FZ 308, Mai 2015 — In persönlicher Mission

FZ 308, Mai 2015 — In persönlicher Mission
Editorial
Geht man dieser Tage beim Zürcher Paradeplatz
am Hauptsitz der UBS vorbei, kann man wieder die mit blauem Marker geschriebenen Kommentare eines stadtbekannten Unbekannten
sehen. „Ueli Maurer: Freue Dich Israel” steht
auf der Plakatwerbung der UBS, mit einem
kleinen Herzchen auf Uelis „i”.
Daneben Verweise auf Psalme, Bibelstellen und
viele weitere Bezüge zum heutigen politischen
Zeitgeschehen. Der rätselhafte Plakatschreiber
treibt sich seit mittlerweile gut zwanzig Jahren
in Zürich herum. Und dennoch weiss niemand
Genaueres über ihn. Ähnlich verhält es sich mit
einem auf den ersten Blick kommerziell agierenden Phantom, der in Zürich Aussersihl A4-Plakate für seine Model- und Mannequin-Agentur
aufhängt: „Wie werde ich Model? Nicht warten,
starten”, empfiehlt Heribert von Bienert vom
„internationalen Modeshow- u. Foto-Institut”.
Das Irritierende dabei ist jedoch, dass die
Plakat-Zettel ganz und gar nicht der HochglanzÄsthetik der Modezeitschriften entsprechen.
Stattdessen sind es mit dem Fotokopierer collagierte Aufschneider-Sammelsurien und – man
könnte es befürchten: vielleicht zwielichtige
Angebote. Es bleibt dabei unklar, ob sich hier
ein manischer Hochstapler oder ein alternder
Lüstling – das Insitut existiert angeblich seit
1920 – umhertreibt.
Man kann solche Menschen leicht als „Spinner”
abkanzeln. Oder aber versuchen ihre Welt zu
verstehen. Die Grenze zwischen Sinn und Wahnsinn ist dabei oft schwer zu identifizieren. Vor
allem ist es eine Frage der Definition: Was in dem
einen gesellschaftlichen Umfeld als nicht tolerierte Abweichung abgestempelt wird, kann in
einem anderen Umfeld die Voraussetzung für
eine bestimmte Tätigkeit sein. Nicht von ungefähr finden sich z.B. im Musikgeschäft mehr
Menschen mit Persönlichkeitseigenschaften,
die man gemeinhin zumindest als auffällig
bezeichnen würde. In gleichem Masse wie der
Erfolg einer Künstlerin oder einem Musiker
zu sehr in den Kopf steigen kann, kann er auch
den erwähnten Akteuren eine Last werden.
Zwar suchen sie die Öffentlichkeit für ihre Äusserungen; aber richtig sichtbar sind die eigentlichen Menschen dahinter selten. So wie z.B. der
2004 verstorbene Emil Manser, der mit seinen
eindeutig uneindeutigen Plakat-Texten („Nicht
verstan- den Ich auch nicht”) in Luzern so
einige zum Nachdenken brachte. Und schliesslich entschied, sich das Leben zu nehmen.
Allen bisher Beschriebenen ist wohl gemein,
dass sie gleichsam als Getriebene neben den
bestehenden Strukturen für ihre Überzeugung
missionieren. In Zürich liessen sich wohl auch
der zu Ostern offiziell abgetretene König Kraska
oder vielleicht neu die „Gangs of Zurich” dazu
zählen. Ähnliche Figuren lassen sich selbstverständlich auch in anderen Städten und Zeiten
finden, so z.B. der dichtende und musizierende
Obdachlose Louis Thomas Hardin, der besser bekannt als Moondog auch heute noch als
einflussreicher Jazz-Musiker gilt. Oder der
ehemalige Seemann und Gärtner Gregor Gog,
ein treibendes Mitglied der anarchistischen
Bruderschaft der Vagabunden, die sich Ende
der zwanziger Jahre ausserhalb der gesellschaftlichen Regeln bewegten.
In der vorliegenden Ausgabe der Fabrikzeitung
versammeln wir Geschichten und Reflektionen
über derartige rätselhafte, faszinierende und inspirierende Missionare, Getriebene oder unangepasste Chronisten unserer Zeit.
Von Ivan Sterzinger
Ein Unbekannter
„Gehe in die große Stadt, und
verkündige ihren Einwohnern“ –
eine Forschungsnovelle
Im Jahre 2002 beschlossen zwei Forscher im
Fach Psychologie, eine Ausnahme von der empirischen Forschung zu machen. Sie wollten Texte
entschlüsseln, die ein Unbekannter in der Stadt
Zürich mit blauem Filzstift auf Plakate schrieb,
dort wo deren Gestaltung dies zuliess. Es war
eine gut lesbare Schulschrift; von den Inhalten
stiessen zuerst Bibelzitate aus dem Alten Testament ins Auge. Dazwischen gestreut fanden sich
seltsame politische Anspielungen: Lob für Politiker wie Christoph Blocher und internationale
Staatsmänner, meist aus dem rechten Lager.
Seine Schreibflächen fand der Unbekannte in
der Innenstadt von Zürich, im Gürtel zwischen
dem Bahnhof Stadelhofen und dem Hauptbahnhof, am Bellevue und am Paradeplatz sowie
entlang der Bahnhofstrasse. Er schrieb auch
auf sogenannte Baustellwände, Abschrankungen
aus meist gelben Brettern, die dazu dienten,
Baustellen vom Publikum abzuschirmen. Das
eigentliche Ziel aber war, die rätselhaften Texte zu verstehen – oder realisischer: wenigstens
ansatzweise zu verstehen. Rechnen schien hier
nicht helfen zu können (wobei der eine der Forscher später an Methoden arbeiten sollte, mit
denen anhand eines Algorithmus die Ähnlichkeit von Texten gemessen werden konnte…)
Raum
Hätten die Forscher allein mit den Originalen
gearbeitet, so hätte das bedeutet, ständig in dieser Zone zu spazieren, von Plakat zu Plakat und
von Bau zu Bau. Die Erfindung der Fotografie
machte das überflüssig. Eine Kollegin, die mit
der Kamera umzugehen wusste, dokumentierte
das Gesamtkunstwerk in Totalen und in Ausschnitten. Ein einfaches Programm zur Fotoverwaltung erlaubte es, rasch durch den gesammelten Bilderschatz zu blättern.
In einem nächsten Schritt wurden die Texte abgetippt und in eine Datenbank gebracht. Rasch
zeigte sich eine grundlegende Struktur in der
Schreibarbeit des Unbekannten: Auf einem Plakat kombinierte er einen Bibelspruch und dessen
Quellenangabe mit einem eigenen Satz, der oft
politische Anspielungen in witziger oder apellativer Form enthielt. Die Forscher nannten diese
Textgruppe einen „Spruch“. Hier als Beispiel
zwei Sprüche:
„Tröstet, Tröstet Mein Volk!
Siegenthaler in Jesaja 40! SVP
Der Schweiz zuliebe!“
„ER hat SEINE Wege Mose wissen
lassen, Die Kinder ISRAËL SEIN TUN
Dr. Blocher im Psalm 103“
Und, aus dem Rahmen fallend in seiner Unmittelbarkeit: „SVP und überall dieses beklemmende Gefühl!“ Die Datenbank umfasste schliesslich
etwa 130 solcher Sprüche.
Zeit
Die Sprüche-Datenbank verknüpften die Forscher mit einer zweiten Datenbank, die die zitierten Bibelsprüche enthielt. Von 47 Bibelstellen
kamen zwei je 6 bzw. 5 Mal vor. Zwei weitere
Stellen zitierte der Unbekannte je 4 Mal, 3 weitere je 3 Mal. Die übrigen Bibelstellen wurden nur
1 oder 2 Mal zitiert. Der Unbekannte war also
Bibelleser und, so die Forscher, Zeitungsleser.
Er flocht aktuelle Ereignisse, wie den Besuch des
damaligen japanischen Premierministers Junichiro Koizumi beim Hiroshima Dom am 6. August
2001, in seine Texte ein.
Was der Unbekannte tat, verstiess gegen verschiedene Regeln und Gesetze. Er hatte also nicht
viel Zeit zum Schreiben, bevor er sich vom Tatort wieder absetzte. Vielleicht war ein Spruch,
abgesehen davon, worin die Logik seines inneren
Aufbaus lag, einfach das, was er in ein paar
Minuten zu Papier bzw. Holz bringen konnte.
Die Allgemeine Plakatgesellschaft, die von der
Arbeit des Unbekannten einen beträchtlichen
und nachhaltigen Schaden davontrug, erklärte
den Forschern, dass die Auflage eines gedruckten Plakats meist Reserve mit einschloss. Damit
konnten verunzierte oder beschädigte Plakate
ein- bis zweimal ersetzt werden. Danach mussten
bereitgelegte Plakate mit zeitlosen Sujets einspringen, etwa Werbung für den Zoo Zürich.
Das Datum und die Zeitangabe auf einer digitalen Fotografie gab deshalb ungefähr die Zeit an,
in der der Unbekannte den Spruch geschrieben
hatte. Ganz anders war das bei den Baustellwänden. Die Forscher erkannten dies, als sie
auf dem Kopf stehende Texte des Unbekannten
entdeckten. Auch waren manche Texte in der
Mitte abgeschnitten. Baustellwände bestehen
aus Brettern, die quer in einen eisernen Rahmen
gesenkt werden. Baustellwände werden auseinandergenommen und andernorts neu zusammengesetzt, ohne Rücksicht auf Missionen wie
die des Unbekannten. Das bedeutete, dass Texte
auf Baustellwänden nicht datierbar waren; es sei
denn, sie spielten auf ein historisches Ereignis
an und man ging davon aus, dass der Unbekannte dieses frisch verarbeitet hatte. Langjährigen
Mitarbeitern der Allgemeinen Plakatgesellschaft
fielen schon 1990 – oder noch früher – Texte des
Unbekannten auf. Ende 2008 hatte der Unbekannte einem Journalisten gegenüber angegeben, seine Mission sei jetzt erfüllt (Beobachter
26/2008). Aber heute noch, 2015, finden sich
seine Texte in Zürich, wenn auch seltener.
Nach der Datenaufnahme 2003/04 dauerte es ca.
fünf Jahre, bis der Forschungsbericht erschien.
Das Material ruhte jahrelang; die Forscher waren
mit anderen Projekten beschäftigt und sagten,
wenn sie sich trafen: „Wir sollten endlich mal die
Plakattexte…” Offensichtlich wartete niemand
ungeduldig auf die Deutung der Botschaften.
Der Wechsel eines Lehrstuhlinhabers machte
den Forschern Beine. Sie klemmten sich erneut
hinter die Texte und begannen den Forschungsbericht zu schreiben. In einem ersten Teil sollten
Material, Kontext und einige Statistiken vorgestellt werden. Dann wollten sie sich an die Deutung der Texte machen.
Resultate
In ihrem Bericht kamen die Forscher zu Schluss,
dass für den Unbekannten seine Schreibtätigkeit
lebenswichtig war. Er glich damit eine Unstabilität seiner Persönlichkeit aus, indem er sich mit
der Stadt identifizierte – mit Zürich, dem Jerusalem aus der Bibel – und Gott beschwor, seine
Hand schützend über diese Stadt zu halten. Auch
zeitgenössische Persönlichkeiten, die er als mächtig empfand (vielleicht weil sie einen Diskurs am
rechten Rand des politischen Spektrums führten)
übten diese Stützfunktion aus. Er war also nicht
der typische „Ad-Buster”, der seinem Unmut
über die Werbung an sich Ausdruck verlieh.
Die meisten Menschen bleiben kurz stehen, lesen
die blaue Botschaft und gehen dann kopfschüttelnd weiter. Doch bleibe wohl etwas hängen,
meinen die Forscher, wenn auch eher unbewusst.
Im Folgenden ein paar Punkte aus ihrem Bericht:
• Der Unbekannte kann einem die Bibel nahebringen. Die Zitate aus dem Alten Testament
sind kraftvoll, poetisch, aufwühlend – das kann
man spüren, ohne Christ sein zu müssen.
• Der Unbekannte verbindet mit seinen krakeligen blauen Linien Plakate miteinander
und lässt so plötzlich die Ebene der Werbung
sichtbar werden, die wir sonst systematisch
ausblenden.
• Mit seinen Kommentaren linkt er sich da und
dort in die Werbebotschaft ein, subvertiert sie,
übernimmt sie für seine Zwecke und legt dabei einen Humor an den Tag, über den wir lachen können - er wohl nicht. Besonders liebt
er die kindlich gezeichneten Schadensmeldungen einer Versicherungsgesellschaft (viel
leerer Platz!). Wo ein Männchen mit einem
Koffer wegrennt („Mein Koffer – Nicht ich!”)
hat er ihm den Namen „Mordechai Vanunu”
gegeben und „mein Atom-Koffer” ergänzt,
um auf den Diebstahl von Atomgeheimnissen
durch den israelischen Agenten anzuspielen.
• Mit seiner Neugestaltung der Werbeebene
schafft er eine eigene Topologie der Stadt.
Es kann einem passieren, dass man die Bahnhofstrasse entlangschlendert und denkt:
„Oh, dort unten steht eine Baustellwand.
Vielleicht…”
• Der Unbekannte verwickelt einen in ein
Geheimnis, einen Code. Ohne zu wollen,
sieht man sich gezwungen, abzuklären,
was hier steht.
Die Forscher sollten sich die Frage stellen, ob
seine Botschaft wenigstens bei ihnen angekommen ist…
Detektivisches
Die gesellschaftliche Wirklichkeit holte unsere
naiven Forscher ein, als zur Jagd auf den Unbekannten geblasen wurde:
„Info-Box: Kennen Sie den mysteriösen Plakatschreiber? Dann senden Sie uns ein Mail an
folgende Adresse: Redaktion Newsnetz”
(TA 19.9.2008)
Die Forscher selber hatten nach dem Erscheinen
des Forschungsberichts der NZZ ein Interview
gegeben, worauf der Tages-Anzeiger sofort mit
einem unpräzisen Artikel zum Thema nachdoppelte. Wenig später hatten die Forscher eine
besorgte Vertreterin der Gesundheitsbehörde
am Telefon. Sie bat, dem Unbekannten nicht
noch mehr mediale Aufmerksamkeit zukommen
zu lassen, da ihm das nicht gut tue. Er sei in
Behandlung, und der Medienrummel versetze
ihn in Aufregung. Die Forscher versprachen
Besserung. Sie hatten beschlossen, keine Hinweise auf die Identität des Unbekannten zu
geben. Die Frau des einen hatte eine verschwommene Aufnahme von ihm gemacht, die ihn von
hinten bei der Arbeit zeigte. Diese wurde aber
in die Publikation nicht integriert. Der betreffende Forscher hatte sich einmal kurz mit dem
Unbekannten unterhalten, und zwar darüber,
welcher Filzstift besser auf gemalten Flächen
hafte. Zuvor hatte derselbe Forscher die Idee
gehegt, aus den höchst- und den tiefstplatzierten
Schreibzeilen die Körpergrösse des Unbekannten zu ermitteln. Es war aber schon zu spät.
„Wissenschaftler suchen eine mysteriöse Person,
die seit 15 Jahren anonym Zürcher Plakatwände
mit Bibelsprüchen versieht. Der Beobachter hat
den Ex-Banker getroffen. Was will er uns sagen?”
(Beobachter, 26/2008). Der Gesuchte wurde mit
vollem Namen und Foto vorgestellt. Immerhin
enthielt der Artikel interessante Details, etwa über
die freikirchliche Vergangenheit des Nichtmehr-Unbekannten und seine Mission in eigenen
Worten. Sehet diesen Menschen. Der Code, um
die „Wahrheit” in den Worten dieses bekannten
Unbekannten endgültig zu entschlüsseln, muss
wohl erst erfunden werden.
Von Dieter Sträuli
F. Brenner
Felix Brenner: aufgewachsen in Basel, abgehauen von Zuhause, Gefängnisaufenthalte, Kommunen, Drogen, Politisches, Maler, Drucker, Schamane, Performer,
Gesellschaftsflüchtiger, Amsterdam, Ekstase, Kunst, halluzinogene Pflanzen, Reisen, Schweiz, New York. Ein bewegtes Leben bisher. Wo steht er heute? Felix Brenner
lebt heute in Altnau, Kanton Thurgau, und arbeitet dort ohne Pause, macht Videos, druckt, produziert Radiosendungen und Hörspiele. Michael Stauffer hat für
SRF 2 das Hörspiel “Gottesteilchen” mit Felix Brenner realisiert und nimmt gerne ab und zu an Ausflügen in das Brenner-Universum teil.
H.v.Bienert
Heribert von Bienerts Internationales Modeshow- und Fotoinstitut veranstaltet nach eigenen
Angaben jedes Jahr 120 Shows – Firmenanlässe,
Bankette, Hochzeiten, Generalversammlungen
– und bietet Coaching für angehende Models an.
Daran alleine wäre an sich nichts Ungewöhnliches, bieten doch zahlreiche andere Modelschulen, Agenturen und Fotografen vergleichbare
Dienstleistungen an. Ungewöhnlich ist allerdings
seine Werbung. Seit mittlerweile zehn Jahren
hängen die A4-grossen Annoncen in Zürich Aussersihl an Hauswänden zwischen der Schmiede
Wiedikon, der Langstrasse und der Sihlporte.
Doch statt auf seitenfüllende Fotografien und
Hochglanzpapier setzt das Institut auf Schere,
Leim und Leuchtstift: Die Anzeigen sind allesamt schwarzweiss kopierte Collagen, die verwendeten Text- und Bildelemente scheinen bis
auf den Firmenblock aus Zeitung, Zeitschriften
und Magazinen entnommen. Inhatlich bleiben
jedoch keine Wünsche offen – von der „SteckKleider-Mode-Show” über die „Herren-ModeShow” bis zur „Lack- und Plastik-Mode-Show”.
Für die angebotenen Modeshows kümmert sich
das Institut um Models, Sprecher, Effekte, Beleuchtung, Musik, Einlagen und Accessoires.
Für Tourneen in ganz Europa werden darum
immer wieder auch Models und Dressmen gesucht. Eine Kontaktaufnahme gestaltet sich
dabei jedoch als beinahe unmöglich. Auf den
Anzeigen wird zwar regelmässig auf die zahlreichen Niederlassungen an guten Adressen in
Zürich, Berlin, Lugano oder Dubai hingewiesen;
zumindest in Zürich und Berlin lässt sich aber
das Insitut an keiner der Adressen aufspüren.
Das „Internationale Modeshow- und Fotoinstitut” scheint nur auf Plakaten zu existieren. Oder
in meinem Kopf ? Bis zu einem Anruf auf das
Europa-Bild-Telefon... Protokoll einer Recherche.
22. Dezember 2009
Langstrasse 71 – Erstes Plakat des „Internationalen Modeshow- u. Foto-Institut“ beim Gemüseladen Da Leo Sempre Fresco abgehägt. Von
Steck-Kleider-Mode-Show über Herren-ModeShow bis zu Lack- und Plastik-Mode-Show soll
bei dem Institut alles zu haben sein.
11. August 2010
Birmensdorferstrasse 51/53 – Zwischen Finnlandia-Reisen und Caritas Kunst&Krempel: „Wie
werde ich Model?“. Die „Schweizerische Mannequin- u. Fotomodell-Schule“ sucht neue Talente.
29. November 2010
Löwenstrasse 5 – Beim Coop Pronto, Anzeige
für Versace. Danach inzwischen gegen 20 weitere
Anzeigen von Heribert von Bienert an jeweils
ungefähr denselben Stellen.
21. Januar 2011
Besuch an der auf den Plakaten angegebenen
Militärstrasse 84 und an der Bahnhofstrasse 86.
An keiner der angegebenen Adressen lässt sich
das Modeshow-Institut ausfindig machen.
Alain Kupper, der mit seiner Galerie ebenfalls
an der Militärstrasse 84 arbeitet, kennt das
Institut nicht.
Das Institut
Das Institut wurde 1920 von Else Daum, einer
Tante von Reinhold Daum gegründet. Mittlerweile scheint auch Herr Daum nicht mehr der
Jüngste zu sein. Er selbst bezeichnet sich aber
nach wie vor als fit wie ein Turnschuh.
Die Mitarbeiter
Heribert von Bienert arbeite ebenfalls immer
noch für das Institut, ebenfalls die deutsche
Schauspielerin Katja Bienert, die in den 70er
Jahren zuerst als Darstellerin in Erotikfilmen,
später in den bekannteren deutschen Serien
„Gute Zeiten, Schlechte Zeiten” sowie „Praxis
Bülowogen” bekannt war.
Die Stadt Zürich
Reinhold Daum scheint sich in Zürich gut auszukennen, von Kaufleuten über Tesla Motors,
Tchibo, Vior, Kalkbreite-Siedlung, Art of Kurry
bis zum Pier 7 weiss er, wer darin verkehrt,
welche Filiale früher darin beheimatet war und
warum die „Mädchen” keine Tesla fahren
würden: Das reiche nicht aus für Fahrten von
Zürich nach Lugano retour.
Das Netzwerk
Das Beziehungsgeflecht des Instituts reicht von
der Nationalrätin-in-spe Magdalena MartulloBlocher, über den ehemaligen deutschen Bundeskanzler und Rechtsanwalt Gerhard Schröder,
den Investor August von Finck Junior bis zur in
Zürich wohnhaften Sängerin Tina Turner. Der
Journalist Michael Prellberg, der vor über 15 Jahren die Reportage über das Insitut für die Berliner Zeitung geschrieben hatte, wird von Herrn
Daum als „der Feind” bezeichnet.
23. Januar 2012
Berliner Zeitung, online – Reportage aus dem
Jahr 1999 von Michael Prellberg; „Agentur am
Kudamm will das jüngste Mannequin der Welt
auf den Laufsteg schicken“. Heribert von Bienert ist doch kein Phantom. Das dort erwähnte
Mannequin, Eva Burandt, lässt sich jedoch nicht
ausfindig machen.
31. August 2012
Kurfürstendamm 195, Berlin. An der Berliner
Adresse des Modeshow- und Fotoinstitutes
wird gerade saniert. Das Institut selber ist dort
nicht auffindbar.
14. Dezember 2014
Anruf bei Heribert und Liesel Bienert in Rockenhausen. Frau Bienert versichert mir, dass es
sich bei dem Plakateur in Zürich nicht um ihren
Mann handeln könne. Auch ein erneuter Besuch
an der Militärstrasse 84 bringt mich nicht weiter. Auf den gut zwanzig Briefkästen finden sich
geschätzte fünfzig Personen- oder Firmenbeschriftungen. Ein Salsa- und Merengue-Studio,
eine Sprachschule, ein Treuhänder; das „Internationale Modeshow- und Fotoinstitut“ befindet
sich jedoch nicht darunter. Auch als ich mich
nach Heribert von Bienert erkundige, kann mir
niemand weiterhelfen. An anderen Adressen
sieht es nicht besser aus.
20. Dezember 2014
Auf einem Plakat an der Birmensdorferstrasse ist
die Nummer des „Europa-Bild-Telefon“ des Instituts vermerkt. Ein Herr Reinhold Daum, der für
das Institut zu arbeiten scheint, weist umgehend
darauf hin, dass sie mit der Presse nur schriftlich
korrespondieren. Dennoch ist der Mann mit Berliner Akzent bereit, mir für gut eineinhalb Stunden das Tätigkeitsfeld des Instituts zu erläutern.
Die Adressen
Angesprochen auf die Adressen des Instituts –
Militärstrasse 84 in Zürich, Bahnhofstrasse 86 in
Zürich, Kurfürstendamm 195/196 in Berlin, Via
Nassa in Lugano und Burjaman Hall in Dubai –
erklärt Daum, dass es sich dabei zum Teil um alte
Adressen handelt, die aber weitergeführt werden.
Und diese alten Adressen – das sei wiederum
bei Künstlern üblich – seien dann manchmal nur
einen Monat mal besetzt.
Die Ernüchterung
Die Überprüfung einzelner Angaben zeigt allerdings rasch, dass es sich dabei um gut verknüpfte, aber im Wesentlichen öffentlich verfügbare
Informationen handelt. Keine der weiteren kontaktierten Personen konnte einen Kontakt mit
dem Insitut bestätigen. Es scheint, als existiere
das Insitut doch vor allem auf den Plakaten. Und
in der fantastischen Welt von Reinhold Daum.
Von Ivan Sterzinger
Extravagante Gedankenlosigkeit
Ich habe mich nicht finden können,
solange ich mich als Menschen suchte.
Staat, Religion, Gewissen, diese Zwingherrn,
machen Mich zum Sklaven, und ihre Freiheit
ist Meine Sklaverei.
Nach unsern Strafrechtstheorien, mit deren
„zeitgemässer Verbesserung” man sich vergeblich abquält, will man die Menschen für diese oder jene „Unmenschlichkeit” strafen und
macht dabei das Alberne dieser Theorien
durch ihre Konsequenz besonders deutlich,
in dem man die kleinen Diebe hängt und die
grossen laufen lässt.
Damit der Staat naturwüchsig sich entfalten
könne, legt er an Mich die Schere der „Kultur”,
er gibt Mir eine ihm, nicht Mir, angemessene
Erziehung und Bildung, und lehrt Mich – unsträflich sein, indem Ich meine Eigenheit „opfere”.
Hege Ich dagegen Gedanken, welche er nicht
approbieren, d.h. zu den seinigen machen kann,
so erlaubt er Mir durchaus nicht, sie zu verwerten, sie in den Austausch, den Verkehr zu bringen. Meine Gedanken sind nur frei, wenn sie
Mir durch die Gnade des Staats vergönnt sind,
d.h. wenn sie Gedanken des Staats sind.
Ja der Staat verfährt überall ungläubig gegen die
Individuen, weil er in ihrem Egoismus seinen
natürlich Feind erkennt: er verlangt durchweg
einen „Ausweis”, und wer sich nicht ausweisen
kann, verfällt seiner nachspürenden Inquisition.
Unsittlich ist der bürgerlichen Moral der
Industrieritter, die Buhlerin, der Dieb, Räuber
und Mörder, der Spieler, der vermögenlose
Mann ohne Anstellung, der Leichtsinnige.
extravagante Vagabunden – Sie bilden der
Unsteten, Ruhelosen, Veränderlichen, d.h. der
Proletarier, und heissen, wenn ihr unsesshaftes
Wesen laut werden lassen, „unruhige Köpfe”.
Dieser Ruhelose Geist ist der wahre Arbeiter.
– Er arbeitete um seinetwillen und zur Befriedigung seines Bedürfnisses. Dass er der
Nachwelt nützlich war, nimmt den egoistischen Charakter nicht.
Sehe Ich den Geliebten leiden, so leide Ich
mit, und es läßt Mir keine Ruhe, bis Ich Alles
versucht habe, ihn zu trösten und aufzuheitern; sehe Ich ihn froh, so werde auch Ich über
seine Freude froh.
Nur der egoistische Kampf, der Kampf von
Egoisten auf beiden Seiten, bringt alles ins Klare.
Ich halte mich nicht für etwas besonderes,
sondern für einzig.
Niemand kann an deiner Statt deine musikalischen Kompositionen anfertigen, deine Malerentwürfe ausführen usw.: Raphaels Arbeiten
kann niemand ersetzen. Die letzteren sind Arbeiten eines Einzigen, die nur dieser Einzige
zu vollbringen vermag.
Nicht die Isoliertheit oder das Alleinsein ist der
ursprüngliche Zustand des Menschen, sondern
die Gesellschaft.
Nicht das Denken, sondern meine Gedankenlosigkeit oder Ich, der Undenkbare, Unbegreifliche befreie mich aus der Besessenheit.
Irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den Sprung und stürze hinein durch
die Pforten in das Heiligtum selber. Wenn Du
das Heilige verzehrst, hast Du’s zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!
Von jetzt an lautet die Frage, nicht wie man das
Leben erwerben, sondern wie man’s vertun,
genießen könne, oder nicht wie man das wahre
Ich in sich herzustellen, sondern wie man sich
aufzulösen, sich auszuleben habe.
Endlich aber muß man überhaupt sich Alles
„aus dem Sinn zu schlagen” wissen, schon um –
einschlafen zu können.
Von: Michael Hiltbrunner
Nach: Max Stirner, Der Einzige
und sein Eigentum, Leipzig 1844
Der Beitrag „Extravagante Gedankenlosigkeit
[von Max Stirner]” von Michael Hiltbrunner
wurde 2012 im Zürcher Magazin „der:die:das”
(Ausgabe h wie Hammer, S. 69–70) erstmals
veröffentlicht.