Aktion Mensch-Weihnachtsbrief 1. Platz Die Frühlingsfrau von Verena Liebers „Es ist schon eigenartig, diese Frau hat eigentlich alles … sie kann gehen, sie ist schön, sie ist klug und sie ist erfolgreich in ihrem Job ... Und doch umhüllt sie diese unbändige Traurigkeit.“ Hanna Frühling fährt mit ihrem Rollstuhl geschickt über die Bühne, blickt konzentriert zum Publikum, ehe sie weiter spricht: „Das hat mich ganz schön zum Nachdenken gebracht. Kommt es wirklich darauf an, ob ich mich auf Rädern oder auf Beinen durchs Leben bewege?! Ist es wichtig, ob ich irgendwelchen Schönheitsidealen entspreche und was bringt es mir, klug und erfolgreich zu sein, wenn mich keiner so sieht, wie ich wirklich bin?!“ Hanna macht eine kleine Pause, die Zuschauer sind vollkommen still, fast halten sie den Atem an. Hanna spricht über die Geschäftsfrau, die dem Publikum in der letzten Szene begegnet ist: Klug, erfolgreich, traurig. Dynamisch ist sie über die Bühne stolziert und hat dann plötzlich fest gestellt: „Mir bedeutet das Leben nichts mehr. Morgen werde ich 50 Jahre alt und ich werde mich umbringen!“ Während sie ihren Plan mit fester Stimme erklärt, hat sich ein dunkler Schleier der Angst über die Zuschauer gelegt. Dabei klingt diese Geschäftsfrau fast euphorisch, hoffnungsvoll. Dass sie dem Ende direkt gegenübersteht und es selbst bestimmen kann, das muntert diese schöne, unglückliche Frau regelrecht auf. „Aber vorher gehe ich noch einmal in den Park. Ich will diesen Blick auf die Bäume mit hinüber nehmen!“, beschließt die Lebensmüde und balanciert auf ihren Absatzschuhen durch den imaginären Park. Dort begegnet sie Hanna Frühling, die im Rollstuhl sitzt. Die beiden Frauen kommen unerwartet ins Gespräch und verabreden sich schließlich für den nächsten Tag. Der Tod bekommt Aufschub. In der Schlussszene sitzt Hanna Frühling auf der Bühne und spricht mit so klarer Stimme, als wären die Worte genauso aus Porzellan wie ihre helle Gesichtshaut, aus der ihre roten Lippen heraus leuchten. „Liegen das wahre Glück und der wahre Reichtum des Lebens nicht viel mehr darin, mit sich selbst im Reinen zu sein, geliebt zu werden so wie man ist und jeden Tag bewusst erleben zu dürfen?!“ Hanna macht eine kleine, nachdenkliche Pause. „Ja, ich würde sagen, genau das ist Glück und wenn das so ist, dann … ja dann bin ICH reich!!!“ Beifall. Szenenapplaus. Viele Zuschauer wischen sich Tränen aus den Augen. Das war nur ein Theaterstück, aber das Erzählte ist trotzdem wahr, das haben alle gespürt. Erfundene Geschichten können viel über die Wirklichkeit erzählen. Alljährlich gibt es mehr Suizide als Verkehrstote. Nicht jeder trifft eben rechtzeitig eine Hanna. Auch sonst enthält das Stück viel Wahres. Die Darstellerin von Hanna kann nach dem Stück nicht aufstehen und ihre Rolle mit Handicap verlassen. Sie heißt in Wirklichkeit M., aber sie sitzt auch jenseits der Bühne im Rollstuhl. Hier in dieser Theaterszene hat sie ein Stück ihrer Lebenserfahrung gezeigt. Die knapp 100 Gäste sind sichtlich berührt und beglückt von diesem Augenblick. Die Schauspielerin hat alle zum Nachdenken gebracht. Sie sitzt also nicht nur im Rollstuhl, sie kann auch ausgezeichnet spielen und zudem hat sie diese Szene selbst geschrieben. Ich führe Regie, leite die Amateurtheatergruppe an und empfinde es genau wie das Publikum als großes Glück, diese M. alias Hanna Frühling zu erleben. Angefangen hat es damit, dass ich für mein aktuelles Stück noch Mitspieler suchte. Ich las die Bewerbungen in einem entsprechenden Internetforum und fand den Eintrag von M. Das klang hoch motiviert und genau nach so jemandem, den ich suchte. Aber dann dieser kleine Nachsatz: „.. dass ich im Rollstuhl sitze, sollte doch wohl kein Hinderungsgrund sein.“ Ich gebe zu, dass ich zunächst zögerte. Kein Hinderungsgrund? Wie sollte sie die Treppen zu unserem Probenraum nach oben kommen? Wie war es mit meinen Tanzübungen? Das passte doch nicht. Aber der Satz ließ mir keine Ruhe. Ich dachte mir wie mutig es ist, eine Theatergruppe zu suchen, obwohl ein Rollstuhl sicherlich vieles erschwert. Andererseits sind die vier Räder auch nicht mehr als ein Hilfsgerät. Autos, Kinderwagen, Brillen und alle diese Dinge erleichtern uns täglich das Leben, wir sind daran gewöhnt. Rollstühle sind dagegen seltener anzutreffen. Aber wieso sollten nur Menschen auf der Bühne stehen, die laufen können? Schließlich sagt so eine körperliche Beeinträchtigung nichts über die schauspielerischen Qualitäten aus. Also rief ich M. an. Ein bisschen hoffte ich zu diesem Zeitpunkt allerdings, dass die Neue vielleicht doch ein wenig laufen konnte, dass sie die Wendeltreppe zu unserem Probenraum hoch klettern konnte oder ähnliches. Ich hatte keine Erfahrung mit Rolli-Fahrern und mein eigenes Leben ist so sehr von Sport und Bewegung geprägt, dass ich keine Vorstellung hatte, wie es stattdessen auf vier Rädern sein könnte. Aber M. konnte weder humpeln noch klettern. Ihr Rückenmark ist infolge einer Spina bifida Erkrankung von Kindesbeinen an beschädigt. Als Kleinkind lernte sie trotzdem etwas gehen, aber nach einem Sturz war es ganz vorbei. Jetzt, mit Anfang 30, erinnert sie sich nicht mehr an das Gefühl auf zwei Beinen zu stehen. Sie ist von der Taille an abwärts komplett gelähmt. Als ich sie das erste Mal sah, war ich darüber doch etwas erschüttert. Aber wahrscheinlich war ich nur über meinen begrenzten Horizont erschrocken. M. zeigte mir bald, dass ihr Dasein nicht weniger lebenswert ist, als eines auf zwei Beinen. „Ich bin nicht krank, nur eben etwas anders als viele andere“, sagt sie. M. hat einen Partner, Freunde und eine Arbeit, sie hat Hobbys und viele Interessen. Um von A nach B zu kommen, braucht sie in der Regel einen Fahrdienst und die Treppe zu unserem Probenraum erwies sich als unüberwindbares Hindernis. Aber wir haben einen neuen Übungsraum gefunden, der interessanterweise allen Teilnehmern besser gefällt. Die Gruppe hat M. offen aufgenommen, obwohl die meisten ebenfalls zunächst unsicher waren. Keiner hatte Erfahrung mit Menschen im Rollstuhl. Aber M. sorgte dafür, dass unsere Fragen beantwortet wurden. Sie zeigte uns zum Beispiel, dass man auch mit dem Rollstuhl tanzen kann. Ihre Freude dabei war so ansteckend, dass wir anderen uns Stühle mit Rädern besorgten, um ihre Gefühle mitempfinden zu können. In einer Tanzszene unseres Theaterstücks hat M. folglich auch ganz selbstverständlich mitgespielt. Ihr Körperbau entspricht nicht den mageren Balletteusen, die man vielfach aus Tanzszenen kennt. Alles an ihr ist rund und weich. Mein Weltbild war im Tanz sehr von diesen schmalen Wesen geprägt. Aber einmal sagte mein Freund bei einer entsprechenden Veranstaltung: „Die sehen irgendwie alle so verhungert aus!“ Damals dachte ich schon: Ja, er hat Recht. Wer hat diese dürre Figur eigentlich zum Tänzerideal erhoben? Natürlich, wer große Sprünge macht, ist mit weniger Gewicht besser dran. Aber tanzen ist nicht nur springen und Akrobatik. Tanzen ist Körperausdruck, Lust an der Bewegung, Geschichten erzählen jenseits der Worte. Gestik, Mimik – es gibt so viele Möglichkeiten! Jeder Körper ist spannend, wenn wir ihn selbst erzählen lassen. Dass er bestimmten Idealen entspricht, die sich ohnehin ständig ändern, ist dagegen wenig interessant. M. ist talentiert und begeistert, sie hat in unserer Gruppe ihren Platz gefunden. Sie zeigt einen enormen Ehrgeiz bei den Proben und übt mit Hingabe bis sie ihren Text auswändig kann. Jedem fällt auf, dass sie eine ausgesprochen schöne Stimme hat. Ihr zuzuhören ist eine Freude. M. hat sich bei mir bedankt, mehrfach. Sie sagt, dass sie schon lange eine Theatergruppe gesucht hat, aber eben wegen ihres Handycaps keine gefunden hat. Sie lobt meine Bereitschaft, mich auf das Unbekannte einzulassen. Ich freue mich darüber. Aber zugleich stehe ich etwas beschämt neben ihr, denn für mich ist M. diejenige, der es zu danken gilt. Sie hatte den Mut, Vorurteile aufzubrechen. Mein Horizont hat sich sehr erweitert seitdem ich M kenne. Ich weiß, wo Treppen oder Stufen im Weg sind, aber ich weiß auch, dass man seinen eigenen Weg rollen statt gehen kann. Ich wünsche mir, dass es viele M.s auf dieser Welt gibt. Menschen, die sind wie sie sind und weder wütend noch ungeduldig reagieren, wenn ihre Mitmenschen davon gelegentlich verunsichert werden. Wir müssen einander Zeit geben, um uns kennen zu lernen. Das gilt sicher nicht nur für Rollstuhlfahrer und laufende Zeitgenossen. Erst kürzlich ist mir bewusst geworden, wie passend M. den Namen für ihre erste, selbst gestaltete Rolle gewählt hat: Hanna Frühling. Eine Frau, die etwas erblühen lässt, nicht nur im Publikum sondern in allen Menschen, die die Chance haben, sie kennen zu lernen. Tatsächlich, ein Rollstuhl ist dafür kein Hinderungsgrund.
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