Wie es anfängt…

Wie es anfängt…
…oder: warum Sie dort hin wollen
Die Seychellen sind das Paradies. Das wissen Sie.
Das wissen Sie sogar sicher! Schließlich haben Sie
es selbst gehört, oder noch besser: gesehen. Die
Reisereportagen über die Seychellen in Vox, 3sat,
arte, in den Sonntagsausgaben großer bekannter
deutscher Zeitungen haben in den vergangenen
Jahren dramatisch zugenommen. Und mit jeder
Sendung, die Sie sich anschauen, mit jedem reich
bebilderten Artikel wächst die Sehnsucht, dieses
Paradies selbst zu entdecken.
Das erste Gerücht, den einzig wahren Garten
Eden gefunden haben, kam bereits 1609 auf: Zwei
Schiffe der englischen East India Company ankerten vor der damals noch als Sieben Brüder bzw.
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Sieben Schwestern bekannten Inselgruppe, und ihre
Besatzungen kamen aus dem Staunen nicht mehr
heraus. Der unter dem Kommando von Kapitän
Alexander Sharpeigh reisende Seemann John
Jordain soll die erste authentische Beschreibung
der Seychellen geliefert haben. Er schwärmte in
seinen Aufzeichnungen vom »tatsächlichen Paradies auf Erden« – kein Wunder beim Anblick des
saftigen, bewaldeten Berglandes, der buntgefiederten exotischen Vögel, der schillernden Fische,
der riesigen Schildkröten und der reich tragenden
Palmen, deren Früchte vitaminreiches Kokosfleisch und köstlichen Saft spendeten.
Paradies, so läßt sich in Wahrigs Deutschem
Wörterbuch nachschlagen, heißt nichts anderes als
Ort der Glückseligkeit. – Seufzer. Tiefer Seufzer.
Das wär’s! Denken Sie. Glückselig lächelnd durch
den endlos weißen Sand am Meer entlang waten,
und kein Problem der Welt hat die Kraft, weder die
Seychellen, noch Sie zu erreichen. Einen solchen
Zustand würden Sie sich schon etwas kosten
lassen. Ja, Sie sind sich sicher, dafür würden Sie
auch überdurchschnittlich viel Geld ausgeben
(müssen Sie auch!). – Daß sich nämlich mit dem
Wort »Paradies« gut Geschäfte machen läßt, hat
man längst auch auf den Seychellen begriffen. Hier
der Beweis:
Erstens: Paradise Island Sandwich wird im Hauptstadt-Bistro Nr. 1, dem Pirates Arms in Victoria, für
immerhin 42 Rupees (ca. 7,-- Euro) serviert. Es besteht aus herrlich opulent triefendem ThunfischSalat, umrahmt mit smoked fish, gefüllt mit ge12
riebenem Cheddar-Käse, garniert mit Salat und das
alles zwischen knusprig gebutterten Toastscheiben
– paradiesisch eben! (Bis auf die Zahnstocher, die
alles zusammenhalten und die – wenn Sie sie
übersehen – höllisch den Gaumen durchbohren
können…)
Zweitens: Radio Paradise FM dudelt unbekümmert die internationalen Charts, gemischt mit
einer ordentlichen Portion heimischer Sega-Musik,
wobei besonders die gerade verehrten Stars wie
Philip Toussaint oder Jean Marc Volcy (viel zu) oft
gespielt werden. In den späten 90er Jahren
moderierte mit flotter Zunge Sandra Benoiton, die
mit dem Kreolen Mark verheiratete Schwester von
Tom Hanks. Irgendwann schlichen sich dann
vermehrt vorproduzierte Programme ein, weil man
ja im Paradies vor allem faul sein darf – Zeugnis
hierfür sind vor allem die unsäglichen CountrySongs, die meist an jedem Sonn- und Feiertag
zwischen 14.00 und 15.00 Uhr abgespielt werden
und das Klangbild der Insel verunstalten. Etwas
angenehmer sind die zweistündigen sonntäglichen
Paradise Classics – ein »Best Of« klassischer Musik,
allerdings ohne gelungene thematische Zusammenstellung: Debussy neben Mozart, Wagner neben
Beethoven, eben alles, was Klassik-Sampler so
hergeben. Zur vollen Stunde gibt es dann
Nachrichten, mal auf Kreolisch, mal in Englisch,
mal in Französisch. Paradiesisch sind vor allem
eines – die Wettervorhersagen im Anschluß, die
sich einer gewissen Monotonie erfreuen und zu 90
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Prozent immer zutreffen: sonnig, teilweise leicht
bewölkt, mit vereinzelten Schauern.
Drittens: Paradise Computer ist ein Hard- und
Software-Laden, der so recht und schlecht
versucht, Ihre und meine PC-Probleme zu lösen.
Glückselig allerdings sind die Kunden meistens
nicht, wenn sie unverrichteter Dinge wieder aus der
Ladentür in die Einkaufspassage beim Supermarkt
Temoljee treten, denn auch Paradise Computer kann
längst nicht jede Schnittstellen-Inkompatibilität
beheben oder vergessene Druckerkabel beschaffen.
Und so landen Sie nach dem Besuch im wohlklingenden, verheißungsvollen Laden anschließend
mit Ihrem weiterhin streikenden Laptop eher in der
IT-Hölle statt im Paradies.
Zumindest diejenigen, die als Touristen auf der
Suche nach dem Paradies sind, werden aber in der
Regel auf ihr Laptop verzichten können. Sie glauben felsenfest daran, daß sie fernab der Zivilisation
auf den Seychellen all das erleben können, was
jenseits des Alltags ist. Zunächst kommen sie noch
voller Vorfreude auf dem kleinen internationalen,
1972 von Queen Elisabeth eingeweihten Flughafen, an. Dann werden sie in ebenso kleinen
Bussen über noch viel kleinere Straßen in ihre
Hotels verfrachtet. Und dann merken sie oft allzu
schnell, daß vieles nicht ihren Vorstellungen
entspricht und sind bisweilen maßlos enttäuscht –
Anlaß genug, weitere Frustration zu vermeiden und
endlich die häufigsten drei Klischees an der
Wirklichkeit zu überprüfen.
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Klischee Nr. 1: Im Paradies scheint nur die Sonne.
Falsch, völlig falsch sogar! Wie sonst ließe sich
die saftige grüne Tropenvegetation erklären, wenn
es nicht häufig über den Inseln des seychellischen
Archipels abregnen würde? Achtung: Diese Güsse
sind bei weitem nicht ausschließlich auf die
Regenzeit begrenzt! Überhaupt – mich packt die
kalte Wut, wenn ich im Dezember zu Weihnachten
auf die Seychellen fliege und beim Einchecken
ungewollt den gutgläubigen Pauschaltouristen
lausche: Sie glauben nämlich felsenfest daran, sie
flögen nun in die Sonne. Warum um alles in der
Welt lassen die Reisebüros diese Menschen, deren
größtes Urlaubsglück ein Liegestuhl am Hotelpool
und eine braune Vorzeige-Haut ist, in ihr
Verderben rennen und erklären ihnen nicht klipp
und klar, daß um die Jahreswende tiefste Regenzeit
ist? Warum schicken sie sie nicht in die wirklich
sonnensicheren, trockeneren Gefilde dieser Welt?
Denn auf den Seychellen kann es vor allem in der
Regenzeit tagelang gießen – aber eben nicht nur in
der Regenzeit, denn auch hier hat sich das Klima in
den letzten Jahrzehnten gewandelt!
Eines der heftigsten Regenunwetter spielte sich
in der Woche nach dem Tsunami im Dezember
2004 ab: Binnen 48 Stunden fiel so viel Wasser
vom Himmel wie in Deutschlands regenreichsten
Regionen in einem halben Jahr. Die Folgen waren
fatal: Im Norden der Insel rutschten ganze Hänge
in sich zusammen. Und wie damals beim großen
Erdrutsch 1862 wuschen die Sintfluten zahlreiche
Häuser die Straßen hinunter. Die Kanalisation war
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hoffnungslos überfordert und spuckte an allen
denkbaren und undenkbaren Stellen eine
unangenehme
Kombination
aus
nicht
versickerndem Regenwasser, Schlamm und
kreolischem Müllgemisch aus. Dazu der stürmische
Nordwest-Monsun mit Böen, teilweise um
Windstärke 10.
Diese Wetterlage wiederholt sich seit geraumer
Zeit mit merkwürdiger Regelmäßigkeit jedes Jahr
zwischen Weihnachten und Dreikönig. Spätestens
nach fünf Tagen leiden dann auch die unverbesserlichen Optimisten unter extremem Inselkoller.
Sie hocken eingepfercht in ihren Unterkünften und
fragen permanent das Personal „Wann kommt
denn besser’ Wetter?“. Und sie erhalten immer nur
die stereotype Antwort: Maybe tomorrow.
Komischerweise erzählen außerdem die meisten
Reiseführer, daß die trockenste Jahreszeit in den
Monaten des vannzwet sei (wörtlich: südöstlicher
Wind) – also dann, wenn der Südost-Monsun
zwischen Mai und Oktober bläst. Das stimmt
schon lange nicht mehr, denn seit mehr als einem
halben Jahrzehnt mischen sich auffällig oft viel zu
lang anhaltende Schlechtwetterperioden unter das
ansonsten angenehm luftige Klima. Sie zeichnen
sich aus durch stark bewölkten Himmel, starke
Regenfälle und natürlich – starke Winde, die so
heftig wehen, daß der Regen waagrecht fällt.
Oftmals ist dann von einer tropischen Depression
die Rede, die nicht nur ein meteorologisches Phänomen ist, sondern sich vor allem in den Seelen
der Touristen abspielt. Was zunächst als eine eher
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harmlose negative Gemütslaune des Wetters daher
kommt, ist nichts anderes als die schwächste
Kategorie der tropischen Wirbelstürme, nämlich
ein deutlich ausgeprägtes Tiefdruckgebiet mit
maximalem Wind bis zu 62 km/h. Als Steigerung
kennen wir – hoffentlich nur vom Hörensagen! –
tropische Stürme und Hurrikane. Letzteren
begegnet der Meteorologe so ehrfürchtig, daß sie
im Gegensatz zu den lediglich durchnumerierten
Depressionen weibliche oder männliche Vornamen
erhalten. Gott sei dank haben es diese
namenstragenden Ungeheuer noch nicht auf die
Seychellen geschafft. Hurrikane und Co. gibt es
aber eben westlich davon, nämlich im Indischen
Ozean vor Madagaskar, Mauritius und Reunion
oder weiter östlich, z.B. vor Sri Lanka und Indien.
Ihre Tiefausläufer gelangen dann infolge von Luftdruck und Windrichtung als »Wirbelschleppen«
immer häufiger auf die Seychellen. Aber die – so
verkünden seychellisches Umweltministerium,
Werbebroschüren und Websites sowie deutsche
Reiseführer stolz – bleiben eigentlich von Hurrikanen verschont. Eigentlich…
Klischee Nr. 2: Im Paradies lauern keine Gefahren.
Weitgehend richtig! Fauna und Flora sind
friedlich, es gibt keine todbringenden Krankheiten
wie Malaria, keine giftigen Pflanzen und auch keine
gefährlichen Tiere wie Schlangen oder Skorpione.
Allenfalls schlängelt sich der fiese Riesentausendfüßler durch weniger sauberes Ambiente. Die
Kreolen verniedlichen ihn ein wenig, indem sie ihn
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um eine Dezimalstelle kleiner machen und centiped
– also Hundertfüßler – taufen. Der letzte, den ich
erschlug, hatte ca. 80 Beine, war aber dafür mit
seinen 15 Zentimetern extrem lang und
daumendick und hatte versucht, sich neben
unserem Mülleimer häuslich einzurichten. Der Biß
dieses Insekts ist schmerzhaft, vergleichbar mit
einem Wespenstich oder einer Spritze bei der
Blutabnahme. Gelegentlich kann es anschließend
heftig brennen und zwicken. Hier helfen kreolische
Allheilmittel: Man reibe eine aufgeschnittene halbe
Zwiebel darüber und würze anschließend etwas
nach mit einer saftigen Limette. Und wer beides
nicht zur Hand haben sollte, überwinde (falls nötig)
seinen inneren Schweinehund und nutze den körpereigenen Saft Urin zum Desinfizieren. Unglaublich, aber wahr – sofort läßt der Schmerz
nach. Gleiche Rezeptur hilft im übrigen auch bei
dem versehentlichen Kontakt mit den eher seltenen Seeigeln oder vereinzelt auftretenden Quallen.
Vergleichbar sind diese Schmerzen mit dem Biß
der großen schwarzen Waldameise – sie ist aber
nur dann aggressiv, wenn sie sich extrem gestört
fühlt. Oft genug vergesse ich bei der Gartenarbeit,
daß sich diese nützlichen Tiere in alten verrotteten
Kokosschalen einnisten, die gemeinhin als
Blumendünger oder Einfassung von Stauden
verwendet werden. Immer dann, wenn es für
Gegenmaßnahmen schon viel zu spät ist, krabbeln
die äußerst abwehrfähigen maket, wie sie von den
Einheimischen genannt werden, dorthin, wo die
Menschenhaut besonders zart ist (z.B. am
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Handrücken zwischen den Fingern). Dort beißen
sie unverhofft und beherzt zu.
Ansonsten sind weder die Riesen-Spinnen giftig,
die ihre klebrigen Netze gern zwischen Agavenblättern oder Palmwedeln aufspannen, noch saugen
in den Abendstunden die einschwirrenden fledermausgleichen Fliegenden Hunde Blut. Es fällt nur
auf, daß diese Tiere weitaus größer sind als in der
westlichen Hemisphäre.
Gott sei Dank sind auch die vor allem im 18.
Jahrhundert aktiv gewesenen Krokodile längst ausgestorben. Sie sollen es sogar bis auf die bewaldeten Berge Mahés geschafft und vor allem im Süden
ihr Unwesen getrieben haben – so zumindest die
eindrucksvollen Berichte des französischen
Expeditionsleiters Marion Dufrèsne. Und wer die
alte Straße bei Plaisance oder die Nordwest-Route
nach Port Glaud befährt, dem dürfte es nicht
schwerfallen, sich in den dortigen Mangrovensümpfen die gefährlich blinkenden Augen vorzustellen. – Ein harmloses steinernes Exemplar
grüßt neben seinem Kollegen, einer in Beton
modellierten Seekuh, noch heute vor dem National
History Museum in Victoria.
Wer auf die Seychellen reist, braucht sich nicht
gegen Malaria und andere Tropen-Klassiker impfen
zu lassen. Natürlich schadet es aber nichts, daheim
auf die Suche seines Impfpasses zu gehen und die
regelmäßige Polio- und Wundstarrkrampfprophylaxe vorzunehmen. Wäre sowieso wieder
einmal fällig gewesen, nicht wahr?
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Klischee Nr. 3: Im Paradies gibt es keine Probleme.
Völlig falsch!!! Probleme haben die Seychellen
genauso viele oder so wenige wie wir, es ändert
sich lediglich die Blickweise. Da die Inseln nur über
eine begrenzte Landmasse verfügen, ist der Ausbau
bestehender Infrastruktur ebenso schwer möglich
wie die Neuansiedelung von Industrie. Sie werden
sagen: Moment mal, die wollen wir ja eigentlich
auch gar nicht im Paradies. Es läßt sich aber leider
nicht vermeiden, daß wir gern auf die Annehmlichkeiten westlicher Zivilisation zurückgreifen, z.B.
wenn es um Hygieneartikel oder aber auch um die
Nahrungsmittel des täglichen Bedarfes geht. Die
Seychellen müssen fast alles importieren, um einen
einigermaßen »normalen« Lebensstandard im
westlichen Sinne sicherzustellen. Das ist im übrigen
auch das Mindeste, was Sie ja von Ihrem Hotel
erwarten. – Exportware allerdings ist nur schwer
gegen Devisen zu haben, denn die seychellische
Landeswährung Rupee ist nicht konvertierbar. Also
muß Forex – ausländische foreign exchange, d.h. harte
Fremdwährung – her, und die ist auf den
Seychellen rares Gut, da die heimische Währung
Rupee nicht konvertierbar ist.
Aber oft hapert es auch bei den Dingen, die
selbst im Land produziert werden, z.B. Milch. Aus
heiterem Himmel gibt es von einem auf den
anderen Tag plötzlich einfach keine Milch mehr!
Nein, nicht daß das Milchpulver knapp wäre, aus
dem SMB – das Seychelles Marketing Board – die
hiesige Milch anrührt, sondern es gibt gerade mal
wieder keine Tetrapaks. Das gleiche passiert mit
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den Zigaretten oder dem Bier, weil es an Papier
oder an Flaschen fehlt…
Aber egal, ob Wetter oder soziopolitische
Probleme: Paradies bleibt Paradies, zumindest in
Ihren und in meinen Vorstellungen. Denn es gibt
noch ein Klischee – nämlich Klischee Nummer
Vier. Es lautet: Im Paradies gibt es das klarste
Wasser dieser Welt, die herrlichsten Sandstrände –
und über jedem von ihnen hängt mindestens eine
schrägwachsende Palme – idealtypisch, so wie
daheim auf dem Kalenderblatt.
Ja – genauso ist es. Genauso und nicht anders.
Und weil es so ist, entkräftet Klischee Nummer
Vier die ersten drei:
Willkommen im Paradies!
Willkommen auf den paradiesischen Seychellen!
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