Unheimliche Enkel Nicht mit mir!

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CHRIST&&WELT
WELT
CHRIST
19. MÄRZ 2015 No 12
DIE
ZEIT
WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
Christ & Welt
PREIS DEUTSCHLAND 4,50 €
Ist Genie männlich?
Natürlich nicht.
Aber es liegt auch an den
Frauen, dass so wenige
von ihnen damit auffallen
Titelfoto [M]: Pari Dukovic/Trunk Archive
FORTPFLANZUNGSMEDIZIN
Nicht mit mir!
Unheimliche Enkel
J
Das Gericht gibt den Schwarzen Peter
weiter: An Mütter, Väter und Schulen
Das Bundesverfassungsgericht weist diese
Ansprüche nicht völlig zurück, bewertet sie aber
neu. Nicht etwa weil bundesdeutsche Eltern das
Kopftuch im Klassenzimmer so vermisst hätten.
Sondern weil zwei muslimische Beschwerdeführerinnen ihr Recht auf freie Religionsausübung
in der Schule gewahrt wissen wollten. Das
Gericht gibt ihnen recht: Die Glaubensfreiheit
der Lehrerinnen wiegt neuerdings schwerer als
die Idee von der Neutralität der staatlichen
Schule. Die Folge: Die Bundesländer werden
ihre Schulgesetze ändern und an dem neuen
Kopftuchurteil ausrichten müssen.
Wem nutzt dieser angeblich so fortschrittliche Eingriff in den deutschen Schulalltag? In
jedem Fall den Lehrerinnen, deren religiöse
Selbstentfaltung in der Schule jetzt von Staats
wegen gesichert ist. Wem er nicht unbedingt
nutzt, sind die kleinen Endabnehmer des edlen
Toleranzedikts. Die haben die Karlsruher Richter
über der lobenswerten Anerkennung der Rechte
muslimischer Frauen aus den Augen verloren.
Und auch deren Eltern, die von der Notwendigkeit eines religiös gefestigten muslimischen Lehrkörpers vielleicht doch nicht so überzeugt sind,
dass sie ihren Nachwuchs seinen Erziehungskünsten im Ernst überlassen möchten. Ich kann hier
nur – Kopf und Kragen riskierend – für mich
selbst sprechen: Meine eigene Begeisterung für die
multireligiöse Gesellschaft wäre vermutlich nicht
groß genug, um meine Töchter dem Vorbild einer
Kopftuch tragenden Staatspädagogin auszusetzen.
Denn bewundernswerte Vorbilder sollen
Lehrer und Lehrerinnen schließlich sein. Ganze
Menschen, die mit Haut und Haar nicht nur
Rahmenpläne, sondern auch menschliche Haltungen vermitteln. Und dazu kann, bei allem
Respekt, kaum diejenige gehören, nach der
weibliches Lehrerinnenhaar unrein und vor
Männerblicken zu verbergen sei. Einem sechsjährigen Mädchen zu erklären, dass derartige
Auffassungen einerseits abwegig, andererseits
zum Wohle der multikulturellen Vielfalt zu respektieren seien, ist eine ziemlich schwere Aufgabe. Die Eltern dürfen nun an zwei Fronten der
liberalen Gesellschaft gegen Frauenbilder kämpfen, die den weiblichen Körper maßregeln und
züchtigen: gegen die körperfeindlichen Vorbilder einer verheerenden Model-Industrie und
gegen das patriarchalische Weiblichkeitsideal des
Islams, das jetzt sogar bundesrichterlich geschützt
wird. Denn weder das übersexualisierte und abgemagerte Girlie noch die verschleierte Lehrerin
sind überzeugende Entwürfe einer undressierten
Weiblichkeit, die man seinen Töchtern gern mit
auf den Lebensweg geben möchte.
Das Gericht drückt sich vor diesen Problemen. Wie es überhaupt den Schwarzen Peter allen
anderen zuspielt. Den Müttern und Vätern. Und
den Schulen, die zukünftig prüfen sollen, ob die
fromme Kopfbedeckung ihres Personals im Einzelfall eine Störung des Schulfriedens darstellt,
um partielle Verbote durchsetzen zu dürfen.
Alle weiteren Fragen bleiben offen. Wenn das
Kopftuch erlaubt ist, darf dann morgen der Ganzkörperschleier für die vollumfängliche religiöse
Persönlichkeitsentwicklung der Pädagogin unverzichtbar werden? Dürfen muslimische Lehrer gar
darauf drängen, dass die unbedeckten Häupter
ihrer Zöglinge eine unzumutbare Provokation
darstellen, die ihren Glauben verletzt? Denkbar ist
auch, dass muslimische Väter ihre revoltierenden
Töchter, nun mit Karlsruher Autorität ausgestattet, erst recht unters Kopftuch zwingen.
Der alte, unrühmlich beendete Streit ums
Kopftuch rührt an das Paradox freier Gesellschaften, deren Freiheit sich selbst aufhebt, wenn
sie uneingeschränkt für alle und alles gültig ist.
Siehe auch Seite 11
www.zeit.de/audio
Gibt es ein Recht auf
den Schwangerschaftsabbruch?
Christ & Welt Seite 2
Liedermacher Konstantin
Wecker verteidigt den
Pazifismus
Christ & Welt Seite 4
KOPFTUCHURTEIL
Eltern müssen nun an zwei Fronten der liberalen Gesellschaft
gegen körperfeindliche Frauenbilder kämpfen VON IRIS RADISCH
Abgetrieben: Ein
Grundsatzstreit
Abgerüstet: Ein
Friedensappell
Das neu gestaltete Ressort CHANCEN, ab S. 71
etzt beginnt eine neue Ära im Kopftuchstreit: Das Bundesverfassungsgericht hat
der Klage zweier nordrhein-westfälischer
Lehrerinnen stattgegeben. Ein pauschales Kopftuchverbot an deutschen Schulen
ist in Zukunft verfassungswidrig. Das
Kopftuch gehört ab sofort zu Deutschland und
in deutsche Schulen.
Das Urteil löst allenthalben sonderbare Begeisterung aus. Die Lehrergewerkschaft, der
Zentralrat der Muslime und der größte Teil der
deutschen Presse loben den Einzug des Kopftuchs in deutsche Lehrerzimmer als einen Meilenstein auf dem Weg in die offene Gesellschaft.
Endlich, heißt es, würdige man die Lebenswirklichkeit muslimischer Frauen in Deutschland.
Wer jetzt noch dem Ideal einer religionsfreien
Schule nachhängt, ist von gestern. Heute gilt die
Selbstdemontage der säkularen Bildungsanstalten als fortschrittlich.
Begonnen hat der Streit ums Lehrerinnenkopftuch im Jahr 2003. Damals hatte eine angehende muslimische Lehrerin das Land BadenWürttemberg verklagt, weil es sich weigerte, die
Kopftuchträgerin in den Schuldienst zu übernehmen. Das Bundesverfassungsgericht traf in
seinem ersten legendären Kopftuchurteil noch
keine grundsätzliche Entscheidung, stellte den
Ländern jedoch anheim, dem Lehrpersonal das
Tragen eines Kopftuches zu verbieten. Die
Gründe für ein solches Verbot haben ihre Plausibilität auch zwölf Jahre später nicht verloren.
Religiöse Symbole widersprechen noch immer
dem Neutralitätsgebot staatlicher Bildungsinstitutionen. Wer seine Kinder gern religiös erziehen
lassen möchte, egal, ob durch Kutten- oder
Kopftuchträgerinnen, hat dazu in privaten Konfessionsschulen hinreichend Gelegenheit. Wer
sein Kind aber einer Staatsschule anvertraut, darf
religiöse Enthaltsamkeit erwarten.
IN DIESER AUSGABE
VON CHRIST &WELT
Wenn Gentechniker vor Gentechnik warnen, sollten wir auf
sie hören. Sonst könnte es zu spät sein VON ULRICH BAHNSEN
W
ir müssen reden! Selten
wendet sich die Wissenschaft so eindringlich an die
Öffentlichkeit wie in diesen
Tagen. Im Fachblatt Nature
warnen ausgerechnet Genforscher vor einer historischen Zäsur in der Genforschung: Die Technik sei reif, das Erbgut menschlicher Embryonen gezielt zu verändern. Experimente dazu würden bereits durchgeführt, fürchten
die Reproduktionsmediziner. Sie wollen den unmittelbar bevorstehenden Tabubruch verhindern:
Eingriffe ins Erbgut, die an alle folgenden Generationen weitervererbt würden. Die Manipulation
der sogenannten Keimbahn. Die Übernahme der
Regie bei unserer eigenen Evolution.
In Forscherkreisen kursieren Berichte über
bereits erfolgte Manipulationen an menschlichen
Embryonen, über gezielte Veränderungen von
Eizellen und Spermien. Die Hinweise kommen
aus den USA und China, wo solche Arbeiten –
anders als in Deutschland und anderen europäischen Staaten – nicht ausdrücklich illegal sind.
Bis heute sind die Forscher den Warnungen
vor einem ethischen Dammbruch mit einem
schlichten Argument begegnet: Selbst wenn man
die Technik beherrsche, wisse man ja gar nicht,
wozu man sie einsetzen solle. Das ist offensichtlich nur noch eine Schutzbehauptung.
Die Werkzeuge zur Menschenzüchtung
sind bereits in aller Welt verbreitet
Was wir sicher wissen: Die rasante Entwicklung
der Gentechnik macht solche Eingriffe möglich.
In den Labors der Welt verbreitet sich ein gentechnisches Werkzeug, das Umbauten am Erbgut mit unerhörter Präzision erlaubt. Es trägt
den kryptischen Namen Crispr, und man kann
es sich so ähnlich vorstellen wie ein Textverarbeitungsprogramm für Gene: Ganze Sätze oder
Wörter kann man damit aus dem Bauplan des
Lebens entfernen, man kann sie einfügen, ersetzen oder korrigieren. Es gibt – zugegeben –
noch einige Sicherheitslücken. Doch auch die
sind überwindbar.
Darum gibt es längst sehr konkrete Ideen für
den Einsatz der Technik: Ein einziger Austausch
im Erbgut könnte Menschen für immer vor
HIV und Aids bewahren. Eine einzige Genkorrektur würde uns effektiv vor Alzheimer schützen. Ganze Familien könnten von erblichen
Leiden befreit werden, die sie seit Generationen
heimsuchen. Das ist keine Fantasie – Forscher
wissen sehr genau, welche Genvarianten sie dafür bearbeiten müssten.
Warum sollten wir nur einen Menschen heilen, wenn wir die künftige Menschheit von solchen Krankheiten befreien könnten? Warum soll
das Tabu der Keimbahntherapie weiterhin gelten? Wir kennen inzwischen eine neue Wahrheit
über die Keimbahn – und sie ist bei genauem
Hinsehen ziemlich ernüchternd. Die Natur be-
handelt unsere genetische Blaupause nicht im
Entferntesten ehrfürchtig. Sie experimentiert
mit uns in jeder Generation, in jedem neu gezeugten Menschen: Die deutliche Mehrzahl aller
befruchteten Eizellen stirbt als misslungenes genetisches Experiment der Natur. Wir, die Lebenden, haben bloß Glück gehabt.
Wenn unsere Erbanlagen von Natur aus so
instabil sind, erscheint die Vorstellung, wir
könnten in diesem Glasperlenspiel der Natur
mitmischen, nicht mehr ganz so vermessen.
Es gibt aber auch gute Gründe, die menschliche Keimbahn sakrosankt zu stellen: Wenn
nach der Befruchtung der Embryo entsteht, bilden sich rasch jene Zellen, die später in Eierstock
oder Hoden des erwachsenen Körpers die Geschlechtszellen hervorbringen. Sie sind die physischen Glieder jener Kette, die sich seit Millionen
Jahren durch die Generationen zieht. Diese
Keimbahn verbindet jeden lebenden Menschen
mit dem Beginn des Lebens auf der Erde. Unabhängig von der Weltanschauung, ob entworfen in einem Schöpfungsakt oder geformt in
Millionen Jahren Evolution: Ehrfurcht sollte die
Keimbahn in jedem Fall gebieten.
Ihr gegenüber steht die Faszination einer
machtvollen Technologie. Crispr stellt uns vor
ein besonders großes Dilemma: Nutzen wir es als
sehr scharfes Skalpell, um etwa die Blutzellen
von Immunschwäche-Patienten zu heilen oder
um Leberzellen bei Stoffwechselleiden punktgenau zu therapieren: Applaus.
Zur Waffe wird das Skalpell aber ganz leicht,
wenn man mit ihm in das Schicksal ferner Generationen eingreift. Weil Kinder, Enkel und
Urenkel mit manipuliertem Erbgut keine natürlich geformten Individuen mit Stärken und
Schwächen wären, sondern Erzeugnisse einer
wahnwitzigen Technologie.
Wir würden künftige Generationen den vermeintlich pragmatischen Erfordernissen der
Gegenwart unterordnen. Mehr noch, der Übergang vom therapeutischen Einsatz zur gefälligen
Optimierung ist fließend. Der Abgrund der
neuen Technik ist der Mensch, der sich nach eigenem Gutdünken umbaut. Crispr wird also zu
einem Synonym werden: entweder für unsere
endgültige Emanzipation von der Natur – oder
für ein Vergehen des Menschen gegen die
Schöpfung und sich selbst.
Verbote, Empörung, Beschwörungen werden
das Problem nicht mehr lösen. Wir müssen einen neuen Rubikon definieren.
Die Werkzeuge zur Menschenzüchtung sind
bereits in aller Welt verbreitet – und sie zu
beherrschen ist leicht erlernbar. Mit der Begrenztheit unserer technischen Möglichkeiten
können wir uns nicht mehr herausreden. Wir
haben mit der Natur gleichgezogen.
Abgezockt: AstroTV unter Druck
Das esoterische
Geschäftsmodell des
Senders wackelt
Christ & Welt Seite 5
KREUZ & QUER
Woran glaubst du?
Sie könne das Gelaber über kirchliche Strukturen nicht mehr hören, sagt die Dominikanerschwester Ursula im Leserdrucker von
Christ & Welt. Sie weiß aus vielen
geistlichen Gesprächen, was
Menschen suchen: Halt, Sinn,
Liebe. Manchmal nennen sie das
Gott. Der Fernsehsender 3sat
macht mit dieser Sehnsucht Programm: Woran glaubst du?, fragt
die Themenwoche vom 22. bis
28. März. Es gibt Spielfilme, Dokumentationen und Diskussionen. Vor das Interview mit dem
Münchner Erzbischof Reinhard
Kardinal Marx hat 3sat am Montag den flotten Alphabetisierungskurs Glaube A bis Z geschaltet.
Die katholische Kirche ist beim
Buchstaben Q an der Reihe: Quo
vadis. Es spricht kein Quardinal,
sondern eine Querdenkerin aus
einem Orden. Medien glauben an
Nonnen.
CHRISTIANE FLORIN
Kleine Fotos (v.o.n.u.): istockphoto.com; Jens
Wolf/dpa/picture alliance; screenshot Astro TV
ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de;
ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de
Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
20079 Hamburg
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Kanaren 5,70/F 5,50/NL 4,80/A 4,60/
CHF 7.30/I 5,50/GR 6,00/B 4,80/P 5,50/
L 4,80/HUF 1960,00
o
N 12
7 0. J A H RG A N G
C 7451 C
Siehe auch Stefan Schmitt im Wissen, S. 37:
Eine Denkpause für die Genom-Ingenieure
www.zeit.de/audio
4 190745 104500
12
Christ & Welt
Der Esoterik-Sender
Astro-TV verdient
mit arglosen Anrufern
viel Geld.
S E ITE 5
WO C H E N Z E I T U N G
F Ü R
G L AU B E ,
G E I S T,
19. M Ä R Z 2 0 15
12
G E S E L L S C H A F T
SEIN MOTIV:
DER KREUZRITTER
Jeder hat sein
Kreuz zu tragen
A
uch ein Kreuzritter hat Feierabend. Ist seine
Mission erfüllt, will er nur noch nach Hause.
Stundenlang musste er ausharren. Dabei wollte der Mann mit dem Kreuz voraus doch nur für seine christlichen Werte auf die Straße gehen. Die Sicherheit lasse den geplanten Demonstrationszug
nicht zu, sagten die Beamten. Der Rollstuhlkreuzfahrer musste warten – eingepfercht zwischen Polizisten
(ausgestattet mit Schlagstock und Reizgas), Wasserwerfern (Modell WaWe 10 000) und einigen »Hooligans gegen Salafisten« (betrunken).
Wuppertal war am vergangenen Wochenende in
der Hand von Extremisten. Scharia-Polizist Sven Lau
kam aus Düsseldorf, um einige Dutzend radikale Salafisten auf dem Willy-Brandt-Platz zu versammeln
und gegen Christen, Juden und die USA zu hetzen.
Lutz Bachmann, der Pegida-Star aus Dresden, brachte wenige hundert Abendländer auf die rechte Straßenseite vor dem Schauspielhaus, um wiederum gegen Salafisten zu hetzen. Zusammen aber riefen sie
immerhin knapp eintausend Gegendemonstranten
und noch einmal so viele Polizisten und Medienvertreter auf den Plan.
Doch dann, gegen 17 Uhr, lässt die Polizei Teilnehmer der Pegida-Demonstration vereinzelt ziehen
– vorausgesetzt, sie sind behindert oder minderjährig. Die Polizisten bilden einen Durchlass. Stolz präsentiert sich der Kreuzritter ein letztes Mal den Fotografen. Lange hält er das Blitzlichtgewitter aber nicht
aus. »Habt ihr jetzt alle euer Bild gemacht?«, fragt er.
Und dann steuert er seinen Streitwagen an den Objektiven vorbei gen Abendland. Hannes Leitlein
Das letzte Geheimnis
Eine italienische Journalistin protokolliert Beichtgespräche, und ganz Italien ist empört. Dabei wird das Bußsakrament heute kaum mehr
nachgefragt. Ist das vertrauliche Wort uns heiliger, als wir denken? V O N R A O U L L Ö B B E R T
D
aus kleinen und großen Beichtgeheimnissen »Tatort«-Folgen konstruiert. Da
sitzt der großstädtische Rudel-PublicViewer gebannt vor der Kneipenleinwand und murmelt »Respekt«, wenn
der Fernsehpfarrer dem -ermittler partout nicht erzählen will, welche Leichen
der TV-Psychopath im Keller versteckt,
und das nur, weil der ihm das gebeichtet
hat. Es ist paradox: Immer weniger
Menschen glauben heute daran, ohne
Beichte auf dem Sterbebett in der Hölle
Beichte für den Priester – die Meinung
dürfte mehrheitsfähig sein.
Doch warum ist das so? Wer beichtet,
so viel steht fest, braucht Beistand, Hilfe,
Rat, der gibt kostbare Selbstbestimmung
auf und wird verletzlich. Gerade die
Selbstreflexion, sagte der Theologe und
Psychoanalytiker Tomas Halik einmal im
C&W-Interview, mache die Beichte zeitgemäß. Schließlich sei die Selbstbestimmung, so Halik, eines der Kennzeichen
des »modernen Individualismus« mit sei-
zu landen. Und doch gilt ihnen das
Beichtgeheimnis als »unverletzlich«, so
Stefan Muckel, Kirchenrechtler an der
Universität Köln. Weder Gesetzgeber
noch Gesetzeshüter trauen sich daran zu
rühren. Die Menschen wollen es einfach nicht. Das vertrauliche Wort ist
ihnen heilig. Ein Zuschauer schreibt
dazu in einem »Tatort«-Forum: »Ein
Anwalt darf auch nichts sagen« über
seine Mandanten, »ein Arzt hat seine
Schweigepflicht«. Dasselbe gelte bei der
nen Heerscharen von Lebensberatern,
Therapeuten, Moderatoren und Mediatoren. Abnehm-Shows, Assessment-Center und Dieter Bohlen trichtern uns ein,
dass wir lebenslang an uns arbeiten müssen, damit wir stark, schlank und berühmt werden. Und schaffen wir es nicht,
liegen wir beim Profibehandler auf der
Couch und fragen uns: Wer bin ich? Was
habe ich falsch gemacht? Auf eine moderne Weise ist die Beichte dem säkularen
Menschen also noch immer heilig: Nur
BRIEF AN MEINEN SOHN
Keine Basecap, kein Kopftuch
Warum Richter nicht immer recht haben E
Fotos: Hannes Leitlein; Kathleen Finlay/Masterfile; Kulturbüro der EKD
amit eins klar ist:
Oft ist es richtig
und wichtig, die katholische Kirche an
ihrem eigenen Anspruch zu messen.
Aber was die Italiener jüngst über die Praxistauglichkeit ihrer Geistlichkeit zu lesen bekamen, geht
nicht nur vielen Italienern zu weit: Eine
Journalistin der Zeitung »Il Nazionale«
hatte sich als reuige Lesbe ausgegeben und
die Beichtgespräche mit mehreren Priestern protokolliert. Dies sei der einzige
Weg gewesen, so die Autorin, »um ohne
Filter zu erfahren, was heute in der Kirche
passiert.« Seitdem fragt sich Italien: Ist der
Beichtstuhl noch ein heiliger Raum, in
den das Licht der Aufklärung nicht
scheint? Blödsinn, verteidigte der Chefredakteur von »Il Nazionale« die Veröffentlichung: Ein Sakrament habe nur »für
den einen Wert, der daran glaubt«. Da
aber immer weniger Menschen beichten
würden, sei die Heiligkeit des Sakraments
nur noch eingebildet.
Ach wirklich? Zugegeben, die Zahl
der Beichtbesucher ist in den letzten
Jahrzehnten derart drastisch gesunken,
dass sie vom Vatikan mittlerweile nicht
mal mehr statistisch erfasst wird. Doch
sind als Besenkammern zweckentfremdete Beichtstühle wirklich der entscheidende Indikator für die gesellschaftliche
Akzeptanz eines Sakraments? Warum
empören sich dann die Italiener über die
Pietätlosigkeit eines Journalismus, dem
scheinbar nichts mehr heilig ist? Und
was ist eigentlich mit den Deutschen?
Die gehen genauso wenig beichten wie
die Italiener, aber dass sich Günter Wallraff mit Knopflochkamera, gesunder
Bräune und sündig-falscher DarkroomVergangenheit eine echte Absolution
ermogelt, ist selbst bei RTL bislang undenkbar. In Deutschland werden sogar
in Kopftuch ist eine Mütze für Mädchen.« So einfach
ist das. Deine Meinung ist klar: Wenn Du in
der Schule keine Basecap tragen darfst, obwohl die total angesagt sind, darf das auch Deine
Lehrerin nicht. Das wäre ungerecht. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht aus religiösen
Gründen tragen dürfen.
Als ihr im Unterricht über die Religionen der Welt
geredet habt, musstet ihr Kopfbedeckungen ausmalen.
Für die Erwachsenen ist das Kopftuch nicht nur eine Mütze
für Mädchen; es ist zu einem Zeichen geworden, über das viel
gestritten wird, weil man daran ablesen kann, ob alle Religionen in Deutschland gleich behandelt werden. Dabei weißt Du
längst, dass man seinen Glauben nicht an Kleidungsstücken
festmachen muss. Du kennst Juden, die keine Kippa tragen,
Muslimas, die keine Kopftücher mögen, und Christen, die sich
keine Fische ans Auto kleben. Weil Erwachsene die Welt zu
kompliziert finden, machen sie sich einfache Bilder. Deshalb
jubeln sie: »Endlich können Muslime in Deutschland zeigen,
dass sie dazugehören.« Schließlich erlaubt das Grundgesetz,
dass alle Menschen ihre Religion frei ausüben dürfen. In vielen
Ländern dieser Welt ist das nicht so.
VON PETRA BAHR
Nicht alle Muslime sind begeistert, wenn die Lehrerinnen ihrer Töchter Kopftuch tragen. Mädchen geraten unter
Druck. Sie sollen sich ein Stück Stoff über den Kopf
ziehen, weil die Jungs auf dem Schulhof oder bewunderte Idole im Internet sie sonst beschimpfen. Und
weil Lehrerinnen wichtige Vorbilder sind, könnten die
Mädchen denken, dass jede Frau, die ihre Religion
ernst nimmt, ein Kopftuch braucht. Was für die Lehrerin mehr Freiheit bedeutet, kann den Kindern Freiheit
nehmen. Dabei sollte doch in der Schule am wichtigsten
sein, ob sich die Kinder frei und gut entwickeln, und nicht, ob
Lehrer sich als hundertprozentige Gläubige zeigen. So hat 2003,
also vor einer Ewigkeit, das gleiche Gericht entschieden. Nur waren es diesmal andere Richter. Hätten sie sich mal besser abgesprochen. Das ist jetzt so, wie wenn ich Dir eine Anweisung gebe,
die Du artig befolgst, um dann später von Deinem Vater ausgeschimpft zu werden. Du wärst zu Recht verwirrt. So geht es den
Direktoren in den Schulen. Sie müssen nämlich nun sehen, wie
sie im Zweifel für die Freiheit der Mädchen einstehen.
Petra Bahr leitet die Abteilung Politik und Beratung der KonradAdenauer-Stiftung. In ihrer neuen Kolumne beantwortet sie Fragen ihres Sohnes über die Welt und Gott.
Der Pazifismus und ich
Vor 40 Jahren verweigerte Andreas Öhler den Wehrdienst. Heute würde seine Gewissensprüfung anders ausgehen.
Und: Vorabdruck aus dem neuen Buch »Entrüstet euch!« von Margot Käßmann und Konstantin Wecker G R O S S A U F N A H M E
SEITEN 3 & 4
wer an sich selbst zweifelt, existiert, nur
wer sich selbst überwindet, beweist heute
innere Stärke. Der Hauptgegner ist dabei
die Scham. Wer einmal von seinem Hausarzt zu hören bekam: »Und jetzt machen
sie sich bitte nicht nur obenrum frei«,
schickt ein Stoßgebet gen Himmel, dass
es Intimzonen gibt, die der Öffentlichkeit
verborgen bleiben.
Allein die Scham, die »erubescentia«,
wie Alkuin im 8. Jahrhundert schrieb,
»gibt Gott einen gerechten Grund«, dem
Beichtenden zu verzeihen. Die Scham ist
die wahre, die einzige Strafe der Beichte.
Wenn Franziskus also predigt, dass die
Beichte »keine Folter« sein solle, sondern
»eine befreiende und menschliche Begegnung«, will er eine Mischung aus Individualismus und Alkuin mit einem Hauch
von Bohlen. So passt er die Beichte dem
freien Willen an und modernisiert sie.
Wie schon im Frühchristentum die Gläubigen nicht büßten, weil sie mussten,
sondern weil sie wollten: Wer Schuld auf
sich geladen hatte, erbat damals vom Bischof das Büßergewand. Anders als heute
geschah dies jedoch nicht im Vieraugengespräch, sondern vor den Augen der Gemeinde. Sie entschied, wann der Büßer
das Büßergewand ausziehen durfte. Die
Scham war öffentlich, die Vergebung
auch.
Wer einmal auf einer Party gehört hat,
wie Mittdreißiger ihre Therapiererfahrungen austauschen, als wären es Kriegsverletzungen, der weiß, wie schwer es
auch heute bisweilen ist, zwischen privater, geteilter und entschwundener Scham
zu unterscheiden. Da erfährt man Dinge
über seine Mitmenschen, die will man
nicht wissen, die haben höchstens intime
Relevanz. Dennoch hört man hin. Dann
das Erschrecken: »Ist Neugier Sünde?« In
dem Moment möchte man sich aufs
nächste Sofa fläzen und sich fragen: »Wer
bin ich?« Doch wer will das bloß hören?
2 GLAUBE
19. M Ä R Z 2015 C H R I S T & W E LT No 1 2
EDITORIAL
Das kann doch jeder
Journalismus sieht aus der Ferne wie ein Hobby aus,
ist aber Arbeit V O N C H R I S T I A N E F L O R I N
W
Die Nachwuchswissenschaftler
as bringt der Doktortitel im
schauten mich verwundert an. »Ich
Journalismus? Vor ein paar
dachte, wenn das nichts wird mit der
Tagen sollte ich darüber an
Wissenschaft, dann versuche ich es
der Uni Bonn mit Doktoranden geismit dem Journalismus«, sagte
teswissenschaftlicher Fächer spreeine. »Mir war nicht klar, dass
chen. Es hätte ein sehr kurzer
man so früh anfangen muss«,
Vortrag werden können. Absagte ein anderer. Ich fühlte
gesehen von den Jahren als
mich wie ein Maler mit
studentische Hilfskraft hatte
Kunsthochschuldiplom, dem
ich immer Vorgesetzte ohne
der Zahnarzt stolz die Aquadie beiden Buchstaben vor
relle im Wartezimmer zeigt
dem Namen. Ein »Nichts« als
sagt: »Hat alle meine
Antwort war dann doch zu
Man kämpft und
Frau gemalt, da staunen Sie,
wenig. Also sprachen wir allgemein über den Weg in die sich durch Kar- wie?« Die gut 20 Doktoranden mögen nicht repräsentaMedien. Ich hörte mich sagen, dass Journalismus immer nevalssitzungen tiv sein. Sie spiegeln dennoch ein Begabungsberuf sei. und träumt von noch, welches Bild unsere
Branche abgibt: Journalismus
Man spüre einen Drang zu
Kardinälen. gilt als Hobbygepinsel, als
schreiben, zu recherchieren,
Das-kann-ich-auch-Job. Den
zu kommentieren, anderen
jungen Geisteswissenschaftlern erzählte
mit den eigenen Beobachtungen auf die
ich von handwerklichen Grundlagen,
Nerven zu gehen. Man probiere sich aus
von der Liebe zur Sprache und von jener
in Schülerzeitungen und LokalredaktioLeidenschaft für den Beruf, die einen die
nen, kämpfe sich für ein paar Cent pro
privatlebenfeindlichen Arbeitszeiten verZeile durch Stadtrats- und Karnevalssitzungen. Wenn ich mich strategisch erin- kraften lässt.
Wer Journalist werden wolle, hatte
nere, habe ich schon mit 20, beim 200.
Herrenwitz in irgendeinem Dorfgemein- ich vor dem Gespräch gefragt. Zwei
schaftshaus, davon geträumt, eines Tages zeigten auf. Am Ende stellte ich dieselbe
Frage noch einmal. Niemand meldete
über Kardinalssitzungen und Konklave
sich. Leidenschaft ist ein Killerargument.
zu schreiben.
Gibt es ein Recht
auf Abtreibung?
Das Europäische Parlament hat den Tarabella-Bericht verabschiedet. Darin wird Schwangerschaftsabbruch
zum Mittel der Gesundheitsvorsorge erklärt. Lebensschützer sind aufgebracht. Zwei junge Christ&WeltAutoren diskutieren über eine ethische Grundsatzfrage V O N H A N N E S L E I T L E I N U N D A L I N A R A F A E L A O E H L E R
FRANZ & FRIENDS
Papst mit Pesto
Kinder, Küche, Kirchentratsch: Die neue Illustrierte
»Mein Papst« weiß, was fromme Frauen wollen
VON MICHAEL MERTEN
IMPRESSUM
Redaktion:
Dr. Christiane Florin (V.i.S.d.P.)
Anschrift Redaktion:
dreipunktdrei mediengesellschaft mbH
Heinrich-Brüning-Straße 9,
53113 Bonn;
Geschäftsführer:
Theo Mönch-Tegeder
Amtsgericht Bonn HRB 18302
Telefon: (0228) 26000-128
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Internet: www.christundwelt.de
dann doch in der Papst-Postille. Und
meist auch schon etwas älter. »Kein Palast – Der Papst wohnt lieber Tür an
Tür mit den Kollegen!«, enthüllt die Illustrierte in der Erstausgabe. Und verrät
auch, warum: »Weil er im Gemeinschaftsdomizil glücklicher ist!« Solche
Texte sind verspätete Zweitverwertungen aus dem italienischen Original »Il
mio Papa«. Die geneigte Leserin erfährt
aber auch zeitlose praktische Tipps (»So
ist Franziskus gekleidet«). Sie bekommt
erbauliche Lektüren (»Begleiten Sie
Papst Franziskus durch die Osterwoche«), und natürlich dürfen auch papale
Poster und ein Rezept für ein
Papst-Pesto auf Bärlauch-Basis
nicht fehlen. Dazu verrät die
amerikanische Sterneköchin
Lidia Bastianich, wie sie
einmal dem unbeholfenen
Benedikt XVI. beim Anschneiden einer Torte zur
Hand ging. Ein einschneidendes Ereignis: »Ich habe mich dabei
sehr wohlgefühlt, als ob er mein Vater
wäre.« Will sie uns das süße Geheimnis
verraten, dass Benedikt immer ihr Herzens-Papst ist?
Panini geht mit einer Startauflage von
250.000 Exemplaren auf den Markt. Interessiert sich wirklich eine Viertelmillion brave Zielgruppen-Frauen für Kinder,
Küche, Kirchentratsch? Und was sagt
uns das über das Wesen der katholischen
»Mamma«, wenn Bärlauch das Schärfste
ist, was sie zu bieten hat? Wie segensreich, dass diese Kolumne hier endet.
Sonst müssten wir schreiben, dass die Panini-Mama eher ein schlichtes Gemüt
hat. Und für diese Beleidigung bekämen
wir wahrscheinlich von unserem Papst
eins mit der Faust. Anschrift Verlag:
Verlag Rheinischer Merkur GmbH i.L.
Speersort 1, 20095 Hamburg
Liquidatorin: Ulrike Teschke;
Amtsgericht Bonn HRB 5299
Druck: Frankfurter Societäts-Druckerei
GmbH, 64546 Mörfelden-Walldorf
Abonnement Deutschland:
Jahresabonnement € 234,00;
für Studenten € 153,40
Abonnementbestellung für die Sonder­
ausgabe der ZEIT mit Christ & Welt:
Leser-Service, 20080 Hamburg
Telefon: (040) 42 23 70 70
Fax: (040) 42 23 70 90
oder E-Mail: [email protected]
H
ochverrat! Der wird
mir vorgeworfen, wenn
ich mich als junge Frau
gegen Abtreibung ausspreche. Wie kann
ich mich nur gegen ein mühsam erkämpftes Recht stellen, das zur Emanzipation
meines Geschlechts maßgeblich beigetragen hat?
Abgetrieben wurde schon immer.
Ganz egal, ob es legal oder illegal war.
Frauen sprangen von Schränken, um
das Kind zu verlieren. Sie griffen zur
Stricknadel, um die Fruchtblase zum
Platzen zu bringen. Natürlich finde ich
diese Schicksale furchtbar! Doch wir
leben in einer anderen Zeit – so hoffe
ich. In einer Zeit, in der ein uneheliches Kind kein geächteter Makel mehr
ist, in der anonyme Geburten möglich
sind, Babyklappen und Beratungsstellen existieren. In einer Zeit, in der sexuelle Aufklärung verbreitet und Verhütung Teil des Biologieunterrichts ist.
Aber ich bin nicht nur gegen Abtreibung, weil ich glaube, dass die
Existenznot einer ungewollt schwangeren Frau nicht mehr ganz so groß ist.
Es gibt immer noch viele Fälle, in denen eine Schwangerschaft für Frauen
eine Zumutung bedeutet, etwa, weil
sie vergewaltigt wurden. Und es gibt in
der EU Länder, in denen die Bedingungen andere sind als in Deutschland. Unter solchen Umständen bringe
ich für die Entscheidung, abzutreiben,
mehr Verständnis auf. Moralisch falsch
ist sie für mich dennoch.
Die eigentliche Streitfrage ist: Wann
ist ein Mensch ein Mensch – wann
kommt ihm Menschenwürde zu? Ich
glaube, dass bereits dem Embryo diese
Würde und damit das Recht zu leben zukommt. Diese Auffassung liegt auch dem
deutschen Rechtssystem zugrunde: Abtreibung ist rechtswidrig, aber bis zur
zwölften Woche straffrei.
Wer sich Bilder aus dieser Schwangerschaftswoche anschaut, sieht auch ohne
contra
Fotos: istockphoto. com (2); EPA/Osservatore Romano/picture alliance; privat (2)
V
ergessen Sie alle Traktate über
das zweijährige Amtsjubiläum
von Franziskus! So was passte zu
Benedikt, dem Pontifex-Professor. Doch
der Papst des spontanen Wortes braucht
die flottere Form. Der Panini Verlag hat
ein Mittel gegen zu viel Intellekt: eine Illustrierte über Kaiser, Pardon, Papst
Franz. »Mein Papst« heißt das Heft.
Panini bringt gemeinhin mit FußballSammelalben Jungenaugen zum Strahlen. Die Bilder von Messi und Co. sind
unter Nachwuchskickern Kult. Von dessen Landsmann Franziskus, dem früheren Hobbybolzer, gibt es keine Klebebildchen. Panini hat es ohnehin
eher auf die Mütter als auf die
Söhne abgesehen. Der Papst
liebt Mamas, und sie lieben
ihn, sagt die Marktforschung. Frauen ab 40 sind
die anvisierte Zielgruppe von
»Mein Papst«!
Streng genommen müsste
der Titel »Unser Papst« heißen,
denn der Leser erfährt von fast allen Seiten: »Franziskus ist einer von uns!« Ein
Mann des Volkes, gar »der Papst der
Herzen«.Eine Illustrierte über den populären Argentinier – auf die Geschäftsidee hätte man schon früher kommen
können, schließlich bietet er ob seiner
spontanen Statements genügend Stoff.
Karnickel, Klapse, Kardinalsschelte: Die
Liste seiner boulevardesken Äußerungen
ist lang. Und in Buenos Aires tauchte
gar eine frühere Sandkastenliebe auf, der
Bergoglio als Teenager einen Liebesbrief
geschrieben hatte. Doch wer jetzt auf
Schlagzeilen wie »Mein letzter Tango
mit Jorge. Die ganze, wilde Wahrheit«
hofft, der wird enttäuscht.
Etwas biederer sind die Schlagzeilen
F
rauen sind Menschen.
Das ist so weit unstrittig.
Die Menschenrechte sind
ihnen sicher, auch wenn sich so mancher
damit schwertut. Das Recht, eine ungewollte Schwangerschaft zu beenden, also
über ihren eigenen Körper zu verfügen,
wird ihnen in Deutschland dennoch verwehrt. Abtreibung ist nach §218 Strafgesetzbuch illegal und steht seit 1871 in einer Linie mit anderen Tötungsdelikten.
Eine Abtreibung ist erst seit 1995 unter
Voraussetzungen straffrei, die an Zeiten
erinnern, in denen Frauen ohne Vormund
nicht aus dem Haus gehen durften. Frauen, die sich entscheiden, ihre Schwangerschaft zu beenden, widerfährt Gnade,
nicht Recht. Das muss sich ändern!
Der sogenannte Tarabella-Bericht des
Europäischen Parlaments empfiehlt der
Bundesregierung nun erneut, diese Regelung zu überarbeiten. Die Forderungen
sind nicht neu. Der Bericht holt lediglich
auf die Agenda, was die Frauenbewegung
seit über 20 Jahren erfolglos fordert. Einmal mehr hinkt die deutsche Rechtsprechung hinter internationalen Einsichten
her.
Mit ihrer Zustimmung zu diesem Bericht hätten die Parlamentarier die Tötung noch nicht geborener Kinder zum
Menschenrecht erklärt, kritisieren katholische wie evangelikale Lebensschützer.
Dabei ist von Abtreibung in diesem Bericht nur unter zwei von über 50 Punkten
die Rede. Hauptsächlich geht es um eine
bessere Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt, eine Verminderung des geschlechtsspezifischen Gefälles bei Lohn
und Renten, einen europaweit koordinierten Kampf gegen Gewalt gegen Frauen sowie gegen Geschlechter-Stereotype.
In Punkt 45 des Berichts heißt es:
»Frauen müssen nicht zuletzt durch den
einfachen Zugang zu Empfängnisverhütung und Abtreibung die Kontrolle über
ihre sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte
pro
haben.« Es gibt also offenbar ein Menschenrecht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit, aus dem sich das Recht
auf Abtreibung ableiten lässt. Dass Embryonen bereits Menschen sind, ist
nicht so eindeutig, wie Lebensschützer
behaupten. In der Charta der Menschenrechte heißt es in Artikel 1: »Alle
Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«
Auch biblisch wird der Mensch
nicht mit der Befruchtung zum Menschen, sondern durch den Lebensatem
der Ruach, der Geistkraft Gottes. Ein
Embryo wird dementsprechend mit der
Ausbildung der Lunge unabhängig lebensfähig und damit zum Menschen.
Das geschieht nicht vor der 28. Schwangerschaftswoche. So ist es die Überzeugung im Judentum, und so war es lange
auch in der Kirche. Die katholische
Kirche hat ihre Auffassung erst im Ersten Vatikanischen Konzil im Jahr 1869
geändert und vertritt seither die sogenannte Simultanbeseelung. Diese Lehre
ist den Überlegungen zur unbefleckten
Empfängnis geschuldet. Man könne
schließlich keine vernunftlose Materie
anbeten. Diese Regelung prägt die Abtreibungsdebatte maßgeblich.
Biblisch ist ein Schwangerschaftsabbruch nur insoweit nicht, als dass in der
Bibel keiner überliefert ist. Gegeben hat
es Abtreibungen sicher trotzdem. Sind
die Frauen nicht daran gestorben, mussten sie danach nicht unbedingt um ihr
eigenes Leben fürchten. Es ging damals
noch nicht um das Lebensrecht des Ungeborenen, sondern um die Verfügungsgewalt des Patriarchen über das Leben
der Frau und damit auch über ihre Fortpflanzungsfähigkeit. Waren Frauen damals von ihrem Herrn abhängig, sind
sie es heute vom Gesetzgeber.
Die einzige verhinderte Schwangerschaft der biblischen Überlieferung
wird einem Mann zugeschrieben. Ihm
verdankt die männliche Selbstbefriedi-
gung ihren Namen. Onan hat der Erzählung nach allerdings nicht onaniert. Stattdessen verweigerte er Tamar, der Frau seines verstorbenen älteren Bruders, die
Nachkommenschaft, die er ihm schuldig
gewesen wäre. Onan vollzieht sozusagen
den ersten Coitus interruptus der Geschichte. Das kostet ihn das Leben. Gott
verhilft Tamar zu ihrem Recht und befähigt
sie, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, um sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihren Unterdrückern zu emanzipieren. Der Feminismus war geboren.
Man kann Sexualität nicht reglementieren wie den Straßenverkehr. Es mag
vereinzelte Beispiele von Frauen geben,
die eine Abtreibung sorglos in Kauf nehmen. Die allermeisten Betroffenen aber
treiben nicht leichtsinnig ab. Sie sind
unbeabsichtigt schwanger. Wenn es
nicht ihr Wunsch ist, ein Kind zu bekommen, können und dürfen sie nicht
daran gehindert werden, ihre Schwangerschaft zu beenden.
Der Tarabella-Bericht stellt fest: Die
Abtreibungsraten sind unabhängig davon,
ob Abtreibung legal oder illegal ist. Statistiken zeigen aber, dass die Müttersterblichkeit sehr wohl davon abhängig ist. Die
Frage ist deshalb: Welche Umstände müssen gewährleistet sein, damit es Schwangeren möglich ist, selbstbestimmt über die
Fortsetzung ihrer Schwangerschaft zu entscheiden?
viel Fantasie einen kleinen Menschen.
Das Herz schlägt. Dieses Leben, das leben will, gezielt zu beenden ist für mich
Tötung. Mein katholischer Glaube
spielt hier eine Rolle. In der Bibel lese
ich: »Noch ehe ich dich im Mutterleib
formte, habe ich dich ausersehen, noch
ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt« (Jer 1,5).
Ich glaube, dass der kleine Mensch beseelt ist, vom Moment der Empfängnis
an. Jetzt soll laut dem Tarabella-Bericht
des EU-Parlaments das Recht auf Abtreibung, das Recht zu töten, ein Menschenrecht sein? Die Selbstbestimmung
der Frau soll mehr ins Gewicht fallen als
das Recht auf Leben eines schutzlosen
Embryos? Wie das begründet werden
soll, erschließt sich mir nicht. Das
grundlegendste aller Menschenrechte
ist das auf Unversehrtheit und Leben.
Wie kann man diese Rechte ernst nehmen, wenn jetzt das Töten eines Ungeborenen zu ihnen gehören soll? Eigentlich will die EU die Menschenrechte
stärken – mit dem Tarabella-Bericht
erreicht sie das Gegenteil.
In dem Bericht findet sich der Hinweis darauf, dass die EU bereits 2012
ein Übereinkommen der Vereinten Nationen ratifiziert hat, das für Behinderte
sämtliche Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert. In Deutschland
kann man behinderte Kinder in bestimmten Fällen bis zur Geburt straffrei
abtreiben. Beginnen deren Rechte also
erst, wenn sie gewollt werden?
Vielleicht sollte man diejenigen zu
Rate ziehen, die mit den Folgen zu leben haben. Vor einiger Zeit habe ich im
ZEIT-Magazin ein Porträt der Frauenärztin Eva Beck gelesen. Sie führt
Schwangerschaftsabbrüche wie am
Fließband durch. In einer Passage
spricht sie über Spätabtreibungen – zwischen der 22. und 24. Woche. Es sind
zum Beispiel Kinder mit Downsyndrom. Die Ärztin leitet künstlich We-
hen ein – das Kind ist oft noch nicht reif
für eine Geburt und stirbt. Manchmal
überlebt es die Prozedur zunächst. Die Ärztin erzählt, wie sie das Baby in ein Weidenkörbchen legt und Kollegen um Morphium für das Kind bittet. Dann wartet sie,
bis es tot ist. Da stockte mir bei der Lektüre
der Atem. Das sind keine kitschig-suggestiven Geschichten des konservativen katholischen Lagers – das ist die Realität, die zu
selten erzählt wird.
Immer öfter höre ich von Altersgenossinnen, die mit einer Gleichgültigkeit abtreiben lassen, dass es mich schaudert. Eine
junge Frau erzählte dem »Spiegel«, wie froh
sie sei, abgetrieben zu haben – all die schönen Urlaube wären sonst anders verlaufen.
Jetzt habe sie einen lieben Partner und
wünsche sich bald ein Kind. Dieses Baby
darf leben, das andere durfte es nicht.
Ich will nicht behaupten, dass die meisten Frauen leichtfertig entscheiden. Ich will
nicht bestreiten, dass eine Schwangerschaft
Frauen in Not bringen kann. An diese
Frauen haben die EU-Parlamentarier hoffentlich vor allem gedacht. Mit Menschenrechten hat diese Tötungspraxis, der in
Deutschland immerhin jährlich fast
100 000 ungeborene Kinder zum Opfer
fallen, aber nichts zu tun.
Ein Menschenrecht ist auch ein Gütesiegel. Wenn damit ein Anspruch auf das
Töten von unerwünschten Kindern für gut
befunden wird, haben es unschlüssige
Frauen noch schwerer, sich für das zu entscheiden, was schon ein Teil von ihnen ist:
das Kind, das leben will.
Hannes Leitlein,
Jahrgang 1986, ist
Redaktionsvolontär bei Christ &
Welt. Er studiert
evangelische
Theologie in
Wuppertal.
Alina Rafaela
Oehler, Jahrgang
1991, ist freie
Journalistin. Sie
studiert in Tübingen katholische
Theologie, Politikwissenschaft
und Philosophie.
GROSSAUFNAHME 3
19. M Ä R Z 2 0 1 5 C H R I S T & W E LT No 1 2
Was hätten Sie gesagt?
Fünf historische
Fragen für
Kriegsdienstverweigerer
»Würden Sie einem
Zonenflüchtling,
der von
Volkspolizisten
beschossen wird,
Feuerschutz
gewähren?«
Wie mir der Pazifismus
abhandenkam
»Was würden Sie
tun, wenn Sie
Holländer wären,
von den KZs
wüssten, und die
deutschen Panzer
rollen auf Holland
zu?«
Im Frühjahr 1975 musste sich unser Autor als Wehrdienstverweigerer einer Gewissensprüfung
im Kreiswehrersatzamt Mannheim unterziehen. 40 Jahre später geht er nun mit sich selbst ins Gericht.
Welche seiner Haltungen sind für ihn heute noch haltbar?
D
er Kasernengeruch
des Linoleumfußbodens blieb mir
haften: eine Note
zwischen
nasser
Schurwolle
mit
Vanille. Ich war der
einzige Wehrdienstverweigerer an diesem Nachmittag, der im Mannheimer
Kreiswehrersatzamt verhandelt wurde.
Ist man der Einzige, wird besonders intensiv geprüft, die Gewissensprüfung
zieht sich. Nur dann zahlt sie sich in Sitzungsgeld aus.
In meinen abgewetzten fahlgrünen
Cordbeutel hatte ich Abbildungen von
verstümmelten Soldaten aus dem Ersten
Weltkrieg gepackt, dazu ein, zwei Antikriegslieder. Die Gitarre hatte ich zu
Hause gelassen. Meine Freunde hatten
mir noch spöttisch geraten: »Mach es
wie Troubadix! Sobald sie dich singen
und spielen hören, lassen sie dich sofort
springen oder laufen selbst davon.« Mir
war aber nicht nach Scherzen zumute.
Ich hatte Angst vor dieser vierköpfigen
Kommission. Ich wusste, es würde
schwer werden, denn ich verweigerte aus
politischen Motiven, wollte mit der
deutschen Geschichte argumentieren
und mich nicht auf Jesus berufen. Ich
hatte das ganz große Fass aufgemacht.
Das ist nun 40 Jahre her. Wäre ich
heute jung und gäbe es die Gewissensprüfung noch, wie würde ich mich entscheiden? Anders, glaube ich. Denn das
Land hat sich verändert, die Welt hat
sich verändert, ich habe mich verändert.
Das ganz große Fass ist noch größer geworden, ich kann kaum bis zum Boden
schauen.
Ich hatte damals Angst und strotzte
gleichzeitig vor Selbstgewissheit, den
Weg zum Frieden zu kennen. Diese
Selbstgewissheit fehlt mir heute. Die
Kommission bestand nicht aus Angehörigen der Bundeswehr, sondern war wie
in einem Schöffengericht aus Bürgern
zusammengesetzt. In meinem Fall ohne
Frauen. Ich konnte also nicht auf eine
Mutter hoffen, die mir mit einem
»Nein, meine Söhne geb ich nicht«Blick beistand. Ein männliches gesundes Volksempfinden würde über mich
befinden. Leute mit Kriegserfahrung.
In Baden-Württemberg galt ein Wehrdienstverweigerer in den 1970er-Jahren
noch als Drückeberger und Wehrkraftzersetzer.
Nach einem blechern klingenden
»Herein!« betrat ich die Amtsstube. An
einem schlichten Holztisch saßen vier
Herren. Ganz links der Protokollant,
ein älterer Seniorchef eines Handwerksbetriebes, der Vorsitzende war wohl ein
Lehrer Ende 30, vielleicht war er auch
Anwalt im Hauptberuf. Vom Typ her
jedenfalls der drahtige Sportsfreund,
durchtrainiert bis in die Gehirnmus-
keln. Daneben ein Rentner mit hochrotem Kopf, ihm fehlte der linke Arm.
Leute wie ich wirkten auf ihn wohl
nicht gerade blutdrucksenkend. Älter
war auch der grauhaarige blasse Beamte
mit Sahnebonbon-Großvater-Anmutung. Er wirkte schläfrig und abgekämpft, bevor der Kampf mit mir, dem
Friedensfreund, überhaupt begonnen
hatte.
Da herrschte mich der Invalide an:
»Das Fenster bleibt zu!« Ich antwortete
mit zaghafter Stimme: »Ich will doch
gar nicht, dass das Fenster geöffnet
wird.« Er brüllte zurück: »Ihnen wird
hier schon noch heiß werden.« Dem
Sportlehrertyp, der an mir keinen Gefallen finden konnte, weil man mir auf
den ersten Blick ansah, dass ich in diesem Fach eine Niete war, gefiel dieser
Freisler-Ton des Nazi-Volksgerichtshofes offensichtlich nicht. Er hob besänftigend die Hand und sagte mit leiser,
lauernder Stimme: »Wir verstehen, dass
Sie nicht in den Krieg ziehen wollen,
um andere Völker zu unterwerfen, wie
es bedauerlicherweise in unserer nicht
allzu fernen Geschichte ja leider geschehen ist. Aber die Bundeswehr ist doch
nun mal eine Verteidigungsarmee und
keine Angriffsarmee.« Mit zitternden
Händen zog ich die Fotografien der
Soldaten mit ihren weggeschossenen
Kiefern und den verstümmelten Gliedmaßen aus meiner Tasche und legte sie
den Herren auf den Schreibtisch, bevor
ich wieder auf dem mir zugewiesenen,
ausgesucht harten Holzstuhl Platz
nahm. Die Herren saßen gepolstert.
Fast tonlos fragte ich: »Können Sie
denn an den Verwundungen erkennen,
ob diese Soldaten in einem Angriffsoder einem Verteidigungskrieg verwundet wurden?«
Der Einarmige brauste auf: »Ihre
politischen Spitzen, die Sie hier verbreiten, haben Sie bestimmt aus der von
der DDR finanzierten Hetzschrift
›Handbuch für Kriegsdienstverweigerer‹ abgeschrieben! Sparen Sie sich die
hier. Argumentieren Sie doch endlich
persönlich, oder haben Sie nur ein politisches Gewissen?« – »Na ja«, antwortete ich, »ich fühle mich weder physisch
noch psychisch in der Lage, eine Waffe
anzufassen. Mein Großvater väterlicherseits kehrte querschnittsgelähmt
aus Verdun zurück und konnte seinen
Steinmetzberuf nicht mehr ausüben.
Bis zu seinem Tod quälte sich der radikale Kriegsgegner mit seiner Schädelverletzung. Meinem Vater erfroren im
Zweiten Weltkrieg Zehen und Fingerkuppen im Eismeer.«
Da sah der Trainer seine große Stunde gekommen: »Was glauben Sie, wie
lange Ihre Ausbilder bei der Bundeswehr
brauchen, um aus einem so dürrem
Knochengerüst wie Ihnen einen Muskel-
mann zu machen?« Ich konterte, ohne
zu überlegen: »Armeen haben sich bisher
doch eher damit hervorgetan, aus Muskelmännern Skelette zu machen.«
Der Blutdruck des einarmigen alten
Herrn stieg in einen medizinischen Risikobereich. Er keuchte: »Pause, Pause!«
Ich wurde hinausgeschickt, nach 15 Minuten wieder hereingerufen. Der Vorsitzende blätterte nun gelangweilt in meinen biografischen Unterlagen. »So, so,
Sie sind also ein Polizistensöhnchen! Sagen Sie mal, Sie werden von jemandem
durchgefüttert, der jeden Tag mit der
Pistole herumläuft und im Verteidigungsfall von der Waffe Gebrauch
macht. Wie werden Sie denn bitte schön
damit fertig?« Ich, arglos: »Dagegen habe
ich nichts.« Jetzt hätten sie mich am Haken, dachten sie: »Schreiben Sie in das
Protokoll, dass der Befragte jederzeit zur
Polizei gehen würde, aber nicht zur Bundeswehr.« Nun war Geistesgegenwart gefragt. Da kam die Rettung: Der müde
wirkende Beisitzer war doch tatsächlich
eingedöst. Ich rief: »Der Herr da rechts
außen ist mein Zeuge, dass ich so etwas
nicht gesagt habe.« Der Rentner stieß
mit seinem noch verbliebenen Arm den
Nebensitzer an, der schreckte auf und
rief: »Ja, ja, sehr richtig! Ich bezeuge.«
Mein Krieg war noch nicht gewonnen,
eine Schlacht aber schon. Es kamen
dann die üblichen Fragen, über die der
Liedermacher Franz-Josef Degenhardt
die wunderbare »Befragung eines Kriegsdienstverweigerers« geschrieben hat, in
der nichts hinzugefügt worden war, was
ich nicht auch erlebte. Etwa das klassische Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie
sind Zivildienstleistender in einem Kindergarten, der plötzlich von einer Horde
Russen überfallen wird. Sie haben zufällig ein Gewehr dabei. Wie handeln Sie?
Was am Ende den Ausschlag gab,
dass sie mich nicht durchfallen ließen?
Ich weiß ich es bis heute nicht. Vielleicht war es meine Dreistigkeit, damit
zu drohen, ich würde meine Antikriegslieder auch in der Kaserne verbreiten,
dort sei ja mein eigentliches Zielpublikum. Vielleicht rechneten sie mir aber
auch an, dass ich in den drei letzten
Sommerferien freiwillig als Betreuer in
einem Erholungsheim für geistig und
körperlich Schwerstbehinderte gearbeitet hatte. Jedenfalls war ich nach geschlagenen vier Stunden anerkannt. Bevor ich gehen durfte, flötete der Sportsfreund: »An Ihnen ist ein guter Presseoffizier verloren gegangen. Schade, solche Leute wie Sie bräuchten wir.« Das
gab mir den Rest.
Auch mit dem Abstand von 40 Jahren
halte ich diese Szenen des Jahres 1975 für
einen völlig inakzeptablen Zugriff des Staates auf seine Bürger. Warum wurde jemand
vor ein Tribunal gezerrt, nur weil er von
seinem Grundrecht Gebrauch machte?
Später genügte schon eine Postkarte, um
sich dem Militärdienst zu entziehen. Wahrscheinlich geschah dieses Umdenken nicht
aus Menschenliebe, vielmehr wurde der
Zivildienst zu einer unverzichtbaren Stütze
der öffentlichen Sozialeinrichtungen.
Bei aller Kritik am Verfahren habe ich
jedoch auch Kritik an mir. Ich war idealistisch, ich war unreif. Ich habe lernen müssen, dass man militärische Einsätze aus sicherer Entfernung leicht verurteilen kann.
Kennt man aber persönlich Menschen, die
in solche Konflikte hineingeraten, ist die
pazifistische Selbstgewissheit dahin. Zur
Zeit des ersten Irakkrieges zwischen dem
Irak und dem Iran, Anfang 1991 muss das
gewesen sein, richtete Saddam Hussein
seine Raketen auch auf Tel Aviv und Haifa.
Eine israelische Kommilitonin weilte in
dieser Zeit gerade bei ihren Eltern, deren
Haus in der Angriffszone lag. Besorgt rief
ich sie an. Luftalarm: Sie war gerade auf
dem Weg in den Schutzbunker in ihrem
Keller. »Ich will Großmutter die Gasmaske
überziehen, sie wehrt sich mit Händen und
Füßen, sie ist doch Asthmatikerin.«
Wie ein geprügelter Hund schlich ich
daraufhin an die Uni. Vor dem Gebäude
hatten linke Friedensgruppen eine »Kein
Blut für Öl«-Kundgebung organisiert. Der
Hauptredner rief in die Menge von etwa
300 Studenten: »Es kann durchaus nötig
werden, dass Israel dem Weltfrieden geopfert wird.« Tosender Beifall.
Das war der erste Bruch. Ein Pazifist,
der aus lauter Liebe zur Welt den einzelnen
Menschen aus dem Blick verliert, der schafft
vielleicht Frieden, aber einen, der einem
Friedhofsfrieden gleicht.
Der zweite Bruch kam mit dem Bosienkrieg. Als in Deutschland die Frage debattiert wurde, ob ein Bombardement Serbiens
den Völkermord an den Muslimen in Srebenica stoppen könne, führte Außenminister Joschka Fischer unsere Verantwortung
für Auschwitz ins Feld, die uns gar keine
andere Wahl lasse, als den Waffengang der
Amerikaner zu unterstützen. Im Prinzip
teilte ich Fischers Argument. Passivismus
schützt nicht vor Genozid.
In Gewissenskonflikt geriet ich jüngst
erst wieder in der Frage, ob es nicht besser
wäre, die militärische Aufrüstung der
Ukraine massiver zu betreiben und das
Nato-Drohpotenzial gegenüber dem
Despoten Putin zu erhöhen. Aber dieser
brüchige Waffenstillstand, den das Tandem Merkel/Hollande ausgehandelt hat,
war mir dann doch lieber. Die Friedensbewegung mit ihren Ostermärschen hat
für mich ihre Glaubwürdigkeit verspielt,
weil sie nur demonstrierte, wenn die USA
am Krieg beteiligt waren. Mich störte,
dass der russische Einmarsch in Afghanistan keinen Protestmarsch, keine Menschenkette und kein Lichtermeer hervorrief. Wer aber den Krieg nur als Abstraktum bekämpft und sich nicht die Mühe
macht, die besonderen Konstellationen
zu durchdenken, spielt kaltblütig mit dem
Leben anderer. Ich teile inzwischen den
Satz des israelischen Weltautors Amos Oz,
den man als Gründer der »Peace now«Bewegung sicher nicht zu den Hardlinern
zählen kann: »Wäre die Welt voller Pazifisten, Hitler wäre der Meister des Universums gewesen.«
Oder sind auch das nur Rhetorismen,
mit denen ich mich herausreden kann?
Mittlerweile bin ich zwar zu alt, um irgendeiner Armee meine Dienste anzubieten. Ich würde auch viel lieber als Rettungssanitäter beim Roten Kreuz Zivildienst leisten, der zu meiner Zeit noch
Ersatzdienst hieß, als eine Waffe zu laden.
Heute gehe ich mit mir selbst härter ins
Gericht: Finde ich es gut, dass der IS mit
Waffengewalt gestoppt und eines Tages
vernichtet wird? Ja. Wäre ich für internationale Bodentruppen gegen Boko Haram?
Auch das. Würde ich die Krim mit Waffengewalt zurückholen in die Ukraine?
Nein. Helgoland, wenn es von einer feindlichen Macht annektiert würde? Nein.
Würde ich als Israeli kämpfen, wenn mein
Land angegriffen wird? Unbedingt. Würde
ich die militanten Siedler in den besetzten
Gebieten militärisch verteidigen? Eher
nicht. Ist Krieg manchmal die Ultima
Ratio? Deutschland wurde von Militärs
befreit 1945, nicht von Pazifisten.
1975 war die Welt noch in Blöcke
aufgeteilt, Gut und Böse hatten feste
Plätze. In der »Frankfurter Allgemeinen
Zeitung«, in der die Traueranzeigen von
ehemaligen Ritterkreuzträgern in vollem Wichs erschienen, war die bejahte
Frage: »Haben Sie gedient?« ein wesentliches Einstellungskriterium. Heute liegen die Dinge komplizierter. Bin ich,
wie mir inzwischen mancher meiner alten Freunde vorwirft, zu einem Vasallen
der Amerikaner geworden, bloß weil
ich das »›Blowin' in the Wind‹-Amerika« eines Bob Dylan nicht gegenrechnen will mit dem Waterboarding-Amerika in Abu Ghraib oder Guantánomo?
Nein. Aber mein Gewissen lässt sich
nicht durch eine moralische Mobilmachung einberufen. Ich kann nur die
Dinge verteidigen, die ich auch wertzuschätzen gelernt habe. Je mehr ich das
Wertschätzen lernte, desto kleiner wurde der Pazifist in mir.
Andreas Öhler
ist Redakteur
von Christ&Welt.
Fotos: Jens Wolf/dpa/picture alliance; Grabowsky/ullstein bild
VON ANDREAS ÖHLER
»Sind Sie
Autofahrer?« –
»Ja.« – »Sie wissen
doch, dass jährlich
auf den Straßen der
Bundesrepublik
17 000 Menschen
sterben. Da dürften
Sie als Pazifist
eigentlich kein Auto
fahren.«
»Was machen Sie,
wenn Sie mit der
Freundin durch den
Wald gehen und
Ihre Freundin
plötzlich von einer
Horde Russen
angegriffen wird –
greifen Sie zur
Waffe?«
»Was täten Sie,
wenn Sie dabei
wären, wenn ein
Mann mit einem
Flammenwerfer in
einen Kindergarten
eindringt und Sie
zufällig eine Waffe
dabeihätten?«
4 GROSSAUFNAHME
19. M Ä R Z 2015 C H R I S T & W E LT No 1 2
Der Frieden braucht eine Revolution
Der Liedermacher Konstantin Wecker traut Politikern und Medien nicht, die von »Verantwortung in der Welt« reden. Hier schreibt er, warum er
jetzt erst recht Pazifist ist. Ein Vorabdruck aus seinem neuen Buch, das er gemeinsam mit Margot Käßmann veröffentlicht
Fotos: AGE Fotostock/F1online; Grabowsky/ullstein bild
I
ch dachte immer, jeder Mensch
sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die
dafür sind, besonders die, die
nicht hineingehen müssen«, sagte Erich Maria Remarque, Autor
des Antikriegsromans »Im Westen nichts Neues«. Das trifft den Punkt.
Wer von denen, die heute dafür plädieren,
Deutsche müssten ihre Verantwortung in
der Welt vor allem tötend und sterbend
stärker wahrnehmen, zieht denn schon
persönlich in den Krieg? Wie zu allen
Zeiten schickt man »unsere Jungs« in die
Schlacht. Über die »Notwendigkeit von
Kriegen« schwadronieren gesetzte Damen
und Herren aus sicherem Abstand, das
blutige Geschäft müssen dann andere verrichten.
Und wie zu allen Zeiten ist das erste
Opfer im Krieg die Wahrheit. Laut
»Spiegel Online« teilte im April 2014
Jay Carney, Sprecher des Weißen Hauses,
mit, es gäbe »erdrückende Beweise« dafür,
dass Russland in der Ostukraine Unruhe
stifte. Erinnert die Wortwahl nicht fatal
an jene »erdrückenden Beweise«, die
George W. Bush den Vorwand zum
Einmarsch in den Irak lieferten? Das ist
über zehn Jahre her, und es ist erschreckend, wie lückenhaft das Gedächtnis
der Menschheit ist, wenn es um Kriegslügen geht. Der Angriff auf den Irak seit
dem 20. März 2003 und die Besetzung
durch die USA haben eine halbe Million
Iraker das Leben gekostet, sagt eine USStudie. 500 000 Irakerinnen und Iraker
sind ermordet worden – aus humanitären
Gründen, wie es hieß. Sie sollten ja von
einer Diktatur befreit werden. Befreite
Tote?
Wer es, wie ich, damals gewagt hatte,
den Krieg und das Vorgehen der USA zu
kritisieren, wurde als antiamerikanischer
Verschwörungstheoretiker und als Saddam-Hussein-Versteher
verunglimpft.
Heute weiß man, dass George W. Bush
mehrere hundert PR-Agenturen beauftragt
hatte, um pazifistischen »Weicheiern« und
anderen antimilitaristischen Zweiflern den
Krieg schmackhaft zu machen. Heute wird
das gleiche »Spiel« wieder gespielt. Und
statt der Hussein- sind nun Putin-Versteher
ins Visier der Bellizisten geraten. Als gäbe
es nichts Schlimmeres als den Versuch, die
andere Seite zu verstehen (was ja nicht mit
Zustimmung zu all ihren Taten gleichzusetzen ist). Ich bin genauso wenig ein Putin-Freund, wie ich im Irakkrieg den Diktator Hussein unterstützt habe. Ich bin ein
Freund des Friedens und Verfechter der
Gewaltlosigkeit.
Glaubt denn wirklich noch irgendein
aufgeklärter Mensch, dass wir um der
Demokratie willen streiten und bomben?
Hans-Peter Dürr, der leider unlängst ver-
Das Buch »Entrüstet euch! Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt«
von Margot Käßmann und Konstantin Wecker erscheint nächste Woche
im Gütersloher Verlagshaus. 208 Seiten, 14,99 Euro (E-Book 11,99 Euro).
storbene große Physiker, Umwelt- und
Friedensaktivist, schrieb: »Man braucht
kein Pazifist zu sein, um zu erkennen,
dass Krieg in seiner heute üblichen hoch
mechanisierten Overkill-Form nicht
mehr rational als Problemlöser fungieren
kann, da durch ihn, in der Regel, vor allem Unschuldige, jetzt und auch künftig
Lebende, getroffen werden und nicht die
vermeintlichen oder gar eigentlichen
Schurken. Mit Superkeulen, die großzügig und indifferent Lateralschäden in
Kauf nehmen, lassen sich, ganz nüchtern
betrachtet, Menschenrechte schlicht
nicht erzwingen.«
Karl Kraus, der die Manipulation der
Massen in den Zeiten des Ersten Weltkriegs durchschaute und wie kein anderer
messerscharf analysierte, sagte: »Wie wird
die Welt regiert und in den Krieg geführt?
Diplomaten belügen Journalisten und
glauben es, wenn sie’s lesen.« Wir täten
heute gut daran, uns auf Karl Kraus zu
besinnen. »Als einer der Pioniere der Medienkritik hatte er erkannt, dass die Medien die Wirklichkeit nicht abbilden,
sondern erzeugen, dass Meinungen und
Stimmungen nicht einfach entstehen,
sondern gemacht werden«, schreiben Mathias Bröckers und Paul Schreyer in ihrem
lesenswerten Buch «Wir sind die Guten«.
Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich
bewusst mit Nachrichten und Zeitungen:
Niemals habe ich annähernd eine derartige
Propagandaschlacht erlebt wie heute. Es ist
erschreckend zu sehen, wie sich manche
Leitmedien, obwohl sie mit zum Teil sehr
klugen Kommentaren überhäuft werden,
penetrant weigern, ihre Leser ernst zu nehmen. Noch ist allenthalben viel gesunder
Menschenverstand, sind Mitgefühl und
kluge Zurückhaltung in der Bevölkerung
verbreitet. Aber durch den Dauerbeschuss
mit Un- und Halbwahrheiten kann man
den Menschen diese Eigenschaften auch
nach und nach aberziehen. Wie macht
man ein friedliebendes Volk kriegslüstern?
Man hat dies unter anderem zu Beginn des
Ersten Weltkriegs gesehen: durch Propaganda, durch Erfindungen und Lügen,
durch die Erschaffung eines Feindes. War
es nicht immer schon so? Die Menschen
wollen keinen Krieg, bis man dieses Wollen
durch gezielte PR in die richtigen Bahnen
lenkt.
Maßlos enttäuschend verhält sich in
diesem Zusammenhang vor allem Bundespräsident Joachim Gauck, der den
kriegsunwilligen Deutschen im Juni 2012
gar unterstellte, »glückssüchtig« zu sein.
War es diese unverhohlene Kriegsbereitschaft, die man an der bundespräsidialen
Spitze unseres Staates mit seinem für
manche Kreise so hinderlichen Grundgesetz haben wollte? Vielleicht waren es
Sätze wie diese, die Gauck scheinbar
plötzlich zum Konsenskandidaten aller
neoliberal gesinnten Parteien machten:
»Und in diesem Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen ist es manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen.« Der
Pastor, der Christ Gauck wollte als »Widerstandskämpfer« seinerzeit sicher auch
alle Schwerter zu Pflugscharen machen.
Aber anscheinend nur kommunistische.
Mit kapitalistischen Schwertern lässt es
sich trefflich kämpfen.
Nie im Leben hätte ich gedacht, dass
ich einmal einem evangelischen Pfarrer
einen Satz eines Papstes zur Besinnung
vor Augen halten würde. »Der Krieg ist
Wahnsinn!«, rief Papst Franziskus während einer Messe an der italienischen
Gedenkstätte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in Fogliano Redipuglia
vor 100 000 Menschen aus. Mit einer
vehementen Anklage gegen Waffenhändler und Kriegshetzer gedachte der Pontifex der Toten aller Kriege. Und er zog
Parallelen zu jener Epoche, deren (trauriges) Jubiläum wir 2014 feierten. Wie
1914 entstünden auch heute Kriege
durch geopolitische Pläne, Geldgier,
Machthunger und die Interessen der
Waffenindustrie. »Die Geschäftemacher
des Krieges verdienen damit viel Geld
und haben durch ein verdorbenes Herz
das Weinen darüber verloren«, sagte
Franziskus, der mir immer mehr aus dem
Herzen spricht.
Während das Volk mit Brot und Spielen gefüttert wird – wobei es mit dem
Brot speziell für die wachsende Schicht
der Armen im Land hapert –, dealt die
Große Koalition fleißig weiter mit Waffen: für »lupenreine Demokratien« wie
Saudi-Arabien, Algerien und Singapur.
Mit diesen Waffen wird gemordet, das
kann man sich schönreden, wie man will.
Sie werden in der jeweiligen Region weiterverkauft, ohne dass Deutschland auch
nur irgendeine Form der Kontrolle darüber hätte. Vermutlich will man das aber
auch gar nicht. Zu große Zurückhaltung
beim Töten könnte Arbeitsplätze in der
heimischen Rüstungsindustrie gefährden.
Eine neue »Kultur des Krieges« entsteht gerade, wie es Jakob Augstein in einem seiner hervorragenden Kommentare
benannte. Eine Kultur des Krieges, in die
sich auch die Grünen – einst die Partei
Petra Kellys –, einreihen, etwa mit Cem
Özdemirs infamer Bemerkung, Kriege
könnten »nicht mit Yogamatten« gewonnen werden. In einer Zeit, in der es mehr
bewaffnete Konflikte gibt als je zuvor,
wird nun aus allen Ecken wieder auf den
Pazifismus eingeprügelt. Anstatt sich
ernsthaft Gedanken zu machen,
wie der Friede vorbereitet werden kann, denkt man in best-
dotierten Thinktanks darüber nach, wie
man neue Märkte erschließen kann: mit
Waffen, mit Gewalt und der immer gleichen Anmaßung, sich auf der Seite des
Guten zu wähnen. Und ein armer, missbrauchter Gott wird wohl bis in alle
Ewigkeit die Waffen segnen müssen –
vorzugsweise für beide Varianten des
»Guten«. Wo bleibt da der Gott der Liebe, des Verzeihens und Erbarmens, wie er
etwa von Jesus gelehrt wurde, der sich
eher verletzen und töten ließ, als auch
nur eine einzige Verletzung eines seiner
Feinde zuzulassen? Vergessen, verjagt,
ausgeklammert aus Gehirnen, die sich
von der Logik des Krieges haben kolonialisieren lassen.
Uns wird weisgemacht, dass Frieden
noch immer das Endziel westlicher Politik
sei – selbstverständlich erst, nachdem mit
Waffengewalt eine gerechte Ordnung in
den Konfliktregionen geschaffen wurde.
Was wäre aber, wenn eine andauernde Instabilität im Nahen Osten geradezu erwünscht wäre, um militärische Dauerpräsenz damit zu rechtfertigen? Was wäre,
wenn es ohne die westliche Politik das
augenblickliche Hauptproblem der stets
gedemütigten Kurden, den Islamischen
Staat (IS), gar nicht gäbe? »Jahrelang haben die USA die Waffenlieferungen Saudi-Arabiens und anderer Golfstaaten an
syrische Terroristen wohlwollend durchgewinkt«, schreibt Jürgen Todenhöfer,
ehemaliger Bundestagsabgeordneter der
CDU. »Saudi-Arabien – Deutschlands
angeblicher ›Stabilitätsanker‹ – besitzt ja
Waffen im Überfluss. Vor allem westlicher, auch deutscher Produktion. Aus einigen dieser von den Saudis ausgerüsteten
Organisationen entstand ISIS, die sich
später in ›Islamischer Staat‹ (IS) umbenannte.« Was wäre, wenn wir einige der
Waffen, die wir jetzt an die bedrängten
Kurden liefern, schon bald in den Händen islamistischer Kämpfer sehen würden
– etwa in Mali, Zentralafrika oder Nigeria? Was wäre, wenn all dieser Wahnsinn
wohlgelitten wäre, um immer wieder aus
»humanitären Gründen« eingreifen zu
können, wieder Waffen verkaufen zu können und die Welt in Unruhe zu halten? Es
wäre ehrlicher, zuzugeben, dass das kapitalistische System immer wieder Kriege
braucht, um sich am Leben zu halten.
Was derzeit geschieht, macht mir
Angst. Wenn die maßvollen und vernünftigen Kräfte es nicht schaffen, eine
gewaltige internationale Friedensbewegung auf die Beine zu stellen, die ein eindeutiges »Mit uns nicht!« skandiert, kann
es passieren, dass Europa wieder in einem
Krieg verbrannt wird. Ansätze zu einer
solchen wünschenswerten Friedensbewegung gibt es ja bereits. Diese
plädierte Ende 2014 gegen Waf-
fenlieferungen in den Nordirak und stattdessen für eine »humanitäre Intervention,
die ihren Namen wirklich verdient«. Diese solle die Bundesregierung »mit hohem
finanziellem und personellem Einsatz bestreiten«, heißt es in einer Erklärung. Gefordert wird, »alle nach Berlin« einzuberufen, »die ein solches Engagement großzügig und kompetent stemmen können:
unter anderem die etablierten Hilfsorganisationen und die Gruppen der Zivilgesellschaft«. Auch ich plädiere für eine entschiedene Ausweitung der bisherigen
Hilfe, etwa durch feste Flüchtlingscamps,
stabile Lazarette inklusive medizinischer
Versorgung, Unterstützung des Alltagslebens und anderes. »Flüchtende, die die
Region verlassen wollen, sind zu unterstützen«, heißt es in der Erklärung. »Ihnen ist Asyl oder ein humanitäres Aufenthaltsrecht gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren.«
Natürlich werden viele wieder behaupten, dies sei ungenügend – naiv ohnehin. Aber man muss eben einmal damit beginnen, den Frieden zu schaffen,
auch wenn dies bisher versäumt wurde.
Deutschland gibt pro Jahr über 30 Milliarden Euro für Militär aus, aber nur 29
Millionen für den Friedensdienst. Das
sagt eigentlich alles. Eine friedliche Welt
ist dem freien Markt und seinen Kriegsgewinnlern immer schon ein Dorn im
Auge gewesen. Die Abgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen, schreibt: »Wir leben in einer Vorkriegszeit. Das spüren
immer mehr Menschen in diesem Land.
Unsere Aufgabe ist es, die Lügen, die die
neuen Kriege mitvorbereiten, zu entlarven. Damit die Mehrheit der Bevölkerung, die Krieg als Mittel der Politik ablehnt, die keine Auslandseinsätze und
Rüstungsexporte will, endlich zu ihrem
Recht kommt.«
Auch um der nur allzu offensichtlich
kriegsfreundlichen Meinungsmache in
den großen Medien etwas entgegenzusetzen, haben wir uns entschlossen, dieses
Buch herauszugeben. Unser »Duett« soll
zu einem ganzen Chor aufrechter und
kluger Stimmen aus Vergangenheit und
Gegenwart anschwellen, der mit aller Vehemenz für die Sache des Friedens eintritt. Wir glauben weiter an die Kraft der
Veränderung. Ungehorsam ist nun gefragt. Wir sollten Schulen des Ungehorsams gründen, um ein Gegengewicht gegen die die Seele deformierenden Gehorsamsschulen des Militärs zu schaffen.
Zuallererst müssen wir uns gegen die
Nebelkerzen wehren, mit denen wir täglich beschossen werden. Aber, wenn sich
der Nebel endlich gelichtet hat, sind wir
dann auch bereit, aufzustehen? Was wäre,
wenn der Friede kein Wunder bräuchte,
sondern eine Revolution?
GESELLSCHAFT 5
19. M Ä R Z 2 0 1 5 C H R I S T & W E LT No 1 2
Er sagt, es sei
wie eine Sucht
gewesen.
Er habe gar
nicht oft genug
hören können,
was ihm die
Mitarbeiter
immer wieder
versicherten.
Dass ihn seine
Frau nämlich
immer noch
liebe und es sich
lohne, um sie
zu kämpfen.
Foto: Screenshot Astro-TV
N
ennen wir ihn
Wolf. Seinen richtigen Namen will
er nicht nennen.
Die Sache ist ihm
unangenehm.
Wolf ist Ende 40
und Abteilungsleiter einer Versicherung.
Diplomierter Betriebswirt, zweisprachig,
einer, der beruflich sicher im Sattel sitzt
und auch sonst den Eindruck erweckt, als
habe er alles im Griff. Über sein Privatleben spricht er nicht gern. Vor einem Jahr
verließ ihn seine Frau nach zehn Jahren
Ehe. Aus, Schluss, vorbei. Wolf sprach
mit niemandem darüber. Er igelte sich zu
Hause ein, Fernseher an, Füße auf den
Tisch – und tschüss. Irgendwann landete
er beim nächtlichen Zappen bei einem
Sender, der seinen Zuschauern suggerierte, es gäbe für jedes ihrer Probleme eine
Lösung, sie müssten nur anrufen: bei
Astro-TV.
Es war ein bisschen wie in der TelefonSeelsorge, bloß, dass man die Menschen am
anderen Ende der Leitung sehen konnte.
Man musste ihnen auch gar nicht viel erzählen, die Moderatoren nannten sich Engelsflüsterer, Hellseher oder Medium. Ein
Blick in die Karten, in die Sterne oder in die
Glaskugel reichte ihnen, zack, schon lieferten
sie die Lösung. Lebensberatung to go. Im
Minutentakt.Wolf probierte es selber aus.
Das erste Beratungsgespräch gab es noch zum
Nulltarif, die folgenden kosteten, bis zu 3,95
Euro pro Minute. Er landete jetzt nicht mehr
direkt in einer Call-in-Sendung, sondern bei
Hotlines des Konzerns, der den TV-Sender
betreibt, der Adviqo AG. Und Wolf rief
wieder an, manchmal mehrere Male am Tag.
Er sagt, es sei wie eine Sucht gewesen. Er habe
gar nicht oft genug hören können, was ihm
die Mitarbeiter immer wieder versicherten.
Dass ihn seine Frau immer noch liebe und es
sich lohne, um sie zu kämpfen. Dabei lebte
die längst mit einem anderen Mann zusammen. Sie reagierte zunehmend gereizt auf
seine Anrufe. Als ihm seine Bank auch noch
den Dispo sperrte, musste sich Wolf eingestehen, dass etwas gründlich schieflief. Er
sagt, die Telefonberatung habe ihn ein Vermögen gekostet.
Wolf ist kein Einzelfall. Sektenbeauftragte und Suchttherapeuten kennen viele
solcher Geschichten. Sie erzählen von der
Einsamkeit und davon, wie sogenannte
Lebensberater Anrufern Hoffnung machen,
das Glück zu zweit sei auch für sie zum
Greifen nah – sie sollten nur weiterhin ihre
Tipps befolgen. Die Öffentlichkeit bekommt von den Leiden der Opfer kaum
etwas mit, denn den meisten Betroffenen
geht es wie Wolf: Sie verschweigen ihr Problem – aus Scham. »Wer will sich denn
schon von Dritten die Frage gefallen lassen:
Wie konntest du so blöd sein, dein Geld
dahergelaufenen Heilern in den Rachen zu
werfen?«, sagt der Münchner Suchttherapeut Christoph Teich, der schon viele Betroffene beraten hat. »Zu 70 Prozent Frauen, die meisten alleinstehend, aus allen
Bildungsniveaus.« Tatsächlich sind es ja
Szenen wie aus einer schlechten Comedy,
die man dort erlebt. Moderatoren, die mit
halb geschlossenen Augen Kristallkugeln in
ihren Händen drehen und mit theatralisch
gereckten Armen Energie durch die Mattscheibe schicken: »Möge die Macht der
Ewigkeit mit dir sein.«
Doch jetzt hat Astro-TV Gegenwind
bekommen. In den sozialen Netzwerken
wird der Ruf nach einer Medienaufsicht
lauter. Gerade läuft eine Online-Petition für
den Entzug der Sendelizenz. Verfasst haben
sie Aktionskünstler aus Berlin.
Sie nennen sich »Peng! Collective«. Ein
Name wie ein Knalleffekt. Er ist Programm.
Die Sinn-Gewinnler
Astro-TV verspricht esoterische Lebensberatung.
Die Telefonate sind teuer, der Nutzen fraglich.
Nach einer Aktion von Politclows steht der Sender nun unter Druck
VON ANTJE HILDEBRANDT
Peng! mischen die Politik mit provokanten
Aktionen auf. Anfang Februar verliehen sie
ihrer Forderung nach einem Aus für AstroTV auf ihre unnachahmlich ironische
Weise Nachdruck. Da schleuste sich einer
ihrer Mitarbeiter unter dem Vorwand in die
Live-Sendung »Leichter Leben – Zeit für
mich« ein, er wolle ein bisschen über die
Kunst plaudern, Menschen zum Lachen zu
bringen. Es war der Schauspieler Amit Jacobi, 30, verkleidet als Clown »Pjotr Wasabi«. Er schwenkte ein Gummihuhn durch
die Luft. Er orakelte über die beiden Gehirnhälften und darüber, dass sie besser zusammenarbeiteten, wenn Menschen Dinge
täten, die man eigentlich nicht tue.
Plötzlich zog er ein Ei aus der Tasche,
ließ es sanft auf dem Kopf des Moderators
zerplatzen und rief: »Wir finden, Astro-TV
sollte die Sendelizenz entzogen werden,
denn das hier ist Betrug! Melden Sie sich
beim psychosozialen Dienst, der kostet
nichts.« Amit Jacobi sagt, er staune selber
darüber, dass alles glattging. Sicherheitshalber hatte er einen Mitstreiter im Studio
der Berliner Konzernzentrale platziert, der
die Aktion mit versteckter Knopfkamera am
Hemd filmte. Er sagt, er habe damit gerechnet, dass die Aufnahme sofort gestoppt
und er vor die Tür gesetzt werde. Doch
entweder waren die Mitarbeiter völlig überrumpelt, oder sie hatten insgeheim schon
damit gerechnet, dass so etwas einmal geschehen würde. Die Kamera lief weiter. Der
Moderator senkte den Kopf, damit man sein
Gesicht nicht sehen konnte: Er grinste.
Bilder von der Guerilla-Aktion verbreiteten sich in rasendem Tempo bei Youtube. Nach 167 000 Klicks ließ Astro-TV
den Film von der Videoplattform entfernen
und untersagte den Aktivisten die weitere
Verbreitung mit Hinweis auf die Urheberrechte. Die, so heißt es in einem Brief des
Anwalts, lägen beim Sender. Doch die Guerilleros von Peng! ließen sich nicht einschüchtern. Sie stellten den Film auf ihre
eigene Website www.pen.gg und drehten
gleich noch einen zweiten.
Er zeigt, wie Amit Jacobi eine Wahrsagerin von Astro-TV in der Angelegenheit um
Rat bittet und wie er dann die Unterlassungserklärung in Schnipsel reißt, als sie
ihm nahelegt, er solle es nicht noch schlimmer machen, als es schon sei. »Auf Sie
kommt wirklich zu, dass Sie Geld bezahlen
müssen.« Jacobi gibt sich gelassen. Angst
vor einer Klage von Astro-TV wegen »Sachbeschädigung« und »Hausfriedensbruch«
habe er nicht, sagt er. Der Sender hatte ihn
ja eingeladen, offenbar nicht ahnend, wer
da ins Studio kam. Bei Peng! werten sie die
Aktion als vollen Erfolg: »Wir wollten ja
eine Debatte darüber anzetteln: Wie soll
unser Fernsehen aussehen? Was ist TV, und
was ist Casino?«
Das öffentliche Echo gibt den Künstlern recht. Plötzlich war der kleine Spartensender Gesprächsthema in den Medien.
Plötzlich wurde die zuständige Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg von
einer Welle von Beschwerden überrollt.
Und plötzlich trauten sich auch ehemalige
Mitarbeiter von Astro TV aus der Defensive. Vielleicht war das der eigentliche
Erfolg. Denn erst sie lieferten den Verfassern der Online-Petition die Munition, die
man braucht, um die Forderung nach einem Entzug der Senderlizenz zu untermauern. Der bloße Hinweis auf »haarsträubende Prophezeiungen« durch sogenannte Hellseher reicht da nicht aus. »So
eine Beratung ist ja erst mal nichts Negatives«, sagt Suchttherapeut Christoph
Teich. »Wenn der Anrufer glaubt, er könne sein Problem lösen, ist er schon mal viel
optimistischer.«
Problematisch werde es in dem Moment, wo eine persönliche Bindung entstehe und der Anrufer versuche, Verantwortung an den Heiler abzugeben. Doch
genau darauf liefen solche Gespräche doch
hinaus, schließlich verdiene der Sender sein
Geld damit. Ein interner Leitfaden, der
Christ&Welt vorliegt, gibt Mitarbeitern
sogar Gesprächsbeispiele, wie sie Kunden
gezielt manipulieren können. Zum Beispiel
eine Frau, die sich fragt, ob sie ihr verheirateter Lover tatsächlich liebt. »Ich habe eine
gute Nachricht für Sie, Frau Müller. Die
Karten zeigen an, dass eine Trennung Ende
des Jahres bevorsteht. Es sieht so aus hier in
den Karten, dass es nach der Trennung
schnell zu einer festen Bindung mit Ihnen
kommt.« Die Kundin ist noch skeptisch.
Diese Skepsis könne der Mitarbeiter auflösen, indem er zum Beispiel erwähne: »Da
nach einem Familienfest im Dezember eine
klärende Aussprache zwischen den Eheleuten erfolgt und es dann zur Trennung
kommt.« Betrug à la carte. Und Astro-TV
ist nur das Aushängeschild der Adviqo AG,
dem Marktführer für Lebensberatung.
Unter ihrem Dach bündelt die AG 14 Internetportale und Hotlines, von Horoskop.
de bis zum Telefonanbieter Viversum (Spirituelle Lebensberatung). Sie alle sind auf
der Homepage von Adviqo aufgelistet. Dort wird mit dem Slogan geworben:
»Die ganze Welt der Spiritualität«. Auf der
Homepage präsentieren sich die Anbieter
als Freund und Helfer in allen Lebenslagen.
»Wir befähigen Menschen, ihr Leben in die
eigenen Hände zu nehmen, indem wir
Orientierung geben und ihre innere Stärke
entwickeln«, heißt es da in schönstem Psychotherapeuten-Sprech. Der Alltag sieht
jedoch anders aus. Das berichten ehemalige
Mitarbeiter, die sich nach dem Echo auf die
Guerilla-Aktion von Peng! bei Christ&Welt
gemeldet haben. Ihre Vorwürfe sind nicht
neu, aber so gravierend, dass man sich fragt,
wie es der 2004 gestartete Sender bislang
jedes Mal geschafft hat, seine Lizenz zu verlängern – die aktuelle ist befristet bis zum
31. Mai 2018.
Wenn es stimmt, was diese Informanten
sagen, dann praktiziert Astro-TV in seinen
Call-in-Sendungen dieselben Methoden,
die einst dem Verkaufssender Neun Live
zum Verhängnis geworden sind: Nach der
Gewinnspielsatzung, die auch für einen
Sender wie Astro-TV gilt, muss ein Zufallsgenerator nach einem bestimmten Algorithmus jeweils den x-ten Anruf aussuchen, der
dann durchgestellt wird. Glaubt man den
Mitarbeitern, dann ignorieren die Moderatoren diesen Zufallsgenerator nicht nur
konsequent, um die Zahl der Anrufe in der
Warteschleife zu erhöhen. Sie befördern
diesen Prozess auch, indem sie behaupten,
»Ach, schon wieder ne Auflegerin, schade.«
Jetzt seien die Leitungen frei, die Zuschauer sollten schnell anrufen.
34 Cent kassiere Astro-TV für jeden
Anruf aus dem Festnetz nach Abzug von
Mehrwertsteuer und Providerkosten – unabhängig davon, ob der Anrufer durchgekommen ist oder nicht. Anders sei dieses
Geschäftsmodell auch nicht finanzierbar.
»Eigentlich kann es sich nur mit betrügerischen Manipulationen rechnen, wobei eine
betrügerische Manipulation nicht dargestellt werden kann«, sagen Insider.
Der Hinweis darauf, dass auch nicht
durchgestellte Anrufe kostenpflichtig sind,
läuft während der Sendung kleingedruckt
als Kriechtitel am unteren Bildrand. Der
Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg
reicht das als Ausweis der Glaubwürdigkeit
des Senders. Die Pressesprecherin sagt, die
Vorwürfe der Mitarbeiter könne man nur
prüfen, wenn sie den Betrug mit Sendeprotokollen für jede einzelne Sendung nachweisen könnten – bis auf die Minute genau.
Die Moderatoren von Adviqo sind fast alle
Freiberufler. Wer von ihnen würde seinen
Job dafür riskieren?
Vor diesem Hintergrund verwundert es
nicht, dass Astro-TV jede Stellungnahme
zu den Vorwürfen verweigert. »Wir haben
uns bereits vor einiger Zeit gegen weitere
Stellungnahmen gegenüber Medienvertretern entschieden, nachdem wir leider
einige negative Erfahrungen bezüglich der
einseitigen Berichterstattung machen mussten«, heißt es in einer E-Mail des Unternehmens.
»Die wissen, dass ihnen keiner was nachweisen kann, und halten den Ball bewusst
flach«, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter, der
selber als Producer von Call-in-Sendungen
gearbeitet hat.
Immerhin hat die Aktion von Peng! den
wunden Nerv des Unternehmens berührt.
»3,5 Millionen Kunden weltweit« bedient
Adviqo laut Homepage. Es geht um Geld,
um viel Geld. Rund 90 Millionen Euro
Umsatz soll der Konzern pro Jahr erwirtschaften, Tendenz: bislang immer steigend.
Ein System, das nicht nur von der
Not der Anrufer lebt, sondern deren Leidensdruck auch noch verstärkt. »Die
Sucht entsteht ja durch die Unmittelbarkeit des Angebots«, sagt der Therapeut
Christoph Teich. »Ein Antidepressivum
wirkt erst nach zwei Wochen. Eine Hotline oder den Sender aber kann ich anrufen, wann ich will.«
Ein Teufelskreis. Teich sagt, er habe
2007 versucht, in München eine Selbsthilfegruppe für Opfer zu gründen. Anfragen genug habe es gegeben. Aber zum
ersten Treffen sei niemand gekommen.
Traurig, aber wahr: Das Schweigen der
Opfer ist der effektivste Schutz für die
Branche.
Ghata,
die blonde
Botschafterin
des Lichts,
bei der Arbeit.
6 GESELLSCHAFT
19. M Ä R Z 2015 C H R I S T & W E LT No 1 2
DER ATHEIST, DER WAS VERMISST
Sittliches Unbehagen
Über die Ware Freiheit VON MARTIN AHRENDS
I
te Weise man gerade versucht, mich zu täuch hab die Freiheit, das Buch wegzulegen,
schen, mich übers Ohr zu hauen, zu verfühdas es mir leicht machen will. Und ich
ren, auf irgendeinen Psycholeim zu locken.
hab die Freiheit, den Supermarkt zu
Ich will kein schlechtes Gewissen haben,
meiden, der es mir schwer machen will.
wenn ich mein unter wer weiß was für irrIch kann mit meiner Freiheit effizient
witzigen Umständen produziertes Hemd
umgehen, frei sein, wo es sich lohnt.
anziehe, das den Hass der Produzenten in jeStimmt das? Es hieße im Umkehrschluss:
der Faser trägt, ihren Hass auf mich, den
Ich leiste mir Unfreiheit, wo sich Freiheit
fernen Verbraucher, der ihnen mit seinem
nicht lohnt, wo ich Energie für unmögliEinkauf die Luft zum Atmen nimmt. Ich
che Entscheidungen aufzubringen hätte:
Ich wehre mich will beim Einkaufen nicht verführt werden,
für Recherchen nach Herkunftsländern
und Produktionsbedingungen, nach Inalso nicht gegen das Falsche zu tun. Auch nicht zu dem Irrglauben, ich könne als Verbraucher die
haltsstoffen und deren Wirkungen auf
ein mani­­Welt verbessern. Ich bin so frei, Entscheimeinen Körper, Recherchen, zu denen
pulatives
dungsfreiheit abgeben zu wollen, wo sie mir
ich nicht in der Lage bin, erst recht
zur unnötigen Last wird. Ich wehre mich
nicht, wenn ich mit dem Einkaufswagen
Gegengift,
also nicht gegen ein manipulatives Gegenvor dem Supermarktregal stehe.
solang ich als gift, solang ich als Verbraucher ohnehin
»Der Verbraucher entscheidet«, heißt es,
Objekt der Manipulation bin. Ich hab
Verbraucher
auch über die Massentierhaltung und die
Gebäudesicherheit bestimmter Textilfabriohnehin Objekt nichts dagegen, wenn der Verbraucherminister Maas über »Nudging« nachdenkt
ken in Bangladesch. Nein, tu ich nicht. Ich
der Maniund es für eine gute Idee hält, »wenn Menbin so frei, diese Bürde abzulehnen, weil sie
schen bessere Entscheidungen treffen, danicht auf meinen Buckel gehört. Ich bin so
pulation bin.
bei aber weiterhin völlig souverän sind«.
frei, den dafür Zuständigen eine nachhaltiWirklich frei bin ich aber, wenn ich das groge Wirtschaft abzuverlangen. Sie machen
mir das Leben unnötig schwer, wenn sie mich bei jeder ße »Du sollst« auf mich nehme, das mir die Kirche entgegenruft.
Kaufentscheidung – und auch ein Minderbemittelter
muss mal einkaufen – vor die unlösbare Aufgabe stellen, herauszufinden, auf welche hoch bezahlt vertrack- Martin Ahrends lebt als Schriftsteller in Berlin.
EIN BILD, EIN SATZ, EIN WUNDER
Fotos: Mauritius Images; Jürgen Bauer/Süddeutsche Zeitung Photo; privat (2)
SAMMLUNG HAT DAS SINN, FRAU RINN?
Studienpläne
Aus dem Leben einer Pfarrerin VON ANGELA RINN
M
schließlich lebe der Mensch nicht nur von
ein Sohn möchte Sozialarbeiter
Luft und Liebe. Mein Sohn schüttelt den
werden. Sein neuer Plan klingt
Kopf. Irgendwie hat sein Blick etwas
weniger lebensgefährlich und
Überlegenes. Ich ahne schon, dass ich
gleichzeitig realistischer als die früheren
gleich verloren habe. Schimmert da ein
Vorhaben. Im Alter von 15 Jahren wollte
leichter Heiligenschein über seinem roter zur Bundeswehr, anschließend war
blonden Haarschopf? »Es gibt WichtigeSchauspieler im Gespräch, dann hatte er
res als Geld, Mama. Geld allein macht
überlegt, Fluglotse zu werden. Ich bin
nicht glücklich.« Ich hatte recht mit meizwar mit Til Schweiger auf dieselbe
ner düsteren Ahnung. Er hat die TuSchule gegangen, aber das allein qualifigend-und-Moral-Karte gezogen. Trumpf,
ziert mein Kind nicht für die erfolgreiche
Er hat die
sticht immer. Jedenfalls im Pfarrhaus.
Leinwandkarriere. Bundeswehr fand ich
Tugend-und- die Das
Kind setzt sogar unbarmherzig
auch nicht wirklich tröstlich. Angeblich
Moral-Karte
noch eins drauf. »Weißt du, Mama, ich
hatte der Informationsoffizier behauptet,
will Menschen helfen.« Du liebe Güte,
dass Rekruten nicht in die Krisengebiete
gezogen.
wo hat er das denn her? Ich habe erziemüssten. »Da gehen nur Freiwillige hin,
Trumpf, die
hungstechnisch versagt und meinen
wirklich, Mama.« Ich war nicht so sicher,
Sohn der künftigen Altersarmut ausgeob sich Frau von der Leyen im Zweifelssticht immer.
setzt. Die Bezahlung von Sozialarbeitern
fall an diese Zusicherung erinnern würde.
steht doch in keinem Verhältnis zum
Die Englischkenntnisse meines Knaben
Aufwand, geschweige denn zu den grusewaren im Blick auf die Zukunft als Flugligen Arbeitszeiten, das ist ja fast wie bei Pfarrern.
lotse auch nicht ermutigend. Es beruhigt mich halt
Außerdem müssen sich die armen Sozialarbeiter in
schon, wenn Fluglotsen die Botschaften aus den
den ersten Dienstjahren von Projektvertrag zu ProCockpits verstehen und nicht erst den Googlejektvertrag hangeln. Ich starte einen letzten VerÜbersetzer anklicken müssen.
such. »Du wolltest doch eigentlich einen Beruf mit
Die richtige Begeisterung für das Sozialarbeitergeregelten Arbeitszeiten, also gerade nicht so wie bei
Studium will bei mir trotzdem nicht aufkommen.
mir im Pfarramt.« Mein Sohn schüttelt den Kopf.
Ich erinnere ihn daran, dass Fluglotse doch eine in»Man muss sich entwickeln dürfen, Mama.« Ich
teressante Aufgabe sei und es an der Volkshochgebe es auf. »Es ist doch besser, ich tue etwas, was
schule prima Englischkurse gebe. Mit ein bisschen
ich wirklich leidenschaftlich gerne mache – hast du
Engagement könnte es viel erfolgreicher als in der
immer gesagt.« Er lächelt sanft, mir scheint: fast ein
Schule laufen. Das Kind schaut mitleidig. »Du
bisschen grausam. Er weiß, wann er gewonnen hat.
willst doch nur, dass ich Fluglotse werde, weil man
damit mehr Geld verdienen kann.« Das Schlimme
an Kindern ist, dass man ihnen nach einigen Jahren Angela Rinn ist Pfarrerin in Mainz-Gonsenheim und
Privatdozentin in Heidelberg. Unter ihrem Pseudogemeinsamen Lebens wenig vormachen kann. Sie
nym »Vera Bleibtreu« erschien zuletzt ihr Krimi »Die
kennen ihre Eltern einfach zu gut. Ich druckse heletzten Tage der Wespen«.
rum, dass Geld ein beruhigender Faktor sei,
Christ&Welt: Die Redaktion war im Januar bei Ihnen im Kloster
Arenberg und hat Sie um eine Blattkritik gebeten. Haben wir Ihre
Wünsche beherzigt?
Sr. Ursula: Ich war ja schon vorher sehr zufrieden, aber mein
Eindruck ist, dass die Zeitung noch gewonnen hat. Sie ist noch
provokanter geworden. Das finde ich gut.
C&W: Hatten wir nicht darüber gesprochen, dass wir uns mehr
ums Wesentliche kümmern wollten und weniger um innerkirchliche Kontroversen?
Sr. Ursula: Ja, es stimmt schon. Mir geht das Gelaber über
Strukturen und über die immergleichen Themen von Pille bis
Zölibat auf die Nerven. Wenn ich hier im Kloster mit Gästen
seelsorgerliche Gespräche führe, merke ich, wie sie mit Gott
ringen. Diese Sehnsucht ist das Wesentliche. Aber natürlich
diskutieren wir im Kloster zum Beispiel, wenn Christ&Welt einen kritischen Artikel über Franziskus bringt. Davon gibt es in
letzter Zeit mehr. Manche unserer Schwestern fragen sich auch,
wann den Worten endlich Taten folgen. Gesprochen haben wir
auch über das, was die Schriftstellerin Ulla Hahn in der vergangenen Ausgabe gesagt hat. Sie möchte ein Christentum
ohne Strafe und Sünde, das hat uns aufgewühlt, zumal Franziskus gerade ein Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hat.
Heute kuratiert von Hans Joachim Schädlich
Seine Empfehlung: Diego Velázquez: Äsop (1639/40)
Warum haben Sie dieses Bild ausgewählt?
»Ich hatte früher eine Vorstellung von Äsop. Aber das Äsop-Porträt von
Velázquez, das ich später im Prado sah, übertrifft jede Vorstellung.«
Kurator im Monat März ist der Schriftsteller H
­ ans Joachim Schädlich.
Diesen Monat erscheint sein neuer Roman »Narrenleben« bei Rowohlt.
C&W: Wie sieht Ihre Woche aus?
C&W: Heißt Barmherzigkeit, dass
LESERDRUCKER
Sr. Ursula: Zur Zeit ist es sehr
es keine Strafe gibt?
turbulent, Leid und Freude lieSr. Ursula: Gottes Gerechtigkeit
gen ganz eng beeinander. Es
ist größer als unser Herz. Natürsind mehrere Schwestern gelich müssen wir vor Gott Verantstorben, einige liegen im Sterwortung übernehmen. Aber ich
glaube, dass er uns heilt und
Was Christ&Welt im Kloster anrichtet ben. Zugleich steht ein großes
Fest bevor: An diesem Donnicht vernichtet. Vom Jahr der
nerstag werden drei PostulanBarmherzigkeit erhoffe ich mir,
tinnen eingekleidet.
dass wir andere nicht verurteilen.
C&W: Was habe ich mir darunter vorzustellen?
Einem Menschen etwas zu verweigern, weil er angeblich
Sr. Ursula: Postulantinnen sind junge Frauen, die sich
nicht gut genug ist, das ist nicht die Aufgabe der Kirfür ein Leben im Orden entscheiden. Das Postulat
che. Ich möchte weitherzig werden für Menschen,
dauert bis zu zwei Jahre. Bei der Einkleidung bedie gesündigt haben. In der Annahme geschieht
kommen sie nicht nur das Ordenskleid, sondern
Heilung, nicht in der Verurteilung.
auch ihren Schwesternnamen. Danach beginnt das
Christ&Welt: Das ist nun doch eine kirchenpolitische
Noviziat. Das ist eine besondere Zeit der Prüfung:
Aussage.
Dienen Gelübde wirklich meiner persönlichen
Sr. Ursula: Ja, weil ich in vielen Gesprächen erlebe,
Mensch-Werdung? Wie finde ich meine Freiheitsräume?
wie Menschen darunter leiden, dass ihr Weg von der
Wer bin ich? Das ist eine sehr harte Zeit. Manchmal brechen
Kirche abgelehnt wird. Diese Menschen verurteilen sich oft
familiäre Konflikte auf oder andere Verletzungen, die nicht
schon selbst genug, das Letzte, was sie brauchen, ist jemand,
verheilt sind.
der sie auch noch verurteilt.
Auf dem Ego-Trip
C&W: Klingt so, als seien junge Ordensfrauen sehr mit sich selbst
beschäftigt.
Sr. Ursula: Diese Selbstbeschäftigung ist das Fundament, um
für andere da sein zu können. Ich selbst habe mich während
des Noviziats oft gefragt, ob ich nicht auf einem Egotrip bin.
Meine Freundinnen sind Mutter geworden oder hatten einen
sinnvollen Beruf. Ich habe mich nur um mich selbst gekümmert. Aber jetzt weiß ich, dass diese Zeit überlebenswichtig ist,
um eine gute Ordensfrau zu werden. Ohne diese Wüstenzeit
wüsste ich gar nicht, was mich ausmacht und was ich anderen
schenken kann.
C&W: Fehlt im Leben der anderen diese Wüstenzeit?
Sr. Ursula: Ja, Wenn von außen aufs Ordensleben geschaut
wird, dann springt oft der Verzicht ins Auge. Die meisten sehen nur, was wir alles nicht dürfen. Aber ich empfinde diese
intensive Beschäftigung mit mir selbst als Luxus. Ich würde jedem Menschen ein Noviziat gönnen.
Ursula Hertewich, promovierte Pharmazeutin,
ist seit 2006 Dominikanerschwester
in Kloster Arenberg bei Koblenz.
Das Gespräch führte Christiane Florin.