Ohne meinen Garten bin ich heimatlos. - Michael-Succow

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Michael Succow
»Ohne meinen Garten bin ich heimatlos.«
Von Nana Brink
Kraut und Rüben. So geht’s im Garten von Michael Succow zu. Aus
Er reicht einen schrumpeligen Apfel aus dem großen Korb neben der Bank. Der Erzählstrom hat begonnen …
einem Beet mit emporgeschossenen Kümmelpflanzen taucht das
weißbärtige Gesicht des Professors auf. In der Hand eine Karotte
Vor 20 Jahren hat sich Michael Succow, Biologieprofessor und Nasamt grünem Strunk. Das warme Lächeln geht auf, als er sich den
turschützer der ersten Stunde, hier am Rande von Greifswald sein
Weg zwischen den violetten und gelben Gladiolen bahnt. Flink umRefugium gebaut. Ein bescheidenes Häuschen, umgeben von Kraut
rundet er mit bloßen Füßen in den Sandalen die wuchernde Salatkound Rüben. Seine Halte- und Ruhestelle wenn er von ausgedehnten
lonie, pflückt ein Schneckenhaus vom Blatt und steckt es in die Hosentasche. Die Hand schnellt
Reisen zurückkommt. Reisen,
Die Weite, das Unerschlossene. Ein Platz für Ohrenlerchen
zwischen dem abgeblühten Roauf denen er im »wilden Osten«,
senstrauch zum festen Händewie er die fernen Ländern Euund Ohrenmenschen. Nie sei es stiller gewesen und
druck. Mit ein paar Erdklumberuhigender als in den Wäldern in Greifswalds Umgebung. rasiens nennt, dafür wirbt, dass
pen dran. Dann lädt die leise,
die Natur ihren Platz behält.
sanfte Stimme unter den Apfelbaum auf eine verwitterte Holzbank.
Ohne McDonald’s, ohne Windparks, überhaupt ohne Menschen.
»Ist das nicht wunderbar, was alles so zusammen blüht? Schön,
Seine Liebe zur Natur wächst in einem kleinen Dorf in Brandendass Sie da sind. Dieser Flecken Erde ist mein Paradies. Und im
Paradies gibt es keine Zäune. Nur die Nachbarn haben welche.
burg heran. Dorthin kehrt seine Familie nach dem Krieg auf eiWas wollen Sie alles wissen? Was ich mit den Schnecken mache?
nen Bauernhof zurück. In kurzer Lederhose stromert der junge MiDas erzähle ich Ihnen gleich. Wir benutzen nur Grasschnitt als
chael durch die Wiesen und Äcker, den Blick in den Himmel zu den
Dünger. Und sehen Sie mal, wie das wächst? Völlig ohne KunstOhrenlerchen gerichtet, über die der Elfjährige in Der Falke, dem
dünger. So etwas finden Sie nicht im Supermarkt. Aber wir haJournal für Vogelbeobachter, seinen ersten Artikel schreibt. Wenn
er nachmittags nach der Schule die Schafe hüten muss, ist er froh,
ben es hier: Obst, wie vor hundert Jahren. Wir haben das nur
dass ihn keiner stört.
vergessen.«
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»Ich hatte ein Vogeltagebuch, da habe ich tolle Sachen hineingeschrieben. Dass die Ohrenlerchen im Winter in Spitzbergen sind,
zum Beispiel. Eigentlich wollte ich Ornithologe werden. Oder Schäfer. Ich war schon ein wenig vertrottelt. Fürs Fußballspielen nicht
zu gebrauchen. Und meine Mutter wollte unbedingt, dass ich Pfarrer werde!«
Michael Succow lacht ein wenig lauter als sonst. Obwohl: Nicht
umsonst nennt man ihn den »Wanderprediger für den Naturschutz«. Aber davon später. Die Idee, Schäfer zu werden, hat ihm
nach seinem Abitur geholfen. Alle wundern sich, als der Junge aus
dem brandenburgischen Barnim, parteilos, Sohn eines zwangskollektivierten Bauern, einen Platz für ein Biologiestudium in
Greifswald bekommt. Er fährt hin, in kurzen Lederhosen, voller
Begeisterung und macht die Bekanntschaft von zwei Männern in
langen Ledermänteln. Die Familie ist entsetzt, er ebenso, als ihm
dämmert, was sie von ihm wollen. Er redet sich heraus, redet sich
um Kopf und Kragen, redet um sein Studium, redet, redet – und
darf weiter studieren, ohne Verpflichtung. Keiner weiß so recht
warum. Als er im Jahr 2000 seine Akten einsieht, liest er, wie ›unbrauchbar‹ und ›geschwätzig‹ er gewesen sei. Darüber muss Succow herzlich lachen.
Hier in Greifswald und Umgebung findet er das, was er auch an
Brandenburg so geliebt hat. Die Weite, das Unerschlossene. Der Platz
für Ohrenlerchen und Ohrenmenschen. Nie sei es stiller gewesen
und beruhigender als in den Wäldern. Sein Land zum Leben. Hier
trifft er auf Exkursionen auch Ulla, die Gärtnerstochter und Biologiestudentin. Sie werden ein Paar fürs Leben. Sie teilen den Freiheitsdrang und die Liebe zur Natur. Und sie teilen die Skepsis gegenüber
einem Regime, das Stacheldrahtzäune baut. Auch unsichtbare. Schon
bald finden sich die Studenten zusammen, denen das Regime später
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Steine in ihre akademische Laufbahn legen wird. Auf ausgedehnten
Wanderungen entdecken sie früh die Wunden, die eine industrielle
Agrarproduktion in die Landschaft reißt: verödete Moore, vergiftete
Flüsse, sterbende Wälder.
Mitten in der Arbeit an seiner Dissertation weigert sich der Student Succow 1968 seine Unterschrift unter eine Protesterklärung
gegen den Prager Frühling zurückzunehmen. Lieber will er Schäfer werden. Aber sie lassen ihn nicht. Der Diplom-Biologe muss in
die sozialistische Produktion und für die Industrie Standorte erkunden – was sich als gar nicht so schlecht erweist. Keiner wusste damals mehr über die Moore in der DDR als er. Und wie es um sie bestellt ist. Schon bald engagiert er sich in der Gesellschaft für Natur
und Umwelt im Kulturbund der DDR, ein Sammelbecken für regimekritische Naturschützer.
»Nein wir haben nicht gelitten. Ich hatte eben keine Karriere,
aber ich hatte meine Freiheit. Wissen Sie, ich meine das wirklich so.
Ich wusste doch Bescheid. Wie sich der Mensch in die Moore frisst.
Wie er die Natur zerstört. Das hat mit dem Fall der Mauer ja nicht
aufgehört. Im Gegenteil! Und deshalb düngen wir unseren Garten
nicht. Kommt nicht infrage. Das ist ein Schutzraum. Wir verlieren
sonst nicht nur unsere Lebensgrundlage, wir verlieren unseren Halt,
unsere Heimat! – Ulla, könntest Du diesen einen ... also diesen einen Vortrag ausdrucken.«
Ulla. Heimat. Halt. Michael Succow richtet sich auf der Holzbank
auf. Ohne beides sei er nicht denkbar. Als wüsste sie das – und würde
es dennoch nie sagen –, erscheint die zarte Gestalt von Ulla Succow
zwischen den Kümmelpflanzen. Mit einem feinen Lächeln im Gesicht reicht sie ihrem Mann den Papierstapel. In der Schürze stecken ein paar Zwiebeln. Ja, dieser Garten sei ein Gemisch zwischen
Schönheit und Tugend, bemerkt die Gärtnerstochter leise. Oder ein
Philosophengarten.
Michael Succow scheint das gar nicht gehört zu haben, sondern
ist schon wieder auf dem Weg. Von der Holzbank zur Streuobstwiese
hinter dem Garten. Und weiter zum Kieshofer Moor. Eines von Vielem, das Succows Liebe zu diesem Landstrich ausmacht. Oder das
Naturschutzgebiet Eldena, da war er als Student schon mit seiner Ulla
unterwegs. Der Professor – 1992 endlich erfüllte sich sein Traum und
er bekommt den Lehrstuhl für Geobotanik und Landschaftsökologie
an der Universität Greifswald – breitet seine Arme aus und scheint
in die Landschaft einzutauchen. Ein grüner Anti-Faust, der keinen
Pakt mit dem Teufel schließen will. Ohne Strümpfe im feuchten
Grund von Vorpommern. In der Hand einen Apfel vom Baum der
Erkenntnis. Mit Wurm.
»Ich hatte keine Wahl nach der Wende. Das war die Stunde.«
Punkt. Plötzlich ist der Wortgewandte seltsam wortkarg. Es geht
ihm etwas nahe. Dass es heute so viele Naturschutzgebiete auf dem
Gebiet der neuen Bundesländer gibt, ist nicht zuletzt sein Verdienst.
Im Herbst 1989 weiß Michael Succow, dass er den Schutzraum des
Philosophengartens verlassen muss. Schon zu DDR-Zeiten hat er
über den Zaun geblickt, in der Mongolei und in Äthiopien gearbeitet. Hat gesehen, was es heißt, wenn der Mensch nicht im Einklang
mit der Natur arbeitet. Wirklich interessiert hat das nur wenige. Mit
dem Fall der Mauer jedoch wird das Ausmaß der Umweltzerstörung in der DDR zum öffentlichen Gesprächsthema. Der international gefragte Bodenkundler wird plötzlich Zuhause zum gefragten
Experten. »Du bist doch einer von uns«, sagt die Bürgerbewegung.
So viele gibt es nicht.
Bereits im Januar 1990 arbeitet der Unbeugsame plötzlich für eine
Regierung der DDR, damals noch im Kabinett Modrow. Nach den
Wie Kraut und Rüben – so wächst es im Garten von Michael Succow
ersten freien Wahlen wird Succow dann stellvertretender Umweltminister. Und er sieht die unglaubliche Chance, etwas von dem zu verwirklichen, wovon er und eine Handvoll Mitstreiter schon seit Jahren träumen: der Natur ihren Raum zurückzugeben. In nur ein paar
Monaten entwickelt die Gruppe unter seiner Leitung – und mit Unterstützung des damaligen Umweltministers Klaus Töpfer – das Nationalparkprogramm für das Gebiet der DDR. Riesige Areale, vor allem ehemalige Sperrgebiete, Truppenübungsplätze oder Jagdgebiete
der sozialistischen Parteielite sollen unter strengen Naturschutz gestellt werden. Am 12. September 1990, auf seiner letzten Sitzung, verabschiedet die letzte Regierung der DDR Succows Traum: Über vier
Prozent des Staatsgebietes der DDR werden zu Naturparks oder Bio49
sphärenreservaten. »Das Tafelsilber der DDR«, nennt es der Westkollege Töpfer. Da ist Michael Succow schon nicht mehr im Amt.
»Einen dritten Weg hätte es geben sollen! Was heißt ›enttäuscht‹?
Das war spleenig vielleicht, jaja, aber es war doch so viel Aufbruch.
Aber eben auch schon der Wurm drin. Heute sehe ich das viel milder. Ich glaube, Ulla möchte, dass wir uns ins Wohnzimmer setzen.
Es ist kühl geworden. Drinnen gibt es wohl Kaffee.«
Das Wohnzimmer der Succows gleicht einem Naturkundemuseum. Ganz wichtig: die große Glasfront mit dem Blick in den Garten. An den Wänden Fotografien der Landschaften, die er bis heute
bereist. Die Regale vollgestopft mit Figuren, Tonkrügen, Büchern, die
von fernen Völkern und ihren Sitten erzählen. An einer Seite hängt
ein riesiger Kasten mit Vogeleiern und Nestern, fein säuberlich beschriftet. Michael Succow setzt sich in einen abgewetzten Ledersessel mit einem Fell über der Lehne und streift durch seinen weißen
Bart. Vor ihm stapeln sich die Notizzettel und Bücher zwischen dem
feinen Kaffeeservice. Ulla Succow schenkt ein und blickt auf die Papierberge. Ob er etwas Missionarisches habe? Sie zwinkert mit den
Augen und reicht Apfelplätzchen.
In Michael Succows »Naturkundemuseum«, seinem Zuhause
»Gucken Sie sich diesen Apfelbaum das draußen an. Da nimmt der
eine Ast die Kurve und der andere die Kurve. Aber das hätten Sie
doch vorher auch nicht sagen können.« Der Natur ihren Raum lassen. Nicht verbiegen lassen. Das ist schon so, als der junge Michael
in Lederhosen durch die Felder streicht, den Kopf nach oben gerichtet, in den Himmel. Nicht geeignet fürs Fußballspielen, fürs sozialistische Team. Das ist auch in den 1990er-Jahren so. Bis die Stunde des
»Wanderpredigers« schlägt – eine Rolle, die ihn bis heute ausfüllt.
Nach seinem Rückzug aus der Politik widmet sich Succow voll
und ganz seiner Leidenschaft: der Bewahrung der Natur. Als Profes-
sor an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald baut er einen eigenen Studiengang Landschaftsökologie und Naturschutz auf.
Und er erinnert sich an einen Satz seines Vaters: »Aus dem Osten
kommt das Licht.« In den Folgejahren reist er wiederholt in die Mongolei, nach Kasachstan, Usbekistan oder Aserbaidschan, um Naturschutzgebiete zu initiieren. Der Nationalparkpionier ist ein willkommener Berater – und genießt es. Wenn er davon erzählt, scheint sein
Redefluss nicht zu enden. Jedes Detail ist wichtig. »Man muss diesen Ländern helfen, ihre Ressourcen zu schützen, sie verteidigen vor
der gnadenlosen Industrialisierung. Ich war kürzlich im Iran. Wis-
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sen Sie, dass dort die letzten großen Eichwälder stehen? Unglaublich schön. Wir müssen sie bewahren.«
Iran? War da nicht was? Michael Succow runzelt die Stirn und
erzählt, wie er die oberste iranische Umweltbehörde kontaktiert und
seinen Besuch angekündigt hat. ›Ich bin Professor Michael Succow
und Sie wissen gar nicht, was für unglaublich schöne Eichenwälder
Sie haben.‹ Das Eigenartige ist: Man glaubt ihm das. Wenn der Weltreisende in Sachen Naturschutz von etwas überzeugt ist, kann ihn
fast niemand stoppen. Auch nicht die iranische Regierung. Oder das
deutsche Umweltministerium, das seine Arbeit im Iran unterstützt.
Aber natürlich ist Michael Succow kein naiver Wanderprediger. Als
er 1997 den Alternativen Nobelpreis erhält, den Right Livelihood
Award, für seine Verdienste um die Einrichtung der ostdeutschen
Naturparks, gründet er 1999 mit dem Preisgeld seine eigene Stiftung. Auch hier leistet er wieder Pionierarbeit: Es ist die erste gemeinnützige Naturschutzstiftung bürgerlichen Rechts in den neuen
Bundesländern. Aber es ist mehr, es ist sein Lebenswerk: Die Wildnis soll wieder ihren Platz bekommen. Ein geradezu revolutionärer
Gedanke in einer hochtechnisierten Welt.
»Ich lese Ihnen mal vor, was ich dazu geschrieben habe. Das ist
sozusagen die Quintessenz, das, was wir mit der Stiftung wollen:
›Wildnis, aus sich heraus existierend, braucht den Menschen nicht,
aber der Mensch der technisierten Welt braucht Wildnis auch als
Maß und um seiner Demut willen. In diesem Sinne ist der Erhalt
von Wildnis kein Luxus, sondern eine Kulturaufgabe der menschlichen Gesellschaft.‹«
Michael Succow macht jetzt nicht etwa eine Pause. Er macht überhaupt selten eine Pause. Er stellt die Kaffeetasse auf den Tisch, erhebt sich mit seinen 74 Jahren erstaunlich schnell aus seinem Sessel
und strebt wieder in den Garten. Wie die alten Philosophen wandert er auf und ab und erzählt von seinen nächsten Projekten. Oder
Träumen. Kuba gehört dazu. Die Castros würden ja nicht ewig leben
und dann müsse man das Ökosystem vor den USA und der börsennotierten Agrarindustrie retten.
»Ich kann nicht ruhig sein!«
Überhaupt ist seine Skepsis groß, was die Selbstheilungskräfte der
westlichen Welt betrifft. Zu verwöhnt und empfindsam sind wir in
Europa, zu sehr dem Wachstumsgedanken verhaftet, nicht fähig zur
Umkehr. Ein düsteres Bild, das der Naturschutzpapst in seinem blühenden Garten zeichnet, mit gerade zu lutherscher Wucht. Wäre da
nicht dieses weißbärtige, gütige Gesicht. Die großen, sich ausbreitenden Arme, die zum Verweilen auf der Bank einladen. Hinter den
Obstbäumen liegt das Moor. Und ein Naturschutzgebiet. Es hat also
doch etwas genützt. Er findet noch immer die Wiesen und Wälder,
in denen schon der Biologiestudent mit seiner großen Liebe unterwegs war. Er findet die Weite und die Wildnis. Das Grün und das
Blau des kleinen Michaels in der Lederhose.
Als er 2011 den Tourismuspreis des Landes bekommt, scheut er
sich nicht, ein paar unbequeme Wahrheiten zu sagen. Aber er sagt
auch: »Das ist mein Land und hier gehen sie behutsamer mit der
Natur um als anderswo. – Die Natur ist der Kapitalstock für Mecklenburg-Vorpommern. Die Menschen wollen Natur, gerade hier, sie
wollen das Freie, das Weite, das Gegenteil zu ihren Städten. Und wir
sind hier gut beraten, auf die Natur zu setzen.«
Und dann lacht der Naturschutzpapst, zupft fröhlich eine Schnecke von einer Salatpflanze und steckt sie in die Hosentasche.
»Ach wegen der Schnecken … Das ist ganz einfach. Natürlich
kein Schneckenkorn, wie man’s üblicherweise macht. Das ist Gift! Ich
zerschneide sie einfach. Das hat schon meine Mutter so gemacht.«
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