ihnen das Beichtgeheimnis als »unverletzlich«, so Stefan Muckel, Kirchenrechtler an der Universität Köln. Weder Gesetzgeber noch Gesetzeshüter trauen sich daran zu rühren. Die Menschen wollen es einfach nicht. Das vertrauliche Wort ist ihnen heilig. Ein Zuschauer schreibt dazu in einem »Tatort«-Forum: »Ein Anwalt darf auch nichts sagen« über seine Mandanten, »ein Arzt hat seine Schweigepflicht«. Dasselbe gelte bei der nen Heerscharen von Lebensberatern, Therapeuten, Moderatoren und Mediatoren. Abnehm-Shows, Assessment-Center und Dieter Bohlen trichtern uns ein, dass wir lebenslang an uns arbeiten müssen, damit wir stark, schlank und berühmt werden. Und schaffen wir es nicht, liegen wir beim Profibehandler auf der Couch und fragen uns: Wer bin ich? Was habe ich falsch gemacht? Auf eine moderne Weise ist die Beichte dem säkularen Menschen also noch immer heilig: Nur BRIEF AN MEINEN SOHN Keine Basecap, kein Kopftuch Warum Richter nicht immer recht haben E Fotos: Hannes Leitlein; Kathleen Finlay/Masterfile; Kulturbüro der EKD amit eins klar ist: Oft ist es richtig und wichtig, die katholische Kirche an ihrem eigenen Anspruch zu messen. Aber was die Italiener jüngst über die Praxistauglichkeit ihrer Geistlichkeit zu lesen bekamen, geht nicht nur vielen Italienern zu weit: Eine Journalistin der Zeitung »Il Nazionale« hatte sich als reuige Lesbe ausgegeben und die Beichtgespräche mit mehreren Priestern protokolliert. Dies sei der einzige Weg gewesen, so die Autorin, »um ohne Filter zu erfahren, was heute in der Kirche passiert.« Seitdem fragt sich Italien: Ist der Beichtstuhl noch ein heiliger Raum, in den das Licht der Aufklärung nicht scheint? Blödsinn, verteidigte der Chefredakteur von »Il Nazionale« die Veröffentlichung: Ein Sakrament habe nur »für den einen Wert, der daran glaubt«. Da aber immer weniger Menschen beichten würden, sei die Heiligkeit des Sakraments nur noch eingebildet. Ach wirklich? Zugegeben, die Zahl der Beichtbesucher ist in den letzten Jahrzehnten derart drastisch gesunken, dass sie vom Vatikan mittlerweile nicht mal mehr statistisch erfasst wird. Doch sind als Besenkammern zweckentfremdete Beichtstühle wirklich der entscheidende Indikator für die gesellschaftliche Akzeptanz eines Sakraments? Warum empören sich dann die Italiener über die Pietätlosigkeit eines Journalismus, dem scheinbar nichts mehr heilig ist? Und was ist eigentlich mit den Deutschen? Die gehen genauso wenig beichten wie die Italiener, aber dass sich Günter Wallraff mit Knopflochkamera, gesunder Bräune und sündig-falscher DarkroomVergangenheit eine echte Absolution ermogelt, ist selbst bei RTL bislang undenkbar. In Deutschland werden sogar in Kopftuch ist eine Mütze für Mädchen.« So einfach ist das. Deine Meinung ist klar: Wenn Du in der Schule keine Basecap tragen darfst, obwohl die total angesagt sind, darf das auch Deine Lehrerin nicht. Das wäre ungerecht. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht aus religiösen Gründen tragen dürfen. Als ihr im Unterricht über die Religionen der Welt geredet habt, musstet ihr Kopfbedeckungen ausmalen. Für die Erwachsenen ist das Kopftuch nicht nur eine Mütze für Mädchen; es ist zu einem Zeichen geworden, über das viel gestritten wird, weil man daran ablesen kann, ob alle Religionen in Deutschland gleich behandelt werden. Dabei weißt Du längst, dass man seinen Glauben nicht an Kleidungsstücken festmachen muss. Du kennst Juden, die keine Kippa tragen, Muslimas, die keine Kopftücher mögen, und Christen, die sich keine Fische ans Auto kleben. Weil Erwachsene die Welt zu kompliziert finden, machen sie sich einfache Bilder. Deshalb jubeln sie: »Endlich können Muslime in Deutschland zeigen, dass sie dazugehören.« Schließlich erlaubt das Grundgesetz, dass alle Menschen ihre Religion frei ausüben dürfen. In vielen Ländern dieser Welt ist das nicht so. VON PETRA BAHR Nicht alle Muslime sind begeistert, wenn die Lehrerinnen ihrer Töchter Kopftuch tragen. Mädchen geraten unter Druck. Sie sollen sich ein Stück Stoff über den Kopf ziehen, weil die Jungs auf dem Schulhof oder bewunderte Idole im Internet sie sonst beschimpfen. Und weil Lehrerinnen wichtige Vorbilder sind, könnten die Mädchen denken, dass jede Frau, die ihre Religion ernst nimmt, ein Kopftuch braucht. Was für die Lehrerin mehr Freiheit bedeutet, kann den Kindern Freiheit nehmen. Dabei sollte doch in der Schule am wichtigsten sein, ob sich die Kinder frei und gut entwickeln, und nicht, ob Lehrer sich als hundertprozentige Gläubige zeigen. So hat 2003, also vor einer Ewigkeit, das gleiche Gericht entschieden. Nur waren es diesmal andere Richter. Hätten sie sich mal besser abgesprochen. Das ist jetzt so, wie wenn ich Dir eine Anweisung gebe, die Du artig befolgst, um dann später von Deinem Vater ausgeschimpft zu werden. Du wärst zu Recht verwirrt. So geht es den Direktoren in den Schulen. Sie müssen nämlich nun sehen, wie sie im Zweifel für die Freiheit der Mädchen einstehen. Petra Bahr leitet die Abteilung Politik und Beratung der KonradAdenauer-Stiftung. In ihrer neuen Kolumne beantwortet sie Fragen ihres Sohnes über die Welt und Gott. Der Pazifismus und ich Vor 40 Jahren verweigerte Andreas Öhler den Wehrdienst. Heute würde seine Gewissensprüfung anders ausgehen. Und: Vorabdruck aus dem neuen Buch »Entrüstet euch!« von Margot Käßmann und Konstantin Wecker G R O S S A U F N A H M E SEITEN 3 & 4 wer an sich selbst zweifelt, existiert, nur wer sich selbst überwindet, beweist heute innere Stärke. Der Hauptgegner ist dabei die Scham. Wer einmal von seinem Hausarzt zu hören bekam: »Und jetzt machen sie sich bitte nicht nur obenrum frei«, schickt ein Stoßgebet gen Himmel, dass es Intimzonen gibt, die der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Allein die Scham, die »erubescentia«, wie Alkuin im 8. Jahrhundert schrieb, »gibt Gott einen gerechten Grund«, dem Beichtenden zu verzeihen. Die Scham ist die wahre, die einzige Strafe der Beichte. Wenn Franziskus also predigt, dass die Beichte »keine Folter« sein solle, sondern »eine befreiende und menschliche Begegnung«, will er eine Mischung aus Individualismus und Alkuin mit einem Hauch von Bohlen. So passt er die Beichte dem freien Willen an und modernisiert sie. Wie schon im Frühchristentum die Gläubigen nicht büßten, weil sie mussten, sondern weil sie wollten: Wer Schuld auf sich geladen hatte, erbat damals vom Bischof das Büßergewand. Anders als heute geschah dies jedoch nicht im Vieraugengespräch, sondern vor den Augen der Gemeinde. Sie entschied, wann der Büßer das Büßergewand ausziehen durfte. Die Scham war öffentlich, die Vergebung auch. Wer einmal auf einer Party gehört hat, wie Mittdreißiger ihre Therapiererfahrungen austauschen, als wären es Kriegsverletzungen, der weiß, wie schwer es auch heute bisweilen ist, zwischen privater, geteilter und entschwundener Scham zu unterscheiden. Da erfährt man Dinge über seine Mitmenschen, die will man nicht wissen, die haben höchstens intime Relevanz. Dennoch hört man hin. Dann das Erschrecken: »Ist Neugier Sünde?« In dem Moment möchte man sich aufs nächste Sofa fläzen und sich fragen: »Wer bin ich?« Doch wer will das bloß hören? 2 GLAUBE 19. M Ä R Z 2015 C H R I S T & W E LT No 1 2 EDITORIAL Das kann doch jeder Journalismus sieht aus der Ferne wie ein Hobby aus, ist aber Arbeit V O N C H R I S T I A N E F L O R I N W Die Nachwuchswissenschaftler as bringt der Doktortitel im schauten mich verwundert an. »Ich Journalismus? Vor ein paar dachte, wenn das nichts wird mit der Tagen sollte ich darüber an Wissenschaft, dann versuche ich es der Uni Bonn mit Doktoranden geismit dem Journalismus«, sagte teswissenschaftlicher Fächer spreeine. »Mir war nicht klar, dass chen. Es hätte ein sehr kurzer man so früh anfangen muss«, Vortrag werden können. Absagte ein anderer. Ich fühlte gesehen von den Jahren als mich wie ein Maler mit studentische Hilfskraft hatte Kunsthochschuldiplom, dem ich immer Vorgesetzte ohne der Zahnarzt stolz die Aquadie beiden Buchstaben vor relle im Wartezimmer zeigt dem Namen. Ein »Nichts« als sagt: »Hat alle meine Antwort war dann doch zu Man kämpft und Frau gemalt, da staunen Sie, wenig. Also sprachen wir allgemein über den Weg in die sich durch Kar- wie?« Die gut 20 Doktoranden mögen nicht repräsentaMedien. Ich hörte mich sagen, dass Journalismus immer nevalssitzungen tiv sein. Sie spiegeln dennoch ein Begabungsberuf sei. und träumt von noch, welches Bild unsere Branche abgibt: Journalismus Man spüre einen Drang zu Kardinälen. gilt als Hobbygepinsel, als schreiben, zu recherchieren, Das-kann-ich-auch-Job. Den zu kommentieren, anderen jungen Geisteswissenschaftlern erzählte mit den eigenen Beobachtungen auf die ich von handwerklichen Grundlagen, Nerven zu gehen. Man probiere sich aus von der Liebe zur Sprache und von jener in Schülerzeitungen und LokalredaktioLeidenschaft für den Beruf, die einen die nen, kämpfe sich für ein paar Cent pro privatlebenfeindlichen Arbeitszeiten verZeile durch Stadtrats- und Karnevalssitzungen. Wenn ich mich strategisch erin- kraften lässt. Wer Journalist werden wolle, hatte nere, habe ich schon mit 20, beim 200. Herrenwitz in irgendeinem Dorfgemein- ich vor dem Gespräch gefragt. Zwei schaftshaus, davon geträumt, eines Tages zeigten auf. Am Ende stellte ich dieselbe Frage noch einmal. Niemand meldete über Kardinalssitzungen und Konklave sich. Leidenschaft ist ein Killerargument. zu schreiben. Gibt es ein Recht auf Abtreibung? Das Europäische Parlament hat den Tarabella-Bericht verabschiedet. Darin wird Schwangerschaftsabbruch zum Mittel der Gesundheitsvorsorge erklärt. Lebensschützer sind aufgebracht. Zwei junge Christ&WeltAutoren diskutieren über eine ethische Grundsatzfrage V O N H A N N E S L E I T L E I N U N D A L I N A R A F A E L A O E H L E R FRANZ & FRIENDS Papst mit Pesto Kinder, Küche, Kirchentratsch: Die neue Illustrierte »Mein Papst« weiß, was fromme Frauen wollen VON MICHAEL MERTEN IMPRESSUM Redaktion: Dr. Christiane Florin (V.i.S.d.P.) Anschrift Redaktion: dreipunktdrei mediengesellschaft mbH Heinrich-Brüning-Straße 9, 53113 Bonn; Geschäftsführer: Theo Mönch-Tegeder Amtsgericht Bonn HRB 18302 Telefon: (0228) 26000-128 Fax: (0228) 26000-7006 E-Mail: [email protected] Internet: www.christundwelt.de dann doch in der Papst-Postille. Und meist auch schon etwas älter. »Kein Palast – Der Papst wohnt lieber Tür an Tür mit den Kollegen!«, enthüllt die Illustrierte in der Erstausgabe. Und verrät auch, warum: »Weil er im Gemeinschaftsdomizil glücklicher ist!« Solche Texte sind verspätete Zweitverwertungen aus dem italienischen Original »Il mio Papa«. Die geneigte Leserin erfährt aber auch zeitlose praktische Tipps (»So ist Franziskus gekleidet«). Sie bekommt erbauliche Lektüren (»Begleiten Sie Papst Franziskus durch die Osterwoche«), und natürlich dürfen auch papale Poster und ein Rezept für ein Papst-Pesto auf Bärlauch-Basis nicht fehlen. Dazu verrät die amerikanische Sterneköchin Lidia Bastianich, wie sie einmal dem unbeholfenen Benedikt XVI. beim Anschneiden einer Torte zur Hand ging. Ein einschneidendes Ereignis: »Ich habe mich dabei sehr wohlgefühlt, als ob er mein Vater wäre.« Will sie uns das süße Geheimnis verraten, dass Benedikt immer ihr Herzens-Papst ist? Panini geht mit einer Startauflage von 250.000 Exemplaren auf den Markt. Interessiert sich wirklich eine Viertelmillion brave Zielgruppen-Frauen für Kinder, Küche, Kirchentratsch? Und was sagt uns das über das Wesen der katholischen »Mamma«, wenn Bärlauch das Schärfste ist, was sie zu bieten hat? Wie segensreich, dass diese Kolumne hier endet. Sonst müssten wir schreiben, dass die Panini-Mama eher ein schlichtes Gemüt hat. Und für diese Beleidigung bekämen wir wahrscheinlich von unserem Papst eins mit der Faust. Anschrift Verlag: Verlag Rheinischer Merkur GmbH i.L. Speersort 1, 20095 Hamburg Liquidatorin: Ulrike Teschke; Amtsgericht Bonn HRB 5299 Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH, 64546 Mörfelden-Walldorf Abonnement Deutschland: Jahresabonnement € 234,00; für Studenten € 153,40 Abonnementbestellung für die Sonder ausgabe der ZEIT mit Christ & Welt: Leser-Service, 20080 Hamburg Telefon: (040) 42 23 70 70 Fax: (040) 42 23 70 90 oder E-Mail: [email protected] H ochverrat! Der wird mir vorgeworfen, wenn ich mich als junge Frau gegen Abtreibung ausspreche. Wie kann ich mich nur gegen ein mühsam erkämpftes Recht stellen, das zur Emanzipation meines Geschlechts maßgeblich beigetragen hat? Abgetrieben wurde schon immer. Ganz egal, ob es legal oder illegal war. Frauen sprangen von Schränken, um das Kind zu verlieren. Sie griffen zur Stricknadel, um die Fruchtblase zum Platzen zu bringen. Natürlich finde ich diese Schicksale furchtbar! Doch wir leben in einer anderen Zeit – so hoffe ich. In einer Zeit, in der ein uneheliches Kind kein geächteter Makel mehr ist, in der anonyme Geburten möglich sind, Babyklappen und Beratungsstellen existieren. In einer Zeit, in der sexuelle Aufklärung verbreitet und Verhütung Teil des Biologieunterrichts ist. Aber ich bin nicht nur gegen Abtreibung, weil ich glaube, dass die Existenznot einer ungewollt schwangeren Frau nicht mehr ganz so groß ist. Es gibt immer noch viele Fälle, in denen eine Schwangerschaft für Frauen eine Zumutung bedeutet, etwa, weil sie vergewaltigt wurden. Und es gibt in der EU Länder, in denen die Bedingungen andere sind als in Deutschland. Unter solchen Umständen bringe ich für die Entscheidung, abzutreiben, mehr Verständnis auf. Moralisch falsch ist sie für mich dennoch. Die eigentliche Streitfrage ist: Wann ist ein Mensch ein Mensch – wann kommt ihm Menschenwürde zu? Ich glaube, dass bereits dem Embryo diese Würde und damit das Recht zu leben zukommt. Diese Auffassung liegt auch dem deutschen Rechtssystem zugrunde: Abtreibung ist rechtswidrig, aber bis zur zwölften Woche straffrei. Wer sich Bilder aus dieser Schwangerschaftswoche anschaut, sieht auch ohne contra Fotos: istockphoto. com (2); EPA/Osservatore Romano/picture alliance; privat (2) V ergessen Sie alle Traktate über das zweijährige Amtsjubiläum von Franziskus! So was passte zu Benedikt, dem Pontifex-Professor. Doch der Papst des spontanen Wortes braucht die flottere Form. Der Panini Verlag hat ein Mittel gegen zu viel Intellekt: eine Illustrierte über Kaiser, Pardon, Papst Franz. »Mein Papst« heißt das Heft. Panini bringt gemeinhin mit FußballSammelalben Jungenaugen zum Strahlen. Die Bilder von Messi und Co. sind unter Nachwuchskickern Kult. Von dessen Landsmann Franziskus, dem früheren Hobbybolzer, gibt es keine Klebebildchen. Panini hat es ohnehin eher auf die Mütter als auf die Söhne abgesehen. Der Papst liebt Mamas, und sie lieben ihn, sagt die Marktforschung. Frauen ab 40 sind die anvisierte Zielgruppe von »Mein Papst«! Streng genommen müsste der Titel »Unser Papst« heißen, denn der Leser erfährt von fast allen Seiten: »Franziskus ist einer von uns!« Ein Mann des Volkes, gar »der Papst der Herzen«.Eine Illustrierte über den populären Argentinier – auf die Geschäftsidee hätte man schon früher kommen können, schließlich bietet er ob seiner spontanen Statements genügend Stoff. Karnickel, Klapse, Kardinalsschelte: Die Liste seiner boulevardesken Äußerungen ist lang. Und in Buenos Aires tauchte gar eine frühere Sandkastenliebe auf, der Bergoglio als Teenager einen Liebesbrief geschrieben hatte. Doch wer jetzt auf Schlagzeilen wie »Mein letzter Tango mit Jorge. Die ganze, wilde Wahrheit« hofft, der wird enttäuscht. Etwas biederer sind die Schlagzeilen F rauen sind Menschen. Das ist so weit unstrittig. Die Menschenrechte sind ihnen sicher, auch wenn sich so mancher damit schwertut. Das Recht, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, also über ihren eigenen Körper zu verfügen, wird ihnen in Deutschland dennoch verwehrt. Abtreibung ist nach §218 Strafgesetzbuch illegal und steht seit 1871 in einer Linie mit anderen Tötungsdelikten. Eine Abtreibung ist erst seit 1995 unter Voraussetzungen straffrei, die an Zeiten erinnern, in denen Frauen ohne Vormund nicht aus dem Haus gehen durften. Frauen, die sich entscheiden, ihre Schwangerschaft zu beenden, widerfährt Gnade, nicht Recht. Das muss sich ändern! Der sogenannte Tarabella-Bericht des Europäischen Parlaments empfiehlt der Bundesregierung nun erneut, diese Regelung zu überarbeiten. Die Forderungen sind nicht neu. Der Bericht holt lediglich auf die Agenda, was die Frauenbewegung seit über 20 Jahren erfolglos fordert. Einmal mehr hinkt die deutsche Rechtsprechung hinter internationalen Einsichten her. Mit ihrer Zustimmung zu diesem Bericht hätten die Parlamentarier die Tötung noch nicht geborener Kinder zum Menschenrecht erklärt, kritisieren katholische wie evangelikale Lebensschützer. Dabei ist von Abtreibung in diesem Bericht nur unter zwei von über 50 Punkten die Rede. Hauptsächlich geht es um eine bessere Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt, eine Verminderung des geschlechtsspezifischen Gefälles bei Lohn und Renten, einen europaweit koordinierten Kampf gegen Gewalt gegen Frauen sowie gegen Geschlechter-Stereotype. In Punkt 45 des Berichts heißt es: »Frauen müssen nicht zuletzt durch den einfachen Zugang zu Empfängnisverhütung und Abtreibung die Kontrolle über ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte pro haben.« Es gibt also offenbar ein Menschenrecht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit, aus dem sich das Recht auf Abtreibung ableiten lässt. Dass Embryonen bereits Menschen sind, ist nicht so eindeutig, wie Lebensschützer behaupten. In der Charta der Menschenrechte heißt es in Artikel 1: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Auch biblisch wird der Mensch nicht mit der Befruchtung zum Menschen, sondern durch den Lebensatem der Ruach, der Geistkraft Gottes. Ein Embryo wird dementsprechend mit der Ausbildung der Lunge unabhängig lebensfähig und damit zum Menschen. Das geschieht nicht vor der 28. Schwangerschaftswoche. So ist es die Überzeugung im Judentum, und so war es lange auch in der Kirche. Die katholische Kirche hat ihre Auffassung erst im Ersten Vatikanischen Konzil im Jahr 1869 geändert und vertritt seither die sogenannte Simultanbeseelung. Diese Lehre ist den Überlegungen zur unbefleckten Empfängnis geschuldet. Man könne schließlich keine vernunftlose Materie anbeten. Diese Regelung prägt die Abtreibungsdebatte maßgeblich. Biblisch ist ein Schwangerschaftsabbruch nur insoweit nicht, als dass in der Bibel keiner überliefert ist. Gegeben hat es Abtreibungen sicher trotzdem. Sind die Frauen nicht daran gestorben, mussten sie danach nicht unbedingt um ihr eigenes Leben fürchten. Es ging damals noch nicht um das Lebensrecht des Ungeborenen, sondern um die Verfügungsgewalt des Patriarchen über das Leben der Frau und damit auch über ihre Fortpflanzungsfähigkeit. Waren Frauen damals von ihrem Herrn abhängig, sind sie es heute vom Gesetzgeber. Die einzige verhinderte Schwangerschaft der biblischen Überlieferung wird einem Mann zugeschrieben. Ihm verdankt die männliche Selbstbefriedi- gung ihren Namen. Onan hat der Erzählung nach allerdings nicht onaniert. Stattdessen verweigerte er Tamar, der Frau seines verstorbenen älteren Bruders, die Nachkommenschaft, die er ihm schuldig gewesen wäre. Onan vollzieht sozusagen den ersten Coitus interruptus der Geschichte. Das kostet ihn das Leben. Gott verhilft Tamar zu ihrem Recht und befähigt sie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, um sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihren Unterdrückern zu emanzipieren. Der Feminismus war geboren. Man kann Sexualität nicht reglementieren wie den Straßenverkehr. Es mag vereinzelte Beispiele von Frauen geben, die eine Abtreibung sorglos in Kauf nehmen. Die allermeisten Betroffenen aber treiben nicht leichtsinnig ab. Sie sind unbeabsichtigt schwanger. Wenn es nicht ihr Wunsch ist, ein Kind zu bekommen, können und dürfen sie nicht daran gehindert werden, ihre Schwangerschaft zu beenden. Der Tarabella-Bericht stellt fest: Die Abtreibungsraten sind unabhängig davon, ob Abtreibung legal oder illegal ist. Statistiken zeigen aber, dass die Müttersterblichkeit sehr wohl davon abhängig ist. Die Frage ist deshalb: Welche Umstände müssen gewährleistet sein, damit es Schwangeren möglich ist, selbstbestimmt über die Fortsetzung ihrer Schwangerschaft zu entscheiden? viel Fantasie einen kleinen Menschen. Das Herz schlägt. Dieses Leben, das leben will, gezielt zu beenden ist für mich Tötung. Mein katholischer Glaube spielt hier eine Rolle. In der Bibel lese ich: »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jer 1,5). Ich glaube, dass der kleine Mensch beseelt ist, vom Moment der Empfängnis an. Jetzt soll laut dem Tarabella-Bericht des EU-Parlaments das Recht auf Abtreibung, das Recht zu töten, ein Menschenrecht sein? Die Selbstbestimmung der Frau soll mehr ins Gewicht fallen als das Recht auf Leben eines schutzlosen Embryos? Wie das begründet werden soll, erschließt sich mir nicht. Das grundlegendste aller Menschenrechte ist das auf Unversehrtheit und Leben. Wie kann man diese Rechte ernst nehmen, wenn jetzt das Töten eines Ungeborenen zu ihnen gehören soll? Eigentlich will die EU die Menschenrechte stärken – mit dem Tarabella-Bericht erreicht sie das Gegenteil. In dem Bericht findet sich der Hinweis darauf, dass die EU bereits 2012 ein Übereinkommen der Vereinten Nationen ratifiziert hat, das für Behinderte sämtliche Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert. In Deutschland kann man behinderte Kinder in bestimmten Fällen bis zur Geburt straffrei abtreiben. Beginnen deren Rechte also erst, wenn sie gewollt werden? Vielleicht sollte man diejenigen zu Rate ziehen, die mit den Folgen zu leben haben. Vor einiger Zeit habe ich im ZEIT-Magazin ein Porträt der Frauenärztin Eva Beck gelesen. Sie führt Schwangerschaftsabbrüche wie am Fließband durch. In einer Passage spricht sie über Spätabtreibungen – zwischen der 22. und 24. Woche. Es sind zum Beispiel Kinder mit Downsyndrom. Die Ärztin leitet künstlich We- hen ein – das Kind ist oft noch nicht reif für eine Geburt und stirbt. Manchmal überlebt es die Prozedur zunächst. Die Ärztin erzählt, wie sie das Baby in ein Weidenkörbchen legt und Kollegen um Morphium für das Kind bittet. Dann wartet sie, bis es tot ist. Da stockte mir bei der Lektüre der Atem. Das sind keine kitschig-suggestiven Geschichten des konservativen katholischen Lagers – das ist die Realität, die zu selten erzählt wird. Immer öfter höre ich von Altersgenossinnen, die mit einer Gleichgültigkeit abtreiben lassen, dass es mich schaudert. Eine junge Frau erzählte dem »Spiegel«, wie froh sie sei, abgetrieben zu haben – all die schönen Urlaube wären sonst anders verlaufen. Jetzt habe sie einen lieben Partner und wünsche sich bald ein Kind. Dieses Baby darf leben, das andere durfte es nicht. Ich will nicht behaupten, dass die meisten Frauen leichtfertig entscheiden. Ich will nicht bestreiten, dass eine Schwangerschaft Frauen in Not bringen kann. An diese Frauen haben die EU-Parlamentarier hoffentlich vor allem gedacht. Mit Menschenrechten hat diese Tötungspraxis, der in Deutschland immerhin jährlich fast 100 000 ungeborene Kinder zum Opfer fallen, aber nichts zu tun. Ein Menschenrecht ist auch ein Gütesiegel. Wenn damit ein Anspruch auf das Töten von unerwünschten Kindern für gut befunden wird, haben es unschlüssige Frauen noch schwerer, sich für das zu entscheiden, was schon ein Teil von ihnen ist: das Kind, das leben will. Hannes Leitlein, Jahrgang 1986, ist Redaktionsvolontär bei Christ & Welt. Er studiert evangelische Theologie in Wuppertal. Alina Rafaela Oehler, Jahrgang 1991, ist freie Journalistin. Sie studiert in Tübingen katholische Theologie, Politikwissenschaft und Philosophie. GROSSAUFNAHME 3 19. M Ä R Z 2 0 1 5 C H R I S T & W E LT No 1 2 Was hätten Sie gesagt? Fünf historische Fragen für Kriegsdienstverweigerer »Würden Sie einem Zonenflüchtling, der von Volkspolizisten beschossen wird, Feuerschutz gewähren?« Wie mir der Pazifismus abhandenkam »Was würden Sie tun, wenn Sie Holländer wären, von den KZs wüssten, und die deutschen Panzer rollen auf Holland zu?« Im Frühjahr 1975 musste sich unser Autor als Wehrdienstverweigerer einer Gewissensprüfung im Kreiswehrersatzamt Mannheim unterziehen. 40 Jahre später geht er nun mit sich selbst ins Gericht. Welche seiner Haltungen sind für ihn heute noch haltbar? D er Kasernengeruch des Linoleumfußbodens blieb mir haften: eine Note zwischen nasser Schurwolle mit Vanille. Ich war der einzige Wehrdienstverweigerer an diesem Nachmittag, der im Mannheimer Kreiswehrersatzamt verhandelt wurde. Ist man der Einzige, wird besonders intensiv geprüft, die Gewissensprüfung zieht sich. Nur dann zahlt sie sich in Sitzungsgeld aus. In meinen abgewetzten fahlgrünen Cordbeutel hatte ich Abbildungen von verstümmelten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gepackt, dazu ein, zwei Antikriegslieder. Die Gitarre hatte ich zu Hause gelassen. Meine Freunde hatten mir noch spöttisch geraten: »Mach es wie Troubadix! Sobald sie dich singen und spielen hören, lassen sie dich sofort springen oder laufen selbst davon.« Mir war aber nicht nach Scherzen zumute. Ich hatte Angst vor dieser vierköpfigen Kommission. Ich wusste, es würde schwer werden, denn ich verweigerte aus politischen Motiven, wollte mit der deutschen Geschichte argumentieren und mich nicht auf Jesus berufen. Ich hatte das ganz große Fass aufgemacht. Das ist nun 40 Jahre her. Wäre ich heute jung und gäbe es die Gewissensprüfung noch, wie würde ich mich entscheiden? Anders, glaube ich. Denn das Land hat sich verändert, die Welt hat sich verändert, ich habe mich verändert. Das ganz große Fass ist noch größer geworden, ich kann kaum bis zum Boden schauen. Ich hatte damals Angst und strotzte gleichzeitig vor Selbstgewissheit, den Weg zum Frieden zu kennen. Diese Selbstgewissheit fehlt mir heute. Die Kommission bestand nicht aus Angehörigen der Bundeswehr, sondern war wie in einem Schöffengericht aus Bürgern zusammengesetzt. In meinem Fall ohne Frauen. Ich konnte also nicht auf eine Mutter hoffen, die mir mit einem »Nein, meine Söhne geb ich nicht«Blick beistand. Ein männliches gesundes Volksempfinden würde über mich befinden. Leute mit Kriegserfahrung. In Baden-Württemberg galt ein Wehrdienstverweigerer in den 1970er-Jahren noch als Drückeberger und Wehrkraftzersetzer. Nach einem blechern klingenden »Herein!« betrat ich die Amtsstube. An einem schlichten Holztisch saßen vier Herren. Ganz links der Protokollant, ein älterer Seniorchef eines Handwerksbetriebes, der Vorsitzende war wohl ein Lehrer Ende 30, vielleicht war er auch Anwalt im Hauptberuf. Vom Typ her jedenfalls der drahtige Sportsfreund, durchtrainiert bis in die Gehirnmus- keln. Daneben ein Rentner mit hochrotem Kopf, ihm fehlte der linke Arm. Leute wie ich wirkten auf ihn wohl nicht gerade blutdrucksenkend. Älter war auch der grauhaarige blasse Beamte mit Sahnebonbon-Großvater-Anmutung. Er wirkte schläfrig und abgekämpft, bevor der Kampf mit mir, dem Friedensfreund, überhaupt begonnen hatte. Da herrschte mich der Invalide an: »Das Fenster bleibt zu!« Ich antwortete mit zaghafter Stimme: »Ich will doch gar nicht, dass das Fenster geöffnet wird.« Er brüllte zurück: »Ihnen wird hier schon noch heiß werden.« Dem Sportlehrertyp, der an mir keinen Gefallen finden konnte, weil man mir auf den ersten Blick ansah, dass ich in diesem Fach eine Niete war, gefiel dieser Freisler-Ton des Nazi-Volksgerichtshofes offensichtlich nicht. Er hob besänftigend die Hand und sagte mit leiser, lauernder Stimme: »Wir verstehen, dass Sie nicht in den Krieg ziehen wollen, um andere Völker zu unterwerfen, wie es bedauerlicherweise in unserer nicht allzu fernen Geschichte ja leider geschehen ist. Aber die Bundeswehr ist doch nun mal eine Verteidigungsarmee und keine Angriffsarmee.« Mit zitternden Händen zog ich die Fotografien der Soldaten mit ihren weggeschossenen Kiefern und den verstümmelten Gliedmaßen aus meiner Tasche und legte sie den Herren auf den Schreibtisch, bevor ich wieder auf dem mir zugewiesenen, ausgesucht harten Holzstuhl Platz nahm. Die Herren saßen gepolstert. Fast tonlos fragte ich: »Können Sie denn an den Verwundungen erkennen, ob diese Soldaten in einem Angriffsoder einem Verteidigungskrieg verwundet wurden?« Der Einarmige brauste auf: »Ihre politischen Spitzen, die Sie hier verbreiten, haben Sie bestimmt aus der von der DDR finanzierten Hetzschrift ›Handbuch für Kriegsdienstverweigerer‹ abgeschrieben! Sparen Sie sich die hier. Argumentieren Sie doch endlich persönlich, oder haben Sie nur ein politisches Gewissen?« – »Na ja«, antwortete ich, »ich fühle mich weder physisch noch psychisch in der Lage, eine Waffe anzufassen. Mein Großvater väterlicherseits kehrte querschnittsgelähmt aus Verdun zurück und konnte seinen Steinmetzberuf nicht mehr ausüben. Bis zu seinem Tod quälte sich der radikale Kriegsgegner mit seiner Schädelverletzung. Meinem Vater erfroren im Zweiten Weltkrieg Zehen und Fingerkuppen im Eismeer.« Da sah der Trainer seine große Stunde gekommen: »Was glauben Sie, wie lange Ihre Ausbilder bei der Bundeswehr brauchen, um aus einem so dürrem Knochengerüst wie Ihnen einen Muskel- mann zu machen?« Ich konterte, ohne zu überlegen: »Armeen haben sich bisher doch eher damit hervorgetan, aus Muskelmännern Skelette zu machen.« Der Blutdruck des einarmigen alten Herrn stieg in einen medizinischen Risikobereich. Er keuchte: »Pause, Pause!« Ich wurde hinausgeschickt, nach 15 Minuten wieder hereingerufen. Der Vorsitzende blätterte nun gelangweilt in meinen biografischen Unterlagen. »So, so, Sie sind also ein Polizistensöhnchen! Sagen Sie mal, Sie werden von jemandem durchgefüttert, der jeden Tag mit der Pistole herumläuft und im Verteidigungsfall von der Waffe Gebrauch macht. Wie werden Sie denn bitte schön damit fertig?« Ich, arglos: »Dagegen habe ich nichts.« Jetzt hätten sie mich am Haken, dachten sie: »Schreiben Sie in das Protokoll, dass der Befragte jederzeit zur Polizei gehen würde, aber nicht zur Bundeswehr.« Nun war Geistesgegenwart gefragt. Da kam die Rettung: Der müde wirkende Beisitzer war doch tatsächlich eingedöst. Ich rief: »Der Herr da rechts außen ist mein Zeuge, dass ich so etwas nicht gesagt habe.« Der Rentner stieß mit seinem noch verbliebenen Arm den Nebensitzer an, der schreckte auf und rief: »Ja, ja, sehr richtig! Ich bezeuge.« Mein Krieg war noch nicht gewonnen, eine Schlacht aber schon. Es kamen dann die üblichen Fragen, über die der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt die wunderbare »Befragung eines Kriegsdienstverweigerers« geschrieben hat, in der nichts hinzugefügt worden war, was ich nicht auch erlebte. Etwa das klassische Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind Zivildienstleistender in einem Kindergarten, der plötzlich von einer Horde Russen überfallen wird. Sie haben zufällig ein Gewehr dabei. Wie handeln Sie? Was am Ende den Ausschlag gab, dass sie mich nicht durchfallen ließen? Ich weiß ich es bis heute nicht. Vielleicht war es meine Dreistigkeit, damit zu drohen, ich würde meine Antikriegslieder auch in der Kaserne verbreiten, dort sei ja mein eigentliches Zielpublikum. Vielleicht rechneten sie mir aber auch an, dass ich in den drei letzten Sommerferien freiwillig als Betreuer in einem Erholungsheim für geistig und körperlich Schwerstbehinderte gearbeitet hatte. Jedenfalls war ich nach geschlagenen vier Stunden anerkannt. Bevor ich gehen durfte, flötete der Sportsfreund: »An Ihnen ist ein guter Presseoffizier verloren gegangen. Schade, solche Leute wie Sie bräuchten wir.« Das gab mir den Rest. Auch mit dem Abstand von 40 Jahren halte ich diese Szenen des Jahres 1975 für einen völlig inakzeptablen Zugriff des Staates auf seine Bürger. Warum wurde jemand vor ein Tribunal gezerrt, nur weil er von seinem Grundrecht Gebrauch machte? Später genügte schon eine Postkarte, um sich dem Militärdienst zu entziehen. Wahrscheinlich geschah dieses Umdenken nicht aus Menschenliebe, vielmehr wurde der Zivildienst zu einer unverzichtbaren Stütze der öffentlichen Sozialeinrichtungen. Bei aller Kritik am Verfahren habe ich jedoch auch Kritik an mir. Ich war idealistisch, ich war unreif. Ich habe lernen müssen, dass man militärische Einsätze aus sicherer Entfernung leicht verurteilen kann. Kennt man aber persönlich Menschen, die in solche Konflikte hineingeraten, ist die pazifistische Selbstgewissheit dahin. Zur Zeit des ersten Irakkrieges zwischen dem Irak und dem Iran, Anfang 1991 muss das gewesen sein, richtete Saddam Hussein seine Raketen auch auf Tel Aviv und Haifa. Eine israelische Kommilitonin weilte in dieser Zeit gerade bei ihren Eltern, deren Haus in der Angriffszone lag. Besorgt rief ich sie an. Luftalarm: Sie war gerade auf dem Weg in den Schutzbunker in ihrem Keller. »Ich will Großmutter die Gasmaske überziehen, sie wehrt sich mit Händen und Füßen, sie ist doch Asthmatikerin.« Wie ein geprügelter Hund schlich ich daraufhin an die Uni. Vor dem Gebäude hatten linke Friedensgruppen eine »Kein Blut für Öl«-Kundgebung organisiert. Der Hauptredner rief in die Menge von etwa 300 Studenten: »Es kann durchaus nötig werden, dass Israel dem Weltfrieden geopfert wird.« Tosender Beifall. Das war der erste Bruch. Ein Pazifist, der aus lauter Liebe zur Welt den einzelnen Menschen aus dem Blick verliert, der schafft vielleicht Frieden, aber einen, der einem Friedhofsfrieden gleicht. Der zweite Bruch kam mit dem Bosienkrieg. Als in Deutschland die Frage debattiert wurde, ob ein Bombardement Serbiens den Völkermord an den Muslimen in Srebenica stoppen könne, führte Außenminister Joschka Fischer unsere Verantwortung für Auschwitz ins Feld, die uns gar keine andere Wahl lasse, als den Waffengang der Amerikaner zu unterstützen. Im Prinzip teilte ich Fischers Argument. Passivismus schützt nicht vor Genozid. In Gewissenskonflikt geriet ich jüngst erst wieder in der Frage, ob es nicht besser wäre, die militärische Aufrüstung der Ukraine massiver zu betreiben und das Nato-Drohpotenzial gegenüber dem Despoten Putin zu erhöhen. Aber dieser brüchige Waffenstillstand, den das Tandem Merkel/Hollande ausgehandelt hat, war mir dann doch lieber. Die Friedensbewegung mit ihren Ostermärschen hat für mich ihre Glaubwürdigkeit verspielt, weil sie nur demonstrierte, wenn die USA am Krieg beteiligt waren. Mich störte, dass der russische Einmarsch in Afghanistan keinen Protestmarsch, keine Menschenkette und kein Lichtermeer hervorrief. Wer aber den Krieg nur als Abstraktum bekämpft und sich nicht die Mühe macht, die besonderen Konstellationen zu durchdenken, spielt kaltblütig mit dem Leben anderer. Ich teile inzwischen den Satz des israelischen Weltautors Amos Oz, den man als Gründer der »Peace now«Bewegung sicher nicht zu den Hardlinern zählen kann: »Wäre die Welt voller Pazifisten, Hitler wäre der Meister des Universums gewesen.« Oder sind auch das nur Rhetorismen, mit denen ich mich herausreden kann? Mittlerweile bin ich zwar zu alt, um irgendeiner Armee meine Dienste anzubieten. Ich würde auch viel lieber als Rettungssanitäter beim Roten Kreuz Zivildienst leisten, der zu meiner Zeit noch Ersatzdienst hieß, als eine Waffe zu laden. Heute gehe ich mit mir selbst härter ins Gericht: Finde ich es gut, dass der IS mit Waffengewalt gestoppt und eines Tages vernichtet wird? Ja. Wäre ich für internationale Bodentruppen gegen Boko Haram? Auch das. Würde ich die Krim mit Waffengewalt zurückholen in die Ukraine? Nein. Helgoland, wenn es von einer feindlichen Macht annektiert würde? Nein. Würde ich als Israeli kämpfen, wenn mein Land angegriffen wird? Unbedingt. Würde ich die militanten Siedler in den besetzten Gebieten militärisch verteidigen? Eher nicht. Ist Krieg manchmal die Ultima Ratio? Deutschland wurde von Militärs befreit 1945, nicht von Pazifisten. 1975 war die Welt noch in Blöcke aufgeteilt, Gut und Böse hatten feste Plätze. In der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, in der die Traueranzeigen von ehemaligen Ritterkreuzträgern in vollem Wichs erschienen, war die bejahte Frage: »Haben Sie gedient?« ein wesentliches Einstellungskriterium. Heute liegen die Dinge komplizierter. Bin ich, wie mir inzwischen mancher meiner alten Freunde vorwirft, zu einem Vasallen der Amerikaner geworden, bloß weil ich das »›Blowin' in the Wind‹-Amerika« eines Bob Dylan nicht gegenrechnen will mit dem Waterboarding-Amerika in Abu Ghraib oder Guantánomo? Nein. Aber mein Gewissen lässt sich nicht durch eine moralische Mobilmachung einberufen. Ich kann nur die Dinge verteidigen, die ich auch wertzuschätzen gelernt habe. Je mehr ich das Wertschätzen lernte, desto kleiner wurde der Pazifist in mir. Andreas Öhler ist Redakteur von Christ&Welt. Fotos: Jens Wolf/dpa/picture alliance; Grabowsky/ullstein bild VON ANDREAS ÖHLER »Sind Sie Autofahrer?« – »Ja.« – »Sie wissen doch, dass jährlich auf den Straßen der Bundesrepublik 17 000 Menschen sterben. Da dürften Sie als Pazifist eigentlich kein Auto fahren.« »Was machen Sie, wenn Sie mit der Freundin durch den Wald gehen und Ihre Freundin plötzlich von einer Horde Russen angegriffen wird – greifen Sie zur Waffe?« »Was täten Sie, wenn Sie dabei wären, wenn ein Mann mit einem Flammenwerfer in einen Kindergarten eindringt und Sie zufällig eine Waffe dabeihätten?« 4 GROSSAUFNAHME 19. M Ä R Z 2015 C H R I S T & W E LT No 1 2 Der Frieden braucht eine Revolution Der Liedermacher Konstantin Wecker traut Politikern und Medien nicht, die von »Verantwortung in der Welt« reden. Hier schreibt er, warum er jetzt erst recht Pazifist ist. Ein Vorabdruck aus seinem neuen Buch, das er gemeinsam mit Margot Käßmann veröffentlicht Fotos: AGE Fotostock/F1online; Grabowsky/ullstein bild I ch dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hineingehen müssen«, sagte Erich Maria Remarque, Autor des Antikriegsromans »Im Westen nichts Neues«. Das trifft den Punkt. Wer von denen, die heute dafür plädieren, Deutsche müssten ihre Verantwortung in der Welt vor allem tötend und sterbend stärker wahrnehmen, zieht denn schon persönlich in den Krieg? Wie zu allen Zeiten schickt man »unsere Jungs« in die Schlacht. Über die »Notwendigkeit von Kriegen« schwadronieren gesetzte Damen und Herren aus sicherem Abstand, das blutige Geschäft müssen dann andere verrichten. Und wie zu allen Zeiten ist das erste Opfer im Krieg die Wahrheit. Laut »Spiegel Online« teilte im April 2014 Jay Carney, Sprecher des Weißen Hauses, mit, es gäbe »erdrückende Beweise« dafür, dass Russland in der Ostukraine Unruhe stifte. Erinnert die Wortwahl nicht fatal an jene »erdrückenden Beweise«, die George W. Bush den Vorwand zum Einmarsch in den Irak lieferten? Das ist über zehn Jahre her, und es ist erschreckend, wie lückenhaft das Gedächtnis der Menschheit ist, wenn es um Kriegslügen geht. Der Angriff auf den Irak seit dem 20. März 2003 und die Besetzung durch die USA haben eine halbe Million Iraker das Leben gekostet, sagt eine USStudie. 500 000 Irakerinnen und Iraker sind ermordet worden – aus humanitären Gründen, wie es hieß. Sie sollten ja von einer Diktatur befreit werden. Befreite Tote? Wer es, wie ich, damals gewagt hatte, den Krieg und das Vorgehen der USA zu kritisieren, wurde als antiamerikanischer Verschwörungstheoretiker und als Saddam-Hussein-Versteher verunglimpft. Heute weiß man, dass George W. Bush mehrere hundert PR-Agenturen beauftragt hatte, um pazifistischen »Weicheiern« und anderen antimilitaristischen Zweiflern den Krieg schmackhaft zu machen. Heute wird das gleiche »Spiel« wieder gespielt. Und statt der Hussein- sind nun Putin-Versteher ins Visier der Bellizisten geraten. Als gäbe es nichts Schlimmeres als den Versuch, die andere Seite zu verstehen (was ja nicht mit Zustimmung zu all ihren Taten gleichzusetzen ist). Ich bin genauso wenig ein Putin-Freund, wie ich im Irakkrieg den Diktator Hussein unterstützt habe. Ich bin ein Freund des Friedens und Verfechter der Gewaltlosigkeit. Glaubt denn wirklich noch irgendein aufgeklärter Mensch, dass wir um der Demokratie willen streiten und bomben? Hans-Peter Dürr, der leider unlängst ver- Das Buch »Entrüstet euch! Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt« von Margot Käßmann und Konstantin Wecker erscheint nächste Woche im Gütersloher Verlagshaus. 208 Seiten, 14,99 Euro (E-Book 11,99 Euro). storbene große Physiker, Umwelt- und Friedensaktivist, schrieb: »Man braucht kein Pazifist zu sein, um zu erkennen, dass Krieg in seiner heute üblichen hoch mechanisierten Overkill-Form nicht mehr rational als Problemlöser fungieren kann, da durch ihn, in der Regel, vor allem Unschuldige, jetzt und auch künftig Lebende, getroffen werden und nicht die vermeintlichen oder gar eigentlichen Schurken. Mit Superkeulen, die großzügig und indifferent Lateralschäden in Kauf nehmen, lassen sich, ganz nüchtern betrachtet, Menschenrechte schlicht nicht erzwingen.« Karl Kraus, der die Manipulation der Massen in den Zeiten des Ersten Weltkriegs durchschaute und wie kein anderer messerscharf analysierte, sagte: »Wie wird die Welt regiert und in den Krieg geführt? Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen.« Wir täten heute gut daran, uns auf Karl Kraus zu besinnen. »Als einer der Pioniere der Medienkritik hatte er erkannt, dass die Medien die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern erzeugen, dass Meinungen und Stimmungen nicht einfach entstehen, sondern gemacht werden«, schreiben Mathias Bröckers und Paul Schreyer in ihrem lesenswerten Buch «Wir sind die Guten«. Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich bewusst mit Nachrichten und Zeitungen: Niemals habe ich annähernd eine derartige Propagandaschlacht erlebt wie heute. Es ist erschreckend zu sehen, wie sich manche Leitmedien, obwohl sie mit zum Teil sehr klugen Kommentaren überhäuft werden, penetrant weigern, ihre Leser ernst zu nehmen. Noch ist allenthalben viel gesunder Menschenverstand, sind Mitgefühl und kluge Zurückhaltung in der Bevölkerung verbreitet. Aber durch den Dauerbeschuss mit Un- und Halbwahrheiten kann man den Menschen diese Eigenschaften auch nach und nach aberziehen. Wie macht man ein friedliebendes Volk kriegslüstern? Man hat dies unter anderem zu Beginn des Ersten Weltkriegs gesehen: durch Propaganda, durch Erfindungen und Lügen, durch die Erschaffung eines Feindes. War es nicht immer schon so? Die Menschen wollen keinen Krieg, bis man dieses Wollen durch gezielte PR in die richtigen Bahnen lenkt. Maßlos enttäuschend verhält sich in diesem Zusammenhang vor allem Bundespräsident Joachim Gauck, der den kriegsunwilligen Deutschen im Juni 2012 gar unterstellte, »glückssüchtig« zu sein. War es diese unverhohlene Kriegsbereitschaft, die man an der bundespräsidialen Spitze unseres Staates mit seinem für manche Kreise so hinderlichen Grundgesetz haben wollte? Vielleicht waren es Sätze wie diese, die Gauck scheinbar plötzlich zum Konsenskandidaten aller neoliberal gesinnten Parteien machten: »Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.« Der Pastor, der Christ Gauck wollte als »Widerstandskämpfer« seinerzeit sicher auch alle Schwerter zu Pflugscharen machen. Aber anscheinend nur kommunistische. Mit kapitalistischen Schwertern lässt es sich trefflich kämpfen. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich einmal einem evangelischen Pfarrer einen Satz eines Papstes zur Besinnung vor Augen halten würde. »Der Krieg ist Wahnsinn!«, rief Papst Franziskus während einer Messe an der italienischen Gedenkstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in Fogliano Redipuglia vor 100 000 Menschen aus. Mit einer vehementen Anklage gegen Waffenhändler und Kriegshetzer gedachte der Pontifex der Toten aller Kriege. Und er zog Parallelen zu jener Epoche, deren (trauriges) Jubiläum wir 2014 feierten. Wie 1914 entstünden auch heute Kriege durch geopolitische Pläne, Geldgier, Machthunger und die Interessen der Waffenindustrie. »Die Geschäftemacher des Krieges verdienen damit viel Geld und haben durch ein verdorbenes Herz das Weinen darüber verloren«, sagte Franziskus, der mir immer mehr aus dem Herzen spricht. Während das Volk mit Brot und Spielen gefüttert wird – wobei es mit dem Brot speziell für die wachsende Schicht der Armen im Land hapert –, dealt die Große Koalition fleißig weiter mit Waffen: für »lupenreine Demokratien« wie Saudi-Arabien, Algerien und Singapur. Mit diesen Waffen wird gemordet, das kann man sich schönreden, wie man will. Sie werden in der jeweiligen Region weiterverkauft, ohne dass Deutschland auch nur irgendeine Form der Kontrolle darüber hätte. Vermutlich will man das aber auch gar nicht. Zu große Zurückhaltung beim Töten könnte Arbeitsplätze in der heimischen Rüstungsindustrie gefährden. Eine neue »Kultur des Krieges« entsteht gerade, wie es Jakob Augstein in einem seiner hervorragenden Kommentare benannte. Eine Kultur des Krieges, in die sich auch die Grünen – einst die Partei Petra Kellys –, einreihen, etwa mit Cem Özdemirs infamer Bemerkung, Kriege könnten »nicht mit Yogamatten« gewonnen werden. In einer Zeit, in der es mehr bewaffnete Konflikte gibt als je zuvor, wird nun aus allen Ecken wieder auf den Pazifismus eingeprügelt. Anstatt sich ernsthaft Gedanken zu machen, wie der Friede vorbereitet werden kann, denkt man in best- dotierten Thinktanks darüber nach, wie man neue Märkte erschließen kann: mit Waffen, mit Gewalt und der immer gleichen Anmaßung, sich auf der Seite des Guten zu wähnen. Und ein armer, missbrauchter Gott wird wohl bis in alle Ewigkeit die Waffen segnen müssen – vorzugsweise für beide Varianten des »Guten«. Wo bleibt da der Gott der Liebe, des Verzeihens und Erbarmens, wie er etwa von Jesus gelehrt wurde, der sich eher verletzen und töten ließ, als auch nur eine einzige Verletzung eines seiner Feinde zuzulassen? Vergessen, verjagt, ausgeklammert aus Gehirnen, die sich von der Logik des Krieges haben kolonialisieren lassen. Uns wird weisgemacht, dass Frieden noch immer das Endziel westlicher Politik sei – selbstverständlich erst, nachdem mit Waffengewalt eine gerechte Ordnung in den Konfliktregionen geschaffen wurde. Was wäre aber, wenn eine andauernde Instabilität im Nahen Osten geradezu erwünscht wäre, um militärische Dauerpräsenz damit zu rechtfertigen? Was wäre, wenn es ohne die westliche Politik das augenblickliche Hauptproblem der stets gedemütigten Kurden, den Islamischen Staat (IS), gar nicht gäbe? »Jahrelang haben die USA die Waffenlieferungen Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten an syrische Terroristen wohlwollend durchgewinkt«, schreibt Jürgen Todenhöfer, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der CDU. »Saudi-Arabien – Deutschlands angeblicher ›Stabilitätsanker‹ – besitzt ja Waffen im Überfluss. Vor allem westlicher, auch deutscher Produktion. Aus einigen dieser von den Saudis ausgerüsteten Organisationen entstand ISIS, die sich später in ›Islamischer Staat‹ (IS) umbenannte.« Was wäre, wenn wir einige der Waffen, die wir jetzt an die bedrängten Kurden liefern, schon bald in den Händen islamistischer Kämpfer sehen würden – etwa in Mali, Zentralafrika oder Nigeria? Was wäre, wenn all dieser Wahnsinn wohlgelitten wäre, um immer wieder aus »humanitären Gründen« eingreifen zu können, wieder Waffen verkaufen zu können und die Welt in Unruhe zu halten? Es wäre ehrlicher, zuzugeben, dass das kapitalistische System immer wieder Kriege braucht, um sich am Leben zu halten. Was derzeit geschieht, macht mir Angst. Wenn die maßvollen und vernünftigen Kräfte es nicht schaffen, eine gewaltige internationale Friedensbewegung auf die Beine zu stellen, die ein eindeutiges »Mit uns nicht!« skandiert, kann es passieren, dass Europa wieder in einem Krieg verbrannt wird. Ansätze zu einer solchen wünschenswerten Friedensbewegung gibt es ja bereits. Diese plädierte Ende 2014 gegen Waf- fenlieferungen in den Nordirak und stattdessen für eine »humanitäre Intervention, die ihren Namen wirklich verdient«. Diese solle die Bundesregierung »mit hohem finanziellem und personellem Einsatz bestreiten«, heißt es in einer Erklärung. Gefordert wird, »alle nach Berlin« einzuberufen, »die ein solches Engagement großzügig und kompetent stemmen können: unter anderem die etablierten Hilfsorganisationen und die Gruppen der Zivilgesellschaft«. Auch ich plädiere für eine entschiedene Ausweitung der bisherigen Hilfe, etwa durch feste Flüchtlingscamps, stabile Lazarette inklusive medizinischer Versorgung, Unterstützung des Alltagslebens und anderes. »Flüchtende, die die Region verlassen wollen, sind zu unterstützen«, heißt es in der Erklärung. »Ihnen ist Asyl oder ein humanitäres Aufenthaltsrecht gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren.« Natürlich werden viele wieder behaupten, dies sei ungenügend – naiv ohnehin. Aber man muss eben einmal damit beginnen, den Frieden zu schaffen, auch wenn dies bisher versäumt wurde. Deutschland gibt pro Jahr über 30 Milliarden Euro für Militär aus, aber nur 29 Millionen für den Friedensdienst. Das sagt eigentlich alles. Eine friedliche Welt ist dem freien Markt und seinen Kriegsgewinnlern immer schon ein Dorn im Auge gewesen. Die Abgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen, schreibt: »Wir leben in einer Vorkriegszeit. Das spüren immer mehr Menschen in diesem Land. Unsere Aufgabe ist es, die Lügen, die die neuen Kriege mitvorbereiten, zu entlarven. Damit die Mehrheit der Bevölkerung, die Krieg als Mittel der Politik ablehnt, die keine Auslandseinsätze und Rüstungsexporte will, endlich zu ihrem Recht kommt.« Auch um der nur allzu offensichtlich kriegsfreundlichen Meinungsmache in den großen Medien etwas entgegenzusetzen, haben wir uns entschlossen, dieses Buch herauszugeben. Unser »Duett« soll zu einem ganzen Chor aufrechter und kluger Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart anschwellen, der mit aller Vehemenz für die Sache des Friedens eintritt. Wir glauben weiter an die Kraft der Veränderung. Ungehorsam ist nun gefragt. Wir sollten Schulen des Ungehorsams gründen, um ein Gegengewicht gegen die die Seele deformierenden Gehorsamsschulen des Militärs zu schaffen. Zuallererst müssen wir uns gegen die Nebelkerzen wehren, mit denen wir täglich beschossen werden. Aber, wenn sich der Nebel endlich gelichtet hat, sind wir dann auch bereit, aufzustehen? Was wäre, wenn der Friede kein Wunder bräuchte, sondern eine Revolution? GESELLSCHAFT 5 19. M Ä R Z 2 0 1 5 C H R I S T & W E LT No 1 2 Er sagt, es sei wie eine Sucht gewesen. Er habe gar nicht oft genug hören können, was ihm die Mitarbeiter immer wieder versicherten. Dass ihn seine Frau nämlich immer noch liebe und es sich lohne, um sie zu kämpfen. Foto: Screenshot Astro-TV N ennen wir ihn Wolf. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen. Die Sache ist ihm unangenehm. Wolf ist Ende 40 und Abteilungsleiter einer Versicherung. Diplomierter Betriebswirt, zweisprachig, einer, der beruflich sicher im Sattel sitzt und auch sonst den Eindruck erweckt, als habe er alles im Griff. Über sein Privatleben spricht er nicht gern. Vor einem Jahr verließ ihn seine Frau nach zehn Jahren Ehe. Aus, Schluss, vorbei. Wolf sprach mit niemandem darüber. Er igelte sich zu Hause ein, Fernseher an, Füße auf den Tisch – und tschüss. Irgendwann landete er beim nächtlichen Zappen bei einem Sender, der seinen Zuschauern suggerierte, es gäbe für jedes ihrer Probleme eine Lösung, sie müssten nur anrufen: bei Astro-TV. Es war ein bisschen wie in der TelefonSeelsorge, bloß, dass man die Menschen am anderen Ende der Leitung sehen konnte. Man musste ihnen auch gar nicht viel erzählen, die Moderatoren nannten sich Engelsflüsterer, Hellseher oder Medium. Ein Blick in die Karten, in die Sterne oder in die Glaskugel reichte ihnen, zack, schon lieferten sie die Lösung. Lebensberatung to go. Im Minutentakt.Wolf probierte es selber aus. Das erste Beratungsgespräch gab es noch zum Nulltarif, die folgenden kosteten, bis zu 3,95 Euro pro Minute. Er landete jetzt nicht mehr direkt in einer Call-in-Sendung, sondern bei Hotlines des Konzerns, der den TV-Sender betreibt, der Adviqo AG. Und Wolf rief wieder an, manchmal mehrere Male am Tag. Er sagt, es sei wie eine Sucht gewesen. Er habe gar nicht oft genug hören können, was ihm die Mitarbeiter immer wieder versicherten. Dass ihn seine Frau immer noch liebe und es sich lohne, um sie zu kämpfen. Dabei lebte die längst mit einem anderen Mann zusammen. Sie reagierte zunehmend gereizt auf seine Anrufe. Als ihm seine Bank auch noch den Dispo sperrte, musste sich Wolf eingestehen, dass etwas gründlich schieflief. Er sagt, die Telefonberatung habe ihn ein Vermögen gekostet. Wolf ist kein Einzelfall. Sektenbeauftragte und Suchttherapeuten kennen viele solcher Geschichten. Sie erzählen von der Einsamkeit und davon, wie sogenannte Lebensberater Anrufern Hoffnung machen, das Glück zu zweit sei auch für sie zum Greifen nah – sie sollten nur weiterhin ihre Tipps befolgen. Die Öffentlichkeit bekommt von den Leiden der Opfer kaum etwas mit, denn den meisten Betroffenen geht es wie Wolf: Sie verschweigen ihr Problem – aus Scham. »Wer will sich denn schon von Dritten die Frage gefallen lassen: Wie konntest du so blöd sein, dein Geld dahergelaufenen Heilern in den Rachen zu werfen?«, sagt der Münchner Suchttherapeut Christoph Teich, der schon viele Betroffene beraten hat. »Zu 70 Prozent Frauen, die meisten alleinstehend, aus allen Bildungsniveaus.« Tatsächlich sind es ja Szenen wie aus einer schlechten Comedy, die man dort erlebt. Moderatoren, die mit halb geschlossenen Augen Kristallkugeln in ihren Händen drehen und mit theatralisch gereckten Armen Energie durch die Mattscheibe schicken: »Möge die Macht der Ewigkeit mit dir sein.« Doch jetzt hat Astro-TV Gegenwind bekommen. In den sozialen Netzwerken wird der Ruf nach einer Medienaufsicht lauter. Gerade läuft eine Online-Petition für den Entzug der Sendelizenz. Verfasst haben sie Aktionskünstler aus Berlin. Sie nennen sich »Peng! Collective«. Ein Name wie ein Knalleffekt. Er ist Programm. Die Sinn-Gewinnler Astro-TV verspricht esoterische Lebensberatung. Die Telefonate sind teuer, der Nutzen fraglich. Nach einer Aktion von Politclows steht der Sender nun unter Druck VON ANTJE HILDEBRANDT Peng! mischen die Politik mit provokanten Aktionen auf. Anfang Februar verliehen sie ihrer Forderung nach einem Aus für AstroTV auf ihre unnachahmlich ironische Weise Nachdruck. Da schleuste sich einer ihrer Mitarbeiter unter dem Vorwand in die Live-Sendung »Leichter Leben – Zeit für mich« ein, er wolle ein bisschen über die Kunst plaudern, Menschen zum Lachen zu bringen. Es war der Schauspieler Amit Jacobi, 30, verkleidet als Clown »Pjotr Wasabi«. Er schwenkte ein Gummihuhn durch die Luft. Er orakelte über die beiden Gehirnhälften und darüber, dass sie besser zusammenarbeiteten, wenn Menschen Dinge täten, die man eigentlich nicht tue. Plötzlich zog er ein Ei aus der Tasche, ließ es sanft auf dem Kopf des Moderators zerplatzen und rief: »Wir finden, Astro-TV sollte die Sendelizenz entzogen werden, denn das hier ist Betrug! Melden Sie sich beim psychosozialen Dienst, der kostet nichts.« Amit Jacobi sagt, er staune selber darüber, dass alles glattging. Sicherheitshalber hatte er einen Mitstreiter im Studio der Berliner Konzernzentrale platziert, der die Aktion mit versteckter Knopfkamera am Hemd filmte. Er sagt, er habe damit gerechnet, dass die Aufnahme sofort gestoppt und er vor die Tür gesetzt werde. Doch entweder waren die Mitarbeiter völlig überrumpelt, oder sie hatten insgeheim schon damit gerechnet, dass so etwas einmal geschehen würde. Die Kamera lief weiter. Der Moderator senkte den Kopf, damit man sein Gesicht nicht sehen konnte: Er grinste. Bilder von der Guerilla-Aktion verbreiteten sich in rasendem Tempo bei Youtube. Nach 167 000 Klicks ließ Astro-TV den Film von der Videoplattform entfernen und untersagte den Aktivisten die weitere Verbreitung mit Hinweis auf die Urheberrechte. Die, so heißt es in einem Brief des Anwalts, lägen beim Sender. Doch die Guerilleros von Peng! ließen sich nicht einschüchtern. Sie stellten den Film auf ihre eigene Website www.pen.gg und drehten gleich noch einen zweiten. Er zeigt, wie Amit Jacobi eine Wahrsagerin von Astro-TV in der Angelegenheit um Rat bittet und wie er dann die Unterlassungserklärung in Schnipsel reißt, als sie ihm nahelegt, er solle es nicht noch schlimmer machen, als es schon sei. »Auf Sie kommt wirklich zu, dass Sie Geld bezahlen müssen.« Jacobi gibt sich gelassen. Angst vor einer Klage von Astro-TV wegen »Sachbeschädigung« und »Hausfriedensbruch« habe er nicht, sagt er. Der Sender hatte ihn ja eingeladen, offenbar nicht ahnend, wer da ins Studio kam. Bei Peng! werten sie die Aktion als vollen Erfolg: »Wir wollten ja eine Debatte darüber anzetteln: Wie soll unser Fernsehen aussehen? Was ist TV, und was ist Casino?« Das öffentliche Echo gibt den Künstlern recht. Plötzlich war der kleine Spartensender Gesprächsthema in den Medien. Plötzlich wurde die zuständige Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg von einer Welle von Beschwerden überrollt. Und plötzlich trauten sich auch ehemalige Mitarbeiter von Astro TV aus der Defensive. Vielleicht war das der eigentliche Erfolg. Denn erst sie lieferten den Verfassern der Online-Petition die Munition, die man braucht, um die Forderung nach einem Entzug der Senderlizenz zu untermauern. Der bloße Hinweis auf »haarsträubende Prophezeiungen« durch sogenannte Hellseher reicht da nicht aus. »So eine Beratung ist ja erst mal nichts Negatives«, sagt Suchttherapeut Christoph Teich. »Wenn der Anrufer glaubt, er könne sein Problem lösen, ist er schon mal viel optimistischer.« Problematisch werde es in dem Moment, wo eine persönliche Bindung entstehe und der Anrufer versuche, Verantwortung an den Heiler abzugeben. Doch genau darauf liefen solche Gespräche doch hinaus, schließlich verdiene der Sender sein Geld damit. Ein interner Leitfaden, der Christ&Welt vorliegt, gibt Mitarbeitern sogar Gesprächsbeispiele, wie sie Kunden gezielt manipulieren können. Zum Beispiel eine Frau, die sich fragt, ob sie ihr verheirateter Lover tatsächlich liebt. »Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Frau Müller. Die Karten zeigen an, dass eine Trennung Ende des Jahres bevorsteht. Es sieht so aus hier in den Karten, dass es nach der Trennung schnell zu einer festen Bindung mit Ihnen kommt.« Die Kundin ist noch skeptisch. Diese Skepsis könne der Mitarbeiter auflösen, indem er zum Beispiel erwähne: »Da nach einem Familienfest im Dezember eine klärende Aussprache zwischen den Eheleuten erfolgt und es dann zur Trennung kommt.« Betrug à la carte. Und Astro-TV ist nur das Aushängeschild der Adviqo AG, dem Marktführer für Lebensberatung. Unter ihrem Dach bündelt die AG 14 Internetportale und Hotlines, von Horoskop. de bis zum Telefonanbieter Viversum (Spirituelle Lebensberatung). Sie alle sind auf der Homepage von Adviqo aufgelistet. Dort wird mit dem Slogan geworben: »Die ganze Welt der Spiritualität«. Auf der Homepage präsentieren sich die Anbieter als Freund und Helfer in allen Lebenslagen. »Wir befähigen Menschen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, indem wir Orientierung geben und ihre innere Stärke entwickeln«, heißt es da in schönstem Psychotherapeuten-Sprech. Der Alltag sieht jedoch anders aus. Das berichten ehemalige Mitarbeiter, die sich nach dem Echo auf die Guerilla-Aktion von Peng! bei Christ&Welt gemeldet haben. Ihre Vorwürfe sind nicht neu, aber so gravierend, dass man sich fragt, wie es der 2004 gestartete Sender bislang jedes Mal geschafft hat, seine Lizenz zu verlängern – die aktuelle ist befristet bis zum 31. Mai 2018. Wenn es stimmt, was diese Informanten sagen, dann praktiziert Astro-TV in seinen Call-in-Sendungen dieselben Methoden, die einst dem Verkaufssender Neun Live zum Verhängnis geworden sind: Nach der Gewinnspielsatzung, die auch für einen Sender wie Astro-TV gilt, muss ein Zufallsgenerator nach einem bestimmten Algorithmus jeweils den x-ten Anruf aussuchen, der dann durchgestellt wird. Glaubt man den Mitarbeitern, dann ignorieren die Moderatoren diesen Zufallsgenerator nicht nur konsequent, um die Zahl der Anrufe in der Warteschleife zu erhöhen. Sie befördern diesen Prozess auch, indem sie behaupten, »Ach, schon wieder ne Auflegerin, schade.« Jetzt seien die Leitungen frei, die Zuschauer sollten schnell anrufen. 34 Cent kassiere Astro-TV für jeden Anruf aus dem Festnetz nach Abzug von Mehrwertsteuer und Providerkosten – unabhängig davon, ob der Anrufer durchgekommen ist oder nicht. Anders sei dieses Geschäftsmodell auch nicht finanzierbar. »Eigentlich kann es sich nur mit betrügerischen Manipulationen rechnen, wobei eine betrügerische Manipulation nicht dargestellt werden kann«, sagen Insider. Der Hinweis darauf, dass auch nicht durchgestellte Anrufe kostenpflichtig sind, läuft während der Sendung kleingedruckt als Kriechtitel am unteren Bildrand. Der Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg reicht das als Ausweis der Glaubwürdigkeit des Senders. Die Pressesprecherin sagt, die Vorwürfe der Mitarbeiter könne man nur prüfen, wenn sie den Betrug mit Sendeprotokollen für jede einzelne Sendung nachweisen könnten – bis auf die Minute genau. Die Moderatoren von Adviqo sind fast alle Freiberufler. Wer von ihnen würde seinen Job dafür riskieren? Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Astro-TV jede Stellungnahme zu den Vorwürfen verweigert. »Wir haben uns bereits vor einiger Zeit gegen weitere Stellungnahmen gegenüber Medienvertretern entschieden, nachdem wir leider einige negative Erfahrungen bezüglich der einseitigen Berichterstattung machen mussten«, heißt es in einer E-Mail des Unternehmens. »Die wissen, dass ihnen keiner was nachweisen kann, und halten den Ball bewusst flach«, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter, der selber als Producer von Call-in-Sendungen gearbeitet hat. Immerhin hat die Aktion von Peng! den wunden Nerv des Unternehmens berührt. »3,5 Millionen Kunden weltweit« bedient Adviqo laut Homepage. Es geht um Geld, um viel Geld. Rund 90 Millionen Euro Umsatz soll der Konzern pro Jahr erwirtschaften, Tendenz: bislang immer steigend. Ein System, das nicht nur von der Not der Anrufer lebt, sondern deren Leidensdruck auch noch verstärkt. »Die Sucht entsteht ja durch die Unmittelbarkeit des Angebots«, sagt der Therapeut Christoph Teich. »Ein Antidepressivum wirkt erst nach zwei Wochen. Eine Hotline oder den Sender aber kann ich anrufen, wann ich will.« Ein Teufelskreis. Teich sagt, er habe 2007 versucht, in München eine Selbsthilfegruppe für Opfer zu gründen. Anfragen genug habe es gegeben. Aber zum ersten Treffen sei niemand gekommen. Traurig, aber wahr: Das Schweigen der Opfer ist der effektivste Schutz für die Branche. Ghata, die blonde Botschafterin des Lichts, bei der Arbeit. 6 GESELLSCHAFT 19. M Ä R Z 2015 C H R I S T & W E LT No 1 2 DER ATHEIST, DER WAS VERMISST Sittliches Unbehagen Über die Ware Freiheit VON MARTIN AHRENDS I te Weise man gerade versucht, mich zu täuch hab die Freiheit, das Buch wegzulegen, schen, mich übers Ohr zu hauen, zu verfühdas es mir leicht machen will. Und ich ren, auf irgendeinen Psycholeim zu locken. hab die Freiheit, den Supermarkt zu Ich will kein schlechtes Gewissen haben, meiden, der es mir schwer machen will. wenn ich mein unter wer weiß was für irrIch kann mit meiner Freiheit effizient witzigen Umständen produziertes Hemd umgehen, frei sein, wo es sich lohnt. anziehe, das den Hass der Produzenten in jeStimmt das? Es hieße im Umkehrschluss: der Faser trägt, ihren Hass auf mich, den Ich leiste mir Unfreiheit, wo sich Freiheit fernen Verbraucher, der ihnen mit seinem nicht lohnt, wo ich Energie für unmögliEinkauf die Luft zum Atmen nimmt. Ich che Entscheidungen aufzubringen hätte: Ich wehre mich will beim Einkaufen nicht verführt werden, für Recherchen nach Herkunftsländern und Produktionsbedingungen, nach Inalso nicht gegen das Falsche zu tun. Auch nicht zu dem Irrglauben, ich könne als Verbraucher die haltsstoffen und deren Wirkungen auf ein maniWelt verbessern. Ich bin so frei, Entscheimeinen Körper, Recherchen, zu denen pulatives dungsfreiheit abgeben zu wollen, wo sie mir ich nicht in der Lage bin, erst recht zur unnötigen Last wird. Ich wehre mich nicht, wenn ich mit dem Einkaufswagen Gegengift, also nicht gegen ein manipulatives Gegenvor dem Supermarktregal stehe. solang ich als gift, solang ich als Verbraucher ohnehin »Der Verbraucher entscheidet«, heißt es, Objekt der Manipulation bin. Ich hab Verbraucher auch über die Massentierhaltung und die Gebäudesicherheit bestimmter Textilfabriohnehin Objekt nichts dagegen, wenn der Verbraucherminister Maas über »Nudging« nachdenkt ken in Bangladesch. Nein, tu ich nicht. Ich der Maniund es für eine gute Idee hält, »wenn Menbin so frei, diese Bürde abzulehnen, weil sie schen bessere Entscheidungen treffen, danicht auf meinen Buckel gehört. Ich bin so pulation bin. bei aber weiterhin völlig souverän sind«. frei, den dafür Zuständigen eine nachhaltiWirklich frei bin ich aber, wenn ich das groge Wirtschaft abzuverlangen. Sie machen mir das Leben unnötig schwer, wenn sie mich bei jeder ße »Du sollst« auf mich nehme, das mir die Kirche entgegenruft. Kaufentscheidung – und auch ein Minderbemittelter muss mal einkaufen – vor die unlösbare Aufgabe stellen, herauszufinden, auf welche hoch bezahlt vertrack- Martin Ahrends lebt als Schriftsteller in Berlin. EIN BILD, EIN SATZ, EIN WUNDER Fotos: Mauritius Images; Jürgen Bauer/Süddeutsche Zeitung Photo; privat (2) SAMMLUNG HAT DAS SINN, FRAU RINN? Studienpläne Aus dem Leben einer Pfarrerin VON ANGELA RINN M schließlich lebe der Mensch nicht nur von ein Sohn möchte Sozialarbeiter Luft und Liebe. Mein Sohn schüttelt den werden. Sein neuer Plan klingt Kopf. Irgendwie hat sein Blick etwas weniger lebensgefährlich und Überlegenes. Ich ahne schon, dass ich gleichzeitig realistischer als die früheren gleich verloren habe. Schimmert da ein Vorhaben. Im Alter von 15 Jahren wollte leichter Heiligenschein über seinem roter zur Bundeswehr, anschließend war blonden Haarschopf? »Es gibt WichtigeSchauspieler im Gespräch, dann hatte er res als Geld, Mama. Geld allein macht überlegt, Fluglotse zu werden. Ich bin nicht glücklich.« Ich hatte recht mit meizwar mit Til Schweiger auf dieselbe ner düsteren Ahnung. Er hat die TuSchule gegangen, aber das allein qualifigend-und-Moral-Karte gezogen. Trumpf, ziert mein Kind nicht für die erfolgreiche Er hat die sticht immer. Jedenfalls im Pfarrhaus. Leinwandkarriere. Bundeswehr fand ich Tugend-und- die Das Kind setzt sogar unbarmherzig auch nicht wirklich tröstlich. Angeblich Moral-Karte noch eins drauf. »Weißt du, Mama, ich hatte der Informationsoffizier behauptet, will Menschen helfen.« Du liebe Güte, dass Rekruten nicht in die Krisengebiete gezogen. wo hat er das denn her? Ich habe erziemüssten. »Da gehen nur Freiwillige hin, Trumpf, die hungstechnisch versagt und meinen wirklich, Mama.« Ich war nicht so sicher, Sohn der künftigen Altersarmut ausgeob sich Frau von der Leyen im Zweifelssticht immer. setzt. Die Bezahlung von Sozialarbeitern fall an diese Zusicherung erinnern würde. steht doch in keinem Verhältnis zum Die Englischkenntnisse meines Knaben Aufwand, geschweige denn zu den grusewaren im Blick auf die Zukunft als Flugligen Arbeitszeiten, das ist ja fast wie bei Pfarrern. lotse auch nicht ermutigend. Es beruhigt mich halt Außerdem müssen sich die armen Sozialarbeiter in schon, wenn Fluglotsen die Botschaften aus den den ersten Dienstjahren von Projektvertrag zu ProCockpits verstehen und nicht erst den Googlejektvertrag hangeln. Ich starte einen letzten VerÜbersetzer anklicken müssen. such. »Du wolltest doch eigentlich einen Beruf mit Die richtige Begeisterung für das Sozialarbeitergeregelten Arbeitszeiten, also gerade nicht so wie bei Studium will bei mir trotzdem nicht aufkommen. mir im Pfarramt.« Mein Sohn schüttelt den Kopf. Ich erinnere ihn daran, dass Fluglotse doch eine in»Man muss sich entwickeln dürfen, Mama.« Ich teressante Aufgabe sei und es an der Volkshochgebe es auf. »Es ist doch besser, ich tue etwas, was schule prima Englischkurse gebe. Mit ein bisschen ich wirklich leidenschaftlich gerne mache – hast du Engagement könnte es viel erfolgreicher als in der immer gesagt.« Er lächelt sanft, mir scheint: fast ein Schule laufen. Das Kind schaut mitleidig. »Du bisschen grausam. Er weiß, wann er gewonnen hat. willst doch nur, dass ich Fluglotse werde, weil man damit mehr Geld verdienen kann.« Das Schlimme an Kindern ist, dass man ihnen nach einigen Jahren Angela Rinn ist Pfarrerin in Mainz-Gonsenheim und Privatdozentin in Heidelberg. Unter ihrem Pseudogemeinsamen Lebens wenig vormachen kann. Sie nym »Vera Bleibtreu« erschien zuletzt ihr Krimi »Die kennen ihre Eltern einfach zu gut. Ich druckse heletzten Tage der Wespen«. rum, dass Geld ein beruhigender Faktor sei, Christ&Welt: Die Redaktion war im Januar bei Ihnen im Kloster Arenberg und hat Sie um eine Blattkritik gebeten. Haben wir Ihre Wünsche beherzigt? Sr. Ursula: Ich war ja schon vorher sehr zufrieden, aber mein Eindruck ist, dass die Zeitung noch gewonnen hat. Sie ist noch provokanter geworden. Das finde ich gut. C&W: Hatten wir nicht darüber gesprochen, dass wir uns mehr ums Wesentliche kümmern wollten und weniger um innerkirchliche Kontroversen? Sr. Ursula: Ja, es stimmt schon. Mir geht das Gelaber über Strukturen und über die immergleichen Themen von Pille bis Zölibat auf die Nerven. Wenn ich hier im Kloster mit Gästen seelsorgerliche Gespräche führe, merke ich, wie sie mit Gott ringen. Diese Sehnsucht ist das Wesentliche. Aber natürlich diskutieren wir im Kloster zum Beispiel, wenn Christ&Welt einen kritischen Artikel über Franziskus bringt. Davon gibt es in letzter Zeit mehr. Manche unserer Schwestern fragen sich auch, wann den Worten endlich Taten folgen. Gesprochen haben wir auch über das, was die Schriftstellerin Ulla Hahn in der vergangenen Ausgabe gesagt hat. Sie möchte ein Christentum ohne Strafe und Sünde, das hat uns aufgewühlt, zumal Franziskus gerade ein Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hat. Heute kuratiert von Hans Joachim Schädlich Seine Empfehlung: Diego Velázquez: Äsop (1639/40) Warum haben Sie dieses Bild ausgewählt? »Ich hatte früher eine Vorstellung von Äsop. Aber das Äsop-Porträt von Velázquez, das ich später im Prado sah, übertrifft jede Vorstellung.« Kurator im Monat März ist der Schriftsteller H ans Joachim Schädlich. Diesen Monat erscheint sein neuer Roman »Narrenleben« bei Rowohlt. C&W: Wie sieht Ihre Woche aus? C&W: Heißt Barmherzigkeit, dass LESERDRUCKER Sr. Ursula: Zur Zeit ist es sehr es keine Strafe gibt? turbulent, Leid und Freude lieSr. Ursula: Gottes Gerechtigkeit gen ganz eng beeinander. Es ist größer als unser Herz. Natürsind mehrere Schwestern gelich müssen wir vor Gott Verantstorben, einige liegen im Sterwortung übernehmen. Aber ich glaube, dass er uns heilt und Was Christ&Welt im Kloster anrichtet ben. Zugleich steht ein großes Fest bevor: An diesem Donnicht vernichtet. Vom Jahr der nerstag werden drei PostulanBarmherzigkeit erhoffe ich mir, tinnen eingekleidet. dass wir andere nicht verurteilen. C&W: Was habe ich mir darunter vorzustellen? Einem Menschen etwas zu verweigern, weil er angeblich Sr. Ursula: Postulantinnen sind junge Frauen, die sich nicht gut genug ist, das ist nicht die Aufgabe der Kirfür ein Leben im Orden entscheiden. Das Postulat che. Ich möchte weitherzig werden für Menschen, dauert bis zu zwei Jahre. Bei der Einkleidung bedie gesündigt haben. In der Annahme geschieht kommen sie nicht nur das Ordenskleid, sondern Heilung, nicht in der Verurteilung. auch ihren Schwesternnamen. Danach beginnt das Christ&Welt: Das ist nun doch eine kirchenpolitische Noviziat. Das ist eine besondere Zeit der Prüfung: Aussage. Dienen Gelübde wirklich meiner persönlichen Sr. Ursula: Ja, weil ich in vielen Gesprächen erlebe, Mensch-Werdung? Wie finde ich meine Freiheitsräume? wie Menschen darunter leiden, dass ihr Weg von der Wer bin ich? Das ist eine sehr harte Zeit. Manchmal brechen Kirche abgelehnt wird. Diese Menschen verurteilen sich oft familiäre Konflikte auf oder andere Verletzungen, die nicht schon selbst genug, das Letzte, was sie brauchen, ist jemand, verheilt sind. der sie auch noch verurteilt. Auf dem Ego-Trip C&W: Klingt so, als seien junge Ordensfrauen sehr mit sich selbst beschäftigt. Sr. Ursula: Diese Selbstbeschäftigung ist das Fundament, um für andere da sein zu können. Ich selbst habe mich während des Noviziats oft gefragt, ob ich nicht auf einem Egotrip bin. Meine Freundinnen sind Mutter geworden oder hatten einen sinnvollen Beruf. Ich habe mich nur um mich selbst gekümmert. Aber jetzt weiß ich, dass diese Zeit überlebenswichtig ist, um eine gute Ordensfrau zu werden. Ohne diese Wüstenzeit wüsste ich gar nicht, was mich ausmacht und was ich anderen schenken kann. C&W: Fehlt im Leben der anderen diese Wüstenzeit? Sr. Ursula: Ja, Wenn von außen aufs Ordensleben geschaut wird, dann springt oft der Verzicht ins Auge. Die meisten sehen nur, was wir alles nicht dürfen. Aber ich empfinde diese intensive Beschäftigung mit mir selbst als Luxus. Ich würde jedem Menschen ein Noviziat gönnen. Ursula Hertewich, promovierte Pharmazeutin, ist seit 2006 Dominikanerschwester in Kloster Arenberg bei Koblenz. Das Gespräch führte Christiane Florin.
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