FZ 308, Mai 2015 — In persönlicher Mission Editorial Geht man dieser Tage beim Zürcher Paradeplatz am Hauptsitz der UBS vorbei, kann man wieder die mit blauem Marker geschriebenen Kommentare eines stadtbekannten Unbekannten sehen. „Ueli Maurer: Freue Dich Israel” steht auf der Plakatwerbung der UBS, mit einem kleinen Herzchen auf Uelis „i”. Daneben Verweise auf Psalme, Bibelstellen und viele weitere Bezüge zum heutigen politischen Zeitgeschehen. Der rätselhafte Plakatschreiber treibt sich seit mittlerweile gut zwanzig Jahren in Zürich herum. Und dennoch weiss niemand Genaueres über ihn. Ähnlich verhält es sich mit einem auf den ersten Blick kommerziell agierenden Phantom, der in Zürich Aussersihl A4-Plakate für seine Model- und Mannequin-Agentur aufhängt: „Wie werde ich Model? Nicht warten, starten”, empfiehlt Heribert von Bienert vom „internationalen Modeshow- u. Foto-Institut”. Das Irritierende dabei ist jedoch, dass die Plakat-Zettel ganz und gar nicht der HochglanzÄsthetik der Modezeitschriften entsprechen. Stattdessen sind es mit dem Fotokopierer collagierte Aufschneider-Sammelsurien und – man könnte es befürchten: vielleicht zwielichtige Angebote. Es bleibt dabei unklar, ob sich hier ein manischer Hochstapler oder ein alternder Lüstling – das Insitut existiert angeblich seit 1920 – umhertreibt. Man kann solche Menschen leicht als „Spinner” abkanzeln. Oder aber versuchen ihre Welt zu verstehen. Die Grenze zwischen Sinn und Wahnsinn ist dabei oft schwer zu identifizieren. Vor allem ist es eine Frage der Definition: Was in dem einen gesellschaftlichen Umfeld als nicht tolerierte Abweichung abgestempelt wird, kann in einem anderen Umfeld die Voraussetzung für eine bestimmte Tätigkeit sein. Nicht von ungefähr finden sich z.B. im Musikgeschäft mehr Menschen mit Persönlichkeitseigenschaften, die man gemeinhin zumindest als auffällig bezeichnen würde. In gleichem Masse wie der Erfolg einer Künstlerin oder einem Musiker zu sehr in den Kopf steigen kann, kann er auch den erwähnten Akteuren eine Last werden. Zwar suchen sie die Öffentlichkeit für ihre Äusserungen; aber richtig sichtbar sind die eigentlichen Menschen dahinter selten. So wie z.B. der 2004 verstorbene Emil Manser, der mit seinen eindeutig uneindeutigen Plakat-Texten („Nicht verstan- den Ich auch nicht”) in Luzern so einige zum Nachdenken brachte. Und schliesslich entschied, sich das Leben zu nehmen. Allen bisher Beschriebenen ist wohl gemein, dass sie gleichsam als Getriebene neben den bestehenden Strukturen für ihre Überzeugung missionieren. In Zürich liessen sich wohl auch der zu Ostern offiziell abgetretene König Kraska oder vielleicht neu die „Gangs of Zurich” dazu zählen. Ähnliche Figuren lassen sich selbstverständlich auch in anderen Städten und Zeiten finden, so z.B. der dichtende und musizierende Obdachlose Louis Thomas Hardin, der besser bekannt als Moondog auch heute noch als einflussreicher Jazz-Musiker gilt. Oder der ehemalige Seemann und Gärtner Gregor Gog, ein treibendes Mitglied der anarchistischen Bruderschaft der Vagabunden, die sich Ende der zwanziger Jahre ausserhalb der gesellschaftlichen Regeln bewegten. In der vorliegenden Ausgabe der Fabrikzeitung versammeln wir Geschichten und Reflektionen über derartige rätselhafte, faszinierende und inspirierende Missionare, Getriebene oder unangepasste Chronisten unserer Zeit. Von Ivan Sterzinger Ein Unbekannter „Gehe in die große Stadt, und verkündige ihren Einwohnern“ – eine Forschungsnovelle Im Jahre 2002 beschlossen zwei Forscher im Fach Psychologie, eine Ausnahme von der empirischen Forschung zu machen. Sie wollten Texte entschlüsseln, die ein Unbekannter in der Stadt Zürich mit blauem Filzstift auf Plakate schrieb, dort wo deren Gestaltung dies zuliess. Es war eine gut lesbare Schulschrift; von den Inhalten stiessen zuerst Bibelzitate aus dem Alten Testament ins Auge. Dazwischen gestreut fanden sich seltsame politische Anspielungen: Lob für Politiker wie Christoph Blocher und internationale Staatsmänner, meist aus dem rechten Lager. Seine Schreibflächen fand der Unbekannte in der Innenstadt von Zürich, im Gürtel zwischen dem Bahnhof Stadelhofen und dem Hauptbahnhof, am Bellevue und am Paradeplatz sowie entlang der Bahnhofstrasse. Er schrieb auch auf sogenannte Baustellwände, Abschrankungen aus meist gelben Brettern, die dazu dienten, Baustellen vom Publikum abzuschirmen. Das eigentliche Ziel aber war, die rätselhaften Texte zu verstehen – oder realisischer: wenigstens ansatzweise zu verstehen. Rechnen schien hier nicht helfen zu können (wobei der eine der Forscher später an Methoden arbeiten sollte, mit denen anhand eines Algorithmus die Ähnlichkeit von Texten gemessen werden konnte…) Raum Hätten die Forscher allein mit den Originalen gearbeitet, so hätte das bedeutet, ständig in dieser Zone zu spazieren, von Plakat zu Plakat und von Bau zu Bau. Die Erfindung der Fotografie machte das überflüssig. Eine Kollegin, die mit der Kamera umzugehen wusste, dokumentierte das Gesamtkunstwerk in Totalen und in Ausschnitten. Ein einfaches Programm zur Fotoverwaltung erlaubte es, rasch durch den gesammelten Bilderschatz zu blättern. In einem nächsten Schritt wurden die Texte abgetippt und in eine Datenbank gebracht. Rasch zeigte sich eine grundlegende Struktur in der Schreibarbeit des Unbekannten: Auf einem Plakat kombinierte er einen Bibelspruch und dessen Quellenangabe mit einem eigenen Satz, der oft politische Anspielungen in witziger oder apellativer Form enthielt. Die Forscher nannten diese Textgruppe einen „Spruch“. Hier als Beispiel zwei Sprüche: „Tröstet, Tröstet Mein Volk! Siegenthaler in Jesaja 40! SVP Der Schweiz zuliebe!“ „ER hat SEINE Wege Mose wissen lassen, Die Kinder ISRAËL SEIN TUN Dr. Blocher im Psalm 103“ Und, aus dem Rahmen fallend in seiner Unmittelbarkeit: „SVP und überall dieses beklemmende Gefühl!“ Die Datenbank umfasste schliesslich etwa 130 solcher Sprüche. Zeit Die Sprüche-Datenbank verknüpften die Forscher mit einer zweiten Datenbank, die die zitierten Bibelsprüche enthielt. Von 47 Bibelstellen kamen zwei je 6 bzw. 5 Mal vor. Zwei weitere Stellen zitierte der Unbekannte je 4 Mal, 3 weitere je 3 Mal. Die übrigen Bibelstellen wurden nur 1 oder 2 Mal zitiert. Der Unbekannte war also Bibelleser und, so die Forscher, Zeitungsleser. Er flocht aktuelle Ereignisse, wie den Besuch des damaligen japanischen Premierministers Junichiro Koizumi beim Hiroshima Dom am 6. August 2001, in seine Texte ein. Was der Unbekannte tat, verstiess gegen verschiedene Regeln und Gesetze. Er hatte also nicht viel Zeit zum Schreiben, bevor er sich vom Tatort wieder absetzte. Vielleicht war ein Spruch, abgesehen davon, worin die Logik seines inneren Aufbaus lag, einfach das, was er in ein paar Minuten zu Papier bzw. Holz bringen konnte. Die Allgemeine Plakatgesellschaft, die von der Arbeit des Unbekannten einen beträchtlichen und nachhaltigen Schaden davontrug, erklärte den Forschern, dass die Auflage eines gedruckten Plakats meist Reserve mit einschloss. Damit konnten verunzierte oder beschädigte Plakate ein- bis zweimal ersetzt werden. Danach mussten bereitgelegte Plakate mit zeitlosen Sujets einspringen, etwa Werbung für den Zoo Zürich. Das Datum und die Zeitangabe auf einer digitalen Fotografie gab deshalb ungefähr die Zeit an, in der der Unbekannte den Spruch geschrieben hatte. Ganz anders war das bei den Baustellwänden. Die Forscher erkannten dies, als sie auf dem Kopf stehende Texte des Unbekannten entdeckten. Auch waren manche Texte in der Mitte abgeschnitten. Baustellwände bestehen aus Brettern, die quer in einen eisernen Rahmen gesenkt werden. Baustellwände werden auseinandergenommen und andernorts neu zusammengesetzt, ohne Rücksicht auf Missionen wie die des Unbekannten. Das bedeutete, dass Texte auf Baustellwänden nicht datierbar waren; es sei denn, sie spielten auf ein historisches Ereignis an und man ging davon aus, dass der Unbekannte dieses frisch verarbeitet hatte. Langjährigen Mitarbeitern der Allgemeinen Plakatgesellschaft fielen schon 1990 – oder noch früher – Texte des Unbekannten auf. Ende 2008 hatte der Unbekannte einem Journalisten gegenüber angegeben, seine Mission sei jetzt erfüllt (Beobachter 26/2008). Aber heute noch, 2015, finden sich seine Texte in Zürich, wenn auch seltener. Nach der Datenaufnahme 2003/04 dauerte es ca. fünf Jahre, bis der Forschungsbericht erschien. Das Material ruhte jahrelang; die Forscher waren mit anderen Projekten beschäftigt und sagten, wenn sie sich trafen: „Wir sollten endlich mal die Plakattexte…” Offensichtlich wartete niemand ungeduldig auf die Deutung der Botschaften. Der Wechsel eines Lehrstuhlinhabers machte den Forschern Beine. Sie klemmten sich erneut hinter die Texte und begannen den Forschungsbericht zu schreiben. In einem ersten Teil sollten Material, Kontext und einige Statistiken vorgestellt werden. Dann wollten sie sich an die Deutung der Texte machen. Resultate In ihrem Bericht kamen die Forscher zu Schluss, dass für den Unbekannten seine Schreibtätigkeit lebenswichtig war. Er glich damit eine Unstabilität seiner Persönlichkeit aus, indem er sich mit der Stadt identifizierte – mit Zürich, dem Jerusalem aus der Bibel – und Gott beschwor, seine Hand schützend über diese Stadt zu halten. Auch zeitgenössische Persönlichkeiten, die er als mächtig empfand (vielleicht weil sie einen Diskurs am rechten Rand des politischen Spektrums führten) übten diese Stützfunktion aus. Er war also nicht der typische „Ad-Buster”, der seinem Unmut über die Werbung an sich Ausdruck verlieh. Die meisten Menschen bleiben kurz stehen, lesen die blaue Botschaft und gehen dann kopfschüttelnd weiter. Doch bleibe wohl etwas hängen, meinen die Forscher, wenn auch eher unbewusst. Im Folgenden ein paar Punkte aus ihrem Bericht: • Der Unbekannte kann einem die Bibel nahebringen. Die Zitate aus dem Alten Testament sind kraftvoll, poetisch, aufwühlend – das kann man spüren, ohne Christ sein zu müssen. • Der Unbekannte verbindet mit seinen krakeligen blauen Linien Plakate miteinander und lässt so plötzlich die Ebene der Werbung sichtbar werden, die wir sonst systematisch ausblenden. • Mit seinen Kommentaren linkt er sich da und dort in die Werbebotschaft ein, subvertiert sie, übernimmt sie für seine Zwecke und legt dabei einen Humor an den Tag, über den wir lachen können - er wohl nicht. Besonders liebt er die kindlich gezeichneten Schadensmeldungen einer Versicherungsgesellschaft (viel leerer Platz!). Wo ein Männchen mit einem Koffer wegrennt („Mein Koffer – Nicht ich!”) hat er ihm den Namen „Mordechai Vanunu” gegeben und „mein Atom-Koffer” ergänzt, um auf den Diebstahl von Atomgeheimnissen durch den israelischen Agenten anzuspielen. • Mit seiner Neugestaltung der Werbeebene schafft er eine eigene Topologie der Stadt. Es kann einem passieren, dass man die Bahnhofstrasse entlangschlendert und denkt: „Oh, dort unten steht eine Baustellwand. Vielleicht…” • Der Unbekannte verwickelt einen in ein Geheimnis, einen Code. Ohne zu wollen, sieht man sich gezwungen, abzuklären, was hier steht. Die Forscher sollten sich die Frage stellen, ob seine Botschaft wenigstens bei ihnen angekommen ist… Detektivisches Die gesellschaftliche Wirklichkeit holte unsere naiven Forscher ein, als zur Jagd auf den Unbekannten geblasen wurde: „Info-Box: Kennen Sie den mysteriösen Plakatschreiber? Dann senden Sie uns ein Mail an folgende Adresse: Redaktion Newsnetz” (TA 19.9.2008) Die Forscher selber hatten nach dem Erscheinen des Forschungsberichts der NZZ ein Interview gegeben, worauf der Tages-Anzeiger sofort mit einem unpräzisen Artikel zum Thema nachdoppelte. Wenig später hatten die Forscher eine besorgte Vertreterin der Gesundheitsbehörde am Telefon. Sie bat, dem Unbekannten nicht noch mehr mediale Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, da ihm das nicht gut tue. Er sei in Behandlung, und der Medienrummel versetze ihn in Aufregung. Die Forscher versprachen Besserung. Sie hatten beschlossen, keine Hinweise auf die Identität des Unbekannten zu geben. Die Frau des einen hatte eine verschwommene Aufnahme von ihm gemacht, die ihn von hinten bei der Arbeit zeigte. Diese wurde aber in die Publikation nicht integriert. Der betreffende Forscher hatte sich einmal kurz mit dem Unbekannten unterhalten, und zwar darüber, welcher Filzstift besser auf gemalten Flächen hafte. Zuvor hatte derselbe Forscher die Idee gehegt, aus den höchst- und den tiefstplatzierten Schreibzeilen die Körpergrösse des Unbekannten zu ermitteln. Es war aber schon zu spät. „Wissenschaftler suchen eine mysteriöse Person, die seit 15 Jahren anonym Zürcher Plakatwände mit Bibelsprüchen versieht. Der Beobachter hat den Ex-Banker getroffen. Was will er uns sagen?” (Beobachter, 26/2008). Der Gesuchte wurde mit vollem Namen und Foto vorgestellt. Immerhin enthielt der Artikel interessante Details, etwa über die freikirchliche Vergangenheit des Nichtmehr-Unbekannten und seine Mission in eigenen Worten. Sehet diesen Menschen. Der Code, um die „Wahrheit” in den Worten dieses bekannten Unbekannten endgültig zu entschlüsseln, muss wohl erst erfunden werden. Von Dieter Sträuli F. Brenner Felix Brenner: aufgewachsen in Basel, abgehauen von Zuhause, Gefängnisaufenthalte, Kommunen, Drogen, Politisches, Maler, Drucker, Schamane, Performer, Gesellschaftsflüchtiger, Amsterdam, Ekstase, Kunst, halluzinogene Pflanzen, Reisen, Schweiz, New York. Ein bewegtes Leben bisher. Wo steht er heute? Felix Brenner lebt heute in Altnau, Kanton Thurgau, und arbeitet dort ohne Pause, macht Videos, druckt, produziert Radiosendungen und Hörspiele. Michael Stauffer hat für SRF 2 das Hörspiel “Gottesteilchen” mit Felix Brenner realisiert und nimmt gerne ab und zu an Ausflügen in das Brenner-Universum teil. H.v.Bienert Heribert von Bienerts Internationales Modeshow- und Fotoinstitut veranstaltet nach eigenen Angaben jedes Jahr 120 Shows – Firmenanlässe, Bankette, Hochzeiten, Generalversammlungen – und bietet Coaching für angehende Models an. Daran alleine wäre an sich nichts Ungewöhnliches, bieten doch zahlreiche andere Modelschulen, Agenturen und Fotografen vergleichbare Dienstleistungen an. Ungewöhnlich ist allerdings seine Werbung. Seit mittlerweile zehn Jahren hängen die A4-grossen Annoncen in Zürich Aussersihl an Hauswänden zwischen der Schmiede Wiedikon, der Langstrasse und der Sihlporte. Doch statt auf seitenfüllende Fotografien und Hochglanzpapier setzt das Institut auf Schere, Leim und Leuchtstift: Die Anzeigen sind allesamt schwarzweiss kopierte Collagen, die verwendeten Text- und Bildelemente scheinen bis auf den Firmenblock aus Zeitung, Zeitschriften und Magazinen entnommen. Inhatlich bleiben jedoch keine Wünsche offen – von der „SteckKleider-Mode-Show” über die „Herren-ModeShow” bis zur „Lack- und Plastik-Mode-Show”. Für die angebotenen Modeshows kümmert sich das Institut um Models, Sprecher, Effekte, Beleuchtung, Musik, Einlagen und Accessoires. Für Tourneen in ganz Europa werden darum immer wieder auch Models und Dressmen gesucht. Eine Kontaktaufnahme gestaltet sich dabei jedoch als beinahe unmöglich. Auf den Anzeigen wird zwar regelmässig auf die zahlreichen Niederlassungen an guten Adressen in Zürich, Berlin, Lugano oder Dubai hingewiesen; zumindest in Zürich und Berlin lässt sich aber das Insitut an keiner der Adressen aufspüren. Das „Internationale Modeshow- und Fotoinstitut” scheint nur auf Plakaten zu existieren. Oder in meinem Kopf ? Bis zu einem Anruf auf das Europa-Bild-Telefon... Protokoll einer Recherche. 22. Dezember 2009 Langstrasse 71 – Erstes Plakat des „Internationalen Modeshow- u. Foto-Institut“ beim Gemüseladen Da Leo Sempre Fresco abgehägt. Von Steck-Kleider-Mode-Show über Herren-ModeShow bis zu Lack- und Plastik-Mode-Show soll bei dem Institut alles zu haben sein. 11. August 2010 Birmensdorferstrasse 51/53 – Zwischen Finnlandia-Reisen und Caritas Kunst&Krempel: „Wie werde ich Model?“. Die „Schweizerische Mannequin- u. Fotomodell-Schule“ sucht neue Talente. 29. November 2010 Löwenstrasse 5 – Beim Coop Pronto, Anzeige für Versace. Danach inzwischen gegen 20 weitere Anzeigen von Heribert von Bienert an jeweils ungefähr denselben Stellen. 21. Januar 2011 Besuch an der auf den Plakaten angegebenen Militärstrasse 84 und an der Bahnhofstrasse 86. An keiner der angegebenen Adressen lässt sich das Modeshow-Institut ausfindig machen. Alain Kupper, der mit seiner Galerie ebenfalls an der Militärstrasse 84 arbeitet, kennt das Institut nicht. Das Institut Das Institut wurde 1920 von Else Daum, einer Tante von Reinhold Daum gegründet. Mittlerweile scheint auch Herr Daum nicht mehr der Jüngste zu sein. Er selbst bezeichnet sich aber nach wie vor als fit wie ein Turnschuh. Die Mitarbeiter Heribert von Bienert arbeite ebenfalls immer noch für das Institut, ebenfalls die deutsche Schauspielerin Katja Bienert, die in den 70er Jahren zuerst als Darstellerin in Erotikfilmen, später in den bekannteren deutschen Serien „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten” sowie „Praxis Bülowogen” bekannt war. Die Stadt Zürich Reinhold Daum scheint sich in Zürich gut auszukennen, von Kaufleuten über Tesla Motors, Tchibo, Vior, Kalkbreite-Siedlung, Art of Kurry bis zum Pier 7 weiss er, wer darin verkehrt, welche Filiale früher darin beheimatet war und warum die „Mädchen” keine Tesla fahren würden: Das reiche nicht aus für Fahrten von Zürich nach Lugano retour. Das Netzwerk Das Beziehungsgeflecht des Instituts reicht von der Nationalrätin-in-spe Magdalena MartulloBlocher, über den ehemaligen deutschen Bundeskanzler und Rechtsanwalt Gerhard Schröder, den Investor August von Finck Junior bis zur in Zürich wohnhaften Sängerin Tina Turner. Der Journalist Michael Prellberg, der vor über 15 Jahren die Reportage über das Insitut für die Berliner Zeitung geschrieben hatte, wird von Herrn Daum als „der Feind” bezeichnet. 23. Januar 2012 Berliner Zeitung, online – Reportage aus dem Jahr 1999 von Michael Prellberg; „Agentur am Kudamm will das jüngste Mannequin der Welt auf den Laufsteg schicken“. Heribert von Bienert ist doch kein Phantom. Das dort erwähnte Mannequin, Eva Burandt, lässt sich jedoch nicht ausfindig machen. 31. August 2012 Kurfürstendamm 195, Berlin. An der Berliner Adresse des Modeshow- und Fotoinstitutes wird gerade saniert. Das Institut selber ist dort nicht auffindbar. 14. Dezember 2014 Anruf bei Heribert und Liesel Bienert in Rockenhausen. Frau Bienert versichert mir, dass es sich bei dem Plakateur in Zürich nicht um ihren Mann handeln könne. Auch ein erneuter Besuch an der Militärstrasse 84 bringt mich nicht weiter. Auf den gut zwanzig Briefkästen finden sich geschätzte fünfzig Personen- oder Firmenbeschriftungen. Ein Salsa- und Merengue-Studio, eine Sprachschule, ein Treuhänder; das „Internationale Modeshow- und Fotoinstitut“ befindet sich jedoch nicht darunter. Auch als ich mich nach Heribert von Bienert erkundige, kann mir niemand weiterhelfen. An anderen Adressen sieht es nicht besser aus. 20. Dezember 2014 Auf einem Plakat an der Birmensdorferstrasse ist die Nummer des „Europa-Bild-Telefon“ des Instituts vermerkt. Ein Herr Reinhold Daum, der für das Institut zu arbeiten scheint, weist umgehend darauf hin, dass sie mit der Presse nur schriftlich korrespondieren. Dennoch ist der Mann mit Berliner Akzent bereit, mir für gut eineinhalb Stunden das Tätigkeitsfeld des Instituts zu erläutern. Die Adressen Angesprochen auf die Adressen des Instituts – Militärstrasse 84 in Zürich, Bahnhofstrasse 86 in Zürich, Kurfürstendamm 195/196 in Berlin, Via Nassa in Lugano und Burjaman Hall in Dubai – erklärt Daum, dass es sich dabei zum Teil um alte Adressen handelt, die aber weitergeführt werden. Und diese alten Adressen – das sei wiederum bei Künstlern üblich – seien dann manchmal nur einen Monat mal besetzt. Die Ernüchterung Die Überprüfung einzelner Angaben zeigt allerdings rasch, dass es sich dabei um gut verknüpfte, aber im Wesentlichen öffentlich verfügbare Informationen handelt. Keine der weiteren kontaktierten Personen konnte einen Kontakt mit dem Insitut bestätigen. Es scheint, als existiere das Insitut doch vor allem auf den Plakaten. Und in der fantastischen Welt von Reinhold Daum. Von Ivan Sterzinger Extravagante Gedankenlosigkeit Ich habe mich nicht finden können, solange ich mich als Menschen suchte. Staat, Religion, Gewissen, diese Zwingherrn, machen Mich zum Sklaven, und ihre Freiheit ist Meine Sklaverei. Nach unsern Strafrechtstheorien, mit deren „zeitgemässer Verbesserung” man sich vergeblich abquält, will man die Menschen für diese oder jene „Unmenschlichkeit” strafen und macht dabei das Alberne dieser Theorien durch ihre Konsequenz besonders deutlich, in dem man die kleinen Diebe hängt und die grossen laufen lässt. Damit der Staat naturwüchsig sich entfalten könne, legt er an Mich die Schere der „Kultur”, er gibt Mir eine ihm, nicht Mir, angemessene Erziehung und Bildung, und lehrt Mich – unsträflich sein, indem Ich meine Eigenheit „opfere”. Hege Ich dagegen Gedanken, welche er nicht approbieren, d.h. zu den seinigen machen kann, so erlaubt er Mir durchaus nicht, sie zu verwerten, sie in den Austausch, den Verkehr zu bringen. Meine Gedanken sind nur frei, wenn sie Mir durch die Gnade des Staats vergönnt sind, d.h. wenn sie Gedanken des Staats sind. Ja der Staat verfährt überall ungläubig gegen die Individuen, weil er in ihrem Egoismus seinen natürlich Feind erkennt: er verlangt durchweg einen „Ausweis”, und wer sich nicht ausweisen kann, verfällt seiner nachspürenden Inquisition. Unsittlich ist der bürgerlichen Moral der Industrieritter, die Buhlerin, der Dieb, Räuber und Mörder, der Spieler, der vermögenlose Mann ohne Anstellung, der Leichtsinnige. extravagante Vagabunden – Sie bilden der Unsteten, Ruhelosen, Veränderlichen, d.h. der Proletarier, und heissen, wenn ihr unsesshaftes Wesen laut werden lassen, „unruhige Köpfe”. Dieser Ruhelose Geist ist der wahre Arbeiter. – Er arbeitete um seinetwillen und zur Befriedigung seines Bedürfnisses. Dass er der Nachwelt nützlich war, nimmt den egoistischen Charakter nicht. Sehe Ich den Geliebten leiden, so leide Ich mit, und es läßt Mir keine Ruhe, bis Ich Alles versucht habe, ihn zu trösten und aufzuheitern; sehe Ich ihn froh, so werde auch Ich über seine Freude froh. Nur der egoistische Kampf, der Kampf von Egoisten auf beiden Seiten, bringt alles ins Klare. Ich halte mich nicht für etwas besonderes, sondern für einzig. Niemand kann an deiner Statt deine musikalischen Kompositionen anfertigen, deine Malerentwürfe ausführen usw.: Raphaels Arbeiten kann niemand ersetzen. Die letzteren sind Arbeiten eines Einzigen, die nur dieser Einzige zu vollbringen vermag. Nicht die Isoliertheit oder das Alleinsein ist der ursprüngliche Zustand des Menschen, sondern die Gesellschaft. Nicht das Denken, sondern meine Gedankenlosigkeit oder Ich, der Undenkbare, Unbegreifliche befreie mich aus der Besessenheit. Irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den Sprung und stürze hinein durch die Pforten in das Heiligtum selber. Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los! Von jetzt an lautet die Frage, nicht wie man das Leben erwerben, sondern wie man’s vertun, genießen könne, oder nicht wie man das wahre Ich in sich herzustellen, sondern wie man sich aufzulösen, sich auszuleben habe. Endlich aber muß man überhaupt sich Alles „aus dem Sinn zu schlagen” wissen, schon um – einschlafen zu können. Von: Michael Hiltbrunner Nach: Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1844 Der Beitrag „Extravagante Gedankenlosigkeit [von Max Stirner]” von Michael Hiltbrunner wurde 2012 im Zürcher Magazin „der:die:das” (Ausgabe h wie Hammer, S. 69–70) erstmals veröffentlicht.
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