Mailys` Entscheidung

Mailys' Entscheidung
Weitere Titel der Autorin:
Durchgeknallte Weihnachten
ISBN-13: 978-1517551810
Ärger auf den ersten Blick
ISBN-13: 978-1517551988
Titel auch als eBook erhältlich.
Über die Autorin:
Katie Volckx liebt das Schreiben wie das Lesen - oder umgekehrt. Vorzugsweise Chicklit und Liebeskomödien. Skurrile Liebeskomödien. In ihren Romanen geht es nicht so
sehr um absolute Realitätsnähe wie um Unterhaltung. Wer außerdem übersteigerten
Humor mag, ist bei Katie Volckx an der richtigen Adresse. Dennoch ist ihr ein gewisser
Tiefgang wichtig. Sie sagt, nur das gäbe den Geschichten ein sinnvolles Ziel und schaffe
einen bleibenden Wert.
KATIE VOLCKX
1. Auflage
Copyright © 2016 by Katie Volckx
Alle Rechte am Text liegen bei der Autorin
Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise,
sind ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin nicht gestattet.
Layout & Design: Katrin Baustmann
Umschlagbilder: © 2014 https://pixabay.com/de/users/Foto-Rabe-715168/
© 2016 https://pixabay.com/de/users/GDJ-1086657/
Schrifttyp Titel: Max and the Dust © 2013 by Paulo R
Herzgrafik: MyValentinesLove-Demo © 2014 FontsCafe
Gesetzt aus der Junicode © 2012 Peter S. Baker
Kontakt: [email protected]
https://www.facebook.com/katie.volckx
Katrin Baustmann
Mollerstraße 2
49356 Diepholz
ISBN-13: 978-3-7418-0464-9
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
by epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Namen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden,
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen
Personen wären rein zufällig.
Lieben – das heißt Seele werden wollen in einem anderen.
Friedrich Schleiermacher 1768-1834
E
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»Wieder so eine eingebildete Ziege«, brummelte ich, während ich die Tür hinter der einundvierzigsten Interessentin
mit dem Fuß ins Schloss stieß, auf die ich mich ohnehin nur
schwer konzentrieren konnte. Denn noch vor fünf Minuten hatte
ich ein Telefongespräch mit einem anderen Bewerber geführt, der
sich für das zu vermietende Zimmer interessiert zeigte. Noch immer hielt ich das schnurlose Telefon in der Hand und noch immer schüttelte ich fassungslos den Kopf.
Wies die Annonce nicht ausdrücklich darauf hin, dass ich das
teilmöblierte Zimmer ausschließlich an eine Vertreterin des schönen Geschlechts vermieten würde?
Da hatte doch ein junger Mann tatsächlich die Nerven, mich
davon überzeugen zu wollen, dass er der einzig wahre und richtige
Mitbewohner für mich wäre. Zugegeben, mit seiner munteren,
aufgeschlossenen und vor allem witzigen Art hatte er einen gewissen Charme versprüht und wusste sich auch zu artikulieren, doch
deswegen würde er noch lange kein Mädchen ersetzen. Er war ein
Bursche! Und das verstieß gegen meine Grundsätze.
Seufzend ließ ich mich aufs Sofa fallen und warf das Telefon neben mich aufs Sitzpolster. Ich sank in die Lehne zurück, legte den
Kopf in den Nacken, starrte an die Zimmerdecke und erwischte
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mich dabei, wie ich die Struktur der Raufasertapete inspizierte.
Meiner Meinung nach nahm ein Gegenstand auch mal eine ganz
merkwürdige Form an, sobald ich mich auf diesen intensiv konzentrierte. Eine abnorme sogar. Und so geschah es auch mit der
Raufasertapete: Die ungleichmäßigen Beulen wirkten wie juckender, ansteckender Ausschlag und störten das Gesamtbild.
Seit die Annonce vor einer Woche in der Tageszeitung erschienen war, rannten mir die Mädels regelrecht die Bude ein. Allerdings wunderte mich das inzwischen gar nicht mehr, da mein
neugieriger Nachbar (ich nannte ihn völlig zu Recht 007), der die
Wohnung auf der ersten Etage direkt unter mir bewohnte, langatmig darüber aufgeklärt hatte, wieso die Nachfrage eines WGZimmers in einer Großstadt wie Berlin so riesig sei. Hätte ich im
Vorhinein gewusst, dass sich die Suche nach einer Mitbewohnerin derart schwierig gestalten und ausschließlich Stress bewirken
würde, hätte ich weitestgehend über das Bedürfnis einer solchen
hinweggesehen.
Andererseits war die Annonce ja nicht auf meinen Mist gewachsen, sondern auf den meines fünf Jahre älteren vorherrschenden Bruders Emil, der es, nebenbei bemerkt, nicht mochte, Emil
genannt zu werden, weil er den Namen für lächerlich hielt. Er
pflegte immer zu sagen: »Da kann ich mir das Wort Niete auch
gleich auf die Stirn tätowieren lassen.« So nannte jeder ihn seit
Jahr und Tag Beck: Ein Kürzel aus unserem Familiennamen Halbeck.
Wenn jemand das allerdings nachvollziehen konnte, dann war
ich das. Mit meinem Namen fuhr ich nämlich auch nicht viel
besser. Da waren erste Reaktionen wie »Heidi? Wie die Heidi von
der Alm?« oder »Wo hast du denn Alm-Öhi und Peter gelassen?«
vorprogrammiert. Unsere Namen schrien ja förmlich nach Hohn
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und Spott, fand ich. Wir konnten bis heute nicht verstehen, was
unsere Eltern bei der Namenswahl geritten hatte.
Wie auch immer, es mochte zwar seine Idee gewesen sein,
Schuld hatte ich trotzdem selbst. Ich hatte ihm nämlich lang genug mit einer Arie über Einsamkeit und Armut in den Ohren gelegen. Offenbar hatte er es deshalb nicht für nötig gehalten, den
Vorschlag vorab zu unterbreiten, geschweige mich, die ahnungslose kleine Schwester, zumindest kurz über ihr Glück zu unterrichten, sondern hatte die Annonce direkt über meinen Kopf hinweg aufgegeben und es schlussendlich als Überraschung bezeichnet. Natürlich hatte ich die »frohe« Botschaft entsprechend übellaunig aufgenommen, bis ich endlich kapierte, dass mein werter
Bruder ja nur gute Absichten verfolgt hatte. Und immerhin hatte
er meinen Wunsch nach einem Wesen weiblicher Natur bedacht.
Hätte ich jedoch geahnt, wie empfindlich ich auf die hochmodernen Mädchen von heute reagierte, hätte ich mir lieber ein Haustier zugelegt. Es hieß ja, Hunde hätten therapeutische Fähigkeiten.
Nicht, dass ich therapeutische Hilfe ernsthaft nötig hätte, aber
in dieser sehr verrückten Welt konnte man weiß Gott nicht genug zur gesundheitlichen Vorsorge beitragen. Gewiss wirkte das
sehr spießig: Ich rauchte nicht, trank keinen Alkohol, guckte immer fünfmal mehr nach rechts und links, bevor ich die Straße
überquerte, umging strikt jede Situation, von der nur im Ansatz
Gefahr ausgehen könnte (Fahrstuhl fahren, in tiefen, dunklen
Seen schwimmen, Karussell fahren, mit dem Flugzeug fliegen, auf
die Sonnenbank gehen und so weiter und so fort) und ernährte
mich vegetarisch. Die Idee, mich gar vegan zu ernähren, hatte ich
indessen so schnell verworfen, wie sie mir gekommen war, denn
ich ertrug meinen morgendlichen Kaffee einfach nicht ohne Voll-
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milch, liebte weichgekochte Eier zum Frühstück und Käse überbackene Dinge wie Pizza und Aufläufe aller Art.
Der eine oder andere mochte glauben, es wäre für mich schon
eine Herausforderung, morgens aus dem Bett zu steigen und ich
hätte keinen Spaß am Leben. Doch tatsächlich war der Grund
meiner Defizite nur einer: Ich hatte die letzten neun Jahre im
Kloster zugebracht! Nein, Sie leiden nicht an Wahrnehmungsstörungen – Sie haben sehr wohl richtig gelesen: Ich war einmal eine
Ordensschwester.
Mein einstiger Entschluss war für die meisten nur eine fixe Idee
gewesen, nicht zuletzt, weil der Entschluss, ein Leben im Kloster
zu führen, für mich bedeutet hatte, meine Familie, meine Freunde, meinen (verhassten) Putzjob und meine Heimat hinter mir zu
lassen. Warum hatte ich geglaubt, ich hätte Gott nur auf diesem
Wege nahe sein können? Verständlich, dass es niemandem in den
Kopf gegangen war. Aber gegen aller Kritik war ich zunächst dem
Ruf meines Herzens gefolgt.
So stand ich neun lange Jahre als Ordensschwester unter dem
Pseudonym Jordana durch. Ehe ich mich jedoch mit dem ewigen
Profess auf Lebenszeit an den Orden gebunden hätte, hatte ich
ein weiteres Mal einen existenziellen Entschluss gefasst, und zwar
den, zur Besinnung zu kommen. Ein restliches Leben in Armut,
Keuschheit und Gehorsam, während dort draußen in der Welt
der Bär tobte, hatte mir plötzlich nicht mehr zugesagt. Und, um
ehrlich zu sein, klang der Name Jordana nicht gerade besser als
Heidi!
Mittlerweile war ich achtundzwanzig, seit einem Jahr »auf freiem Fuß«, wie gesagt ein Hosenscheißer, arm und immer noch
keusch. Hätte ich das gewusst, hätte ich natürlich auch im Kloster bleiben können.
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Na gut, ich war nicht bettelarm! Beck hatte mir immerhin seine
Eigentumswohnung vermacht – einfach so geschenkt, als er sich
mit dem Gedanken trug, mit seinem Lebensgefährten Hugo in
ein Einfamilienhaus an den Stadtrand zu ziehen. Vermutlich war
er einzig überglücklich gewesen, dass ich wieder Verstand angenommen und den Weg der Rückkehr ins soziale Leben angetreten hatte. Und wenn ich bei ihm schon mal ein Zimmer hatte,
wollte er mir dieses Heim nicht wieder nehmen.
Meines Erachtens war die Wohnung für eine einzige Person
wirklich zu groß. Diese hatte zwei Schlafzimmer, einen großen
Wohnraum, an dem die offene Küche anschloss, ein großes Wannenbad, das von meinem Schlafzimmer abging und mir damit
jegliche Intimsphäre ermöglichte, und ein Gästebad mit Dusche
über eine Fläche von gut hundertzehn Quadratmetern verteilt.
Die Schlafzimmer und das Duschbad gingen vom großen Wohnraum ab. Es existierte kein Flur; die Wohnungstür führte direkt
in den großen Wohnraum hinein.
Übrigens war ich die Letzte, die erfahren hatte, dass Beck
schwul war; war ja im Kloster! Sich an diesen Gedanken zu gewöhnen, war ein harter Kampf, denn als ich ihn das letzte Mal,
vor meinem Klostereinzug, gesehen hatte, war er der größte Playboy aller Zeiten und hatte alles besprungen, was Puls hatte. Ihm
lag völlig fern, sich jemals fest zu binden. Nicht zuletzt aus diesem Grund fand ich es sehr fragwürdig, dass jedermann so ohne
Weiteres mit Becks Homosexualität zurande kam, jedoch nicht
mit meinem ehemaligen Wunsch, Nonne zu werden. Klar, ich
hatte recht untypische Sichtweisen für ein junges Mädchen, während Homosexualität zu keiner Zeit untypisch, vielmehr überraschend war, doch beides nahm aus Überzeugung seinen Lauf.
Zumindest war ihm seine Homosexualität zugute gekommen.
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Denn damals war er nicht nur dieser Playboy, sondern noch dazu
ein Luftikus. Inzwischen war er total bieder geworden. Zuerst
dachte ich, Beck wäre von Außerirdischen entführt und durch
einen besseren Klon ersetzt worden, aber dann hatte er die Geschichte mit der Weberknecht-Spinne, mit der er mich schon
Zeit meines Lebens aufzog, vor seinem Herzallerliebsten wieder
herausgekramt. (In dieser prügelte ich mit einem meiner FlipFlops auf eine Weise auf die besagte Spinne ein, als hätte ein
mordlustiger Löwe vor mir gestanden.) So wusste ich, dass er lediglich erwachsen geworden war – im Großen und Ganzen –;
Männer hinkten ja bekanntlich immer eine Spur hinterher.
Apropos Männer.
Auch wenn ich im Kloster gewesen war, wusste ich sehr wohl,
wie jene tickten. Meine beste Freundin Hanna hatte mich vielmals aufgeklärt, da sie sich einbildete, ein Leben im Kloster wäre
gleichzusetzen mit einem Leben hinterm Mond. Ich wollte ihren
Eifer nicht mit Füßen treten, deshalb hatte ich ihre Anekdoten
stillschweigend ertragen und diese geschmeidig ins eine Ohr herein- und ins andere Ohr herausfließen lassen.
Seit unserer Jugend waren wir, unzertrennlich (während meines
Klosteraufenthalts hatten wir zumindest regen Brief- und Telefonverkehr). Hanna war mir immer zwei Jahre voraus, was sie mir
gelegentlich unter die Nase rieb. Allerdings hatte es in den letzten
Monaten abrupt nachgelassen. Dafür gab es auch einen deftigen
Grund: Hannas dreißigster Geburtstag! Und der stand in zehn Tagen bevor.
Schon seit Wochen – ach, was rede ich da? – seit Monaten hielt
sie etwa dreimal die Woche beachtliche Vorträge darüber, was
dieses Alter Unheilvolles mit sich brächte. Schlagartig würde die
Haut in jedem noch so kleinsten Winkel erschlaffen, die Tränen-
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säcke wären im Notfall nicht einmal mehr mit Eiswürfeln kleinzukriegen, die Falten würden sich immer tiefer um die Mundund Augenpartien pflügen und die Brüste sowie der Hintern
könnten sich gegen die Schwerkraft wohl oder übel nicht mehr
durchsetzen. Dass sich meine Anteilnahme in Grenzen hielt, lag
wohl daran, dass ich die Maßgeblichkeit der äußeren Erscheinung
nicht mehr gewohnt war. Ich meine, in der Klosterzeit besaß ich
nun mal keinen Hintern oder Brüste oder andere pikante Körperteile; primär besaß ich nur meine Seele, meinen Glauben, na ja,
und meine schwarze Ordenstracht. Aber wenigstens erklärte Hannas Angst vorm Altern die doppelte Schicht Make-up, die sie
schon seit geraumer Zeit auftrug ... unnötigerweise, sei an dieser
Stelle einmal gesagt.
Tja, und ich war immer davon ausgegangen, dass Frauen erst ab
vierzig begannen durchzudrehen. Das war wohl falsch gedacht.
Einmal hatte Beck versucht, sie mit Worten wie »Sieh mal, ich
stehe noch immer ganz ohne Gehhilfe allein aufrecht« aufzumuntern, war lediglich auf spaßhafte Weise darauf aus gewesen, sie
daran zu erinnern, dass er schon lange vor ihr die Dreißig überschritten hatte. Aber natürlich war der Schuss nach hinten losgegangen und sie hatte darauf nur geantwortet: »Bei dir ist das was
völlig anderes, du bist schließlich ein Mann!«, was inzwischen jedoch recht umstritten war, denn seit seinem Coming Out hatte er
verdächtig viele feminine Züge angenommen. Dann war sie Tür
donnernd und mit quietschenden Reifen davongejagt. Nach dieser (das sei betont) recht überzogenen Reaktion hatte ich mir die
grandiose Idee, ihr, natürlich nur zum Spaß, zum Geburtstag
einen Krückstock zu schenken, lieber aus dem Kopf geschlagen,
bevor sie mich damit aus ihrem Leben triebe. Sicher war sicher.
Das plötzliche Telefonklingeln riss mich aus dem Wust unter-
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schiedlicher Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Ich musste nur
eine Handbewegung nach rechts machen, um den Hörer vom
schnurlosen Telefon zu greifen. Ich fühlte mich benommen, also
hauchte ich das Hallo nur.
»Hallo, Ramona Fink mein Name. Ich interessiere mich für das
WG-Zimmer.« Der Klang ihrer Stimme war hell, wirkte gar, als
wäre das dazugehörige Mädchen nicht älter als zehn.
In mir zog sich alles zusammen. All das war mir zunehmend ein
Graus. Ich war kurz davor, diese Ramona Fink abzuwimmeln und
zu behaupten, dass das Zimmer schon vergeben sei, nur damit ich
endlich meine Ruhe hätte – zumindest in Bezug auf den heutigen
Tag.
»Wann hättest du Zeit und Lust es zu besichtigen?« Selbstverständlich duze ich sie.
»Ich möchte nicht aufdringlich sein ... aber wie wäre es mit ...
jetzt?«
Mir wurde leicht schummerig. Ich warf einen langen jämmerlichen Blick auf die Uhr. Jede Faser meines Körpers schrie NEIN,
aber ich sagte: »Fünf Uhr!« und gab meine Adresse durch.
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E
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Nach zwanzig Minuten saß ich noch immer hier, war vom
Anrufer allerdings ausreichend reaktiviert worden. Ich raufte
mir die Haare, denn ich war verzweifelt. Ja, das war ich wirklich! Da ich noch immer nur diesen Minijob im Supermarkt hatte
und mich ansonsten mein jovialer Bruder mit durchfüttern musste, käme mir eine Ertrag abwerfende Untermieterin mehr als gelegen. Meine Verzweiflung war sogar so groß, dass ich einen kurzen Moment lang völlig den Verstand verloren hatte und den jungen Mann, den ich vorhin noch am Telefon energisch abgewimmelt hatte, wahrhaftig als Mitbewohner in Betracht zog. Wie gesagt, nur einen kurzen Moment lang.
Ich grinste und schüttelte den Kopf über meine Anspruchslosigkeit und hievte mich schließlich vom Sofa, um den Terminkalender zu prüfen. Vor Ramona erwartete ich nur noch eine Interessentin. Ich musste meine Augen ein wenig zusammenkneifen,
da ich auf einmal meine eigene Schrift nicht mehr entziffern
konnte. Hieß die Gute nun Lena? Oder Lana? Oder gar Lene?
War das überhaupt ein L? Herrje, in der Eile hatte es eben rasend
schnell gehen müssen, und Unruhe überforderte mich in der Regel nun mal. An und für sich war das doch aber eh alles dasselbe,
oder? Und, offen gesagt, ging ich davon aus, dass ich sie ohnehin
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nicht mögen würde. Ich wägte im Ernst ab, ob es Sinn machte,
ihr überhaupt noch die Tür zu öffnen.
Es war jetzt genau sechzehn Uhr. Meine schlechte Laune wurde
immer sichtbarer, nicht zuletzt deshalb, weil ich heute noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt hatte, aus Angst, ich könnte all die
Interessentinnen sonst nicht unter einen Hut bekommen. Ja, ich
hätte auch eine Massenbesichtigung arrangieren können, aber wie
hätte ich unter diesen Umständen herausfiltern können, wer zu
mir passte? Na ja, und natürlich hatte ich auch Bedenken in Hinblick meiner Wertgegenstände im Haushalt. Was, wenn ich den
Überblick verloren und jemand meine Wohnung in einem unaufmerksamen Augenblick geplündert hätte?
Ich brauchte frische Luft; und zwar jetzt! Und was ich noch viel
dringender brauchte, waren ein paar Nahrungsmittel. In meinem
Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Heute Morgen hatte ich
das letzte trockene Stück Brot mit Ketschup gegessen, was darauf
schließen ließ, dass ich schon gestern nicht zum Einkaufen gekommen war. Und deshalb war es doch nur allzu verständlich,
dass meine Laune allmählich in den Keller brauste: Mein Magen
tobte vor Hunger.
Einen kleinen Augenblick dachte ich angestrengt nach. Dabei
knabberte ich auf meiner Unterlippe herum und rieb mir das
Kinn, als könnte das meine kleinen grauen Zellen in Gang bringen.
Doch als ich mich endlich für einen Veggie-Döner aus dem Imbiss von gegenüber entschieden hatte und nach meinem Hausschlüssel aus der kleinen Bambusschale auf dem Sideboard neben
dem Eingang schnappen wollte, klingelte es an der Haustür. Lang
und schrill. Na schön, für den hochfrequenten Klingelton konnte
die gute Lena, Lana oder Lene natürlich nichts, für das Dauer -
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klingeln allerdings schon. So etwas Penetrantes käme mir schon
mal nicht ins Haus!
Anstandshalber öffnete ich die Haustür per Knopfdruck; ersparte mir schon den ganzen Tag, die ankommenden Interessentinnen durch die Gegensprechanlage zu begrüßen. Ich zog die Wohnungstür auf, schon bevor sie den zweiten Stock erreichte, um sie
wissen zu lassen, wo ihr Aufstieg enden würde.
Sie ließ mich lang zappeln. Sie schien alles Zeitraubende gut zu
beherrschen. Das machte sie just noch unsympathischer.
Mit einem Mal jagte Mailys aus dem Nichts durch meine leicht
gespreizten Beine hindurch direkt in meine Wohnung. Sie fetzte
wie von der Tarantel gestochen über das Sofa, einmal quer durch
die Küche ins Schlafzimmer, sprang auf mein Bett, hielt eine Sekunde mit spitz aufhorchenden Ohren inne und raste dann,
knapp an meinen Beinen vorbei, zurück ins Treppenhaus. Dort
bremste sie kurz vor der hinabführenden Treppe ab, rutschte jedoch noch ein bedenkliches Stück auf dem Po weiter. Aber statt
die Treppe herunterzupurzeln, wendete sie am Absatz, um die selbe Runde nochmals zu nehmen. Im selben Moment stolperte
mein Nachbar Vincent hastig aus der dritten Etage hinunter, warf
mir lediglich einen schnellen, um Verzeihung bittenden Blick zu
und drängte mich an meiner eigenen Wohnungstür zur Seite, um
Mailys einzufangen. Offensichtlich erfolglos.
Ich eilte ihm nach, fühlte mich noch ein bisschen von Vincents
rüden Art angepisst, ließ mir jedoch nichts anmerken. Vielmehr
wollte ich ihm behilflich zur Hand gehen, indem ich die ungestüme Jack-Russel-Hündin mit sanfter Sprache anzulocken versuchte. Da das keine Wirkung zeigte, hätte ich sie zu gern mit einer
Scheibe Wurst bestochen. Jeder Hund war schließlich bestechlich.
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Ich sah Vincent seiner Hündin in mein Schlafzimmer hinterherlaufen, fand das einfach ungeheuerlich, wie er ganz selbstverständlich in meine Privatsphäre einbrach, als wäre ich kaum von
Bedeutung. Es stand mir bis zum Hals, musste mich wirklich beherrschen.
Da fiel mir plötzlich ein, dass noch ein paar Karamellbonbons in
meiner Nachttischschublade lagen. Ich schlich mich also an Vincent, der inzwischen auf allen Vieren auf dem Boden kroch, da
Mailys sich unter dem Bett versteckt hatte, vorbei und fühlte, wie
sich meine Kehle zuschnürte. (Wann habe ich schon mal einen
Mann in meinem Schlafzimmer?) Auf den letzten Metern machte
ich einen Hechtsprung an die Schublade und grapschte fieberhaft
nach einem Bonbon. Ich hockte mich hin, neigte mich so weit es
mir möglich war zur Seite, um einen Blick auf die Hündin zu erhaschen, und lockte sie an, indem ich auf ihrer Augenhöhe ein
wenig mit dem Papier knisterte.
Keine fünf Sekunden später und ohne Vorwarnung schoss sie
unter dem Bett hervor, schnappte feinfühliger als gedacht nach
dem Bonbon und fetzte durch die offene Wohnungstür wieder in
den dritten Stock hoch. Vincent sah mich böse an, da er befürchtete, dass Mailys das Bonbonpapier mit herunterschlingen und
daran ersticken könnte. Doch offenbar gelangte er zu dem Entschluss, seine Worte nicht an mir zu verschwenden und rannte
stattdessen Mailys schreiend hinterher.
Mein Blut geriet in Wallung. Wutentbrannt stampfte ich zur
Wohnungstür und knallte sie mit aller Kraft zu. Ich konnte hören, wie dieses Geräusch durch das ganze Treppenhaus hallte und
007 kurz darauf seine Tür aufriss, um brüllend um Ruhe zu bitten.
Vincent war mir generell recht ignorant zugewandt. Es machte
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keinen Unterschied, ob ich ihm ein Lächeln zuwarf oder eine ablehnende Grimasse zog, wenn ich ihm im Treppenhaus begegnete; nach Möglichkeit vermied er ja ohnehin Augenkontakt. Allerdings konnte ich mir bis heute nicht erklären – ja konnte es nicht
einmal erahnen –, welches Problem ihn plagte und warum es ihm
Anlass gab, mich nicht einmal anständig zu grüßen.
Vor einigen Monaten hatte ich ein Päckchen für ihn entgegengenommen, als der Zusteller ihn nicht persönlich antreffen konnte. Und als ich es Vincent am Abend mit den Worten: »Stets zu
Ihren Diensten« und einem neckischen Augenzwinkern überbracht hatte, hatte er sofort ein miesepetriges Gesicht aufgesetzt.
Mit einer naiven Freundlichkeit hatte ich ihn gefragt, was für
eine Laus ihm über die Leber gelaufen sei, denn mir war nicht
klar gewesen, dass dieses miesepetrige Gesicht mir gegolten hatte.
Daraufhin hatte er schonungslos geantwortet, er hätte etwas dagegen, wenn ich für ihn Pakete entgegennehmen würde.
Anfänglich hatte ich gedacht, Vincent wäre einfach nur ein
recht verschrobener, unterkühlter Charakter, doch über die Zeit
musste ich betrüblicherweise erkennen, dass sich sein unzivilisiertes Verhalten ausschließlich auf mich bezog. Beck hatte mir
schon damals verklickern wollen, dass ich mir das nur einbilden
würde, immerhin hätte Vincent sich in all den Jahren ihm gegenüber stets angemessen verhalten, waren gar zu Freunden geworden.
Tja, dazu müsste ich Beck wohl noch einmal meine unbequeme
Meinung geigen.
Auf einmal wurde mein Denkvorgang von einem Geräusch unterbrochen, das ein wenig danach klang, als hätte jemand eine
Schranktür geschlossen. Das Geräusch kam aus dem zu vermietenden Zimmer. Ich pirschte mich an die Tür heran, die nur
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einen winzigen Spalt offen stand. Dennoch erhoffte ich mir einen
Einblick. Das war natürlich lächerlich.
Mein Atem ging schneller, mein Herz ebenfalls. Ich blieb kurz
stehen und verhielt mich möglichst still, um nach einem weiteren
Geräusch zu lauschen. Ich meinte, leise Bewegungen wahrzunehmen, aber ich konnte mich auch irren, denn meine rote Seidenbluse raschelte bei jedem Atemzug. Ich stellte Überlegungen an,
auch, ob ich nicht besser die Beine in die Hände nehmen und
flüchten sollte. Aber mit einem Mal überkam mich der tiefe, innere Drang, meine Neugierde befriedigen zu wollen, und wenn es
das Letzte war, was ich tun würde! Also ging ich weiter, hielt den
Atem an und stieß die Tür mit dem Fuß auf.
Eine gefühlte Minute am Stück schrie ich. Der Schreck saß tief,
wollte und wollte nicht vergehen, obwohl ich zuvor ja das Allerschlimmste erwartet hatte. Ich zitterte am ganzen Leib, meine
Knie fühlten sich taub an, musste mich erst einmal irgendwo hinsetzen. Mir wurde ganz übel, deshalb knetete ich meinen Hals.
Ein Typ, jungenhaft, mittelgroß, brit-poppiger Shag mit einem
unordentlichen Seitenscheitel (wenn ich sonst keine Ahnung von
solchen Dingen hatte, kannte seit Justin Bieber wohl ausnahmslos jeder diese Frisur), glotzte mich mit großen eisblauen Augen
an, als wäre meine Anwesenheit in dieser Wohnung nicht normal.
Eigentlich glotzten wir uns gegenseitig an, einer geschockter als
der andere.
Bis ich allmählich wieder zu mir kam und begriff, was hier vor
sich ging. Und schlagartig überkam mich die Wut. Vincent hatte
Glück: er wurde gerade von diesem wildfremden Typ getoppt!
Er las mir meine miese Laune von den Augen ab. Und ehe ich
das Hühnchen mit ihm rupfen konnte, kam er mir zuvor: »Hallöchen, ich bin Philipp Söderqvest«, stellte er sich vor und versuch-
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te, möglichst beschwingt dabei zu klingen. Er kam zu mir herübergeeilt und begrüßte mich mit weit ausgestrecktem Arm. Es
schien, als wolle er mich mit dieser Geste auf Distanz halten.
»Machste einen auf Bruce Lee?«
»Wer zum Teufel sind Sie?«, ließ ich seine freche Bemerkung
unberücksichtigt und ging in Förmlichkeit über, obwohl er augenscheinlich jünger war als ich.
»Sie waren mit dem Hund beschäftigt«, erklärte er hastig. »Hab
Sie angesprochen, aber Sie haben mich nicht registriert.«
Dem Anschein nach hatte mich der Vorfall mit Mailys und
Vincent derart aus dem Konzept gebracht, dass ich ganz vergessen
hatte, warum ich die Wohnungstür ursprünglich geöffnet hatte.
»Ach so, und da dachten Sie, Sie könnten derweil in der Wohnung herumschleichen und mir einen Heidenschreck einjagen,
statt an der Tür stehenzubleiben, bis ich bei Ihnen bin?«
Er nickte. »Ja, das war der Plan – Sie zu erschrecken.« Jetzt mutierte er auch noch zu einem spitzzüngigen Komiker.
»Wir brauchen uns gar nicht weiter zu unterhalten. Ich vermiete das Zimmer nicht an ein männliches Geschöpf.« Ich erhob
mich vom Stuhl und bat ihn mit einer Handbewegung, mich zur
Wohnungstür zu begleiten.
Er folgte mir nur widerwillig.
Ich war im Begriff die Türklinke hinunterzudrücken, als er seine Hand auf meine legte und mich bat, ihm eine Chance zu ge ben. Ich lachte kurz, hell und ein bisschen schäbig auf. Doch er
meinte es wirklich ernst. Sein Blick war durchdringend und flehend zugleich.
Er war beklagenswert. Das führte immerhin dazu, dass ich meine Grundsätze noch einmal überdachte. Waren diese überhaupt
stichhaltig? Es sah zwar nicht danach aus, dass er zurzeit unter ei-
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ner Kanalbrücke dahinvegetierte, doch er wirkte durchaus wie jemand, der auf dem schnellsten Wege ein neues schützendes Dach
über dem Kopf brauchte.
Was genau sprach eigentlich dagegen, das Zimmer einem Mann
zu überlassen? Dass er ein Mann war? Diese Begründung fand
selbst ich in diesem Moment etwas dünn. Ja, was sprach schon
dagegen, diesem Philipp Söderqvest (sein Name klang verdächtig
schwedisch) das Zimmer zu vermieten, wenn mir doch die weiblichen Geschöpfe partout nicht zusagten? Vielleicht konnte ich
mich nicht an den Gedanken gewöhnen, mit einer Frau in einer
Gemeinschaft zu leben, weil ich es leid war, mein Leben mit
Frauen zu teilen, nachdem ich es neun lange Jahre im Kloster getan hatte? Vielleicht hatte das Jahr, das ich mit meinem Bruder
und dessen Lebensgefährten Hugo verbracht hatte, mich und
meine Ansichten mehr verändert als gedacht?
Er erkannte mein Zögern, wusste das auch sofort für sich zu
nutzen, indem er mich mit einer sanften Geste dazu bewegte,
zum Sofa hinüberzugehen. »Lassen Sie uns nur kurz darüber sprechen, in Ordnung?« Er lächelte zuckersüß. Auf einmal wirkte er
noch viel jungenhafter, so dass ich seine Volljährigkeit allen Ernstes infrage stellen musste. Jedenfalls fühlte ich mich schlagartig
steinalt.
Ich war gespannt, mit welchen Argumenten er mich umstimmen wollte.
»Also, erst einmal möchte ich mich aufrichtig dafür entschuldigen, dass ich Sie hier so überfalle. Aber nachdem Sie mich am
Telefon nur abgefertigt haben, war ich der Auffassung, ein persönlicher Kontakt könnte viel mehr für mich sprechen.«
Siezte er mich nur der Manieren wegen oder war ich ihm zu
reif? Genau das ging mir gerade durch den Kopf, während er sich
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an Erklärungen versuchte.
»Ich suche einen Mitbewohner und keinen Geschäftspartner.«
Ich bot ihm das Du an. Und zu meiner Überraschung sah er erleichtert aus. Galant erhob er sich ein Stück und reichte mir
nochmals die Hand. Er trug ganz schön dick auf, doch was blieb
ihm weiter übrig? Er wollte dieses Zimmer – um jeden Preis!
»Du hast mit dem Sie angefangen ...« Er stutzte, denn er war
sich nicht sicher, ob er meinen Vornamen kannte. »Wie … wie
heißt du?«
Ich stellte mich mit Heidi vor und wartete auf eine dieser spöttischen Reaktionen auf meinen Namen.
Zunächst grinste er nur. Dann: »Oh, ein neuer Stern am Modelhimmel«, amüsierte er sich köstlich.
Hatte er mich gerade mit einem Model verglichen? Ich fühlte
mich gründlich verkohlt. Ganz bestimmt war ich nicht darauf aus,
mich kleiner zu machen, als ich war, doch ich war schon sehr unscheinbar, wog bei einer Größe von einhundertdreiundsiebzig
Zentimetern vierundsechzig Kilo, hatte zu wenig Brust, dafür
einen Tick zu viel Hintern (wenngleich ich persönlich der Überzeugung war, dass die Unstimmigkeiten im Bereich des Erträglichen lagen), hatte einen breiten Kiefer und meine Füße neigten
dazu, beim Gehen nach innen zu zeigen.
Zweifellos war mir das noch nie passiert. »Willst du das Zimmer
nun haben?«, machte ich meinem Unmut Luft.
»So habe ich das nicht gemeint.« Nervös rutschte er mit dem
Hintern auf dem Polster hin und her. »Ich finde dich wirklich
nicht zu dick. Es ging mir rein um den Namen.« Ich merkte ihm
an, wie es ihm gemächlich dämmerte. Wie konnte er auch annehmen, dass er der Einzige war, dem zu meinem Namen etwas so
Glorreiches eingefallen war?
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Ich ließ ihn in dem Glauben, dass ich ihm das Fettnäpfchen, in
das er ungewollt getreten war, krummnahm, da er sich, meiner
Einschätzung nach, seiner viel zu sicher fühlte.
»Eigentlich erwarte ich noch eine Interessentin.« Lena, Lana
oder Lene würde sich hier wohl nicht mehr blicken lassen; das
war die unbequeme Wahrheit.
»Meinst du Jane?«
Ich schenkte ihm ein verwirrtes Blinzeln. Nicht nur, dass er Bescheid zu wissen schien, noch dazu wusste er den richtigen Namen der vorletzten Interessentin. »Hast du Jane um die Ecke gebracht, damit du ihre Stelle einnehmen kannst, oder was?«
Er lachte gellend auf.
Und ich zuckte zusammen.
Sofort schoss mir 007 von unter mir durch den Kopf. Mir fiel
wieder ein, dass er allzeit die Flöhe husten hörte. Mich hätte es
also keineswegs gewundert, wenn es in der nächsten Minute an
meiner Tür klingeln würde. Tat es aber nicht.
Endlich hatte Philipp sich wieder beruhigt. »Ich habe das Mädchen abgefangen und erklärt, dass das Zimmer bereits vermietet
ist ... an mich.« Wieder kam dieses jungenhafte Lächeln zum
Vorschein. »Sie war ein bisschen sauer auf dich, aber irgendwann
geht auch das wieder vorbei.«
Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich an die Decke gehen oder
mich geehrt fühlen sollte. Ich entschied mich für irgendetwas in
der Mitte. »Du kannst doch nicht einfach über meinen Kopf hinweg entscheiden ...«
Er war risikobereit und unterbrach mich: »Sie hätte nicht zu dir
gepasst!«
»Ach, und du schon?« Meine Stimme überschlug sich und ihr
Klang glich beinahe meiner Türklingel.
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»Jungs sind viel pflegeleichter«, glaubte er offenbar, dass es kein
schlagenderes Argument gab.
Der ganze Austausch gestaltete sich allmählich immer komplizierter. Ich wollte Fakten und ging daran, ihn gründlich und konzentriert auszufragen.
»Wie bist du an meine Adresse gekommen?«, schließlich war
diese in der Tageszeitung nicht abgedruckt.
»Ich habe meine Schwester gebeten, sich für Ramona auszugeben, nachdem du mich unberührt hast abblitzen lassen.«
Ich versuchte, mich nicht künstlich aufzuregen und nickte die
Antwort nur ab. Zuletzt war ich nur froh darüber, dass er kein
Spion oder gar ein Stalker war.
Im Kopf machte ich also einen grünen Haken hinter Ramona!
»Wie alt bist du?«
»Dreiundzwanzig.« Er wirkte unverkrampft und ging bravourös
mit meiner Vernehmung um.
Schade, dachte ich, er ist ja noch ein Kind! »Was machst du beruflich?«
»Ich bin im dritten Jahr meines Medizinstudiums.«
Oh, er war also ein angehender Arzt. Kurz überrechnete ich die
Jahre, die er in etwa benötigen würde, um seinen Facharzt in der
Tasche zu haben. Dabei wäre es weitaus interessanter gewesen,
von was im Fall der Fälle er gedachte, die Miete für das Zimmer
zu bezahlen.
»Na, ich bekomme Unterhalt von meinen einkommensstarken
Eltern. Und außerdem jobbe ich abends als Barkeeper.«
Barkeeper erzeugten in mir überwiegend ein unangenehmes Gefühl. Nicht, dass ich viele kennen würde (ich ging nicht aus in
Bars), aber ihr Ruf eilte ihnen nun einmal voraus.
»Hast du eine Freundin?« Ich musste das fragen, denn ich woll-
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te mich darauf einrichten, wer künftig innerhalb meiner Privatsphäre verkehren würde. »Oder bevorzugst du mehr noch wechselnde Partner?« Okay, okay, ertappt: das interessierte mich auch
ganz persönlich. Und er schien das auch zu bemerken. Deshalb
fügte ich hintendran: »Ich bestehe nämlich darauf, dass es hier so
ruhig und stressfrei wie möglich zugeht und will nicht das Gefühl
haben, mein Leben wäre eine einzige Party«, auch wenn sich das
für ihn sterbenslangweilig anhörte.
Er schmunzelte. Ein wenig verlegen sah er dabei aus, was in mir
erneut das Gefühl auslöste, ich wäre seine Erziehungsberechtigte.
»Ich habe keine Zeit für eine Freundin. Ich lebe für die Arbeit.«
Er wies mich darauf hin, dass er in seiner Freizeit zumeist schlief
und dass ich erstaunt wäre, wie selten ich ihn zu Gesicht bekäme.
Das beruhigte mich einigermaßen.
Dann beschloss ich, mich nicht weiter wie eine alte Glucke aufzuführen. Letztendlich hatte ich nicht vor, Philipp zu erziehen,
sondern einen Mitbewohner zu finden, der zu mir passte. Es fiel
mir auch nicht länger schwer, mich auf ihn einzulassen, denn die
Chemie zwischen uns stimmte.
Ich erlöste ihn und klärte ihn dafür über die Wohnsituation
auf. Eigentlich gab es fast gar keine Bedingungen. »Mein Schlafzimmer ist tabu. Es gibt keine Haushaltskasse – jeder sorgt für
sich. Den Kühlschrank unterteilen wir. Es gibt keinen Putzplan,
denn jeder ist für sich verantwortlich.« Mehr wollte mir zunächst
nicht einfallen.
»Heißt das etwa, ich bekomme das Zimmer?« Es schien ihm
jede Bedingung recht zu sein, wenn er dafür nur dieses Zimmer
bekäme.
»Tja, ich schätze schon.« Ich war selbst von mir überrascht,
denn es war ein viel zu spontaner Entschluss. Ich fürchtete, dass
26
ich diesen eines Tages bereuen könnte, aber im Moment fühlte es
sich schlichtweg richtig an.
Er war sprachlos. Hatte es doch anfänglich nicht danach ausgesehen, dass ich, die spröde Klosterfrau, aufgeschlossen genug für
neue Wege sein könnte.
»W-w-wann darf ich einziehen?«, stammelte er vor Begeisterung, wirkte so, als müsste er sich beherrschen, mir nicht um den
Hals zu fallen. Es bestärkte mich darin, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
»Zum ersten Juli.« Das war in einer Woche. »Inzwischen mache
ich den Mietvertrag fertig und sorge dafür, dass alles geregelt ist.«
E
Genervt schleuderte ich die beiden Taschen mit den Lebensmitteln auf die Ablagefläche der Küche. Es schepperte einmal kräftig,
und ich hoffte, dass die Einweckgläser heil geblieben waren.
Gleichzeitig klingelte unermüdlich das Telefon. Es hatte bereits
geklingelt, als ich zur Tür hereingekommen war. Ich blieb hart
und ging nicht dran, denn im Moment hatte ich nur ein einziges
Ziel: die tiefgefrorene Pizza Funghi in den Ofen zu schieben und
dann mir in den Mund. Nichts und niemand könnte mich jetzt
davon abhalten!
Während die Pizza im Ofen endlich aufbuk, sortierte ich alle
anderen Lebensmittel ein. Nur den Streukäse, den ich später zusätzlich auf die Pizza geben würde, ließ ich auf der Ablage liegen.
Ich inspizierte den Kühlschrank von oben bis unten. Sollte ich
besser kleine Namensschilder vorn an den Gittereinsätzen anbringen, damit Philipp von vornherein den Regeln gegenübergestellt
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sein würde? Oder wäre das zu albern? Schließlich könnte ich ihm
auch so viel Verstand zutrauen, das Seinige und das Meinige auseinanderhalten zu können, nicht wahr?
Erneut klingelte das Telefon. Ich rang mich durch, wenigstens
einmal einen Blick auf das Display zu riskieren, nur um mich zu
vergewissern, dass es kein Notfall war. Es war Beck, mein penetranter Bruder. Obwohl alles in mir Widerstand leistete, schnappte ich mir das Telefon und ging dran. Wenigstens könnte das Gespräch mir die Zeit bis zum Essen verkürzen.
»Alles in Ordnung? Ich wollte mal hören, ob sich denn heute
eine passende Mitbewohnerin gefunden hat?«
Selbstverständlich ging es nur darum! Schon seit dem ersten
Besichtigungstag rief er mich jeden Abend an, um die Lage zu
checken.
Ich blickte auf die Uhr. Beinahe acht. Mir war zuvor gar nicht
bewusst gewesen, dass es schon so spät war.
»Entschuldige, ich bin ein wenig überreizt. Ich will nur noch
etwas essen und dann ab ins Bett.«
Beck traute seinen Ohren nicht. »Ins Bett? Es ist noch strahlend hell draußen!«
»Wofür gibt es Jalousien?«
»Na hör mal!« Dem Vernehmen nach konnte er nicht fassen,
dass ich um diese Zeit nichts Besseres zu tun hatte. »Dann ist es
trotzdem noch strahlend hell. Aber verleugne du ruhig weiter die
Realität mit deiner Jalousie.«
Ich ließ mir ungern in meine Lebensweise reinreden, deshalb
stöhnte ich muffelig. »Erstens bin ich seit fünf Uhr in der Früh
auf den Beinen und zweitens kann ein Besichtigungstag ganz
schön schlauchen.«
Er meinte, mir anhören zu können, dass wieder niemand mei-
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nen Anforderungen gerecht geworden war. »Du bist aber auch
überaus anspruchsvoll!«
Ich lachte. Ich hielt den Hörer von meinem Mund fern, damit
Becks Trommelfell nicht zerfetzt würde. Natürlich kannte er die
Ursache meines Ausbruchs nicht, lachte jedoch mit mir, wenn
auch nur verhalten. Ich gedachte auf sein Urteil zu antworten:
»Man kann wohl kaum von Anspruch sprechen, wenn man nach
allem Übrigen auf einen Kerl zurückgreifen muss«, doch dann fiel
mir noch gerade rechtzeitig auf, wie männerfeindlich das klänge.
»Die Suche hat ja jetzt ein Ende«, berichtete ich mit großer Erleichterung in meiner Stimme. Und jetzt, da ich es ausgesprochen
hatte, wurde es mir erst so richtig klar.
Beck war nicht ganz sicher, ob er sich verhört hatte. Er wollte
jeden Zweifel ausräumen: »Willst du damit sagen, du warst heute
erfolgreich?« Es wirkte, als hätte ich sein ganzes Weltbild durcheinandergebracht.
»Bin ich wirklich so hoffnungslos?«
Mein Bruder räusperte sich. Er brauchte viel zu lange für eine
Antwort. Na vielen Dank auch! »Ich würde das nicht unbedingt
hoffnungslos nennen.«
»Sondern?« Warum wollte ich das so genau wissen? Es würde ja
wohl nicht sehr viel besser werden, oder?
»Du musst eben erst wieder mit dem Leben vertraut werden.
Das geht nicht von jetzt auf gleich.« Er wirkte selbst nicht ganz
von seinem Argument überzeugt. »Allerdings«, warf er hinterher,
»ist dir die Freiheit ja schon seit einem Jahr wiedergegeben. Eigentlich ...«
Ich fiel ihm ins Wort: »Nun ist aber gut!« Er machte mich ganz
zornig. »Du tust ja gerade so, als wäre ich zu gar nichts zu gebrauchen.« Zugegeben, ich war nicht gerade ein Energiebündel und
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vielleicht nahm ich mir für Entscheidungen ein bisschen mehr
Zeit als andere, da ich ungern Dinge übers Knie brach, doch deshalb musste man ja nicht so tun, als wäre ich völlig weltfremd
und müsste nun wie eine Blinde ans Leben herangeführt werden.
Wieso glaubte mein Umfeld immerzu, man würde im Kloster völlig verdummen?
Beck stieß den Atem grantig aus. »Lassen wir das, es bringt uns
immer wieder an diesen Punkt. Und darauf habe ich keine Lust.«
Richtig, das war nicht das erste Mal, dass wir das Thema durchzudiskutieren versuchten.
»Ich möchte dich daran erinnern, dass du wieder mit den unterschwelligen Bemerkungen angefangen hast.« Ich erschrak vor mir
selbst, denn kaum war der Satz beendet, kam ich mir vor wie ein
Baby. Manchmal führte ich mich wirklich unreif auf. So entschuldigte ich mich auf der Stelle für mein kratzbürstiges, überempfindliches Verhalten und nahm meinen exorbitanten Hunger
als Vorwand. Und jetzt, da sich der Raum mit dem Pizzaduft nach
und nach füllte, lief mir das Wasser im Munde zusammen und
machte die Gesamtlage noch unerträglicher.
Er kannte mich nicht erst seit gestern und machte deshalb auch
keinen Staatsakt draus. Ich konnte sein Lächeln durch die Hörmuschel hören. »Was ich nur sagen möchte, ist, dass es dir gehörig an Selbstbewusstsein fehlt. Aber lass uns von etwas anderem
reden, in Ordnung? Zum Beispiel von deiner zukünftigen Mitbewohnerin.« Tatsächlich war Beck eine recht zänkische Person, die
immer alles totdiskutieren wollte und kaum mit seiner Meinung
hinterm Berg halten konnte. Doch sein Interesse an die »Mitbewohnerin« war jetzt einfach viel größer.
Erst jetzt registrierte ich, dass ich ihn noch gar nicht darüber
aufgeklärt hatte, dass es keine Sie, sondern ein Er war. Plötzlich
30
scheute ich mich davor, weil ich befürchtete, Beck könnte mich
für verrückt halten. Außerdem spielte er sich gern wie ein Vater
auf, was sich, wie zu vermuten war, daraus ergab, dass Vater seine
Familie schon in frühen Jahren für eine andere Frau hinter sich
gelassen hatte. So hatte Beck auch noch heute das große Bedürfnis, die Hand schützend über mich zu halten.
»Es ... es ist keine Sie!« Ich hielt inne. Nach außen hin könnte
es eine Kunstpause sein, doch der eigentliche Sinn dahinter war,
dass ich mir eine klitzekleine Reaktion erhoffte, die mir vermittelte, dass alles bestens war.
War diese Stille am anderen Ende nun ein gutes oder eher ein
schlechtes Zeichen? Ich wollte es herausfinden und redete weiter.
»Er heißt Philipp, ist dreiundzwanzig Jahre alt, studiert Medizin, jobbt als ...«
»Wie um alles in der Welt kam es denn dazu?«, fuhr er mir fas sungslos ins Wort, als hätte er mir gar nicht zugehört, nein, vielmehr, als hätte er gar nicht bemerkt, dass ich überhaupt ein Wort
gesprochen hatte.
»Ich weiß auch nicht.« Natürlich wusste ich es, ich wollte nur
vermeiden, dass Beck mich für naiv hielt. Doch leider musste ich
feststellen, dass ich mir mit meiner aktuellen Antwort auch keinen Gefallen getan hatte.
»Du weißt auch nicht?«
Augenblicklich fühlte ich mich, als hätte ich irgendetwas verkehrt gemacht. Warum bloß ließ ich mich immer so kleinkriegen, selbst dann, wenn es niemand darauf abgesehen hatte? »Nana-natürlich weiß ich es«, stotterte ich geistlos.
Völlig perplex fragte Beck: »Was ist bei dir da drüben los?«
Ich fürchtete, dass er sich ins Auto setzen und in rasender Geschwindigkeit zu mir kommen würde, um höchstpersönlich nach
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dem Rechten zu sehen. Der Gedanke daran spornte mich an, ihm
zu signalisieren, dass alles seine Richtigkeit hatte. »Er hat sich
klammheimlich eingeschlichen. Aber das ist gut so, Beck«, erklärte ich, während ich die Backofentür aufklappte, um nach meiner Pizza zu schauen. Die flirrende Hitze, die dabei entwich, war
kaum auszuhalten und ich ging zwei Schritte zurück. Dabei griff
ich nach dem Streukäse, der auf der Arbeitsplatte noch immer auf
seinen Einsatz wartete. Um die Tüte problemlos aufschneiden zu
können, klemmte ich das Telefon zwischen Ohr und Schulter.
Dann verteilte ich den Käse großzügig auf der Pizza und schloss
den Ofen wieder mit einem Fußtritt. »Ich meine, ich scheine ja
nicht besonders gut mit Mädels zurande zu kommen. Und mit
Philipp bin ich gleich warm geworden.«
Beck wurde das Gefühl nicht los, den Anschluss verpasst zu haben und fragte nach Hintergrundinformationen. Und ehe die Geschichte im heillosen Durcheinander enden würde, begann ich,
sie von vorn zu erzählen – so wie es sich gehörte. Als ich fertig
war, erntete ich zuvor ewiges Schweigen.
»Das klingt alles sehr sonderbar.« Ich hätte wissen müssen, dass
er nichts davon halten würde.
»Was ist denn daran sonderbar?«
Becks Atem ging schwer. »Ach, egal! Ich möchte dir da nicht
reinreden.« Diese Antwort ließ unmissverständlich verstehen, dass
er sehr wohl danach dürstete, sich jedoch alle Mühe gab, es nicht
zu tun. Vermutlich fiel ihm von Zeit zu Zeit mein Alter wieder
ein und dass ich durchaus in der Lage war, Entscheidungen allein
zu treffen.
Ich ersparte mir, auf irgendeine Weise darauf einzugehen. Stattdessen erklärte ich ihm, dass meine Pizza fertig sei. Er reagierte
etwas verschnupft. Aber ich war wirklich hungrig und hatte keine
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Nerven mehr, mich wieder einmal umfassend belehren zu lassen.
»Lass es dir schmecken, Püppi«, verabschiedete er sich einigermaßen erhaben. Ich ahnte, dass ihm diese Neuigkeit eine unruhige Nacht bescheren würde.
33
E
3
Seit einer Stunde leistete ich Hanna Gesellschaft. Die letzten
Tage war es bedenklich still um sie geworden. Jetzt kannte
ich auch den Grund. Nein, ausnahmsweise ging es nicht um
ihren dreißigsten Geburtstag. Es ging um einen Mann!
»Ich bin nicht vorbeigekommen, um mir den ganzen Abend
lang deine Trauermiene reinziehen zu müssen«, zehrte mich ihr
nicht enden wollender Trübsinn aus. Eigentlich hatte ich im Sinn
gehabt, ihr von Philipp zu berichten, der morgen bei mir einziehen würde. Aber das stand nun hinten an.
»Ich weiß, ich bin zurzeit eine weinerliche Memme«, erklärte sie
schluchzend und schnäuzte sich laut in ihr Tempo, »aber momentan steckt einfach der Wurm drin.« Ich erkannte, dass sie mit
dem Pflaumenwein in der Vitrine liebäugelte. »Als hätte ich nicht
schon Komplexe genug, verlässt mich der Scheißkerl auch noch!«
Sie hielt mir eine Hand vor die Nase, zog mit der anderen an dessen Rücken eine Hautfalte hoch, um zu demonstrieren, wie ledrig
sie jetzt schon wäre. »Hundertpro bin ich dem Affenarsch zu alt!
Ich habe letztens einen Test gemacht, den ich im Internet gefunden habe. Dabei soll man die Hautfalte zehn Sekunden lang halten. Und je nachdem, wie schnell alle Spuren wieder verschwinden, verrät es dir dein biologisches Alter.« Sie machte mir diesen
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Test vor. Ich folgte ihrer Darbietung aufmerksam und geduldig,
da ich sie in ihrem heiklen Zustand nicht auch noch zu kränken
beabsichtigte.
»Da!«, kreischte sie, als sie die Hautfalte endlich losließ, und
deutete mit dem Zeigefinger auf die etwas gerötete Stelle am
Handrücken. »Hast du das gesehen? Das waren mindestens vier
Sekunden! Laut Test bedeutet das, ich habe ein biologisches Alter von fünfzig.« Sie warf sich in ihren Sessel zurück und fing
wieder fürchterlich zu heulen an. Das war ein seltenes Phänomen.
Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass ihre Traurigkeit echt war und sie nicht nur eine Show abzog, um das Ego mit
erzwungenen Komplimenten gestreichelt zu bekommen. Ihre Augen waren schon ganz rot und aufgequollen. Nun verstand ich
auch, warum sie ganz auf Schminke verzichtete.
Trotzdem machte ich klar: »Das war nicht mal eine Sekunde,
Hanna!« Wie sie auf die vier Sekunden gekommen war, war mir
schleierhaft. »Du siehst nur, was du sehen willst.«
Heftig schüttelte sie den Kopf. Ihre Haare, die sich heute sogar
etwas kräuselten, flogen dabei wild umher. Sie verschränkte die
Arme vor der Brust und schürzte die Lippen. Wenn ich es nicht
besser gewusst hätte, würde ich fraglos glauben, dass in drei Tagen keine drei, sondern eine eins vor der Null stünde.
Jetzt schielte ich zum Pflaumenwein. »Lass uns auf das Scheißleben anstoßen, einverstanden?«, schlug ich vor und bekam leichtes Herzrasen. Ich und Alkohol?
Na schön, was würde schon ein winziges Schlückchen schaden,
wenn ich meiner allerbesten Freundin somit beistehen könnte?
Nichts ging über Solidarität.
Also gut, und ein bisschen aufgeschmissen kam ich mir momentan auch vor, erwischt! Nicht, dass ich nicht trösten könnte,
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doch seit Hanna mich einst darauf hingewiesen hatte, dass meine
Art des Trosts wie ein nerviges Überbleibsel aus meiner Klosterzeit wirkte – nämlich scheinheilig und aufgesetzt –, ging ich lieber auf Nummer sicher und hielt mich im Zaum.
Hanna war hellauf begeistert von der Idee. Sie sprang im hohen
Bogen vom Sessel und holte den Pflaumenwein und zwei Flötengläser (sie besaß schlichtweg keine anderen) herüber. Ihre
Finger fummelten flink am Verschluss – Simsalabim – die Flasche
war auf.
»Sicher wird das für Ablenkung sorgen.« Sie nahm den ersten
Schluck noch im Stehen. Schwelgend schloss sie die Augen und
wackelte leicht, als verlöre sie das Gleichgewicht. Erst dann ließ
sie sich wieder auf dem Sessel nieder.
Ich wusste lediglich, dass Hanna und dieser … dieser ... Tatsächlich musste ich in den tiefsten Tiefen meines Unterbewusstseins nach seinem Namen wühlen. Nun gut, ich kam gerade nicht
drauf, wollte allerdings auch nicht nachfragen, da dieser Aussetzer
nicht das beste Licht auf mich warf. Als beste Freundin müsste
ich das schließlich unbedingt wissen. Ich wusste also lediglich,
dass Hanna und der sogenannte Scheißkerl oder auch Affenarsch
noch nicht auffallend lange miteinander liiert gewesen waren. Genau genommen waren sie mehr noch in der Phase gewesen, in der
man die/den Erwählte(n) für keinen Normalsterblichen hielt.
Ich simulierte Ahnung, wollte es jedoch noch einmal genau
wissen. »Wie lang ...« Weiter kam ich nicht.
»Drei Wochen.« Unheimlich, wie sie mir meine Ahnungslosigkeit von den Augen ablesen konnte.
Vor Verlegenheit wurde mein Gesicht ganz heiß. Davon verunsichert nippte ich an meinem Glas Wein. Prompt wurde mir noch
heißer. Meine Ohren begannen zu glühen, stellte mir vor, wie sie
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feuerrot leuchteten.
»Toni war mein Traummann.« Sie registrierte meinen skeptischen Blick, denn das sagte sie nicht zum ersten Mal. Gleichzeitig
erinnerte ich mich vage daran, den Namen Toni schon einmal aus
ihrem Mund gehört zu haben. »Ja, das war er wirklich!«
»Ich sag ja nix!« Ich stellte das Glas wieder auf den Couchtisch
zurück. Solange ich diesen leichten Schwindel verspürte, traute
ich mir keinen weiteren Schluck zu. Die gesamte Situation schüttete Adrenalin aus: Hannas Geheule, meine Erinnerungslücken
und der Wein.
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Deine Mimik spricht für sich,
Püppi.« Dann zuckte sie mit den Schultern und leerte ihr Glas bis
auf den letzten Tropfen. »Das tut verdammt gut. Musst du auch
mal probieren, vielleicht wirst du dann etwas lockerer.«
»Ich bin locker«, verteidigte ich mich mit heller Stimme. »Nur
weil ich mein Glas nicht auf ex trinke?« Außerdem sah es ja im
Moment eher danach aus, als wenn Hanna Heulsuse hier die Verspanntere von uns beiden war.
Okay, das war fies: Ihr ging es wirklich miserabel!
Sie schenkte sich nach und warf einen flüchtigen Blick auf mein
Glas. »Klar, du kannst mit diesem Thema nichts anfangen. Für
dich läuft Liebe und Sex auch jetzt noch unter ferner liefen.« Ihrem Ausdruck nach zu urteilen erklärte sie sich gerade für verrückt, weil sie ausgerechnet mich – hochgradig unqualifiziert für
Beziehungsprobleme – angerufen und um Beistand gebeten hatte.
Meine Züge verfinsterten sich, denn mit ihrer Äußerung traf sie
einen wunden Punkt. Durchaus war es unleugbar, aber das hieß
noch lange nicht, dass sie meine Meinung dazu in Frage stellen
musste.
»Toni ist nur einer von vielen Traummännern. Immer steigerst
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du dich in deine Liebschaften so rein.«
Entgeistert riss sie die Augen auf. Hatte sie mir meine Offenheit nicht zugetraut oder hasste sie es, mit Fakten konfrontiert zu
werden? Doch sie sagte nichts, setzte nur das Flötenglas an die
Lippen und leerte es wieder in einem Zug. Als sie es auf die
Tischplatte zurückstellte, hatte sie schon die ersten motorischen
Schwierigkeiten und kippte beinahe nach vorn über. Es sah so
aus, als würde sie sich an dem kleinen, zerbrechlichen Glas festzuhalten versuchen. Das gelang ihr auch irgendwie. Nur kurz wippte
sie und schwang sich dann wieder nach hinten.
Auf einmal umging sie meine Äußerung und gab mir dafür eine
Info, die mich möglicherweise endgültig davon überzeugen sollte,
dass ihre Trauer sehr wohl berechtigt war. »Er hat mich für dieses
Flittchen Cäcilia verlassen.« Sie schaute mich erwartungsvoll an,
doch ich kapierte nicht das Mindeste. »Kennst du sie denn nicht
mehr? Das junge Ding von der Tanke.«
Ich wusste noch immer nicht, von wem sie sprach, besonders da
ich gar kein Auto besaß und auch anderweitig keinen Grund hatte, mich an einer Tankstelle blicken zu lassen. Nur vorsichtshalber gab ich ihr das zu verstehen, damit sie nicht glaubte, ich wäre
restlos bescheuert.
Dann fasste sie sich an die Stirn. »Natürlich kennst du sie nicht.
Ich habe dich mit Kristin verwechselt.« Kristin war Hannas ältere
Schwester. Dass sie mich mit ihr verwechselte, erschütterte mich
nicht, denn das Verhältnis zwischen Hanna und mir war nicht
weniger geschwisterlich nach so vielen Jahren der Freundschaft.
»Kristin hat sie nur vom Auto aus gesehen, und auch ihre Silikontitten und Tonis unnötigen Aufwand beim Bezahlen. Er hat
in den höchsten Tönen von ihr gesprochen, obwohl er sie gar
nicht kannte. Cäcilia hier, Cäcilia da. Ich hätte es wissen müssen!«
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Sie hätte es wissen müssen? Sollte ich mich darüber wundern,
dass Hanna Tonis offene Schwärmerei für dieses Silikonwunder
nicht schon vor der Trennung äußerst suspekt gefunden hatte?
Ich hielt mich besser zurück, denn sie war gerade so in Redelaune.
»Als er sich von mir getrennt hat, hat er keinen Hehl draus gemacht, dass Cäcilia der Grund dafür ist.« Eine einsame Träne kullerte über Hannas Wange. Sie kniff die Augen kurz und fest zusammen. »Was hat sie, was ich nicht habe?« Sie sah an sich herunter und zeigte mit beiden Händen auf ihre Brüste. »Ich habe
genauso viel wie die! Also habe ich ihn direkt gefragt. Das hätte
ich lieber nicht machen sollen.« Von Neuem platzte sie los, noch
viel herzergreifender als die Male davor.
Ich blieb stumm, ließ ihr die Zeit, sich wieder zu fangen, auf
dass sie mit der Geschichte an der Stelle fortfahren konnte, an der
sie diese unterbrochen hatte. Um mich zu beschäftigen, nahm ich
mein Glas auf. Mehr als ein Nippen traute ich mir nach wie vor
nicht zu. Doch unverhofft stellte ich fest, dass ich die Süße des
Weins nun sehr angenehm fand. Ich könnte mich glatt an diesen
Geschmack gewöhnen, müsste nur ausschalten, dass zehn Prozent
Alkohol darin steckte.
Mit zitternder, aufgeregter Hand füllte sie ihr Glas ein drittes
Mal bis oben hin, nahm es zur Hand und sprach, mit einigen
Schluchzern mittendrin, weiter. »Er schwärmte von ihrem neunzehnjährigen, knackigen Hintern. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass sie fünfzehn Jahre jünger ist als er, aber er nennt das
schlicht Herausforderung.«
Sie prostete mir zu, da ich noch immer mein Glas in der Hand
hielt. Ich nippte weiterhin, während sie ihr Glas bis zur Hälfte
leerte. Allmählich war ich ernsthaft besorgt.
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Was Toni genau unter Herausforderung verstand, war mir ein
Rätsel. Wie viel Mühe kostete es schon, mit Geldscheinen offen
vor Cäcilias niedlichem Püppchengesicht herumzuwedeln, nur um
sie langfristig für sich zu begeistern? Außerdem war nicht zu
übersehen, dass er die Sorte Mann war, die sich nur solange reinkniete, bis seine Beute ihm willenlos verfiel. Danach war jeder
Reiz verflogen. Genuss empfand er lediglich im Zusammenhang
mit unverbindlichen Kontakten. Denn wollen wir doch mal ehrlich sein: Hanna war schon eine echte Wucht. Ihre Augen waren
rund, offen und honigbraun, ihre Haut war selbst in der Winterzeit leicht gebräunt (ohne dafür etwas tun zu müssen, versteht
sich) und butterweich, sie war fünf Zentimeter größer als ich (mit
ihren sieben Zentimeter hohen Keilabsatz-Sandaletten, die sie
den Sommer über fortlaufend trug, überragte sie mich allerdings
um stolze 12 Zentimeter), hatte damit endlos lange Beine, eine
Figur wie ein Topmodel, nur dass die Rundungen dort waren, wo
sie auch hingehörten, und war geschmeidig wie eine Katze; ja sogar in ihrem gegenwärtigen Zustand – meistens. Sie war das, was
man im Volksmund eine Märchengestalt nennt, zu schön, um
wahr zu sein. Auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte: es lag
weder an ihrem Alter noch an ihrem Erscheinungsbild, dass Toni
sie sitzengelassen hatte. Es lag ganz allein an dem Affenarsch
selbst. Anderenfalls hätte er längst erkannt, dass es ihn besser als
mit Hanna nicht hätte treffen können.
Ich fuhr mir vorsichtig über meine gepuderte Stirn. Eine Geste,
die meine nervliche Anspannung durchblicken ließ. Mit mitleidigem Blick begutachtete ich das Häufchen Elend mir gegenüber.
Ich suchte nach Worten, doch es kamen mir nicht die richtigen
in den Kopf. Ich wusste natürlich, dass ich sie aufbauen müsste.
Ich war nur völlig außer Fassung geraten, weil sie sich selbst so
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viel vormachte und nicht von selbst sah, wie irrational ihre Sicht
der Dinge war. Derart platt kannte ich sie gar nicht, wenngleich
sie schon immer eitel und ihr Männergeschmack recht primitiv
gewesen war. Es schien mir fast, als wäre sie gar nicht darauf aus,
etwas Festes zu finden, als würde sie selber nur nach Abenteuern
suchen, um sich nicht festlegen zu müssen. Sich festzulegen, bedeutete nämlich auch, dafür ein kleines Stück von sich selbst aufgeben zu müssen.
»Willst du denn gar nichts dazu sagen?«, ermahnte Hanna mich
jetzt und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich war wie aufgerüttelt, schwenkte meinen Blick hysterisch
über ihre gesamte Gestalt. Dabei fiel mir auf, wie zuckersüß sie in
diesem Augenblick aussah: kindlich, fragil und unbescholten, wie
das fünfzehnjährige Mädchen, das ich einst kennen gelernt hatte.
Statt Empathie, löste ihr Anblick in mir das große Bedürfnis aus,
in schallendes Gelächter auszubrechen.
Ich tat mich schwer, das Schmunzeln zu verbergen, gab mir
wirklich die allergrößte Mühe.
Mein Kinn zuckte.
Und jetzt auch noch meine Unterlippe.
Wie kam ich da bloß wieder raus? Sie musste ja denken, dass
ich mich über sie lustig machte? Wie sollte ich ihr denn verständlich machen, dass sie im Moment bloß zum Abknutschen goldig
aussah, weiter nichts? Natürlich war der Zeitpunkt der denkbar
schlechteste …
Hanna unterbrach meinen Gedankenzug: »Ziehst du mich etwa
ins Lächerliche?« Sie hatte mich ertappt.
»Entschuldige bitte«, überschlug ich mich beinahe vor Freundlichkeit, »das kommt dir nur so vor.« Ich konnte diese Worte gerade einigermaßen flüssig aussprechen, da prustete ich auch schon
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los. Mir stiegen die Tränen in die Augen. »Sorry«, warf ich atemlos dazwischen. Mein ganzer Körper vibrierte, fühlte den klebrigen Wein über meine Finger laufen und von dort aus in meinen
Schoß tropfen. Ich versuchte, das Glas gerade zu halten, kam erst
auf die Idee, es auf den Tisch abzustellen, als sich ein Drittel des
Inhalts in meinem knielangen schwarzen Rock eingesogen hatte.
Da jetzt eh alles egal war, wischte ich mir auch noch die Hand
daran trocken.
Erwartungsgemäß fand Hanna das nicht lustig. Ihr schien der
Appetit an ihrem Wein vergangen zu sein. Sie donnerte das Glas
auf die Tischplatte, fuhr vom Sessel auf und trampelte wie eine
Neunjährige über den knarzenden Dielenboden ins Bad.
BAM! Die Tür war zu.
Normalweise sollte ich mich spätestens jetzt beruhigt haben,
aber weit gefehlt: es gelingt mir mehr schlecht als recht, meinen
Lachanfall hinunterzuwürgen.
Je länger Hanna sich im Bad aufhielt, desto mehr Zeit hatte
ich, mir Gedanken darüber zu machen, wie peinlich ich mich benommen hatte. Das musste der Wein gewesen sein, anders konnte ich mir das nicht erklären. Verflucht sei dieser!
Sollte ich mal anklopfen? Eine Entschuldigung war jedenfalls
fällig. Doch würde sie mir diese überhaupt abkaufen, nachdem
ich noch vor einigen Sekunden an zwei Entschuldigungen kläglich gescheitert war? Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, als es
herauszufinden.
Zaghaft klopfte ich an die massive Badezimmertür und legte
mein Ohr ans Holz, um ein Geräusch zu erhaschen.
»Hau ab!«, brüllte sie und schluchzte extra bitter.
Ich schreckte einen Schritt zurück. »Hannaaa ...«, klang ich
nach hintenheraus reumütig. »Es tut mir wirklich leiiid.«
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»Scher dich zum Teufel, du Möchtegern-Nonne!«
Hach, wie ich ihre Wortspiele liebte. Ich lächelte und wusste,
dass sie mir nicht ernsthaft böse war. Sie war darauf aus, sich ein
bisschen zu fetzen, nur um ihren Frust zu entladen.
»Da komme ich noch früh genug hin«, rief ich. »Sag mir lieber,
wie lange du da noch schmollend drin bleiben willst? Dann hole
ich uns in der Zwischenzeit nämlich eine Pizza.« Ich dachte an
Ferruccios Pizzeria, die eine Viertelstunde von hier entfernt lag.
Für eine Pizza von Ferruccio würde ich allerdings auch bis ans
Ende der Welt gehen.
Es dauerte eine kleine Weile, bis Hanna antwortete. »Die haben
doch auch einen Lieferservice.« Das hieß, dass sie eine Pizza für
eine gute Idee hielt. Anderenfalls hätte ich mir diese in den Hintern schieben können. Und ihre Stimme klang auch schon viel
verträglicher.
»Ich weiß, aber ich dachte, wir könnten beide eine Atempause
gebrauchen ...«
»Die Telefonnummer hängt an der Pinnwand über dem
Schreibtisch«, machte sie unmissverständlich klar, dass sie jetzt
nicht allein gelassen werden wollte. Doch warum blieb sie dann
weiterhin im Badezimmer?
Ich ging in die Wohnstube und versuchte, unter der Flut von
Notizzetteln, Bildern, Zeitungsberichten und Dekoblumen und
-schmetterlingen fündig zu werden. Endlich stieß ich auf den
Flyer mit Ferruccios Nummer und griff sofort zum Telefon, das
seinen Platz auf dem Schreibtisch hatte. Heute sah es verhältnismäßig geordnet darauf aus.
»Heidi hier. Ich möchte gern eine Riesenpizza bestellen.«
Ferruccio war persönlich am Apparat. »Heidi!« Er freute sich
laut vernehmbar, meine Stimme zu hören. Ich ließ mich von sei-
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ner Freude anstecken und lachte mit ihm. »Hast du Kummer?«
Hatte ich irgendetwas verpasst, oder warum vermittelte eine Riesenpizza bei ihm den Eindruck, dass ich Kummer hätte? Vielleicht hatte ich ja auch nur Hunger? Riesigen Hunger!
»Nein, ich bin mit einer Freundin zusammen ...«
»Dann hat deine Freundin Kummer, ja?«, bestand er darauf,
dass mindestens einer Kummer haben musste.
Da ich Hanna nicht zu denunzieren gedachte, erwiderte ich:
»Hier hat keiner Kummer! Wir haben lediglich einen Mörderkohldampf.«
»Wenn Mädchen eine Riesenpizza wollen, haben sie immer
Kummer«, kannte er sich aus, vermutlich der Berufserfahrung
wegen. »Wie darf ich sie belegen, Heidi?«
Ich war erleichtert, dass seine Äußerung keine Antwort erforderte und gab unsere Wünsche an. »Und eine Hälfte bitte mit extra viel Käse.« Hanna hasste zu viel Käse auf der Pizza. Sie fand,
dass er unangenehm fettig schmeckte.
Als ich auflegte, schlich Hanna sich von hinten heran und
schlang ihre Arme um mich. Dabei legte sie ihren Kopf auf meine
Schulter.
»Ich wollte doch nur ein paar aufmunternde Worte von dir«,
jammerte sie und blies ihren Atem schwer und traurig aus.
»Stattdessen lachst du mich aus.«
»Du wirst in meinen Worten keinen Trost finden, weil sie nicht
heilen können und nichts gut oder ungeschehen machen.«
»Schwester Jordana hat gesprochen. Amen!« Warum hatte ich
geahnt, dass sie dieses Lied wieder anstimmen würde?
»Ist das denn nicht wahr?«
Sie löste sich von mir, ging zum Sessel hinüber und ließ sich
darauf plumpsen. Mutlos zuckte sie mit den Schultern und ließ
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sie dann hängen, als würde der gesamte Weltschmerz darauf lasten. »Und worin findet man in einem so schrecklichen Zustand
Trost?«
Ich leistete ihr Gesellschaft und fläzte mich aufs Sofa. »Zum
Beispiel in meinen Armen.«
Sie zischelte. »Das ist alles?«
Sollte ich sie für undankbar erklären?
Nun, wenn sie unbedingt etwas hören wollte, dann bitte schön,
hier: »Das Einzige, was ich dazu sagen kann, ist, wenn Mister
Right je dabei gewesen wäre, würdest du nicht heulen wie ein
Schlosshund und sinnlos Pflaumenwein in dich hineinschütten.«
Natürlich hätte ich so viel mehr sagen können, doch was hätte es
gebracht?
»Sehr aufbauend!«
Mit einem offenen Augenrollen signalisierte ich meinen Ärger.
»Deinen Herzschmerz musst du schon allein ausstehen. Ich kann
ihn dir leider nicht wegquatschen.« Ich erkannte an ihrem Blick,
dass sie endlich begriff, was ich ihr mitteilen wollte.
»Nun sag schon«, klang Hanna viel fröhlicher, seit die Pizza da
war, »bin ich wirklich so eine lächerliche Figur?«
Während sie auf dem Sessel vor der Pizzaschachtel harrte und
dessen Deckel schon ganz ungeduldig öffnete, um den Duft zu
inhalieren, holte ich zwei Teller aus ihrer Küche. Nicht, dass ihre
Gastgeberqualitäten immer so bescheiden wären.
»Wie meinst du das?« Ich verstand den Hintergrund nicht, was
vielleicht auch ein bisschen daran lag, dass die Pizza mir das Wasser im Mund zusammentrieb und meine Sinne raubte.
»Was sollte dein Lachanfall vorhin?« Die Pizza war schon in
gleichmäßige Dreiecke zerteilt worden. Hanna manövrierte ein
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Stück ihrer Hälfte auf ihren Teller. Dabei zog der Käse Fäden.
Bevor ich etwas darauf erwiderte, beförderte ich ebenfalls ein
Stück von meiner käselastigen Seite auf meinen Teller und biss
herzhaft hinein. Was für ein Genuss.
»Du bist halt manchmal knuffig«, sprach ich mit vollem Mund.
»Ja, ja, ich weiß, das war etwas taktlos, aber das war gar nicht so
negativ gemeint, wie du es aufgefasst hast.«
»Mmh«, schwärmte Hanna vom Essen, »das tut sooo gut!« Ich
war froh, dass ihr Alkoholspiegel immer weiter sank und sie wieder Vernunft annahm. »Und trotzdem hab ich den Eindruck, dass
du mich und meine Lage nicht ernst nimmst.« Die Harmonie
trog, denn plötzlich trieb sie mich in die Enge.
Mit einer schnellen, nervösen Handbewegung strich ich mein
Haar hinter die Ohren. Mittlerweile war es schulterlang. Im Kloster hatte ich sie kurz wie ein Bursche getragen, hatte der äußerlichen Schönheit vollkommen abgeschworen. Als ich dann mein
Klosterleben aufgegeben hatte und wieder nach Hause gekommen
war, hatte Hanna mich nicht wie jeder andere normale Mensch
willkommen geheißen, sondern hatte mich erst einmal mit sich
ins Badezimmer geschliffen, um mir die Augenbrauen zu zupfen,
Make-up aufzutragen und aus meiner Frisur das Beste herauszuholen. Sie war derart verzweifelt gewesen, dass sie mir befohlen
hatte, die Haare wachsen zu lassen. »Jenseits von Gut und Böse«
hatte sie meinen natürlichen Look genannt.
Jedenfalls war ich entschlossen, ihren Vorwurf sofort abzuschmettern, war mir aber nicht ganz sicher, ob sie nicht sogar
recht hatte. Zumindest wenn es um das Thema Männer ging.
»Deine Liebesbeziehungen nehme ich auch nicht ernst.« Ich gab
mich kleinlaut, da ich sie nicht erneut kränken wollte. »Aber was
ich sehr wohl ernst nehme, ist, dass es dir nicht gut geht.«
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»Okay«, gab sie sich mit meiner Antwort zufrieden. Sie nahm
den nächsten Happen und lächelte glücklich. Ihr Blick ging über
die Pizza. »Die ist selbst für zwei Leute zu groß.«
Wieder einmal musste ich bemerken, wie arglos und wenig
nachtragend sie war. Ich war dankbar dafür, dass sie mir ganz
selbstverständlich vertraute.
»Es sei denn, wir wären zwei große, dickbäuchige Bauarbeiter.«
Sie lachte laut: »Ich wünschte, ich wäre ein Mann.«
Eine Theorie, über die ich mir noch nie Gedanken gemacht
hatte. Wieso sollte ich mir auch ein Leben als Mann vorstellen,
wenn es doch als Frau viel mehr Spaß machte? Zugegeben, es war
anstrengender, doch dafür viel bunter. »Ich stelle mir ein Leben
als Mann verdammt eintönig vor«, konnte ich mich ihr also nicht
anschließen.
Hanna grübelte. Zu lang.
Also erklärte ich: »Schau mal, was macht das Leben eines Mannes schon aus?« Ich legte das Stück Pizza auf dem Teller ab, damit ich alle meine Finger zur Verfügung hatte, um die Punkte
zusammenzuzählen. »Saufen«, tippte ich Punkt eins mit dem Zeigefinger einer Hand auf den Daumen der anderen an, »Autos,
Fußball und Frauen!« Ich konnte die Punkte an einer Hand abzählen. »Und wenn ein Mann halbwegs in Ordnung ist, und diese
recht unkomplizierten Punkte auf ihn nicht zutreffen, beschränken sich andere wichtige Punkte seines Lebens aber auch nur auf
drei oder vier.«
»Ich verstehe. Dann bleibe ich doch lieber eine Frau.« Sie
machte eine kleine Pause und blickte mich beschwörend an.
»Püppi, ich rate dir, dir erst gar keinen Mann ins Haus zu holen.«
Ich starrte sie erschrocken an, glaubte, dass ich knallrot anlief und
nahm fix den Teller mit dem Stück Pizza zur Hand. »Ich meine,
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all die Zeit belächle ich deine Jungfräulichkeit und übergehe deine Standpunkte, weil du einfach keine Erfahrung mit Männern
hast, aber im Grunde genommen sollte ich dich beneiden.« Sie
seufzte. »Ja, ich sollte dich darum beneiden, dass du so prüde
bist.«
Und da machte ich mir Vorwürfe, weil ich sie mit meiner flapsigen Art und Weise gekränkt hatte? Wütend biss ich in die Pizza
und kaute.
»Ach, nun sei doch nicht sauer.« Sie lächelte allerliebst. Wenn
Hanna etwas gut konnte, dann war es, rein mit den Augen zu
schmeicheln. Manche Menschen hatten einfach von Natur aus
den Niedlichkeitsfaktor. Man konnte ihnen nie richtig böse sein.
»Woher willst du wissen, dass ich prüde bin?«
»Entschuldige mal, du hattest dich dafür entschieden, ein Leben in Keuschheit zu führen«, erinnerte sie mich schnippisch daran, dass es immerhin neun lange Jahre angehalten hatte. »Wer tut
so etwas, wenn er nicht prüde ist?«
Da ich unter dem Begriff »Prüde« scheinbar etwas anderes verstand als sie, klärte ich sie, noch immer übellaunig, auf: »Nur weil
ich abstinent leben wollte, heißt es noch lange nicht, dass ich
verklemmt bin.«
So wie schon damals, verstand sie auch heute nur Bahnhof.
Schon allein die Tatsache, dass der Liebesakt selbst nicht grundsätzlich mit Sünde behaftet war, überforderte sie gewaltig. Da ich
allerdings das Klosterleben hinter mich gelassen hatte, war es wie
die Wahl zwischen Pest und Cholera: egal!
Ich beschloss, die Materie für mich zu nutzen und endlich von
meinem neuen Mitbewohner zu erzählen, und zwar, bevor sie mir
wieder dazwischenfunkte. »Und ich bin sogar dermaßen aufgeschlossen, dass deine Warnung, mir keinen Mann ins Haus zu
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holen, leider zu spät kommt.« Stolz auf diesen Erguss, grinste ich
in mich hinein und klopfte mir imaginär auf die Schulter.
Allein für ihren erstaunten Gesichtsausdruck hätte ich gern die
Zeit angehalten. »Nicht dein Ernst?«
»Klar, warum sonst sollte ich das sagen?«
»Wer ist es?« Sie fixierte mich mit skeptischem Blick. Denn
woher dieser Mann plötzlich kam, konnte sie sich beim besten
Willen nicht erklären.
»Er heißt Philipp und ist stolze fünf Jahre jünger als ich.« Ich
hielt absichtlich damit hinterm Berg, dass es sich hierbei nicht
um einen festen Freund handelte, wie Hanna augenblicklich annahm, nur um sie endgültig zu verstören.
Schlagartig stiegen ihr wieder Tränen in die Augen. Mürrisch
schmiss sie den letzten Bissen der Pizza auf den Teller vor ihr.
»Du lügst«, murmelte sie erst, und als sie sah, dass ich etwas zu
entgegnen gedachte, sprang sie schon wieder vom Sessel, wiederholte ihren Vorwurf, doch nunmehr brüllend, und schloss sich
erneut im Badezimmer ein.
Kurz überdachte ich meine Haltung gegenüber Männern, sie
wären zu einfach gestrickt, denn soeben konnte ich nachvollziehen, wie strapaziös eine einzige Frau sein konnte. Vielleicht tat
ich Männern Unrecht, vielleicht könnten wir Frauen gar froh
sein, dass sie sich wegen Frauen wie Hanna noch nicht reihenweise vom Hochhaus gestürzt hatten?
Ich meine, wo war denn nun schon wieder der Fehler im System? Allmählich glaubte ich, dass heute nicht der richtige Tag
dafür war, ein friedliches Beisammensein zu zelebrieren. Wenn
nicht gerade sie diejenige war, die gereizt war, war ich es, und
wenn ich nicht diejenige war, war sie es. Ich täte wohl besser daran, nach Hause zu gehen, ehe wir die Messer zu wetzen begän-
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nen. Doch zuvor war ich bemüht, das Problem zu klären, damit
man mir nicht nachsagen konnte, ich hätte es nicht wenigstens
versucht.
Mit erhobenem Haupt stellte ich mich vor die Badezimmertür
und hämmerte laut und entschlossen mit der geballten Hand dagegen. »Hast du zu lange in der Sonne gelegen, oder was?«
»Und willst du mich jetzt auch noch fertigmachen?«, brüllte sie
und heulte bitterlich.
»Auch?«, rief ich und konnte mir nicht erklären, mit wem sie
mich in Parallele stellte.
»So wie Toniii!«
Oje, einen kurzen Moment lang war mir doch tatsächlich ihr
gebrochenes Herz entfallen. Natürlich wollte sie als Letztes hören, dass jemand anderes eine glückliche Beziehung führte, nachdem dieser Affenarsch gerade mit ihr Schluss gemacht hatte. Da
hätte ich auch wirklich von allein drauf kommen können, ich
dummes Huhn! Doch das allerschlimmste an der Situation war,
dass ich nicht einmal eine Beziehung hatte. So war dieses ganze
Geschrei am Ende zu nichts nütze.
»Komm schon«, quengelte ich, »das ist nicht fair. Du kannst
doch anderen nicht in die Suppe spucken, nur weil du gerade unglücklich bist.« Na gut, das klang ein klein wenig abgebrüht, aber
wenn ich mir ausmalte, dass ich tatsächlich einen Mann kennen
gelernt hätte und das hier ihre Reaktion darauf gewesen wäre,
hätte ich nicht weniger als sie allen Grund dazu gehabt, sauer zu
sein.
»Darum geht es nicht«, schluchzte sie.
»Nicht? Worum dann?« Ich hörte nur ein kaum wahrnehmbares
Zischeln durch die massive Tür dringen. Das hieß wohl, dass sie
es unerhört fand, dass ich nicht von allein darauf kam. Auch auf
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die Gefahr hin, dass sie mir die Freundschaft kündigen würde,
machte ich sie darauf aufmerksam, dass ich keine Gedanken lesen
konnte.
»Boah«, motzte sie, »es geht darum, dass du partout erwähnen
musstest, dass er fünf Jahre jünger ist als du. Als wolltest du mir
damit veranschaulichen, wie jung und dynamisch du noch bist,
im Gegensatz zu deiner alten, runzeligen Freundin, deren Kerl sie
für eine neunzehnjährige Tussi verlassen hat.«
Die ganze Aufregung also wieder nur wegen ihres Alterskomplexes? »Mannomann, ich habe mich nur ungünstig ausgedrückt,
mehr nicht.« Genervt trat ich gegen die Tür. »Darf ich dir jetzt
niemanden mehr vorstellen, der jünger ist als du?«
»Nein!«
»Du spinnst ja!«
»Du hast ja gut Reden, du bist ja gerade erst achtundzwanzig
geworden.« Mehr und mehr war ich davon überzeugt, dass ich
heute nichts mehr erreichen würde. Sie war dermaßen festgefahren, dass sie auf meinen Beistand nun verzichten musste.
»Nur zu deiner Information, ich gehe jetzt«, wartete jedoch
noch, falls sie es sich anders überlegen und herauskommen würde.
»Dann geh doch, beste Freundin!« Sie riss die Tür auf, da sie davon ausging, dass ich schon auf dem Weg zum Ausgang war, und
brüllte mir versehentlich direkt ins Gesicht: »Du kannst mir den
Buckel runterrutschen.« Sie war wie erstarrt und machte ein erschrockenes Gesicht.
Ich ergriff die Gelegenheit und drängte mich zu ihr ins Badezimmer, ehe sie wieder hinter die Tür flüchten und sich vor mir
verstecken könnte. Sie sah nicht erfreut aus.
»Ich wollte dich doch nur ein wenig auf die Folter spannen,
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Hanna.«
»Lass es gut sein.« Sie wandte sich von mir ab und verließ das
Badezimmer. Jetzt, da sie nicht mehr allein sein konnte, war es
ihr hier anscheinend zu blöd.
»Kann ich denn vorhersehen, dass du heute so überempfindlich
bist und jedes Wort auf die Goldwaage legst?« Ich folgte ihr ins
Wohnzimmer, wo sie sich sofort auf ihren heißgeliebten Sessel
fallenließ.
»Entschuldigung, mein Freund hat gerade erst vor ein paar Tagen mit mir Schluss gemacht. Selbstverständlich bin ich überempfindlich.« Okay, okay, da hatte sie ausnahmsweise mal recht.
Ich blieb im Raum stehen, da ich noch immer fest entschlossen
war zu gehen. Nebenher überlegte ich noch, ein Stück Pizza mit
nach Hause zu nehmen, obgleich mir der ganze Stress allmählich
auf den Magen schlug.
»Na schön, aber Fakt ist, dass du dich wenigstens etwas zusammennehmen kannst. Das rechtfertigt nämlich nicht, dass du mir
mein Glück scheinbar missgönnst.«
»Das stimmt doch gar nicht. Ich gönne dir sehr wohl einen
Freund. Es kommt nur so plötzlich ... und ungünstig.«
»Er ist doch gar nicht mein Freund«, machte ich lieber ein für
allemal klar, damit die schlechte Stimmung endlich ein Ende hatte.
»Wie bitte?«
»Denkst du, ich hätte ihn nicht schon längst bei dir erwähnt?«
Mir fiel erst jetzt auf, wie unglaubwürdig meine Geschichte eigentlich war. Doch vermutlich hatte Hannas Überempfindlichkeit
geradewegs ihre Sinne getrübt, so dass sie außerstande war, es zu
durchschauen.
Sie sah mich ungläubig an. »Was ist er dann?«
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»Mein zukünftiger Mitbewohner.«
Sie stutzte. »Und warum lässt du mich in dem Glauben, dass es
sich um deinen Freund handelt?«
»Na, weil ich dich auf die Folter spannen wollte?« Machte man
das nicht so, wenn man für Verwirrung sorgen wollte? Tja, in
diesem Fall war es gründlich in die Hose gegangen.
Obgleich Hanna trotzdem verwirrt war. »Und wann hast du
überlegt, einen Typen bei dir einziehen zu lassen?«
Ich setzte mich nun doch wieder. Um keine weiteren Fehler zu
begehen, erzählte ich ihr die ganze Geschichte von vorn. Und
Hanna sorgte für Überraschung, als sie meiner Theorie, ich
könnte mit einem Mann besser auskommen, am Ende beipflichtete. »Das hat was zu heißen, wenn du ihn auf Anhieb sympathisch fandest, während kein einziges Mädchen nur im Ansatz
eine Chance hatte.«
»Du hältst mich also nicht für verrückt?«
Baff schüttelte sie den Kopf. »Nein, wieso sollte ich?«
Ich zuckte mit den Schultern und legte meinen Kopf ein Stück
schief. »Beck war bei der Nachricht etwas neben der Spur.«
»Ach, das ist dein Bruder doch immer. Sein Beschützerinstinkt
ist stark übertrieben. Lass dich nicht verunsichern.« Auf jeden
Fall war Hanna wieder besser drauf, was die folgende Frage noch
einmal bekräftigte: »Sieht er gut aus?«
Ich lachte: »Ist das denn so wichtig?«
»Für mich schon.« Sie zwinkerte mir neckisch zu.
Ich atmete tief durch, um nicht ins Stottern zu geraten, denn
ich merkte, wie mein Herz schneller pochte, als ich mir Philipp
ins Gedächtnis rief. »Er ist schon ganz niedlich.«
»Aber?«
»Nichts aber ...«
53
»Sag schon!«
Ich traute mich nicht. »Mach dir doch einfach ein eigenes Bild
von ihm«, erwiderte ich, statt zu betonen, dass er zu jung sei. Für
mich!
Darum ließ sie sich nicht zweimal bitten. »Gern. Wann zieht er
ein?«
»Morgen.«
»Morgen schon?«
Den weiblichen Untermieter hatte ich zum ersten Juli gesucht,
was nichts daran änderte, dass es jetzt ein männlicher war. Ungern merkte ich das an, da ich befürchtete, dass sie darin wieder
eine Anspielung auf irgendetwas sehen könnte. Alles, was nur ansatzweise nach Kritik roch, übersprang ich in nächster Zeit einfach großzügig.
»Ja, das geht alles ziemlich schnell, deshalb bin ich auch verunsichert und hoffe, dass ich die richtige Entscheidung getroffen
habe.«
»Warum denn nicht? Wenn es nachher doch nicht passt, kannst
du ihm ja immer noch kündigen.«
Wie unbarmherzig.
»Ich denke, das wird nicht Not tun.«
Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie umgänglich er bei
der Zimmerbesichtigung gewesen war. Selbstverständlich konnten
Menschen sich auch verstellen, mussten es womöglich sogar, um
einen guten Eindruck zu hinterlassen, wenn es um entscheidende
Dinge im Leben ging, aber für gewöhnlich hatte ich für die üble
Sorte Mensch recht sensible Antennen.
»Und warum dann deine Unsicherheit?«
»Es liegt nicht an ihm.« Ich schnaufte durch. »Für mich ist das
was ganz Neues. Manchmal ist es eben schwer, sich auf Verände-
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rungen einzulassen. Und diese Veränderung ist ja schon ganz
schön gravierend, findest du nicht?«
Hanna nickte zustimmend. »Was hältst du davon, wenn ich dir
morgen bei seinem Einzug zur Seite stehe? Und wenn es dir ganz
unwohl wird, bleib ich einige Tage über Nacht bei dir?«
»In Ordnung.« Ich fürchtete, dass ich das noch bereuen würde,
doch ich war gewillt, das in Kauf zu nehmen, nur damit ich das
nicht allein durchstehen musste. Ich betete nur, dass sie sich
nicht allzu sehr anbiedern, sondern sich nur ein wenig von ihrem
Liebeskummer ablenken würde.
55
E
4
So schnell konnte das gehen! Toni war Schnee von gestern
und Philipp der tollste Typ, dem Hanna je begegnet war. Nur
sein Alter hielt sie davon ab, ihm nicht auf der Stelle einen
Heiratsantrag zu machen. Philipp war nicht dumm und spürte
sehr wohl ihre Blicke, wenn er einen Karton nach dem anderen in
sein Zimmer trug. Er reagierte abgeklärt, als wüsste er ganz genau
um seine Wirkung auf das weibliche Geschlecht, und warf Hanna
immer mal wieder ein charmantes Lächeln zu. Zwischendurch
hatte er sich sogar seines T-Shirts entledigt, um ihr eine nette
Show zu bieten.
Ich war heilfroh, dass es ihn nicht bedrängte und er so sportlich
damit umging. Je aufdringlicher Hanna wurde, desto mehr beschäftigte ich mich mit der Küche. Es gab hier kaum etwas zu
tun, aber ich mochte Philipp nicht das Gefühl geben, unter ständiger Beobachtung zu stehen.
Dann kam mir ein glänzender Einfall. »Hast du schon etwas gegessen, Philipp?«, fragte ich, ehe er wieder aus der Wohnung verschwand, um den nächsten Karton aus dem Transporter zu holen.
Er bremste scharf und wandte sich mir zu. »Nein, noch nicht.«
Er blickte auf seine Armbanduhr.
»Ich könnte etwas kochen«, schlug ich vor, wenn ich schon
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nicht beim Tragen half. Nicht, dass wir uns nicht eifrig angeboten hätten, doch er beteuerte, dass seine Kommilitonen Yannik
und Levi Hilfe genug waren. Ich vermutete, er wollte uns nicht
mit der Grundhaltung vor den Kopf stoßen, dass er Frauenhände
für viel zu kraftlos hielt und wir die Jungs deshalb eher behindert
als unterstützt hätten.
Sein Lächeln drückte Dank aus. »Mach dir aber keine zu
großen Umstände, okay?« Und schon war er wieder fort. Das beirrte mich, denn ich wusste gar nicht, ob er mit Nudeln, die mir
im Kopf herumschwirrten, überhaupt einverstanden war.
»Wo bleibt denn bitte dein Anstand?«, betrachtete Hanna mich
kritisch.
»Machst du Witze?«
»Nein! – Was ist mit Yannik und Levi?«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Was soll mit denen sein? Die
ziehen doch hier nicht ein?«
Hanna stöhnte, stürmte zu mir in die Küche und fasste mir an
die Stirn, um zu testen, ob ich krank wäre. »Aber sie helfen deinem zukünftigen Mitbewohner. Und du würdest Philipp damit
ganz bestimmt entgegenkommen, denn so muss er sich später
nicht revanchieren.«
Halten Sie mich ruhig für rücksichtslos, doch so hatte ich das
noch nicht gesehen, schließlich waren das ja nicht meine Freunde.
Ich hatte meine ganze Aufmerksamkeit auf Philipp gerichtet, weil
er derjenige war, der bei mir einzog. Doch ich versprach, dass ich
Yannik und Levi zum Essen einladen würde, sobald sich die Gelegenheit bot.
»Könntest du mir einen Gefallen tun?«
»Sag schon«, stellte sich Hanna bereit.
»Könntest du Sahne und Auberginen besorgen?« Ich plante eine
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Tomaten-Sahne-Sauce mit Auberginenwürfeln zu den Nudeln.
Ich war mir bewusst darüber, dass dies kein Steak ersetzen konnte, doch Fleischgerichte zuzubereiten, lag mir nun mal nicht.
Sofort hetzte Hanna los und rannte beinahe Levi über den
Haufen, der gerade mit dem nächsten Karton zur Tür hereinkam.
Es gehörte schon einiges dazu, Levi zu übersehen mit seiner
braunen Achtzigertolle, die er mit reichlich Wachs und Haarspray
auf dieses Volumen getrimmt hatte. Sein Gesicht war genauso
jungenhaft wie Philipp seines.
Levi bemerkte, dass ich ihn unter die Lupe nahm. Er lächelte
mir zu und fragte mich irgendetwas. Ich verstand allerdings nicht,
was, denn jetzt, da er mir so tief in die Augen schaute, war ich
ganz fasziniert von seinen. Die waren nämlich stahlblau. Wie
konnten Augen nur so blau sein? Ich musste kräftig blinzeln, weil
es schien, als würde ich blind davon.
»W-wie bitte?«, fand ich allmählich wieder ins Hier und Jetzt
zurück.
»Hast du vielleicht etwas zu trinken für mich?« Die Klangfarbe
seiner Stimme ließ erahnen, dass er ein sehr geruhsamer Charakter war. »Mir ist mein Sodawasser leider schon ausgegangen.«
Ich nickte wie eine Idiotin, kramte eine Flasche aus dem Nischenschrank heraus und stolperte beinahe über meine eigenen
Füße, als ich ihm entgegenkam.
»Bleibt ihr – also du und Yannik – auch zum Essen?«
Bevor er mir antwortete, setzte er erst einmal an und leerte die
Flasche zur Hälfte, solch einen Durst hatte er. Mit dem ganzen
Unterarm wischte er sich erst über seinen Mund, dann über die
schweißüberströmte Stirn. Sollte ich ihm obendrein noch eine
Dusche anbieten?
»Das ist wirklich nicht nötig.«
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Das fand Hanna allerdings schon!
»Ich weiß«, gab ich zurück, immer wieder seinem Blick ausweichend, »aber ihr werdet Hunger haben, wenn ihr mit der ganzen
Schlepperei fertig seid.« Sollte ich vielleicht ergänzen, dass ich
darauf bestand, damit wir nicht noch übermorgen hier stehen
und diskutieren würden?
Er stellte die Wasserflasche auf dem Esstisch ab und warf mir
ein hinreißendes Lächeln zu. »Das ist ein schlagendes Argument.«
Dann lief er mit langen Schritten davon, um den nächsten Karton
zu holen.
Es war ein stetiges Hin und Her. Ich fragte mich, wo Philipp
mit all den Sachen hin wollte. Das Zimmer war nicht klein, doch
auch nicht so groß, dass es die Menge der Kartons rechtfertigte.
Nun hörte ich die Stimme von 007 auf dem Treppenhaus. Ich
war erschüttert, rannte hinaus und lehnte mich über das Treppengeländer, damit ich den Stand der Dinge peilen konnte. Dort
standen Philipp und Levi mit dem massiven Kopfteil eines Bettes
in den Händen. Ich sah den Jungs von hier aus an, dass das Teil
immer schwerer wurde in ihren Händen, während 007 sich darüber informierte, welcher der Burschen nun einziehen würde.
Denn es war ihm ein dringendes Bedürfnis, die Hausregeln zu erklären und dass es hier hauptsächlich ruhig zuzugehen hätte.
Ich bemerkte Yannik nicht, der sich auf Zehenspitzen von hinten aus meiner Wohnung an mich heranpirschte und mir mit seinen Zeigefingern sachte in die Seiten stach. Vor Schreck schrie
ich auf und fuhr wild herum. Dabei wirbelten meine Arme derart
unkontrolliert umher, dass ich ihm versehentlich ins Gesicht
schlug. Er rief kurz: »Aua!«, fasste sich an die Wange, schüttete
sich dann aber aus vor Lachen, während er mit dem Zeigefinger
auf mich deutete. Mit dieser Geste wollte er zu verstehen geben,
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wie komisch er mein erschrockenen Gesichtsausdruck fand.
Just brüllte 007 herauf, was hier los sei. Umgehend gewann ich
meine Fassung wieder und winkte herunter.
»Entschuldigen Sie den Tumult.«
Mit schmerzerfülltem Gesicht fasste er sich an den Nacken,
denn beim Heraufsehen verrenkte er sich beinahe den Hals. »Das
geht auch leiser, Fräulein Halbeck!«
Philipp und Levi hatten ihre Chance ergriffen und sich mit
dem Kopfteil inzwischen ins zweite Stockwerk gequält.
Ich kam nicht dazu, etwas darauf zu erwidern, da Yannik nun
eine Etage tiefer angekommen war, 007 einen Arm um die Schultern warf und ihn mit den Worten: »Wir haben es ja gleich geschafft und dann hören Sie nie wieder etwas von uns« in seine
Wohnung führte. Wenn ich das versucht hätte, wäre ich wohl
quer durch das Treppenhaus geflogen. Es musste an Yanniks unbefangene Art gelegen haben, dass sich der Motzkopf das gefallen
ließ. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er als Einziger der drei
Kumpels eine gewisse Männlichkeit ausstrahlte. Er war sehr groß,
sportlich, doch nicht sehr schlank, hatte tiefschwarzes Haar und
einen Dreitagebart. Wobei ich nicht genau wusste, ob er nachlässig war oder diesen aus modischen Gründen trug.
Mir fiel auf, dass durchweg alle drei Jungs gutaussehend waren.
Es war beängstigend, dass diese Tatsache ein wildes Kribbeln in
mir auslöste, welches sich rasant zwischen Brust und Bauch auf
und ab bewegte. Es entfachte eine ungewohnte Neugierde in mir.
Ich konnte nicht enträtseln, auf was genau ich neugierig war,
doch es zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen und machte
mich ganz leicht und ungezwungen.
Ich lehnte mit dem Hintern am Treppengeländer, hatte meine
Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete Philipp und
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Ende der Leseprobe von:
Mailys' Entscheidung
Katie Volckx
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