ProLitteris Preis 2015 - Laudatio von Martin Ebel für den Dörlemann

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ProLitteris Preis 2015 - Laudatio von Martin Ebel für den Dörlemann
Verlag
Meine Damen und Herren, liebe Sabine Dörlemann,
ich möchte über die Hummel sprechen.
Die Hummel ist ein nützliches und sympathisches Insekt. Nützlich, weil es für die Bestäubung
wichtig ist. Sympathisch, weil es nur im äussersten Notfall sticht. Meist beschränkt es sich auf
ein bedrohliches Brummen. Worum es mir heute aber geht, ist das Hummel-Paradox. Sie kennen das: Nach den Gesetzen der Aerodynamik kann die Hummel nicht fliegen, aber weil sie das
nicht weiss, fliegt sie trotzdem. Dieses Paradox entstand in den 1930er-Jahren, wahrscheinlich
hat es seinen Ursprung in einem Studentenulk. Der Überlieferung nach hat ein Aerodynamiker
ausgerechnet: Die Hummel verfügt über 0,7 Quadratzentimeter Flügelfläche, wiegt aber 1,2
Gramm. Fliegen unmöglich. Angeblich war der Wissenschaftler sogar ein Schweizer.
Wo liegt der Denkfehler? Das angewandte Modell – Flügelfläche im Verhältnis zu Gewicht –
stammt von einem Flugzeug, das hat aber starre Tragflächen. Die Hummel dagegen bewegt
ihre Flügel, sehr schnell sogar, bis zu 200mal in der Sekunde. Durch Vor- und Rückwärtsbewegung, verbunden mit einer Flügeldrehung, erzeugt sie einen Vorderkantenwirbel, der wiederum
für einen Unterdruck sorgt, welcher den Auftrieb verursacht. Die Hummel kann so sehr wohl
und sehr gut fliegen.
Meine Damen und Herren, Sabine Dörlemann ist keine Hummel. Schon physiognomisch nicht.
Aber das Hummel-Paradox passt mir gut in den Kram, weil es ihre Arbeit, die Arbeit des Dörl emann-Verlages, die Arbeit eines anspruchsvollen Kleinverlages zu Beginn des 21. Jahrhundert
in der Schweiz auf den Punkt und die Metapher bringt. Eigentlich kann es nicht funktionieren;
aber irgendwie funktioniert es doch. Deshalb sind wir alle Leser und Bewunderer ihrer wunde rbaren Bücher, und deshalb sitzt sie mit ihren Mitarbeitern heute hier und erhält den Förderpreis
der Stiftung ProLitteris – damit das, was eigentlich gar nicht funktioniert, ein kleines bisschen
leichter funktionieren kann. Ein ganz, ganz kleines bisschen leichter.
Lassen Sie mich also über das Dörlemann-Paradox reden. Was Sabine Dörlemann und ihr Team
machen, sind wunderbare Bücher, von Autoren, die noch keiner kennt oder keiner mehr kennt.
Vergessene Klassiker und hoffnungsvolle Schweizer. Erstere müssen übersetzt werden, letztere
müssen bekannt gemacht werden. Die Übersetzungen müssen bezahlt werden. Ein übersetztes
Buch ist ein teureres Buch. Sabine Dörlemann nimmt nur die allerbesten Übersetzer. Es sind
klangvolle Namen Swetlana Geier, Dorothea Trottenberg, Michael Walter, Manfred und Gabriele
Allié. Sie haben alle schon Übersetzerpreise bekommen, und sogar Sabine Dörlemann selbst
hat einen bekommen, die Übersetzerbarke, und aus der Begründung der Jury möchte ich gerne
einen Satz vorlesen: „Sabine Dörlemann betreut die von ihr in Auftrag gegebenen Übersetzungen kompetent , bezahlt sie fair und leistet ihren Teil für eine angemessene Würdigun g.“
Ihr Teil – der besteht etwa darin, dass der Name des Übersetzers nicht nur irgendwo genannt
wird, sondern ganz vorne auf der Titelseite prangt. Ein Verlag mit sehr vielen übersetzten
Büchern hat – das trifft auf den Unionsverlag, den Träger des heutigen Hauptpreises, ja ganz
genauso zu – gewissermassen einen Klotz am Bein der Kalkulation, wenn Sie mir diese schräge
Metapher gestatten.
Dörlemann-Bücher, um das Paradox weiter zu beschreiben, sind aufwändig gemacht. Sie sind
schön anzusehen, anzufassen, aufzuschlagen. Sie haben ein handliches, ein handfreundliches
Format, ein bisschen grösser als ein Smartphone, aber kleiner als eine Tageszeitung. Dörl emann-Bücher verführen einen schon, bevor man sie aufgeschlagen hat. Für diese Verführung
ist der Gestalter Mike Bierwolf zuständig, der das Ganze, der Dörlemann-Verlag bewegt sich in
der globalisierten Welt, von Taiwan aus steuert.
Diese schönen Bücher müssen gekauft und gelesen werden. Die Leser und Leserinnen der
Deutschschweiz sind dafür nicht zahlreich genug. Obwohl, wenn jeder zehnte der fast sechs
Millionen Deutschschweizer einmal im Jahr ein Dörlemann-Buch kaufen würde, wäre der Verlag
aus dem Schneider. Aber bleiben wir realistisch. Der deutsche Markt ist entscheidend, wenn
man ein anspruchsvolles literarisches Programm macht. Und um ihn zu beackern, braucht man
einen guten Vertrieb. Dafür ist bei Dörlemann Anica Jonas zuständig. Aber was vertreibt sie,
was gestaltet Mike Bierwolf? Entscheidend sind schliesslich die Texte, ist die Literatur, oder , wie
Egon Ammann immer gesagt hat, Literatur als Kunst. Und dazu gestatten Sie mir einen Sprung
in die Vergangenheit. Ganz so weit muss ich bei einem noch jungen Verlag ja nicht zurückg ehen.
Es gibt Verlagsgründungsmythen, Sie werden einige kennen. Zum Beispiel den Gründungsmythos des Ammann-Verlages: Das ist der Bierdeckel, auf dem Egon Ammann und sein erster
Autor Thomas Hürlimann den Verlag entworfen haben. Den Gründungsmythos des Wagenbach Verlages: Das sind die 100.000 DM Startkapital, das der Verkauf einer Wiese erbrachte. Den
Gründungsmythos des Diogenes-Verlages: Das ist der Schuhkarton, der in Daniel Keels Zimmer
in der Merkurstrasse 70 unter dem Bett stand, mit allen Verlagsunterlagen darin. Alle drei
Gründungsmythen haben etwas mit Sabine Dörlemann zu tun. Bei Ammann hat sie die Gesellenzeit, richtiger natürlich die Gesellinnenzeit verbracht. Den 100.000 Wagenbach-Mark entspricht dieselbe Summe in Franken: Das war Sabine Dörlemanns Startkapital, nicht von einer
Wiese, sondern unter anderem aus dem Verkauf ihrer „Dritten Säule“. Und die Merkurstrasse
70 war auch, ein halbes Jahrhundert nach Daniel Keel, die Gründungsadresse des Dörlemann Verlages. Dort lag die Privatwohnung von ihr und ihrem Mann.
Ein neuer Verlag, auf den keiner gewartet hat, muss ein Profil haben. Vom äusseren Profil der
Bücher, ihrer Unverkennbarkeit, habe ich schon gesprochen. Von Anfang an hatte der Dörl emann-Verlag auch ein inneres Profil, ein klares Konzept. Das hiess und heisst: Erstens verge ssene Meister der klassischen Moderne. Zweitens Schweizer Literatur. Zwei unterschiedlich
starke und hohe Säulen, auf denen dieser Verlag dennoch seit nunmehr einem Dutzend Jahren
sehr gut ruht. (Eine kleine dritte Säule, mehr eine Ziersäule, möchte ich nur am Rande erwä hnen: Es sind die Kuriosa und Nebenprodukte; dazu zählen allerdings auch zwei richtige Renner:
die beiden „Dialektisch“-Bände mmit den Kultkolumnen des Tagesanzeigers, auch mit einigen
wenigen Beiträgen des Laudators, womit ich dem Gebot der Transparenz nachgekommen bin
und gleichzeitig dem Vorurteil, der Literaturbetrieb sei total verfilzt, neue Nahrung gegeben
habe.)
Zurück zur ersten Säule. Mit den vergessenen Klassikern hat der Dörlemann-Verlag unsere
Kenntnis der Weltliteratur bereichert. Iwan Bunin, Patrick Leigh Fermor – dessen kleiner Roman
„Die Violinen von Saint-Jacques“ mein Dörlemann-Lieblingsbuch ist -, Louise de Vilmorin, Eliza-
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beth Taylor, Richard Hughes, Martha Gellhorn, Charles Jackson. Diese Namen strahlen jetzt als
neue Fixsterne am Nachthimmel des wahren Literaturfreundes. Dazu kommt, was ich „Kleines
von Grossen“ nennen möchte; übersehene Bücher von anerkannten Autoren – Tolstoi, Turgenjew, Edith Wharton oder Alice Munro, die neben Bunin zweite Nobelpreisträgerin im Programm. „Wieder einmal“, lese ich in einer Kritik, „hat die Verlegerin des Dörlemann-Verlages in
der Kiste der Weltliteratur gekramt und mit sicherem Gespür ein Kleinod aufgestöbert.“ Ein
typischer Satz. Ich kenne keinen Verlag, der so fast ausnahmslos gute Kritiken bekommen hat,
keine Verlegerin mit einer so untrüglichen Spürnase für das Wertvolle im Übersehenen.
Das kann bei der zweiten Säule nicht ganz so klappen. Junge Schweizer Literatur zu verlegen,
bedeutet oft, einen Keim zu giessen, ohne zu wissen, zu welcher Art Pflanze er heranwachsen
wird. Mit Jens Steiner hat Sabine Dörlemann schon einen veritablen Baum herangezogen; drei
Romane liegen vor, der zweite, „Carambole“, hat 2013 den Schweizer Buchpreis bekommen. Es
war übrigens das erste Mal, dass dieser Preis, der Schweizer Buchpreis, an das Buch eines
Schweizer Verlages ging. Das zeigt zweierlei: Viele erfolgreiche Schweizer Bücher werden eben
in Deutschland gemacht. Und: Dörlemann - und hier ist auch die gerade in Pension gegangene
Lektorin Liliane Studer nicht zu vergessen - ist zu einer ersten Adresse für Schweizer Literatur
in der Schweiz geworden. Diese Funktion, diese Bedeutung ist aber akut bedroht.
Und das führt mich zurück zum Hummel-Paradox. Dass die Verlagshummel, mit einem solchen
Anspruch und Aufwand, mit kleinen Auflagen, mit dem Standort Schweiz, dieser Hochpreisinsel,
und Abnehmern und Zahlern im Niedrigpreisland Deutschland, eigentlich nicht fliegen kann,
leuchtet jedem ein, der die Verhältnisse kennt und rechnen kann. Dass sie trotzdem fliegt, liegt
an der Kombination von ungeheurem Einsatz – das ist der Vorderkantenwirbel durch 200 Flügelschläge pro Sekunde - , und der angesammelten Kompetenz.
Sabine Dörlemann weiss alles, was mit dem Büchermachen zu tun hat. Und sie hat ein grosses,
verlässlichen Netzwerk. Da sind die Paten und Ermutiger: Die unvergessene Swetlana Geier, die
das erste Buch beisteuerte. Die Verlegerin Monika Schoeller, die Mut machte. Der Mäzen A ndreas Reinhart, der ein freundschaftliches Darlehen gab. Freunde, die den Verlag finanziell
unterstützen. Und Tippgeber überall, wobei die Grenze zwischen Freunden, Kollegen, Übersetzern fliessend ist. Was da zusammenfliesst, ist das wunderbare Programm des DörlemannVerlages.
Akut bedroht, sagte ich eben. Was bisher gerade noch gegangen ist, irgendwie, geht nun eigentlich nicht mehr. Die Freigabe des Frankenkurses hat den Wasserspiegel des Euro nochmals
sinken lassen, die Hochpreisinsel Schweiz hat sich noch weiter gehoben, um runde 20 Prozent.
Das muss einem Verlag, der auf eine schwarze Null kalkuliert, den Hals brechen. Für den
Dörlemann-Verlag, und nicht nur für ihn, ist das eine Existenzfrage, ist die Existenz in Frage
gestellt. Die Schweizer Existenz wohlgemerkt; denn mit einem Umzug nach Berlin wären die
Probleme beseitigt. Eine beklemmende Vorstellung: der massgebliche Verlag für junge Schweizer Literatur würde in Berlin sitzen, weil er sich die Schweiz nicht mehr leisten kann.
Kann die öffentliche Hand da noch stillhalten? Das Preisgeld der Pro Litteris ist hochwillko mmen, aber ein Tropfen auf den heissen Stein. Erfreulicherweise haben Stadt und Kanton Zürich
etwas Geld für die hiesigen Verlage lockergemacht. Im nächsten Fünfjahresplan des Bundes
sind erstmals 1,8 Millionen für alle Schweizer Verlage veranschlagt. Gut, aber zu wenig un d zu
spät. Die Kulturförderung in der Schweiz fliesst in der Kunst, im Theater, in der Musik, beim
Film an Institutionen, mit sehr hohen Summen. In der Literatur fällt ihr immer nur der Autor
ein. Werkjahre, Stipendien, Literaturpreise gibt es viele. Das Bundesamt für Kultur wirft neuer-
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dings nochmal 800.000 Franken jährlich für Literaturpreise aus. Phantasielos und ahnungslos,
wenn man betrachtet, dass diese Literatur verlegt und vertrieben werden muss. Wird es so weit
kommen, dass in diesem Land Autoren von öffentlichen Geldern leben, ihre Bücher aber nicht
mehr veröffentlichen, weil die Verlage in der Schweiz nicht mehr lebensfähig sind? Wollen wir
ein Land ohne Verlage werden? Das kann nicht sein. Eine Schweiz ohne Hummeln ist eine
traurige Vorstellung.
Meine Damen und Herren, darf eine Preisrede so enden? Nein. Deshalb endet sie so: Ich grat uliere dem Dörlemann-Verlag sehr herzlich und wünsche ihm noch viele Jahre und uns noch viele
schöne Bücher. Vielen Dank.
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