Thema Wie wird Geistiges leiblich? Johannes Wirz W elche Bilder, wenn überhaupt, ruft der Titel dieses Beitrags wach? Vielleicht drängt sich beim Einen die Frage auf, wie ein Mensch sich inkarniert. Vielleicht werden bei einer Anderen Überlegungen über die Erscheinungsform, z.B. von Engeln, erwartet. Bei einem Dritten erweckt er möglicherweise die Hoffnung auf die Darstellung einer spirituellen Kosmologie. Ich möchte im Folgenden auf verschiedenen Ebenen untersuchen, wie Geist oder Geistiges – die Wortwahl bleibt im Augenblick mit Absicht unbestimmt – Erscheinung wird. Soviel vorweg: Jeder Prozess des In-Erscheinung-Tretens, das im weitesten Sinne immer mit der Existenz von Leib, Körper oder Objekt zusammenhängt, ist auf ein Medium als notwendige Bedingung angewiesen. Diese Aussage ist keineswegs trivial, weil das Mittelglied – Medium – sowohl dem Geist als auch der Erscheinung entsprechen muss. Maler, Physiker und Biologe Dr. Johannes Wirz, geboren 1955, Biologe am Forschungsinstitut des Goetheanum, Hügelweg 59, 4143 Dornach 1, Schweiz Die ersten Beispiele stecken den Rahmen ab, in welchem Geist – als Idee oder Theorie – Objekt oder Körper wird. Sie dienen zur Vorbereitung, das Geistige im menschlichen Leibe besser zu verstehen. Vor der leeren Leinwand findet sich das künftige Kunstwerk erst im Geist des Malers. Manchmal ist die Idee der Komposition bereits in allen Einzelheiten erfasst und vorgestellt, oft steht jedoch zu Beginn nur ein unbestimmter Impuls. Wie eine Pflanze in ihrer äußeren Umgebung wächst, entfaltet sich das Gemälde erst im Vollzug. Mit dem letzten Pinselstrich ist das Kunstwerk als Objekt sichtbar geworden, ein Unikat, von allen anderen zu unterscheiden. Von der ersten Idee bis zum vollendeten Gemälde sind nicht nur Leinwand, Pinsel und Farbe, sondern auch der Maler selbst und seine künstlerischen Fähigkeiten die Entstehungsbedingungen. 1964 leitete der Physiker Peter Higgs theoretisch die Existenz eines Teilchens ab, das ande32 ren Elementarteilchen ihre Schwere verleihen soll: das Higgs-Boson. Erst 2012 konnte es im größten jemals für die Grundlagenforschung gebauten Apparat, dem Teilchenbeschleuniger im CERN, nachgewiesen werden. Die Theorie zeigte nicht nur die Möglichkeit der Existenz des Boson auf, sondern erlaubte auch noch ein Set von Bedingungen abzuleiten, mit denen es erzeugt und nachgewiesen werden konnte. Was für den Maler Leinwand und Farbe sind, sind hier der Beschleuniger und die hausgroßen Detektoren. In beiden Fällen muss auch das jeweilige Medium einer Reihe von Gesetzmäßigkeiten genügen, auch in ihm müssen Beziehungen zwischen Gesetz (Geist) und Erscheinung (Körper) herrschen. Es gibt das eine nicht ohne das andere! 2010 wurde im Wissenschaftsteil und den Feuilletons vieler Zeitungen weltweit von der Herstellung künstlichen Lebens berichtet. Obwohl diese Aussage so nicht stimmt, erregten die Forschungsarbeiten im J. Craig Venter Institut mit Recht großes Aufsehen. In jahrelanger Arbeit wurde in kleinen Schritten ein bakterielles Chromosom synthetisch nachgebaut und in eine Zelle eingeschleust. Der Scharfsinn beim Design und bei der Prüfung der korrekten Aneinanderreihung von ca. 540.000 Bausteinen ist wie beim Higgs Boson eine intellektuelle, »geistige« Glanzleistung. Medium waren in diesem Fall wiederum nicht nur die Bausteine für das Chromosom, die vielen Reagenzien und die verwendeten Enzyme, sondern auch die Forschungsergebnisse einer großen wissenschaftlichen Gemeinschaft von 1960 bis 2010, Meisterleistungen im Bau von Syntheseund Analysemaschinen, und nicht zuletzt die lebenden Zellen des Spenderorganismus, eines unscheinbaren Bakteriums. Auch hier wurde erst am Ende eines langen Prozesses, der viele Gedanken, experimentelle Geschicklichkeit, und einen gewaltigen technologischen Aufwand verlangte, das künstliche Chromosom »verleiblicht«. Die Christengemeinschaft 1 | 2014 Thema Der Erfolg aller drei beschriebenen menschlichen Artefakte setzt die Kenntnis und die Einhaltung von Gesetzen, Ideen voraus. In jedem Fall ist Erscheinung (»Leib«) untrennbar mit Idee (»Geist«) verbunden. Unschwer erkennen wir, dass jede künstlerische, wissenschaftliche und technische Leistung erst Wirklichkeit wird, wenn beide Seiten – Erfahrung und Idee – verbunden werden können. Noch etwas ist bemerkenswert. Jede menschliche Handlung, jedes Experiment und jedes Kunstwerk setzt ein Ziel voraus. Heute möchte man diese Eigenschaft auf menschliches Handeln beschränkt wissen. Doch stellt sich die Frage, ob »Geist«, weil er in jedem Fall das In-dieErscheinung-Treten mit beinhaltet, nicht immer mit einem Ziel verbunden ist. Geist wird Leib Eine andere Art des Leib-Werdens eines Geistigen ist die Geburt des Ich. Sie vollzieht sich in Die Christengemeinschaft 1 | 2014 Übereinstimmung mit Haeckels biogenetischem Grundgesetz in zweifacher Weise. Die nachgeburtliche Entwicklung des Einzelnen folgt der gleichen Grundstruktur wie die Evolution der Menschheit als Ganzer in den drei gewaltigen Schüben von Gehen, Sprechen und Denken. Der Augenblick, in dem ein Kind zum ersten Mal »ich« sagt, bleibt vielen Eltern unvergesslich. Den Moment, in dem die Menschheit das »Ich« entdeckte, verortet man in der Zeit der ersten rituellen und künstlerischen Artefakte vor ca. 40-35.000 Jahren. Wie Idee und Theorie ist auch dieser Ich-Geist auf ein Medium angewiesen. Im ersten Fall sind es von der Konzeption bis ins Jungendalter Eltern, Familie und später die erweiterte Menschengemeinschaft – ohne diesen Kreis können die drei Eigenschaften, die den Menschen zum Humanen machen, nicht erworben werden. Auch in der langen Evolution der Menschheit dürfen wir uns eine Gemeinschaft denken, die vor ca. 7 Mio. Jahren mit dem aufrechten Gang begonnen hat, vor ca. 2 Mio. Jah33 Eliana Heredia Ort und Maßlosigkeit Open Space 713 – Zeitgenössische Kunstgalerie auf der arteBA. Buenos Aires, Argentinien 2008. Materialien: Maschendraht, Schaumgummi, Keramik. Maße: 6 x 4,5 x 5 m Thema ren die Sprache entwickelte, und vor 40.000 bis 35.000 Jahren das Denken erwarb. Was in Kunst und Wissenschaft Medium ist – mit allen seinen Erscheinungen und Gesetzen, ist bei der Menschwerdung die Gemeinschaft. Sie war in der langen Evolution und ist es bis heute real am Geburtsvorgang des Ich-Geistes (Individuum) in jedem Menschen beteiligt. Gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit, nicht Kampf und Überleben des Fittesten hat unser Menschwerden seit Urzeiten bis heute möglich gemacht. Ich als Innenerfahrung In den allermeisten Fällen, d.h. bei normaler Entwicklung, kann die Geburt eines Ich von allen miterlebt werden. In weniger günstigen Situationen – bei seelenpflegebedürftigen Menschen – bleibt sie den meisten verborgen oder wird gar in Abrede gestellt. Sobald wir jedoch bemerken, dass Bewusstsein des Selbstes oder Ich immer Innenerlebnis ist, dürfen wir ein solches auch dann annehmen und schützen, wenn es nicht mit den gewohnten Eigenschaften ausgestattet ist, mit denen es sich im gesunden Menschen zeigt! Die innere Gewissheit, mit der sich das eigene Ich in uns manifestiert, garantiert seine Existenz auch in jedem anderen Menschen. Daraus folgt, dass beim seelenpflegebedürftigen Menschen das Medium Leib nicht alle Bedingungen bereitzustellen vermag, auf die ein Ich angewiesen ist, wenn es sich mit den gewohnten Eigenschaften zeigen soll. Es muss aber auch betont werden, dass es, sei es in der Familie oder in sozialtherapeutischen Institutionen, in der intimen Nähe und Begegnung unverbrüchlich erlebt werden kann. Geist schafft Leib Die verborgene Verleiblichung eines Ich beim Seelenpflegebedürftigen ist hier nicht als Appell an die unbedingte Anerkennung der Menschenwürde gedacht, sondern als Vorbereitung zu einem weiteren Schritt. Diese Verborgenheit ist in unserem Umfeld eher eine Ausnahme, in 34 der spirituellen oder meditativen Praxis jedoch die Regel! Ob wir es ahnen oder nicht, jeder Schulungsweg führt hin zur Geburt des höheren Ich – wenn auch nur in seltenen Fällen zu deren Eintritt. Auch hier müssen für die Geburt die Bedingungen geschaffen werden, auch sie ist auf ein Medium, einen Leib angewiesen. Hier, und nur hier, spielt jedoch die menschliche Gemeinschaft keine Rolle mehr. Ich selber schaffe die Bedingungen der Leibwerdung, mehr noch, ich bin das Medium meines ICH. Die Abgrenzung zwischen Leib und Geist beginnt zu verschwimmen. In einer gewissen Weise können wir vom Standpunkt der Initiation aus gesehen als »behindert« bezeichnet werden – wie die vorher erwähnten Seelenpflegebedürftigen. Aber noch schlimmer oder schöner je nach innerer Verfasstheit: Es gibt vor dieser ICH-Geburt weder Leib noch Geist! Beide entwickeln sich in einem langen Geburtsvorgang über die drei Stufen des Geistselbst (Mani), des Lebensgeists (Buddhi) und des Geistesmenschen (Atma) parallel. Die Geburt des ICH und seiner Leiblichkeit ist ein schwindelerregender Akt – und wird deshalb nur von wenigen gewagt und vollbracht. Ohne Zweifel ist sie die erste wirkliche Schöpfung des Menschen selbst – als Medium, Leib und Geist. Wie im Fall des seelenpflegebedürftigen Menschen kann niemand außer mir selber diese Geburt beobachten und erleben – wie die Geschichte einer buddhistischen Einweihung erzählt, bleibt ein Reisbauer auch nach der Initiation ein Reisbauer. Wir haben mit einer Epistemologie des LeiblichWerdens des Geistigen begonnen und sind bei deren Ontologie gelandet. Das Geburtsdrama – so ein vielleicht gewagter Schluss – wurde zum ersten Mal vom ersten wahren Menschen, dem Menschheitsrepräsentanten, Christus vollzogen. Diese Tatsache sollte uns bescheiden, ehrfurchts- und hingebungsvoll werden lassen, aber nicht vom unentwegten Versuch, sie zu vollziehen, abhalten. Hier liegt unsere eigentlichste Aufgabe! Die Christengemeinschaft 1 | 2014
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