1 Sr. Birgitta Louis OSB „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich

Sr. Birgitta Louis OSB
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ - Von Gottsuchern und Atheisten
Verehrte Äbtissinnen und Äbte, Priorinnen und Prioren, sehr geehrter Herr Direktor Hake, liebe
Schwestern und Brüder
Der Dichter des 22. Psalms, der seine Erfahrung in die Worte fasste, „mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen?“(Ps 22, 2a) spricht diesen Gott an. Insofern ist er kein Atheist im strengen
Sinn des Wortes. Aber er macht Gott für seine Erfahrung der „Gottverlassenheit“ verantwortlich. Wir
werden uns im 2. Teil auch mit dieser Erfahrung beschäftigen. Viel häufiger scheint mir jedoch die
Erfahrung zu sein, dass „der Mensch Gott verlässt“. Deshalb werden wir uns zunächst diesem
Phänomen zuwenden, wenn wir nach „Ursachen für Atheismus auch im Kloster“ fragen und nach
„Gottsuche als immerwährender Chance“, wie ich das Thema für mich konkretisiert habe.
1. „Gott vergessen“ - Keine oder zu wenig Zeit für „Lectico divina“ und persönliches Gebet
Die üblichste Form „Gott zu verlassen“ besteht darin, ihn zu „vergessen“, so zu leben, als wenn es ihn
nicht gäbe, als „praktischer Atheist“. Vor dieser Gefahr warnt bereits der hl. Benedikt, wenn er zu
Beginn der ersten Stufe der Demut sagt: „Der Mensch achte stets auf die Gottesfurcht und hüte sich,
Gott je zu vergessen“ (RB 7,10)(1). Wer die Stimme des Herrn gehört und mit einem Klostereintritt
beantwortet hat, hatte zu diesem Zeitpunkt mit großer Wahrscheinlichkeit die Erfahrung „einer
ersten Liebe“. Über sie heisst es in der Geh. Offenbarung im Brief an die Gemeinde von Ephesus: „Du
hast ausgeharrt … Aber ich werfe dir vor, dass du deine erste Liebe verlassen hast“ (Off 2,3-4). Diese
Erfahrung kennen wir vermutlich alle mehr oder weniger. - In einer Zeit kleiner werdender Konvente
sind es gerade die Engagierten und Eifrigen, die eine Aufgabe nach der anderen übernehmen und
keine oder zu wenig Zeit für die Lectio divina und das persönliche Gebet finden, wie die Studie von
Hochschild (2) erschreckend gezeigt hat. Weil es sich bei diesen Mönchen i.d.R. um korrekte Mönche
handelt, versäumen sie das Chorgebet nicht. Aber sie sind oft übermüdet oder können nicht
abschalten und setzen ihre Arbeit am Schreibtisch im Chorgestühl fort. Von außen ist kaum etwas zu
bemerken. Aber der betroffene Mönch weiß, dass „sein Geist nicht übereinstimmt mit den Worten,
die er ausspricht“ „mens non concordet voci nostrae“ (vgl. RB 19,7b). Das Gebet nährt seine Seele
nicht mehr und wird mehr und mehr zu einer mühsamen Pflicht; gefühlsmäßig ist Gott ihm fern. Die Ursache für die hier angesprochene „Gottferne“ gehört in den Verantwortungsbereich des
Mönches und des Abtes. Ich denke, sie wird schuldhaft, wenn über sie nicht offen gesprochen und
durch konkrete Veränderungen Abhilfe geschaffen wird; denn sehr lange hält man ein solches Leben
nicht aus. Irgendwann taucht die Frage auf: Ist es das, was ich gesucht habe, als ich Gott mein Leben
versprach? Ein Erschrecken über die große Diskrepanz zwischen Ersehntem und faktisch
Eingetretenem kann zum Austritt aus dem Kloster führen oder zu einer neuen, existentiellen
Hinwendung zu Gott. - Die elementarste Voraussetzung für die zweite Alternative ist die Zeit, Zeit für
eine lebendige Beziehung zu Gott oder Jesus Christus über das Officium hinaus. Es gibt verschiedene
Formen des Gebetes, die das Herz für die Liebe Gottes zu erschließen vermögen. Aber für alle gilt –
dass sie ein Gebet „aus ganzem Herzen, ganzer Seele und mit aller Kraft“ (vgl. Dtn 6,4) verlangen;
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dann wird Gott seine Gnade schenken, wie es seiner Huld und „seiner Sehnsucht“ nach der
antwortenden Liebe des Menschen entspricht.
2. „Vermüllung“ der Seele oder „Überfütterung“ – Zur Versuc hung des Internet in der
Mönchszelle
Die zweite Ursache für die Erfahrung von Gottferne, die ich ansprechen möchte, ist die „Vermüllung“
der Seele, wie ich sie nennen möchte. Schon als junger Mensch hatte ich die klare Vorstellung: ich bin
kein Mülleimer, ich will nicht, dass aller „Schmutz dieser Welt“ Zugang in mein Inneres bekommt.
Später entdeckte ich, dass auch Interessantes für meine Gottesbeziehung schädlich wird, wenn es
das Maß meines Fassungsvermögens übersteigt. Wenn Benedikt die Gyrovagen als „semper vagi“ (RB
1,11), immer umherschweifend, um stets Neues in sich aufzunehmen, kennzeichnet, beschreibt er
damit das Zerrbild echter Mönche. Heute haben viele Moniales Zugang zum Internet in ihrer Zelle.
Eine Versuchung ist noch keine Sünde, sondern eine Herausforderung. Man kann sie bestehen oder
ihr in sehr unterschiedlichen Graden erliegen von gelegentlicher „Überfütterung“ mit Interessantem
und Faszinierendem bis zu suchtartigem Konsum von Krimis, Horrorfilmen, Porno und Sex. Der
suchtartige Konsum entsteht durch das Doppelleben, das der betreffende Mensch führt. Die aus ihm
erwachsenden Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle und das daraus entstehende Gefühl der
absoluten Unerreichbarkeit Gottes, sind so unerträglich, dass sie durch das Suchtverhalten immer
wieder neu abgewehrt werden. – Auch eine so verfahrene Situation kann zu einer neuen, intensiven
Gottsuche führen. Aber dazu sind nicht leicht herzustellende Bedingungen nötig: über das offene
Gespräch mit dem Abt oder der Äbtissin hinaus eine therapeutische Aufarbeitung biografisch
mitgebrachter Verletzungen, die durch Erfahrungen im Kloster wiederbelebt und so verstärkt
wurden, dass sie zu den oben skizzierten Verhaltensweisen führten. Aber auch das reicht nach
meinem Dafürhalten nicht aus. Nur wer eine Ahnung davon hat, wie beglückend und einen ganz und
gar in Anspruch nehmend eine lebendige Beziehung zu Gott ist, kann von diesen vital starken
Anreizen lassen. Die Vermittlung dieser Erfahrung kann – wenn überhauppt – nur einem Menschen
gelingen, der schon ein gutes Stück „in Gott hinein verwandelt“ wurde. Und ebenso ist - wie mir
scheint – der wirkungsvollste Schutz davor, sich durch das Internet nicht verführen zu lassen, eine
intensive, lebendige Beziehung zu Christus, die in regelmäßigem, persönlichem Gebet wächst.
3. Der Verlust von etwas sehr Kostbarem am Beispiel des Gregorianischen Chorals als Medium
der Gottesbeziehung
Die nächste Ursache für „möglichen Atheismus auch im Kloster“, die ich ansprechen möchte, geht
auf Gott selbst als Urheber zurück: der Verlust von etwas sehr Kostbarem, was dem Leben bisher
Sinn und Glanz verlieh. Ich nehme an, dass Abt Berthold schwerpunktmäßig über dieses Thema
sprechen wird. Deshalb möchte ich mich hier auf einen spezifischen Verlust beschränken, den ich
durch meine Übersiedlung nach Prag erlebt habe. Da ich diese Erfahrung in EuA im Novemberheft
des vergangenen Jahres beschrieben habe (3), versuche ich jetzt nur das zu sagen, was für den
vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung ist. In 38 Jahren meines Lebens in der Kommunität
bzw. Abtei Venio in München waren für mich viele Antiphonen zu Psalmern, vor allem zu Benediktus
und Magnificat ebenso wie viele Introiten und Communios gleichsam zum Medium meiner
Gottesbeziehung geworden. Diese zentralen Worte der Heiligen Schrift hatten sich mir zusammen
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mit den Melodien so eingeprägt, dass sie im Laufe der Jahre meine „innere Sprache“ verwandelten,
ja mehr und mehr wirklich zu meiner Sprache wurden, in der ich betete und vor Gott über mein
Leben nachdachte. Als ich dann vor gut sieben Jahren zusammen mit drei tschechischen Schwestern
zur Neugründung eines Benediktinerinnenklosters nach Prag ging, gab es für mich so gut wie keinen
Gregorianischen Choral mehr. Wir rezitieren oder singen die Psalmen hier auf tschechisch. Das
Chorgebet – bisher eine lebendige Quelle meines geistlichen Lebens – wurde Jahre lang für mich eine
anstrengende Sprechübung, die große Konzentration verlangte, aber nicht nährte. Viele Menschen
freuten sich über unsere Neugründung, aber mir war Gott fern. Ich haderte mit ihm: „Warum
verbirgst du dein Gesicht vor mir?“ (vgl. Ps 44,25a) und flehte ihn an: „Wende dich mir wieder zu!“
(vgl. Ps 25,16) Es geschah nichts. Ich war nicht verzweifelt, aber traurig. Ich hatte diese Situation –
wie mir schien - nicht selbst verschuldet. Vielleicht war es mir deshalb möglich, weniger oder mehr
vertrauend zu warten, bis ich innerlich zustimmen, und es als angemessen empfinden konnte, „wie
Menschen auf die Rückkehr ihres Herr zu warten“ (vgl. Lk 12, 36). Dann zeigte sich etwas Neues, das
ich aus Zeitgründen nicht mehr schildern werde. Das, worauf es mir ankam, ist gesagt, nämlich dass nach meinem Dafürhalten über meine persönliche Erfahrung hinaus - dann, wenn Gott selbst der
Urheber der Gottferne ist, kaum die Gefahr für einen daraus entstehenden Atheismus besteht,
jedenfalls unvergleichlich viel seltener, als wenn der Mensch Gott verlassen hat.
4. Unlösbar scheinende schwierige Situationen – schwerwiegende Konflikte und Zerwürfnisse
Die letzte Ursache, über die ich sprechen möchte, sind unlösbar scheinende, schwierige menschliche
Situationen. Sie werden einerseite als Zumutung Gottes erfahren, sind andererseits aber auch
menschlich verursacht durch den oder die Anderen und mehr oder weniger auch durch einen selbst.
Wenn es im Kloster schwerwiegende Konflikte und Zerwürfnisse gibt – an einem Ort, an dem Gottes
Liebe und Barmherzigkeit für die Welt konkret erfahrbar sein sollte, dann ist das eine große
Herausforderung für den Glauben. Und es ist verständlich, wenn jemand sagt: „Wenn das das
Ergebnis gottgeweihten Lebens ist, dann ist Gott ein Sadist, oder es gibt ihn nicht.“ So empfindet
einer, der noch keine Ahnung davon hat, dass und wodurch unter Umständen er selbst Anteil an
dieser Situation hat. – In dem Roman von Thoman Mann „Josef und seine Brüder“ gelingt es erst dem
alt gewordenen Josef zu erkennen, dass und wodurch er als junger Mann seine Brüder so gereizt hat,
dass sie ihn gleichsam aus dem Weg schaffen „mussten“. Wer und wie ich bin, und wer und wie Gott
ist, erfährt man wesentlich durch seine Mitschwestern und Mitbrüder. Im 72. Kakitel der Regula , in
dem der hl. Benedikt seine „ultima verba“ (4), die letzten, ihm besonders wichtigen Worte
formuliert, bringt er zum Ausdruck, dass er von seinen Mönchen Haltungen und Verhaltensweisen
erwartet, die sie einerseits deutlich mit ihrem Unvermögen konfrontieren (RB 72, 4 – 11), sie
andererseits jedoch mit gewinnenden Worten herausfordern, sich selbst ganz und gar zu
überschreiten. – Schwerwiegende menschliche Probleme im Kloster sind ein großes Ärgernis und
können zu Atheismus führen. - Wenn sie aber einer als unmittelbar Betroffener oder als Mitbruder
oder als Mitschwester als Herausforderung für die eigene Gottsuche annimmt, führen sie ihn zu
einer tiefen eigenen Bekehrung und Umkehr - und öffnen ihm die Augen für das Drama des sich von
Christus Erlösen-Lassens, das sich in jedem Mitbruder, in jeder Mitschwester aufs neue vollzieht.
Wer begonnen hat, das wahrzunehmen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit dazu bereit, sich an
diesem Prozess „auf jede nur mögliche Weise“ zu beteiligen, damit er gelingen möge! Dadurch wird
er selbst zu einem liebenden Menschen mit einem „weiten Herzen“, wie Benedikt am Ende seines
Prologs (Prol 49) versprochen hat.
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Literatur
(1) Regula Benedicti, Die Benediktusregel lateinisch/deutsch, hrsg. im Auftrag der Salzburger
Äbtekonferenz Beuron 1992
(2) Hochschild Michael, Benediktiner zwischen Kontinuität und Wandel. Erkenntnisse aus einem
internationalen Forschungsprojekt, in Erbe und Auftrag 89 (2013) 23 – 45
(3) Louis Birgitta OSB, Den Glauben neu finden – Erfahrungen anlässlich einer Neugründung, in
Erbe und Auftrag 90 (2014) 433 – 437
(4) Puzicha Michaela OSB, Kommentar zur Benediktusregel. Im Auftrag der Salzburger
Äbtekonferenz, EOS (2002) 593
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