„Duck in the Truck“ oder: Wie Lerngeschichten unseren Blick verändern Ein persönlicher Tagungsbericht vom Fachtag „Bildungs- und Lerngeschichten für Kinder in den ersten drei Lebensjahren“ mit Referentinnen aus Neuseeland von Marita Engel. Eines vorweg: der weite Weg von Kassel nach Frankfurt, mit Bahn, S-Bahn und Straßenbahn zum Campus der Fachhochschule hat sich gelohnt. Eine Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass die drei Referentinnen Lorraine Sands, Robyn Lawrence und Alison Brierley einen Weg von 28.000 km zurückgelegt haben, um uns in Deutschland von ihren Erfahrungen mit den „Learning stories“ zu berichten. Nach den Begrüßungen durch die Vizepräsidentin, Prof. Dr. Eva-Maria Ulmer und Catharina Perschmann von der LAG, wurde der Vortrag von Lorraine Sands mit Spannung erwartet: FH Frankfurt, Hörsaal 8 am 17.09.2012 „Lerngeschichten für Babies und Kleinkinder unter Einbeziehung der Eltern“ Lorraine Sands Die Begrüßung von Lorraine Sands erfolgte auf neuseeländisch. In Neuseeland nennt man bei der persönlichen Vorstellung nicht nur seinen Namen sondern erzählt von der Gegend, dem Berg, dem Fluss und der Familie, aus der man stammt. Ein schöner Brauch, der dem Betrachter verschiedene Blickwinkel eröffnet und die Zusammengehörigkeit der Person mit ihrer sozio-kulturellen Umgebung verdeutlicht. Wahrgenommen habe ich hier bereits, dass die Referentin die neuseeländische Philosophie des Lernens lebt. Erkennen konnte man es am praktischen Beispiel direkt zu Beginn ihres Vortrags. Sie zeigte Bilder von Sam, 18 Monate alt, für den sie Lerngeschichten schrieb. 1 Antworten kann ich an dieser Stelle, dass es eine wunderbare Methode ist, über Aktionen von Kindern „aus dem Herzen“ zu schreiben und darüber wieder erneut Fragen über die Entwicklung eines Kindes zu formulieren. Dieser Dreiklang „wahrnehmen, erkennen und antworten“ ist Teil der Philosophie des neuseeländischen Curriculums und begegnete den Teilnehmenden während des Tages immer wieder. Lorraine Sands berichtete, dass der neuseeländische Lehrplan „Te Wahriki“ vom Prinzip zur Praxis entstanden ist. Sie erklärte, dass man außerhalb der Routine arbeiten muss, um nicht die magischen Momente in der kindlichen Entwicklung zu verpassen. Dies gelingt nur, wenn man sich nicht zu sehr von den täglichen Routineaufgaben leiten lässt. Die Prinzipien der Arbeit verweben sich miteinander. Dieses Verweben festigt die Verbundenheit zwischen Kind, Eltern und ErzieherInnen. Eine existenzielle Frage des Kindes lautet: „Kennst du mich?“ im Sinne von: „Siehst du mich?“ Auch hierbei wird der sozio-kulturelle Kontext mit bedacht: „Woher kommt das Kind und wer gehört zu seiner Familie?“ Lerngeschichten verdeutlichen die Stärken und Interessen der Kinder und diese Art der Dokumentation macht auch die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte sichtbar. Das SelbstBewusstsein des Kindes wird gestärkt und es kann seine kompetente und aktive Lernhaltung weiterentwickeln. Dolmetscherin Bridget Juma-Dotzer & Lorraine Sands Davor steht allerdings, laut Lorraine Sands, das Zuhören für die PädagogInnen. Zuhören heißt in diesem Fall nicht, auf die Fragen der Kinder Antworten zu produzieren, sondern wieder neue Fragen entstehen zu lassen. An dieser Stelle kommt „Duck in the Truck“ ins Spiel. Die Ente ist der Held eines in Neuseeland sehr beliebten Kinderbuchs. Lorraine Sands erzählte von der Aktion eines kleinen Jungen, dessen großer LKW im Matschsand umgekippt ist. Er versucht, das Auto wieder hochzuziehen. Beispielhaft erklärte sie den Verlauf einer Lerngeschichte für das Kind. Sie hat wahrgenommen, dass er in einer für ihn schwierigen Situation steckt. Sie erkennt, dass er Hilfe benötigt. Sie antwortet ihm mit einer Frage: „Was hätte Duck in the Truck an deiner Stelle gemacht?“ Das Kind findet eine eigene Lösung für sein Problem. Mit dieser Erfahrung kann es gestärkt in späteren Situationen selbstwirksam 2 weitere Lösungen finden. Dabei wurde auch deutlich: je interessierter die Lernenden sind, desto mehr motivieren sie die anderen. Es entsteht kindliches Teamwork, welches Sachen hervorbringt, die man sonst nicht erlebt hätte. Hier schließt sich der Kreis. Das Konzept von „Te Whariki” berücksichtigt die ganzheitliche Entwicklung und umfasst die physischen, geistigen und spirituellen Kräfte des Kindes. Fünf Stränge kristallisieren sich aus der Matte heraus: Wohlbefinden, Partizipation, Kommunikation, Zugehörigkeit und Exploration. Diese verweben sich mit den Lerndispositionen: engagiert und interessiert sein, sich mitteilen, Herausforderungen annehmen, Widerständen standhalten, in einer Gemeinschaft Verantwortung übernehmen. Die neuseeländischen PädagogInnen betrachten das Kind als ernsthaften Forscher. Ihre Ausgangshaltung ist, dass das Kind etwas anbietet und die Pädagogen darauf reagieren / antworten. Auch die ErzieherInnen sollen ForscherInnen sein, um zu hinterfragen und heraus zu finden, was genau die Kinder tun. Lorraine Sands betonte, dass Lernen für sie nicht nur bedeutet, die einzelnen Stufen des Lernens zu kennen, sondern auch die Lerndispositionen zu erkennen und diese in den Zusammenhang mit sozialen und kulturellen Aspekten zu stellen. Für die neuseeländischen PädagogInnen ist wichtig, dass Lernfelder folgende Merkmale enthalten: interessant, verantwortungsvoll, herausfordernd, zuhörend und kooperierend. In diesem Kontext stellen sie sich die Frage: „Hat das Kind genügend Zeit seinen Interessen handelnd nachzugehen?“ Alison Brierley mit Dolmetscherinnen Stephanie Schilpp & Susanne Dorka-Onnen Für die Teamentwicklung der PädagogInnen stellt sich hier die Herausforderung: alle müssen das gleiche Grundverständnis entwickeln und sich darüber austauschen! Lerngeschichten eröffnen viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Team. Ihr Credo lautet, dass man als ErzieherIn über den Tellerrand schauen muss und seine eigenen Ideen und Intuitionen mit einbringen muss (so wie bei Duck in the Truck). Die häufige und regelmäßige Kommunikation mit Eltern ist sehr wichtig, um viel über das Kind zu erfahren. Familien und PädagogInnen teilen ihre Erfahrungen über die Kinder und wachsen als Gemeinschaft zusammen. Die Philosophie des neuseeländischen „Te Whariki“ habe ich auch in den beiden Workshops von Robyn Lawrence und Lorraine Sands wahrgenommen. „Finding the Magic“ mit Robyn Lawrence ließ den roten Faden deutlich erkennen. Sie stellte den TeilnehmerInnen ihre Herkunft (Berg, Fluss, Menschen) in der gleichen persönlichen und bildhaften Weise vor, wie Lorraine Sands in ihrem Vortrag. 3 Robyn Laurence & Dolmetscherin Larissa Spinney Die magischen Momente - wir würden vielleicht sagen, den Zauber kindlicher Entwicklung zu erkennen, ist einer der Schlüsselpunkte des neuseeländischen Konzepts. Magische Momente erleben wir ständig. Auch das Betrachten eines Spinnennetzes, so Robyn Lawrence, ist ein magischer Moment. Dabei ist es wichtig, betonte sie, dass in magischen Momenten immer auf die Beziehung geachtet wird: mit Menschen, Dingen und Plätzen. Das Einbeziehen verschiedener Perspektiven ist wichtig, damit aus den magischen Momenten eine Lerngeschichte für das Kind werden kann. Für die PädagogInnen bedeutet das Wahrnehmen eines magischen Momentes, also das Erkennen einer für das Kind bedeutsamen Situation, sich in ihrem Tun zurück zu halten und manchmal auch „sich auf die Hände zu setzen und den Mund mit einem Reißverschluss zu schließen“. Beim Beobachten solcher Situationen stellen sich den PädagogInnen die Fragen: Was lernt das Kind? Welche Fähigkeiten hat das Kind? Welche Motivation hat das Kind? Robyn Lawrence veranschaulichte ihre Aussagen mit einem Beispiel von der 15-monatigen Isla, die mit einem Rollwagen über eine Schwelle fahren will. Magische Momente zeigen Kinder als Planer ihres Tuns! Daher: Routinen ansehen und überprüfen, was ist wichtig? Lernumgebung so gestalten, dass kein Input von außen (Programme, Angebote usw.) benötigt wird Robyn Lawrence betonte, dass in den magischen Momenten Kinder für sich den Sinn der Welt entwickeln. Wahrnehmen konnte ich hier, dass ein noch größerer Paradigmenwechsel in Deutschland stattfinden muss. Wir müssen erkennen, dass Grundwissen über Entwicklungspsychologie allein nicht genügt, sondern unter dem Focus der Lerndispositionen betrachtet werden muss unter Einbeziehung des sozio-kulturellen Hintergrundes des Kindes. Antworten kann ich darauf mit der Frage: „Wie schaffen wir es, diese veränderte Haltung einzunehmen und etwas von dem „alten Müll“ in unseren Köpfen zu entfernen?“ Mit dem positiven Blick auf das Kind ein interessengerichtetes Lernen in den Einrichtungen zu etablieren, ist ein großes Ziel, dass wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Auch im Workshop von Lorraine Sands „Slowing down“, vermittelte sich auf sehr authentische Weise, dass dieses neuseeländische Konzept ohne Einschränkung gelebt wird. Anhand vieler verschiedener Foto- und Filmsequenzen zeigte sie sehr eindrucksvoll, wie das Konzept in der Praxis funktioniert. Sie betonte, dass sich auch in Neuseeland zunächst alte Gewohnheiten in der pädagogischen Arbeit verändern mussten. Es hat Zeit gebraucht, um die Veränderungen zuzulassen. Heute empfinden es jedoch die PädagogInnen fast als ein Privileg, soviel unverplante Zeit mit den Kindern verbringen zu können. Auf die Frage, wie die ErzieherInnen es schaffen, den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden, sagte sie, dass in einer gut vorbereiteten Umgebung nicht alle Kinder gleichzeitig eine ErzieherIn benötigen. Auch hier wieder die Aussage, dass es unbedingt erforderlich ist, 4 dass das Team an einem Strang ziehen, um den Bedürfnissen und Interessen der Kinder gerecht zu werden. Oberste Priorität hat, so Lorraine Sands, dass wir nicht unsere eigenen Ziele verfolgen, sondern den Interessen der Kinder folgen. Dabei muss der Tagesablauf entschleunigt / entplant werden. Kinder bringen ihr eigenes Gepäck (sie sagte Rucksack) mit. Um dieses Gepäck auszupacken, benötigt es sensible ErzieherInnen, die das gemeinsam mit den Eltern tun. Leider sei es immer noch so, dass wir viel zu stark unsere eigenen Werte und Interessen einbringen. Für uns in Deutschland war es sicher wichtig zu hören, dass die Neuseeländer „einfach angefangen haben“, Lerngeschichten zu schreiben. Es gab keine Bewertungen, aber Reflexion und gegenseitige, konstruktive Unterstützung der PädagogInnen in der Arbeit. Alison Brierley & Lorraine Sands & Robyn Lawrence Das Fazit meiner persönlichen „Lerngeschichte“ vom Fachtag in Frankfurt: Wahrgenommen habe ich drei eindrucksvolle Persönlichkeiten, die mit viel Herz ein an den Interessen des Kindes orientiertes und praktisches Modell präsentiert haben. Erkennen konnte ich, dass wir in Deutschland noch große Schritte zur Haltungsänderung und dem Loslassen von Althergebrachtem tun müssen. Antworten möchte ich mit der Frage: „Wann fangen wir wirklich damit an?“ Mich wird der Dreiklang „Wahrnehmung, Erkenntnis und Resonanz“ auch in Zukunft begleiten. Die Begrüßungszeremonie im sozio-kulturellen Kontext (Berg, Fluss, Menschen) hat mich sehr beeindruckt. So einfach und so wirkungsvoll! Der LAG an dieser Stelle mein herzlicher Dank für diesen wunderbaren Fachtag! Herzliche Grüße aus Kassel Marita Engel 5 von links nach rechts: Catharina Perschmann, Larissa Spinney, Alison Brierley, Lorraine Sands, Robyn Lawrence, Bridget Juma-Dotzer Marita Engel ist Fachberaterin bei DAKITS e.V., Dachverband der freien Kitas in Kassel und freie Referentin mit Schwerpunkt Portfolioarbeit in Kita und Krippe Barbara Fahle ist Fotografin , Diplompädagogin in Frankfurt/Main und hat uns freundlicherweise die Fotos der Tagung überlassen 6
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