Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung Gottschalkstr. 57 / D- 34127 Kassel Tel. 0561-9893670 / Fax: -9893672 www.addf-kassel.de / [email protected] Ariadne Nr. 57 / Mai 2010 Über die Grenzen Wie Frauen(bewegungen) mit Grenzen umgehen Redaktion: Anne-Laure Briatte-Peters / Dr. Kerstin Wolff Einzelpreis: 9,50 Euro Abstracts ANNE-LAURE BRIATTE-PETERS Grenzenlos radikal? Die Grenzen der radikal-bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich (S. 6-13) Durch ihre offensive Öffentlichkeitsarbeit gelang es der »radikalen« Frauenbewegung einige Tabus wie im Bereich der "Sittlichkeit" und der Geschlechterverhältnisse in der Ehe zu brechen, und somit die Grenze zwischen dem "Sagbaren" und dem "Unsagbaren" zu verschieben. In anderen Bereichen wie mit der Forderung nach Rechtsgleichheit von Mann und Frau, angefangen vom passiven und aktiven Stimmrecht, ist die Erfüllung dieser Forderungen zwar nicht ausschließlich auf sie zurückzuführen, aber die »Radikalen« haben in großem Maße den Boden dafür vorbereitet. Doch ging das nicht ohne die Befestigung und Reproduktion alter Grenzen: Bei aller angestrebten Frauensolidarität und politischer Offenheit gelang es den »Radikalen« nicht, die Grenzen zwischen den sozialen Ständen und den politischen Familien zu überwinden, ja sie trugen sogar teilweise dazu bei, diese zu befestigen. MARION RÖWEKAMP Gedachte Grenzen. Ehescheidungsrechtsforderungen als Grenze innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung, 1918-1933 (S.14-21) Der Artikel befasst sich mit den Rechtsforderungen der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung zum Ehescheidungsrecht in der Weimarer Republik. Ausgehend von der Beobachtung, dass verschiedene Themen innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung kontroverser debattiert wurden als andere, sollen hier die Weltanschauungsgrenzen der verschiedenen Frauenverbände hinsichtlich eines der meist polarisierenden Rechtsforderungen dieser Zeit ausgeleuchtet werden. DOMINIQUE GRISARD Nationale und geschlechtliche Grenzziehungen ›verqueeren‹. Transgressionen russischer Sozialrevolutionärinnen und Studentinnen in der Schweiz des frühen 20. Jahrhunderts (S. 2227) In einer Zeit, in der sich europäische Nationen konsolidierten, wurde viel Energie auf die symbolische Stärkung von Europa in Abgrenzung gegenüber dem Russischen Reich verwendet. In diesem Artikel werde ich auf den Einfluss russischer Studentinnen und Revolutionärinnen auf diese Nationenbildungsprozesse eingehen. Auf der einen Seite wurden die Russinnen als das Andere Europas repräsentiert. Auf der anderen Seite war es diesen Frauen auch möglich, die jungen nationalen Projekte Europas zu ‚infiltrieren’. Mein spezifisches Augenmerk liegt auf dem Fall Tatiana Leontieva, einer russischen Medizinstudentin, die in der Schweiz zur Terroristin wurde. Wie ich darlegen werde, ermöglichte ihre Insze- 1 Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte – 57/2010 Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung Gottschalkstr. 57 / D- 34127 Kassel Tel. 0561-9893670 / Fax: -9893672 [email protected] / Anzeigen:[email protected] nierung als feminine Dame der Oberschicht moderne Identitätskonzepte auf eher subtile Art zu queeren. Dieser Rückblick auf die Geschichte russischer Revolutiärinnen in Europa des frühen 20. Jahrhunderts erlaubt es, die Fixierungsbestrebungen von nationaler und Geschlechtszugehörigkeit als europäische Grenzpolitiken zu begreifen. REBEKKA DENZ Zwischen »russischer Steppenfurie« und Ideltyp einer Revolutionärin. Das bewegte Leben der Sozialistin Sarah Rabinovitsh (S. 28-31) Der Artikel behandelt das Leben der Sozialistin Sarah (Sonja) Rabinovitsh (geb. in Warschau 1882 – gest. in München 1918), die später im Deutschen Reich lebend unter dem Namen Sonja Lerch bekannt war. Ihre Biographie wird unter der Fragestellung ihrer Grenzüberschreitungen betrachtet, die von der Autorin Rebekka Denz als zunächst augenscheinlich klare, auf den zweiten Blick aber oftmals als nur weniger eindeutige Grenzüberschreitungen eingeordnet werden. Erstmals werden in diesem Beitrag neben deutschen sowie englischen Quellen und Studien auch jiddischsprachige Texte bei der Betrachtung dieses bewegten Frauenlebens herangezogen. IWONA DADEJ Gebildete Damen im staatlichen Dreieck. Grenzen und Schranken der polnischen Frauenbewegung um 1900 (S. 32-37) Die drei Teilungsgebiete Polens im 19. Jahrhundert waren Handlungsräume für die polnische Frauenbewegung. Deren Akteurinnen überschritten die geltenden aufoktroyierten Grenzen, die die nationale Einheit in drei Staatssysteme aufteilten und setzten sich für die frauenpolitischen Aktivitäten in einem trans-imperialen Raum ein. Die sozialen Schranken wurden in der Frauenbewegung jedoch von den Akteurinnen nicht überschritten bzw. neu definiert. Die frauenpolitischen Aktivitäten der Akteurinnen der Frauenbewegung sind teilweise schwer von den nationalpolitischen Postulaten und Agitationsarbeit der polnischen »Nation ohne Staat« abzugrenzen. ANGELIQUE LESZCZAWSKI-SCHWERK Grenzüberwindung versus Grenzziehung – Frauenbewegungen im österreichischen Galizien um 1900 (S. 38-43) Die Stadt Lemberg/Lwów/L’viv um 1900 war ein wichtiges Organisationszentrum differenter ethnoreligiöser Gruppen. Kooperative wie konfrontative Momente charakterisierten dabei die Beziehungen, die auch das Verhältnis der Frauen(bewegungen) zueinander kennzeichneten. Gemeinsames Agieren der Frauen im öffentlichen Raum konnte jedoch in mehrfacher Hinsicht Grenzen überwinden. Dies verdeutlichen gemeinsame Petitionen ukrainischer, polnischer und jüdischer Frauen im Kampf für Gleichberechtigung. Darüber hinaus spiegeln sich die dynamischen kulturellen Kontakte in den Sprachrohren der Frauenbewegungen wieder. Wo und wie erfolgen symbolische Grenzüberschreitungen und/oder Grenzziehungen der Frauenrechtlerinnen? BRIGITTE RATH Olga Misar oder: Die Vielfalt der Grenzüberschreitungen (S. 44-47) Eine zentrale Akteurin der Ersten Frauenbewegung in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber auch der österreichischen Friedensbewegung dieser Zeit ist heute vollkommen vergessen und ihr Leben und ihre Leistungen sind im Wesentlichen unbekannt: Olga Misar. Ihr Engagement in heute noch als marginal angesehenen Themenbereichen als auch ihre jüdische Herkunft sowie die damit in Zusammenhang stehende Emigration haben zur Verdrängung aus dem historischen Gedächtnis ge- 2 Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte – 57/2010 Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung Gottschalkstr. 57 / D- 34127 Kassel Tel. 0561-9893670 / Fax: -9893672 [email protected] / Anzeigen:[email protected] führt. Erst jüngst – in Zusammenhang mit der Aufarbeitung von bürgerlichen bis zu anarchistischen Friedenskonzepten – hat die Grazer Germanistin Beatrix Müller-Kampel Olga Misar als wieder zu entdeckende Pazifistin und Schriftstellerin charakterisiert. Olga Misars Engagement in unterschiedlichen politischen Themenbereichen zeigt Grenzüberschreitungen in vielfältigen Diskursen, die von der Stimmrechts-, und Mutterschutz- bis zur Friedensbewegung reichen, und sich in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Kriegsdienstgegnerschaft erstreckten. Auch ihre Nähe zur gewaltlosen anarchistischen Bewegung tritt zu Tage. KATHRIN STERN Grenzen – Grenzverschiebungen Ö Grenzverschärfungen. Die handlungsräume der Frauen für den Frieden /Ostberlin (S. 48-53) Gegründet im Jahr 1982 initiierten die ‚Frauen für den Frieden/Ostberlin’ in den darauf folgenden sieben Jahren zahlreiche Veranstaltungen und Aktivitäten, die sie kontinuierlich die Grenzen des politischen Systems der DDR spüren ließen. Im vorliegenden Beitrag werden diese – zumeist sozialpolitischen - Grenzen sowohl nachgezeichnet, als auch der Umgang der Friedensfrauen mit ihnen beschrieben. Die Grenzverschiebungen, die die Fraueninitiative ganz selbstverständlich postulierte, werden ebenso analysiert, wie die Folgen ihrer Handlungen, die in den meisten Fällen eine Grenzverschärfung bedeuteten. VOJIN SASA VUKADINOVIC Feminismus im Visier. Zur Verknüpfung von Linksterrorismus und Feminismus in der BRD (S. 54-59) Mit dem formellen Beginn des Linksterrorismus in der BRD, der zumeist mit der Befreiung von Andreas Baader im Mai 1970 angesetzt wird, beginnt neben der groß angelegten und auf Öffentlichkeit bedachten staatlichen Verfolgung der LinksextremistInnen auch eine behördliche Kontextualisierungspraxis, die Linksterrorismus und Frauenemanzipation in ebenfalls für die Öffentlichkeit bestimmten Interviews, Statements und Publikationen als ursächlich verknüpfte Bewegungen auszuweisen versucht. Diese von Spekulationen und Unterstellungen geprägte Taktik, die sich im Laufe der 1970er Jahre zu einem eigenständigen Diskurs zwischen Staat, Wissenschaft und Medien entwikkelt, beruhte anfänglich zwar lediglich auf prägnanten Stichworten leitender Verfassungsschutzbeamter, diese waren jedoch bereits erheblich von einer politischen Diskreditierung des Feminismus gezeichnet. Günter Nollau, der spätere Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, lieferte 1971 mit seiner Einschätzung, bei der RAF handle es sich um einen »Exzeß der Befreiung der Frau«, den folgenreichen Slogan für eine persistente innerbehördliche Einschätzung des bundesdeutschen Linksterrrorismus. Die staatliche Auseinandersetzung mit der RAF und anderen Gruppierungen geriet in Folge zum Schauplatz nichtfeministischer Debatten über die politische Legitimität des Feminismus in Westdeutschland. Der Beitrag wird die argumentative Entwicklung und die kontextuellen Bezüge und Bewegungen dieser staatlichen Diskreditierungsstrategie nachzeichnen, die für die gesamten Linksterrorismus-Debatten zu Zeiten der so genannten »ersten« und »zweiten« RAF-»Generation« (1970-82) prägend waren und die als dezidierter Antifeminismus zu verstehen ist. IRENE BRANDHAUER-SCHÖFFMANN Abgrenzung von ›deutschen Terrordamen‹. Diskurse über deutsche Terroristinnen in Österreich und feministische Anworten auf vergeschlechtliche Sicherheitsdiskurse (S. 60-65) Österreich war in den 1970er Jahren zwar Schauplatz von terroristischen Anschlägen, aber nur im Fall der Entführung des Wiener Industriellen Palmers am 9. November 1977 waren auch Österrei- 3 Ariadne Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte – 57/2010 Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung Gottschalkstr. 57 / D- 34127 Kassel Tel. 0561-9893670 / Fax: -9893672 [email protected] / Anzeigen:[email protected] cher beteiligt, die unter Führung von drei deutschen Terroristinnen der "Bewegung 2. Juni" in sehr amateurhafter Weise Geld von der Industriellenfamilie Palmers erpressten. Der Artikel wird anhand von Akten des Strafgerichtes Wien und von Medienberichten die vergeschlechtlichten Konstruktionen um die Entführung analysieren und der Frage nachgehen, welche Narrative von Geschlecht und Nation in der Diskussion um den Terrorismus in Österreich benutzt wurden. Österreichs schwieriger Umgang mit der NS-Vergangenheit - als Staat, der ohne Widerstand an das Deutsche Reich angeschlossen worden war und sich später als erstes "Opfer" des Nationalsozialismus deklarierte - wurde tief in die Sicherheitsdiskurse über deutsche Terroristinnen in den 1970er Jahren eingewoben. Die Berichte über das Verhältnis der drei österreichischen Studenten zu den deutschen Terroristinnen variierten Grundmuster der nationalen Identitätskonstruktion - kleines Land, harmlos, schlampig, Operettenstaat etc. - indem sie diese mit den vergeschlechtlichten Sicherheitsdiskursen verknüpften. ANDREAS SCHNEIDER Feministische Transgressionen und mediale Grenzziehungen. zur ambivalenten Beziehung von Neuer Frauenbewegung und Massenbewegung – das Beispiel Alice Schwarzer (S. 66-71) Der Beitrag lenkt den Blick auf einen bisher vernachlässigten Aspekt der Geschichte der zweiten deutschen Frauenbewegung: Am Beispiel der Journalistin und bis heute bekanntesten Feministin Deutschlands Alice Schwarzer soll aufgezeigt werden, wie es einer Protagonistin der sich zu Beginn der 1970er Jahre konstituierenden Neuen Frauenbewegung gelang, mittels der provokativen Buchpublikation "Der ,kleine Unterschied' und seine großen Folgen" (1975), welche die elementaren Nachrichtenfaktoren (vor allem Aktualität, Normverstöße, Neuheiten, Konflikte) erfüllte, das Interesse des massenmedialen "Aufmerksamkeitsregiments" (Bernd Weisbrod) auf genuin feministische Themen (insbes. sexuelle Gewalt gegenüber Frauen) zu lenken. Gleichwohl entsprachen die Reaktionen der Medien keineswegs den Intentionen Schwarzers: Anstatt sich mit den Thesen ihres Buches auseinanderzusetzen, fokussierten führende Printmedien wie Der Spiegel oder der Stern vielmehr die als deviant wahrgenommene Biographie der als "Galionsfigur der radikalen Frauen-Emanzipation" titulierten Feministin und verkehrten somit das frauenbewegte Postulat "Das Private ist politisch" in sein Gegenteil. Zugleich wird anhand der partiell offen antifeministischen Publizistik aber auch deutlich, dass sich in den 1970er Jahren die - vor allem im Vergleich zu den 1950er und frühen 60er Jahren - geschlechterpolitischen Grenzen signifikant verschoben hatten: Nicht mehr die Unterordnung von Frauen und somit ein strikt hierarchisches Geschlechterverhältnis wurde im Kontext massenmedial vermittelter Kommunikation verteidigt, sondern in kritischer Auseinandersetzung mit den als "radikal" und "verbissen" empfundenen Thesen des Feminismus die Bedeutung von "partnerschaftlicher Gleichberechtigung" akzentuiert, die es mittels "sachlicher" und "vernünftiger" Positionierungen zu erreichen galt. 4
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