Protestantische Wurzeln? Soziale Marktwirtschaft bei Ludwig Erhard Festvortrag während des Reformationsfestes in Fürth 31.10.2014 Prof. Dr. Jörg Hübner, Direktor der Akademie Bad Boll und Professor für Systematische Theologie und Sozialethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum Liebe Festgemeinde, sie hängen sehr eng zusammen, wenn sie auch ganz unterschiedlicher Herkunft sind! Sie bilden quasi eine Schicksalsgemeinschaft, auch wenn sie uns zumeist nichts mehr angeht! Sie gehen die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft an, auch wenn wir im Alltag mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind! Sie fragen sich natürlich, welches Paar, welche Schicksalsgemeinschaft ich da meine, und ich möchte Sie darüber nicht weiter im Unklaren lassen: die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade, das thematische Zentrum des Reformationsfestes, und die Botschaft von den Vorzügen der Sozialen Marktwirtschaft. Wieso haben wir es hier mit einem zusammengehörigen Paar, quasi mit eine Schicksalsgemeinschaft zu tun? Möglicherweise stellen Sie jetzt diese Frage, und ich möchte Ihnen dies zunächst an oberflächlichen Beobachtungen vorführen, bevor ich mit Ihnen in die Tiefe der Geschichte und die Tiefe der systematischen Zusammenhänge eintauche: 1 Rein oberflächlich betrachtet sind diese beiden Partner fest mit jeweils einem Namen in Verbindung zu bringen: Auf der einen Seite ist es natürlich Martin Luther, und auf der anderen Seite steht Ludwig Erhard. Pate für diese Botschaft von den Vorzügen der Sozialen Marktwirtschaft. Und ich füge noch hinzu: Beide sind evangelisch! Zweitens verbinden sich mit beiden Stichworten geradezu verheißungsvolle Erwartungen: Für die eine Botschaft ist es die Verheißung der bedingungslosen Gnade für jeden Menschen ohne Ansehen der Person. Alleine die Bindung an Jesus Christus und das Evangelium zählt – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Für die andere Botschaft ist es die Verheißung des Wohlstands für alle. Strukturell setzt sie lediglich die Verpflichtung voraus, die Mechanismen eines liberalisierten Marktes zur Geltung zu bringen. Drittens: Beide Botschaften stammen wie Rufe aus längt vergangenen Zeiten. Wir kennen sie. Wir schätzen sie. Wir verbinden damit Wunderbares. Aber nehmen wir die damit verbundenen Einsichten und die damit notwendigerweise verbundenen Weiterentwicklungen, Aktualisierungen und Neudeutungen wirklich ernst? Arbeiten wir uns daran im positiven Sinne wirklich noch ab? Ja, die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade und das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft sind eine echte Schicksalsgemeinschaft! Ich behaupte: Die Verbindung zwischen diesen Partnern müsste noch mehr aufscheinen – zum Wohl aller, zur Wirksamkeit ihrer Einsichten und zur Weiterarbeit an einer menschengerechten Weltgemeinschaft. Rechtfertigung und Soziale Marktwirtschaft scheinen unterschiedlichen Kategorien anzugehören, und doch gehören sie zusammen. die nichts miteinander gemein haben. Wenn es um die Zukunftsfähigkeit unserer Weltge2 meinschaft geht, brauchen wir eine Vertiefung der Botschaft von den Vorzügen der Sozialen Marktwirtschaft, und wir brauchen mit dem gleichen Atemzug in protestantischer Perspektive ein Werben für die Aktualität der Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade. Lassen Sie mich dies im ersten Teil meines Vortrages am heutigen Reformationstag zunächst einmal historisch begründen, wobei ich Sie mitnehmen möchte in die Zeit der 1940er Jahre. Das Wirtschaftskonzept der Sozialen Marktwirtschaft ist historisch gesehen ohne die sogenannten Freiburger Kreise nicht verständlich zu machen. Zu den Freiburger Kreisen wäre es nun ohne das beherzte Engagement von Protestanten nicht gekommen. Und: Auf „die Freiburger“ verweist Ludwig Erhard in seinem Werk „Wohlstand für alle“ immer wieder mit vollster Ehrerbietung. Genau hier hat die Schicksalsgemeinschaft, von der ich gerade sprach, ihren historischen Anfang genommen. Wer waren denn nun die von Ludwig Erhard so hochgeschätzten „Freiburger“? In den Jahren zwischen 1942 und 1944 fanden sich in Freiburg im Geheimen Wirtschaftswissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Theologen zusammen, um ein Wirtschaftskonzept für die Nachkriegszeit zu entwickeln. Nach Stalingrad stand damals vielen hellsichtigen Menschen die drohende Niederlage des Nationalsozialismus als Möglichkeit geradezu unverrückbar fest. Man musste und wollte nicht unvorbereitet in diese Zukunft gehen, und diese Zukunft sollte eine verheißungsvollere sein als die mörderische Gegenwart. Zudem unterhielten die Mitglieder der Freiburger Kreise eine Fülle von Verbindungen zu den verschiedenen Widerstandskreisen. Die Freiburger Kreise verband der Aufbruch in eine bessere Gesellschaft des Freiheit und des solidarischen Lebens. 3 Darin waren sich die Freiburger Kreise sehr einig: Die planwirtschaftlichen Elemente, die sich während der Kriegswirtschaft mehr und mehr durchgesetzt hatten, sind weder sachnoch menschengerecht. Ökonomisch sind sie als unsinnig, kontraproduktiv und zerstörerisch zu bezeichnen. Unter sozialen Aspekten nehmen sie dem Menschen ihre fundamentalen Entfaltungsmöglichkeiten. Gemeinschaftsförderliche Impulse werden systematisch in einer Planwirtschaft ausgehöhlt. Alleine dezentral aufgestellten Entscheidungsträgern gehört sachlich und menschlich gesehen die Zukunft. Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, die den kooperativen Kräften Raum gibt, ist zu etablieren: Das war die entscheidende Botschaft der Freiburger! Dabei – und dies ist nachher von entscheidender Bedeutung gab es im Grunde zwei Freiburger Kreise. Den einen Kreis hatte Dietrich Bonhoeffer in Berlin im Zusammenhang der Vorbereitung auf die Ökumene-Konferenz in Oxford angeregt. Zu diesem ersten Freiburger Kreis gehörten Constantin von Dietze, Erik Wolf, Walter Bauer, Otto Dibelius, Gerhard Ritter und Helmut Thielicke, führende Protestanten also hinzu. Ökonomen, Historiker und Theologen fanden hier zu einem bemerkenswerten Think Tank zusammen. Nach einer konspirativen Sitzung im November 1942 fertigten sie bis zum Februar 1943 die sogenannte „Freiburger Denkschrift“, ein einzigartiges Dokument einer freiheitlichen Gesellschaft unter Förderung aller nur möglichen kooperativen Kräfte an. Diese Denkschrift besteht aus zwei Abschnitten. Der erste Abschnitt trägt den Titel: „Das politische Chaos unserer Zeit und seine Ursachen“. Im zweiten Hauptteil wird unter der Über4 schrift „Grundzüge einer politischen Gemeinschaftsordnung nach christlichem Verständnis“ nach einer theologischen Besinnung auf die Grundzüge einer evangelischen Sozialethik ein Katalog von Mindestanforderungen aufgestellt, die in einem Staatswesen erfüllt sein müssen. Ein auf zentraler Lenkung gerichteter Kollektivismus wird massiv abgelehnt. Er entspricht nicht den wirtschaftlichen Aufgaben und auch nicht den „sittlichen Anforderungen“. Ich zitiere: „In der gegenwärtigen Lage könnte sie nur vom Geist dämonisierter Technokratie erfüllt sein, müsste also alle Persönlichkeitswürde der Menschen und jede echte Gemeinschaftsbildung aufs gründlichste zerstören, würde die Vermassung des Proletariats vollenden.“ Eine echte Ordnung der Wirtschaft müsse den Wettbewerb zur Geltung bringen und den Staat als Ordnungsmacht gegen jede Kartell- und Monopolbildung einsetzen, dürfe dabei jedoch nicht die solidarischen Kräfte in der Gesellschaft unterdrücken. Dies entspreche einem „realistischen Menschenbild“, wie es die christliche Ethik lehre. Der Mensch sei eben „simul iustus et peccator“. Er ist der von der Sündhaftigkeit durchzogene Mensch. Zugleich ist er der, dem aus Gnade, also ohne jede Vorbedingung eine ermächtigende Freiheit zugesprochen ist. Gerade deswegen sei er zur Zusammenarbeit ermächtigt und befähigt. Dies zeige sich in den freiheitlich agierenden Unternehmen, in lebendigen Genossenschaften, in der Familie, in der Stadt, aber genauso in der zur Sozialpolitik verpflichteten Staatlichkeit. „Christlicher Realismus“ – das ist die protestantische Antwort auf die Frage nach einer menschenwürdigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Von ihr lebt diese Konzeption, die damals noch nicht „Soziale Marktwirtschaft“ genannt wurde, aber nur 5 als eine solche zu verstehen ist. Zu ihr gehört eine liberale Wirtschaftsordnung und, damit diese funktioniert, eine Gesellschaftsordnung, die den solidarischen und gemeinschaftlichen Kräften allen nur erdenklichen Raum gibt. Nur so könne es zum Wohl aller, zu einer echten Weltgemeinschaft und zu einer Wirksamkeit echter menschlicher Kräfte kommen. Sie spüren: Die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade und die Botschaft von den förderlichen Kräften einer Sozialen Marktwirtschaft bilden eine Schicksalsgemeinschaft! In diesem Freiburger Kreis gehört beides fast untrennbar zusammen! Es gilt deswegen, mit allem Mut diese protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft zu sehen und zu entdecken. Und ich füge hinzu: Es gilt, sie unter den Herausforderungen der Gegenwart zu vertiefen. Ludwig Erhard war in dieser Zeit ganz anders unterwegs. Offen gesagt: Er war darauf bedacht, den Spielraum, der in der nationalsozialistischen Planwirtschaft bestand, so weit als möglich auszunutzen, ohne sich ihm anzudienen und sich ihm bedingungslos zu unterwerfen. Mit aller Nüchternheit muss dies hier zum Ausdruck gebracht werden. Das gleiche gilt für denjenigen, der als Erfinder des Begriffs „Soziale Marktwirtschaft“ zu gelten hat: Alfred Müller-Armack. Hat denn Ludwig Erhard genau diesen Kreis gemeint, als er später in größter Hochschätzung von „den Freiburgern“ sprach? Auch dies ist nicht der Fall! Wen meinte er denn nun damit und welche Auswirkungen hatte dies? Damit bin ich bei dem zweiten Freiburger Kreis, nämlich der sogenannten „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“. Zu ihr gehörten Franz Böhm, Walter Eucken, Adolf Lampe oder Günter Schmölders. Sie wurden erst im Frühjahr 1943 aktiv, als der 6 Bonhoeffer-Kreis seine Denkschrift schon tief im Schwarzwald vergraben hatte, um möglichen Nachstellungen der NS-Schergen zu entgehen. Auch dieser Kreis bemühte sich darum, eine leistungsfähige Friedenswirtschaft gedanklich vorzubereiten und dafür ein Programm zu erarbeiten. Mit Vehemenz spricht sich dieser Gutachterkreis gegen die Fortsetzung einer Zentralverwaltungswirtschaft aus. Sie könne rein sachlich gesehen kein Güterangebot bereitstellen, das dem differenzierten privaten Bedarf entspreche. Zudem beraube sie den Menschen seiner persönlichen Freiheit, und das könne nur katastrophal enden. Auch mit der Erhaltung einer gesellschaftlich sinnvollen Kultur sei eine zentrale Verwaltungswirtschaft unter keinen Umständen vereinbar. Die neue Wirtschaftsordnung solle deswegen auf den Prinzipien der Marktwirtschaft aufbauen. Sie allein sei wirtschaftlich leistungsfähig und trage zur Überwindung der Armut bei. Nur die Marktwirtschaft – und das ist jetzt wichtig – kann dem „elementaren Freiheitsstreben des Menschen“ gerecht werden. Sie ist beweglicher, anpassungsfähiger und leistungsstärker als die Zentralverwaltungswirtschaft und sie lässt die Unternehmerfähigkeiten wie die Produktivkraft der Arbeitnehmer voll zur Geltung kommen. Somit dient sie allen Teilen der Bevölkerung. Damit dies gelingt, müssten jegliche Eingriffe in die Preisbildung verhindert werden. Sozialpolitische Maßnahmen sind erst dann zu verantworten, wenn die Verarmung der Bevölkerung durch wirtschaftliche Besserung überwunden ist. Aber auch dann besteht sie vor allem darin, die verfügbaren Arbeitskräfte optimal wie möglich einzusetzen. Soweit die Grundsätze der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath in den Jahren 1943/1944. Auch mit diesem zweiten 7 Freiburger Kreis hatte Ludwig Erhard nichts zu tun. Er hatte keinen Anteil an irgendeinem Gutachten der Arbeitsgemeinschaft, war mit keinem Vorgang betraut und verfügte über keinen Kontakt zu einem „Freiburger“ in diesen Jahren vor Kriegsende. Dennoch ist zu spüren, wie stark die Verbindungen zu dem sind, was sich später unter seinem Namen als das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft durchsetzen sollte. Ludwig Erhard und seine Rede vom Wirtschaftswunder, seine Darstellung in „Wohlstand für alle“ und seine Freiheitsbotschaft, die mit den wirtschaftspolitischen Darstellungen im Zusammenhang gebracht wird, sind hier mit Händen zu greifen! Dies betrifft zum einen die grundsätzliche Priorisierung eines liberalen Wirtschaftssystems, das Kartelle verhindert und Eingriffen in die Preisbildung ablehnend gegenüber steht. Zum anderen ist auch für Ludwig Erhard der Schutz der sozial Schwachen ein wesentliches Merkmal der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei ging Ludwig Erhard davon aus, dass der erwartete Konsumund Exportboom eine breite Partizipation an den Gewinnen einer liberalen Wettbewerbswirtschaft mit sich bringen würde. Beide Prinzipien sind fundamentale Anliegen des Wirtschaftskonzepts, das Ludwig Erhard mit Vehemenz in „Wohlstand für alle“ dargelegt hat. Sie sind mit den Anliegen der „Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath“ zur Deckung zu bringen. Ludwig Erhard ist in diesem Sinne als ein „Freiburger“ im weitesten Sinne zu bezeichnen. Allerdings, dies sei hier schon einmal vermerkt, unterschied er sich im Verständnis der Sozialpolitik und der Zivilgesellschaft markant von dem ersten Freiburger Kreis, in seiner Priorisierung der Konsumindustrie und seiner Hinwendung zu einem Wettbewerb, der Oligopole nicht ausschloss, also in seinen zwei weiteren Prinzipien einer Sozialen Marktwirtschaft, erheblich auch vom zweiten Freiburger Kreis. 8 Wie kam es denn nun dazu, dass Ludwig Erhard so sehr mit den „Freiburgern“ übereinstimmte? Wieso kann Ludwig Erhard als ein „Freiburger“ im weitesten Sinne bezeichnet werden, obwohl er mit ihnen in den Zeiten zwischen 1942 und 1944 keinen direkten Kontakt hatte? Diese für mich heute Abend zentrale Frage lässt sich historisch und systematisch beantworten. Eine zentrale Rolle spielte in historischer Perspektive hier der erste Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, den Ludwig Erhard schon in der Übergangsphase bis zur Währungsreform ins Leben gerufen hatte. Stellen Sie sich die Situation in den Jahren direkt nach Kriegsende doch einmal vor: Die US-Amerikaner drängten schnell auf eine Liberalisierung des deutschen Marktes – ganz im Gegensatz zu den Briten, die entschieden Sozialisierungsmaßnahmen befürworteten. Sie setzten sich durch, und sie waren es auch, die sich damit eine Ausdehnung der Marktabsatzchancen US-amerikanischer Produkte erhofften. Westdeutschland sollte zum Zugpferd des Umbaus der Wirtschaftspolitik in Westeuropa werden, so die Hoffnung der US-Amerikaner. Denn in den Jahren des Krieges war erheblich in die industrielle Infrastruktur investiert worden. Auch wenn Maschinenparks nach Kriegsende abgeführt wurden, so waren immer noch genügend Produktionsreserven vorhanden. All dies machte Westdeutschland zu einem interessanten Anwärter zur Durchsetzung eines multilateralen Welthandelssystems mit oligopolistischen Wettbewerb und großen Konzernen. Genau dies war 1942 in Bretton Woods mit der Festlegung eines Finanzsystems unter Einschluss fester Wechselkurse und der Anlehnung an den US-Dollar grundgelegt worden. Westdeutschland besaß die besten Voraussetzungen für die Umsetzung eines Wirtschaftskonzepts dieser Art in Westeuropa. Deswegen sollte Westdeutschland die Lokomotive wirtschaftlichen Umbaus werden! 9 Nur: Wie sollte dies umgesetzt werden? Wie sollte es konkret funktionieren? An welche Überzeugungen ließ sich anschließen? Wie ließ sich dieser US-amerikanische Pragmatismus mit dem Idealismus deutscher Prägung in Verbindung bringen? Genau an diesem Punkt vermittelten die gleichsam missionarisch klingenden Überlegungen der Freiburger Kreise einen wunderbaren Anknüpfungspunkt, den Ludwig Erhard in seiner Genialität erkannte und in seinem Sinne umbog. Die Botschaft der Freiburger schufen eine Orientierung für Ludwig Erhard und durch ihn hindurch auch für die Verantwortlichen der Bi- bzw. dann Trizonalen-Regierung. Zwei Namen spielten hier im Wissenschaftlichen Beirat zum Bundeswirtschaftsministerium, also im entscheidenden Kopf des Ministeriums, eine tragende Rolle: Leonhard Miksch bis zu seinem plötzlichen Tod 1950 und Alfred Müller-Armack in den Folgejahren. Sie waren die entscheidenden Berater Erhards. Sie waren es auch, die Ludwig Erhard mit den Lehren der Freiburger vertraut machten. Leonhard Miksch war enger Schüler und Vertrauter Walter Euckens, des geheimen Freiburger Kopfes. Alfred Müller-Armack gilt als „Erfinder“ des Begriffs der „Sozialen Marktwirtschaft“. Historisch gesehen ist es eindeutig, wie Ludwig Erhard zu den „Freiburgern“ kam. Rein pragmatisch gesehen füllten sie die Lücke, die sich in den Erwartungen der US-amerikanischen Politik ergeben hatte, und Ludwig Erhard war klug und umsichtig genug, um dies zu erkennen und zu nutzen. Das alles klingt natürlich sehr pragmatisch. Es mag auch im konkreten Regierungshandeln auch so gewesen sein. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu, eben eine systematische Begründung, und die hat möglicherweise viel mit Ludwig Erhard und seiner zugegebenermaßen nur sehr oberflächlichen Verankerung im Protestantismus zu tun. 10 Erhards gleichsam missionarischer Eifer für das Wirtschaftskonzept der Sozialen Marktwirtschaft ist nur zu verstehen, wenn gesehen wird, dass Ludwig Erhard beseelt war von einem geradezu unbändigen Glauben an die ungeheuer produktive Kraft der Freiheit. Mehr noch: Ich meine, dass Ludwig Erhard erst von dieser Seite aus richtig zu verstehen ist. Für ihn war die Soziale Marktwirtschaft eben mehr als eine ökonomisch durchdachte Wirtschaftspraxis. Sie war für ihn mehr als eine Mechanik. Mit Vehemenz wandte er sich in den 1960er Jahren gegen eine Ökonomie, die mehr und mehr zur Mathematik, eben zur Ökonometrie, erstarrte. Die Marktwirtschaft ist auf ein Wertesystem angewiesen, und dieses Wertesystem ist sorgsam zu pflegen und zu fördern! Ich zitiere Ludwig Erhard: „Immer mehr versucht man, der Öffentlichkeit glaubhaft zu machen, dass die Marktwirtschaft liberaler Prägung gedankenlos allein der Mechanik des Marktes vertraue und das Ergebnis des Marktgeschehens fatalistisch hinzunehmen bereit wäre. Diese Täuschung erscheint dem Laien, dem das System der Planung ohnedies leichter eingeht als das Walten der Freiheit, sogar noch glaubhaft.“ Und weiter heißt es in der gleichen Rede aus dem Jahr 1968, als die Große Koalition unter Kiesinger das Ruder übernommen hatte: „Mir scheint es [...] notwendig zu betonen, dass die Wirtschaftspolitik immer einer Orientierung an gesellschaftspolitischen Wert- und Ordnungsvorstellungen bedarf. Das Wesen der Marktwirtschaft erschöpft sich nicht in Technik und Mechanik [...] Das Leben lässt sich nicht rechenhaft einfangen, und das gesellschaftliche Geschehen entzieht sich der Machbarkeit.“ 11 Die Soziale Marktwirtschaft ist ohne den gemeinsamen und gepflegten Glauben an die produktive Kraft der Freiheit nicht praktizierbar! Das war die entscheidende Botschaft Erhards. Und genau hier, so meine These, machen sich die protestantischen Wurzeln des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft bemerkbar. Was aber heißt denn nun beim ihm Freiheit? Und was für eine Kraft geht von dieser Freiheit aus? Freiheit ist für Ludwig Erhard natürlich Ausdruck der Individualität und des eigenständigen, selbstverantwortlichen Lebens. Aber dabei, und das ist nun wichtig, bleibt er keineswegs stehen: Das Walten der Freiheit, das Walten der unbändigen Kraft der Freiheit verbürgt von sich aus eine gesellschaftliche Ordnung! Auffällig und beachtlich ist hier, dass Ludwig Erhard Freiheit als eine Kraft, als ein Geschehen oder ein Walten versteht. Wo Freiheit waltet, wo sie ihre produktive Kraft entfaltet, dort entsteht eine Ordnung der Gesellschaft. Ich zitiere Ludwig Erhard: „Freiheit entfaltet sich [...] nicht im wertfreien Raum. Auch dort, wo wir von individueller Freiheit sprechen, meinen wir die Bezogenheit auf das menschlicher Gewissen und die Einordnung in Gemeinschaft und Gesellschaft. Ich wiederhole, was ich schon oft gesagt habe: Freiheit ohne Ordnung treibt nur zu leicht ins Chaotische, und Ordnung ohne Freiheit überantwortet uns dem Zwang.“ Die Grenzen, die der Freiheit zuzumuten sind, dürfen also nicht Ausdruck einer staatlichen Vorgabe sein, sondern entstammen dem produktiven Walten der Freiheit selbst! Freiheit treibt von sich aus zur Verantwortung für andere. Allerdings ist dieses Walten der Freiheit ständig bedroht, und zwar be12 sonders dort, wo dem Menschen die freiheitlichen Kräfte kulturell abgesprochen oder durch staatliche Bevormundung abgenommen werden. Mit geradezu missionarischem Eifer versucht Ludwig Erhard diese Freiheit zu verteidigen, und er ist sich dabei bewusst, dass diese Freiheit nicht alleine durch den Rechtsstaat geschützt werden kann. Ich zitiere: „Die Freiheit, für die ich plädiere, ist wohl durch das Grundgesetz geschützt, aber dieser Rechtsschutz bleibt gesellschaftspolitisch fragwürdig, wenn er nicht von der Gesinnung des Volkes getragen wird. Aufzufallen, unbequem zu sein, sich missliebig zu machen: das ist die Scheu derer, die befürchten, dass ihnen aus einem freien Bekenntnis persönlicher Schaden erwachsen könnte. [...] Im letzten sind in dieser Frage also nicht so sehr Gesetz und Recht, sondern vor allem die Moral, die Gesinnung und Gesittung jeder Gemeinschaft angesprochen.“ Freiheit, die mehr ist als das Pochen auf Individualität und mehr ist als das Erstreben des größtmöglichen persönlichen Wachstums, basiert auf einer werteorientierten, quasi religiösen Grundeinstellung. Ohne sie verliert die Freiheit ihre Kraft, verkommt zur Anpassung, versteift sich auf Eigenverantwortung und gräbt sich damit selber das Wasser ab. Diese Erkenntnis Erhards im Feld des Wirtschaftslebens halte ich für beachtlich und bemerkenswert. Aus statischer und nichtssagender Freiheit wird erst eine produktive, die Gesellschaft inspirierende Kraft der Freiheit, wenn sie sich ihrer Gestaltwerdung und ihres Verdankt-Seins bewusst wird! Freiheit ist also keine Qualität am Menschen und weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, sondern nichts anderes als die wertvollste Gabe inmitten der menschlichen Lebensführung. Diesen Gabe-Charakter der Freiheit zu pflegen und zu vertiefen, 13 sie eben nicht als Technik zu verstehen, dazu wurde Ludwig Erhard es niemals müde, dies zur Sprache zu bringen. Genau daran gilt es auch heute anzuknüpfen, wenn wir einer zukunftsfähigen Gesellschaft entgegen gehen wollen. Eine solche Gesellschaft wird im letzten nur eine freiheitliche Gesellschaft sein können! Wir bewegen uns aktuell auf ihr Gegenteil zu: Der moderne Mensch wird zum Opfer der Macht von Suchmaschinen. Er ist zunehmend mehr das Resultat ökonomischer Optimierungsprozesse, und so sieht er auch nur noch den anderen. Er ist gefangen in einem Geflecht von scheinbar nötigen Bedürfnissen. Er ist abhängig von den Ergebnissen eines alles durchziehenden Finanzmarktkapitalismus. In dieser Situation an die unbändige und produktive Kraft der Freiheit zu erinnern, ist von größter Wichtigkeit! Um es noch einmal zu betonen: Freiheit ist dann mehr als das ideologische Pochen auf Eigenverantwortung und Einschränkung der staatlichen Leistungen. Echte Freiheit führt zum vertraglichen Denken. Echte Freiheit führt zum Kampf für eine nachhaltige Entwicklung. Echte Freiheit meint den Schutz solidarischen Lebens. Echte Freiheit weiß um der Freiheit willen um die Grenzen des Ökonomischen. Echte Freiheit redet nicht einem Wachstum das Wort. Deswegen ist es so sehr zu begrüßen, dass Ludwig Erhard im Mittelpunkt des Reformationsfestes in Ihrem Dekanat heute steht. Soziale Marktwirtschaft ohne den Glauben an die produktive Kraft der Freiheit ist wirkungslos und nichtssagend; sie verkommt zur Technik und zur Liberalisierungsmaschine. Diesen Glauben an das Walten der Freiheit, diese Gewissheit von der verdankten Freiheit in Erinnerung zu rufen, das ist die zentrale Botschaft dieses Tages. Martin Luther mit seiner zentralen Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ hat uns dies geradezu vorbildhaft vorgeführt. 14 Ich will damit nicht sagen, dass Freiheit als Geschehen alleine der reformatorischen Gewissheit entspringt, aber auch aus ihr und ganz besonders aus ihr. Sie zu pflegen und an ihr festzuhalten, dazu sind wir heute aufgerufen, gerade wenn es um eine Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft geht. Der in der reformatorischen Gewissheit verankerte Ruf zur Freiheit und die Botschaft dieses Wirtschaftskonzeptes gehören zusammen. Die „Freiburger“ haben es gezeigt, Ludwig Erhard als „Freiburger“ im weitesten Sinne auch. Ich zitiere zum Schluss noch einmal Ludwig Erhard: „Freiheit zu schützen verlangt, solcher geistlosen Anarchie eine geistige Kraft entgegenzusetzen und sich dabei bewusst zu sein, dass sich Freiheit nur dann und nur so lange schützen lässt, wie sie die Bürger und Gesellschaft geschützt wissen wollen – und zwar nicht nur in der Abstraktion –, und dass zu ihrem Schutz die Machtmittel des Staates völlig unzureichend sind und das persönliche Engagement der Bürger unverzichtbar ist.“ Der Reformationstag hat eine gesellschaftliche Prägekraft und ist doch kein konfessioneller Erinnerungstag. Er ist nichts anderes als die protestantisch gefärbte Aufforderung an die Gesellschaft, die Gabe der Freiheit kollektiv, bürgerlich und persönlich zu schützen ist und dafür alle Anstrengungen auf sich zu nehmen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 15
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