Zum Einlesen in: Es wird aussehen wie ein Unfall

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Peter Bierewirtz (www.pe-bi.de)
Mein Projekt:Roman-Direkt
Zum Einlesen in: Es wird aussehen wie ein Unfall
Erstes Buch
1. Kapitel
Da ist er wieder , sagte die junge Frau hinter der Kasse und reckte den Hals, um besser sehen
zu können. Wer? , der Kunde hatte es nicht eilig und war von Natur aus dankbar für jede
Abwechslung. Wortlos zeigte das Mädchen auf eine schwarze Limousine deren
einschüchternde Ausmaße und kühle Strenge Unterwerfung forderten für ihren Fahrer, der, als
er in die Auffahrt bog, deren gesamte Breite beanspruchte. Das Mädchen ließ den Kunden
stehen, lief um den Tresen herum und nahm eine rosa Zeitung aus dem Ständer. Der will
nicht tanken , sagte sie über die Schulter. Sie lief dem lautlos heran rollenden Koloß entgegen,
die dunkle Scheibe auf der Fahrerseite glitt schon herunter, reichte die Zeitung durchs Fenster
und erhielt einen Geldschein, von dem sie bereits zu wissen schien, daß sie ihn nicht zu
wechseln brauchte.
Mir hast du noch nie eine Zeitung gebracht , sagte der Kunde als sie ihren Platz wieder
eingenommen hatte, er hielt seine Kreditkarte noch immer in der Hand. Die junge Frau
wedelte mit dem Geldschein und zwinkerte ihm zu. Langsam glitt der riesige Wagen
rückwärts, neben den Preisschildern und den Blumenkübeln blieb er stehen, die runden
Scheinwerfer erloschen. Da liest der jeden Morgen seine Zeitung , sagte das Mädchen.
Vielleicht hat der Arme kein Zuhause , lachte der Kunde und ging zu seinem Auto.
Ahnungslos! keuchte der Mann hinter dem hölzernen Lenkrad. Nach Luft ringend tastete
er, ohne den Blick vom Betrieb an der Tankstelle zu lösen, über das Armaturenbrett seines
Wagens, bis er einen durchsichtigen Plastikschlauch zwischen den Fingern fühlte. Blind und
taub und ahnungslos! , stieß er tonlos hervor. Die Zeitung hatte er, ohne einen Blick darauf
geworfen zu haben, beiseite gelegt. Obwohl die Anfälle jetzt schon fast täglich kamen, ließ er
niemanden ans Steuer dieses Wagens. Auch jetzt noch, mit fast zweiundsiebzig, nährte er das
Gerücht, dieses sündhaft teure Kunstwerk diene seiner Familie bereits in der zweiten
Generation. Dabei hatte er den Wagen gleich am Beginn seiner Karriere ersteigert, in
erbärmlichem Zustand und lange bevor er ihn sich leisten konnte. Seit einigen Wochen mußte
er hinnehmen, daß eine häßliche Atemhilfe, ein abwaschbares Ding mit einem
Plastikschlauch, auf das polierte Wurzelholz geschraubt worden war. Der Schlauch führte ein
vernebeltes Medikament zu einem hellgrünen Mundstück. Der Anblick machte ihn elend,
deshalb sah er nicht hin, tastete lieber wie ein Blinder nach diesem Schlauch, während er sich
ärgerte, irgendwelchen Leuten beim Tanken zusehen zu müssen. Selbst nach diesem Boot zu
sehen, war er zu vorsichtig, es stand einfach zu viel auf dem Spiel, andererseits; etwas sollte
ihn überdauern, eine kleine Nachricht nur, ein winziger Hinweis...
Eben verließ ein fülliger Vater den Kassenraum. Bevor er wieder in sein Auto steigen wollte,
zwängte er mühsam sein Portemonnaie in die zu enge Hose. Als er die Tür öffnete um
einzusteigen, wurde er von seinen auf dem Rücksitz protestierenden Kindern zurückgeschickt.
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Diesmal lief er seitwärts, wie eine Krabbe, weil er versuchte, das Portemonnaie wieder aus der
Tasche zu ziehen, ohne dabei stehen zu bleiben. Der hinter seinen dunklen Scheiben
unsichtbare Beobachter dachte gar nicht daran, über die unfreiwillige Komik zu lachen.
Mühsam sog er den feinen Nebel in seine zerfallende Lunge und sah unzufrieden einer Frau
zu, die es nicht schaffte, den Tankverschluß ihres Kleinwagens zu öffnen. Sie brach sich den
Fingernagel ab, steckte den Finger in den Mund und stampfte mit dem Fuß auf. Der dicke
Vater ging achtlos an ihr vorüber und schlenkerte mit zwei bunten Tüten vor den hinteren
Fenstern seines Wagens. Die Kinder jubelten.
So sind sie , ächzte der Kranke tonlos, ungeschickt, verfressen und nichts als Kleinkram im
Kopf! Bis das Medikament wirkte, paffte er an seinem Plastikmundstück wie ein
Kettenraucher. Endlich , lehnte er sich erleichtert zurück und betrachtete im Schutz
flüsternder Filter, wie die Leute sich abwandten vor den heranwirbelnden Staubwolken aus
den unzähligen Baugruben. Vielleicht war es dieser allgegenwärtige Staub, der die
Beobachteten daran hinderte, ihrerseits neugieriger zu sein, denn ein Fahrzeug, daß derart
hochmütig auf seinen gewaltigen Rädern stand, mußte hier auffallen.
Ungeduldig öffnete der Mann ein verborgenes Fach und entnahm ihm sein Tagebuch , ein
von weichem Leder umhülltes Diktiergerät. Vierter April sechsunddreißig , sagte er, schon
wieder diese Tankstelle. Ihre blinde Ahnungslosigkeit muß jeden denkenden Menschen
empören. Sie sind es nicht wert, daß ich ihretwegen leide , kratzte die brüchige Stimme ins
Mikrofon, ich habe Lust, es jedem einzeln ins Gesicht zu schreien, daß es um ihn nicht
schade ist. Hört ihr s? fauchte er, es tut mir nicht leid um euch, hört ihr s? dann warf er
das Gerät auf den Beifahrersitz und umklammerte in plötzlicher Erregung das Lenkrad des
stehenden Autos, als rase es mit Höchstgeschwindigkeit auf einen Brückenpfeiler zu.
Verdammt noch mal, meine Zeit läuft ab, und ich sehe einem Haufen Idioten beim Tanken
zu! , stieß er keuchend hervor.
Ein schrill lackierter Motorroller hielt neben der Zapfsäule. Eine in schwarzes Leder
gekleidete Figur mit einem lustigen, kugelrunden Helm stieg ab und kippte das Fahrzeug auf
den Ständer. Der Mann konnte das Gesicht nicht erkennen, schloß aber aus der Figur und der
munteren Behendigkeit der Bewegungen, daß es ein junges Mädchen sein mußte. Sie kramte
in ihren Hosentaschen nach Kleingeld, legte einige Münzen auf die flache Hand und zählte
umständlich nach, bevor sie sich entschloß, den winzigen Tank des Rollers zu füllen.
Na endlich! knurrte der Mann, endlich jemand, der Geld braucht. Er griff nach dem
Innenspiegel, verstellte ihn, bis er sich sehen konnte und übte ein Lächeln. Dann stieg er aus,
ging auf schwachen Beinen zu der schwarzen Gestalt hinüber und zwang sich zu warten bevor
er sie ansprach bis sie aufsah, um die Zapfpistole wieder einzuhängen...
Wie ein wütender Grashüpfer sprang der Roller über die tiefen Reifenspuren der
Baufahrzeuge. Die junge Frau mit dem Kugelhelm hatte Mühe, ihn zu bändigen, zumal der
wirbelnde Sand aus den Baugruben das Visier blind machte. Sie stoppte, zog die Handschuhe
aus, öffnete das Visier und wischte den Staub mit einem Tuch ab, das sie aus der Hosentasche
ihres Lederkombis gezogen hatte.
Die meisten Häuser hatten noch gar keine Nummern, die wenigen alten waren überwuchert
von wilden Rosen und Efeu. Unentschlossen stuckerte sie weiter.
Immer der Nase nach! , hatte der Kerl mit dem protzigen Auto gesagt, 22! - Wenn du die
Nummer nicht findest, immer der Nase nach.
Und dann hatte er ihr einen kleinen silbernen Fotoapparat gegeben. Wieso duzt der mich
eigentlich? hatte sie sich gefragt.
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Plötzlich verstand sie was der Mann gemeint hatte. Ein damals schon sehr seltener Geruch
stieg ihr in die Nase. Es roch nach Mist. Sie hielt an, hier mußte es sein.
Mühsam schob sie den Roller durch den weichen Sand an den Straßenrand bis der Untergrund
für den Ständer fest genug war. Sie blickte vorsichtig in die Runde. Auf dem Hof war niemand
zu sehen. Gebückt rannte sie um einen ausladenden Misthaufen herum. Beinahe wäre sie über
ein mächtiges Tau gestolpert.
Na also! Da bist du ja! murmelte sie.
Mit Zeige - und Mittelfinger fischte das Mädchen den Fotoapparat aus der engen Brusttasche.
Am Ende des Taues wartete ein rundliches, eisernes Boot auf das Meer. Dicke Stützen paßten
auf, daß es nicht umfiel. Mit seinen beiden Bullaugen blickte das Schiffchen auf den
abgeplatteten Giebel einer alten Scheune. Die ovalen Fenster an den Seiten sahen zu, wie
beinahe jede Woche ein neues Haus aus den Wiesen wuchs. Als sie näher kam, roch es nicht
mehr nach Mist sondern nach frischem Lack. Die Farbeimer standen noch an Deck. Der Bauer
hatte erst eine Seite fertig.
Die heimliche Fotografin lief mit eingezogenen Schultern über den Hof zielte, zoomte,
knipste...
Zwei mal von jeder Seite, das muß reichen!
Sie tätschelte das dralle Heck: Du hast es noch verdammt weit, bis zum Meer! sagte sie zum
Schiff. Angesichts der liebevoll blank geputzten Schraube duckte sie sich noch einmal: Na
gut, auch noch ein Bild von der Schraube!
Hahn und Hühner ließen sich nicht stören, als sie sich wieder hinter dem Misthaufen
vorbeiduckte. Ohne irgendeinen Alarm ausgelöst zu haben, schwang sie sich auf ihren Roller
und verschwand.
Schon nach wenigen hundert Metern sah sie den Mann wieder. Er war ihr gefolgt. Hinter
einem Bauwagen erkannte sie den kolossalen Kühlergrill seines Autos. Der Mann war
ausgestiegen und stützte sich mit dem Oberkörper auf die geöffnete Tür.
Hast du das Boot gefunden? fragte er.
Er wartete bis der Helm nickte, dann streckte er die Hand nach der Kamera aus, klappte den
Monitor ab und überflog die Bilder. Eingehender betrachtete er den stattlichen Hahn, das
stolze Tier hinter der in der Sonne glänzenden Schiffsschraube. Der Mann schüttelte den Kopf
und seufzte. Dann schloß er das Gerät und ließ es in die Manteltasche rutschen. Unter seinem
eleganten Hut war er krankhaft bleich. Als er den Mantel aufschlug, um nach seiner
Brieftasche zu greifen, sah das Mädchen den ins Futter gestickten Buchstaben: ein kunstvoll
verschnörkeltes M.
Der Mann entnahm der Brieftasche einen großen Geldschein.
Ich kann doch keinen Tausender wechseln!
Der Mann winkte müde ab: Behalt ihn.
Dafür wär ich vier Wochen um diesen Kahn rumgelaufen! freut sich s unterm Helm. Wenn
Sie mal wieder was für mich haben, ich wohne... Verschwinde! sagte der Mann.
Nachdem der Roller mit neuer Energie durch die aufgeweichten Schneisen zwischen den
Neubauten gepflügt war, holte er die Fotos wieder hervor, betrachtete das Boot von allen
Seiten, vergrößerte sich Details und nickte zufrieden. Damit kann er es schaffen! sagte er
laut zu niemandem. Dann stieg er in seinen Wagen.
Das Mädchen fuhr mit einem prall gefüllten Rucksack voller Schinken, Chips und Wein und
Käse nach Hause und telefonierte ein paar Freunde zusammen um den unerwarteten Reichtum
zu feiern. n Kühler wie n griechischer Tempel? , wurde sie gefragt, du Ahnungslose, das
war n Rolls Roice! erklärte man ihr. Und das M im Mantel - , sah das so aus? ihre
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Freundin zeigte auf den Bagger vor ihrem Fenster. Schon seit zwei oder drei Jahren trug hier
alles was mit Bauen zu tun hatte, ein feuerrotes M. , darunter: Marquard Unternehmensgruppe, Stuttgart. Ja, jedenfalls so ähnlich. Dann war das dieser Baufritze,
du weißt doch, um den sie so viel Tam Tam gemacht haben, weil der die Güte hat in unser
popeliges Land zu ziehen, obwohl er so stinkreich ist. Hab ich auch gesehen, wie der da auf
dem Damm rumstolzierte und dem Reporter vorschwärmte, wie sicher er sich hier fühlt.
Jetzt, wo ihr das sagt... erinnerte sich das Mädchen, vielleicht habe ich ihn nicht erkannt,
weil er damals nicht so mickrig aussah. Mickrig sah der aus? Todkrank! Und was
wollte der mit den Bildern von dem ollen Kahn? Hat er nicht gesagt. Warum hat er die
Fotos nicht selber gemacht? Wieso interessiert dich das? Überleg doch mal, tausend Eier
für n Foto, da ist doch was faul! Du nervst!
Wie Lemminge zog es die Menschen ins Tiefland. Sie kamen aus Bayern aus Baden und
Hessen, aus Thüringen und weiß Gott woher. Aus schönen, reichen Ländern mit blühenden
Städten zogen sie in den armen Norden wo der Wind ihnen um die Ohren pfiff und der
Sommer manches Jahr kaum länger dauerte als einen Monat. Sie kamen, weil ihnen
irgendetwas fehlte für einen ordentlich bezahlten Job: Verstand vielleicht oder Ehrgeiz oder
Jugend...
Das merkwürdigste war, je voller es hier wurde, um so tiefer sanken die Preise für Bauland.
Wer hier her zog, lernte seinen Staat von einer ganz ungewohnten Seite kennen. Es gab
zinslose Kredite, verlorene Beihilfen, sogar der Umzug wurde bezahlt. Daß sie auch hier keine
Arbeit bekommen würde, war schließlich kein zusätzlicher Nachteil. Hier wie da würden sie
nichts anderes tun, als noch eine Weile auf der Welt sein und jeden Tag etwas essen, aber hier
war man wenigstens unter sich...
Das Land des Bauern mit dem Boot war inzwischen regelrecht eingekreist. Von seinen 15
Hektar hatte er noch keinen Quadratmeter an die Baugesellschaft verkauft. Er hatte diesen Hof
geerbt und arbeitete darauf, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Seine drei Schweine lebten ein erfülltes Schweineleben, bevor sie in den Topf kamen. Wenn
er morgens seine fünf Kühe melken ging, begrüßte er sie mit Achtung. Ein großer Garten
lieferte ihm Gemüse und Blumen. Er hatte keine Schulden und auf die Löcher in seinen
Gummistiefeln klebte er Fahrradflicken, statt sich neue zu kaufen.
Am liebsten hätte er seinen Acker mit einem Pferd bestellt. Weil es keine vernünftigen
Ackerpferde mehr gab, hatte er einen hellgrünen Trecker. Der stammte noch aus der Zeit, nach
der das Schicksal die Lebensuhr des Bauern gestellt hatte
sie ging wenigstens drei
Generationen nach. Auf der rundlichen Nase des Traktors stand in eiserner Schreibschrift
Kramer .
Die Frau des Bauern Maria. Sie stopfte seine Jacke und seine Strümpfe, ohne sich blöde dabei
vorzukommen. Er selbst hieß Hein. Die beiden hatten keine Angst, irgend etwas zu verpassen.
Es hatte ihnen genügt, einen einzigen Sohn großzuziehen. Sie hatten auch nur einen Enkel, der
hieß Heiner. Heiner sollte irgendwann ein stabiles Haus aus roten Ziegeln erben, und ein
schönes Stück Land. Was er schon geerbt hatte, war ein zu kurzes linkes Bein. Genau wie sein
Großvater zog er es beim Gehen etwas nach.
Aus seinem Fenster sah Heiner richtige Hühner kratzen. Wenn sie mit dem Kratzen fertig
waren, legten sie richtige Eier. Gegen den Widerstand der Eltern hatte sich der Junge von
einer Katze überreden lassen, mit ihr sein Bett zu teilen. Er nannte sie Nelli, außer wenn er mit
ihr schimpfen wollte, dann hieß sie Cornelia, genau wie seine Freundin aus dem Kindergarten.
Daß Opas Boot Aufmerksamkeit erregte, war er gewohnt. Er hatte keinen Grund gesehen, sein
Spiel mit der Katze zu unterbrechen, weil eine kleine schwarze Gestalt mit einem runden
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Helm um das Boot herum lief und Fotos machte...
Sein Großvater sprach gerne davon, daß es seit wenigstens hundert Jahren abwärts ging mit
der Welt. Weil die Leute sagten, sein Opa lebe wie vor hundert Jahren, konnte Heiner sich
vorstellen aus welch beträchtlicher Höhe der Alte die flache Gegenwart überblickte. Wenn
Hein durchs Dorf gegangen war und die Menschen gesehen hatte in ihren neuen Stuben und
Küchen, sie beim Blumengießen in ihren Vorgärten beobachtet, und sich ausgiebig gewundert
hatte, womit sie ihre Einkaufswagen füllten, nahm er sich den Enkel vor um ihn zu warnen vor
so viel Arglosigkeit.
Er erzählte ihm, daß die Leute sich allerlei zurecht legten, warum man sie so bequem leben
ließ: Sie hätten sich das alles erarbeitet, es stünde ihnen zu, das Land sei reich genug, auf ein
paar unnütze Esser mehr käme es nicht an, manche bildeten sich sogar ein, daß die Regierung
im fernen Berlin die Macht ihrer Stimmzettel fürchte, die Stimmzettel der Arbeitslosen, der
Kränklichen, der Weißhaarigen...
Es kamen auch junge Leute. Solche vor allem, die von Anfang an nicht wußten, wo es lang
ging. Sie kosteten Geld, waren unzufrieden und fingen Streit an.
Einem alten, müden Pferd sein Gnadenbrot zu gewähren, verstand sich für Hein von selbst.
Aber kein Mensch, sagte er, - niemand - füllt seine Ställe mit lahmen und kranken Tieren und
holt zu ihrer Gesellschaft eine Horde hungriger, junger Gäule auf den Hof, die mit ihrer Kraft
nichts anderes anzufangen wissen, als sich Unfug auszudenken.
So etwas, lernte Heiner,
ergab nur Sinn, wenn man dabei an den Schlachter dachte.
Während es mit der Welt abwärts ging, stieg der Atlantik. Dem Festlandeis der Arktis war es
zu warm geworden, es war in Bewegung geraten und füllte unaufhaltsam die Meere. Schon
seit den Zwanziger Jahren stieg der Wasserspiegel erheblich schneller und höher als selbst die
Pessimisten des vergangenen Jahrhunderts zu fürchten gewagt hatten.
Die Niederlande wurden 2018 evakuiert und 2024 offiziell aufgegeben. Die Holländer
tauschten Philips und die KLM gegen die Überreste der Everglades und begannen auf der
anderen Seite des Atlantik Kanäle zu ziehen.
In Norddeutschland dagegen feierte der Deichbau Triumphe der Ingenieurkunst. Ein
gewaltiger Damm schützte das Tiefland, acht Stockwerke hoch und lang wie die chinesische
Mauer. Tag und Nacht stampften mächtige Pumpen und stemmten Elbe, Ems und Weser über
die Deichkrone. Alle dreihundert Meter verzweigten sich elektronische Nerven im Beton. Rot
und weiß gestrichene Antennen funkten Daten zu schlaflosen Zentralen in Bunkern und
Stollen.
Wer sich hinter diesem Damm nicht sicher fühlte, hätte mit gleichem Recht behaupten
können, daß am nächsten Tag die Sonne nicht aufgehen werde, sagten die Verantwortlichen.
An Wochenenden, wenn das Wetter schön war und die Schweine satt, fuhren Hein und Maria
gerne ans Meer. Wenn Heiner nichts besseres zu tun hatte, durfte er mit. Von einem der extra
zu diesem Zweck gebauten Aussichtspunkte betrachteten sie die drängende Flut.
Heiner staunte immer wieder, wie tief die Dächer schon unter dem Meeresspiegel lagen. Wenn
es nicht zu windig war, setzten sie sich auf eine Bank und der Opa erzählte, wie es früher war.
Die Natur dieses Landes war sparsam und streng. Die endlosen Moore spiegelten den Himmel
und aus dem braunen Wasser stiegen Blasen und Nebel auf das war alles. Wer sich
entschlossen hatte, hier zu leben, bekam für schwere Arbeit wenig Nahrung. Als der
preußische König, weil er nicht wußte, wohin mit seinen vielen armen Schluckern, Siedler hier
her schickte, zerquetschten sie sich die Bandscheiben beim Bau der Kanäle. Sie bauten sich an
deren Ufern feuchte Häuser und bekamen Gicht und Rheuma. Hätten sie nicht die Moore
geplündert und den Torf verkauft, sie wären hier genau so verhungert wie da wo sie herkamen.
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Später zahlten sie es der störrischen Landschaft heim, pumpten sie trocken mit Dampf und mit
Diesel, verdarben den Himmel mit Drähten und wurden fett. Ihren Nachkommen malten sie
die naßkalte Vergangenheit rosa, deshalb kannte heute niemand mehr die wahre Natur der
Dinge.
Dat Moor hems unnerkrägn , pflegte Hein am Ende seiner Geschichtsstunden zu sagen, aber
dat Meer, dat künnt se nich förn Narr bruken! Er dachte gar nicht daran, hochdeutsch zu
sprechen, wie inzwischen fast alle anderen. Wenn sich jemand beklagte, weil er ihn nicht
verstand, ließ er ihn einfach stehen.
Nachdem der Damm fertig und gefeiert worden war, hatte Hein noch gar kein Boot hinter dem
Haus. Aber damals rollte eine wahre Lawine von alten und jungen Rentnern ins Land, gefolgt
von Künstlern, Käuzen und Altenpflegern.
Vernünftige Menschen lassen nicht zu, daß sie überflüssig werden! hatte der Dorflehrer
gemahnt, einer der wenigen Männer, die sich beim alten Hein noch ab und zu einen Tee
abholen kamen. Brot und Spiele gab bei den Römern es nur für Menschen, die man noch
brauchte! Der arme Prophet verlor bald darauf seine Arbeit, weil es nicht mehr genug Kinder
gab, und er nahm seine stattliche Pension, weil sie das einzige war, was ihm blieb.
Hein wußte wenig von den Römern, aber er hielt sich für einen vernünftigen Menschen.
An einem strahlend schönen Sonntag, gleich nach dem Mittagessen, bestieg er mit Maria den
Damm obwohl er das Geld für den gläsernen Fahrstuhl gehabt hätte. Aus der Höhe wies er auf
das sich verfilzende Gewirr von Zäunen und Dächern: All disse Lüh lien den Staat op de
Taasch , sagte Hein zu seiner Frau, un disse Diek is ok leep düür!
Die beiden lehnten sich über das Geländer auf der Seeseite und Maria betrachtete sorgenvoll
das Meer, das ein paar Meter unter ihnen gegen die Wand drängte. Wie teuer dieser Damm
tatsächlich war, wußten die beiden natürlich nicht, aber sie konnten es sich vorstellen. Fast
jeder, der hier noch Arbeit hatte, war bei diesem Herrn M. angestellt. Der hatte den Damm
nicht nur gebaut, sondern betrieb auch dessen Unterhalt. Un heel stewig is he ok nich!
seufzte Maria indem sie auf das leise Vibrieren des Dammes unter den Schlägen der Brandung
anspielte.
All disse Lüh sünd öwer. Un wenn disse Damm breckt, sünd se aal wech! spann Hein
seinen Gedanken fort, fallt di doa to wat in?
Wi sünd denn ok wech , antwortete Maria ausweichend und holte Kekse aus ihrer
Handtasche, Wullt ok een?
Auf der Rückfahrt fragte Hein bei jeder Baustelle an der sie vorbeifuhren: Süchst du
irgendwoa dissen roden Kreis?
Ne! Kin ein! sagte sie jedesmal.
Warum geit dat hier al ohne Genehmigung? grübelte Hein, dat sücht ut, as wenn de rike
Herr M. de Gesetzen sülst makt.
Das Meer stieg, wertvolles Land wurde verschleudert, Stürme wüteten mitten im Sommer und
wenn Hein den Fernseher einschaltete, sah er, neben Albernheiten, fast nur noch Bilder von
Krieg und Katastrophen. Heins Sohn amüsierte sich über die strenge Regelmäßigkeit, mit
welcher die beiden Alten ihren Tee aus schön bemalten Tassen tranken. Ein Spleen , sagte er,
genau wie der klapprige Trecker. Lauter Krempel aus einer Zeit, als die Uhren noch ticktack
machten. Hein dagegen war überzeugt, daß die gemeinsame Teezeit ein ausgezeichnetes
Mittel gegen die Katastrophen war.
Jeden Nachmittag und jeden Abend saßen Hein und Maria am Tisch, entzündeten die Kerze
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im Stövchen und hielten für eine schöne Viertelstunde die Zeit an. Nur Sonntags machten sie
eine Ausnahme. Sonntags tranken sie Kaffee bei Sohn und Schwiegertochter. Vorher zogen
sie feine Sachen an, schnitten ein paar Blumen im Garten und gingen untergehakt die wenigen
Schritte zum neuen Haus der jungen Leute. Es stand da, wo Vater und Sohn vor zwölf Jahren
den alten Wagenschuppen weggerissen hatten. Dort, die zweite Tasse war erst halb leer,
sprach Hein zum ersten Mal den ungeheuerlichen Verdacht aus. Im Süden, sagte er, könnte es
eine Menge Leute geben, die nicht unbedingt traurig sein müßten, wenn hier ein Unglück
passiert. Was er damit meine, fragte mißtrauisch der Sohn. Er wisse schon, was er meint, sagte
Hein, wenn nicht er, wer sonst? Der junge Mann war zum Ingenieur und Herrn über
hundertfünfzig starke Pumpen aufgestiegen welche die alten Schöpfwerke ersetzt hatten, die
das Land trocken hielten, bevor der Damm fertig war. Jeden Tag ließ er seine Monteure
hunderte von Kilometern mit hellblauen Schienenfahrzeugen voller Meßinstrumente über die
schmale Straße sausen, welche auf der Krone des Dammes entlang führte. In seinem Büro
wußte man so ziemlich alles, was man über diesen Damm wissen konnte.
Voder, du büst verrückt! sagte sein Sohn und wischte ärgerlich den Kaffee weg, den er
ausgeschwappt hatte.
Heins Schwiegertochter wärmte, wenn die Schwiegereltern kamen, gefrorene Fertigtorte in der
Mikrowelle auf. Mittags kombinierte sie Tütensuppen zu ausgefallenen Gerichten, denen
Heiner sich gerne durch Flucht zur Oma entzog. Sie hatte den Männern nicht zugehört, das
lohnte sich nicht und außerdem war sie müde, denn sie arbeitete nachts in einem Altenheim,
damit sie alle zusammen in den Urlaub fliegen konnten. Da sie jedoch ihren Schwiegervater
ohnehin für verrückt hielt, hätte sie dem Gatten nicht widersprochen.
Verrückt mog wol wesen, aber nich blind! beharrte der Alte...
Jeden Mittwoch legte Hein sein Ohr an den Puls der Zeit: Er ging zum Kiosk und kaufte sich
eine Zeitung. Davon warf er zwei Drittel sofort in den Papierkorb. Die Kleinanzeigen nahm er
mit nach Hause.
Disse lütjen Anzeigen , sagte der alte Hein, de vertellen di wat över dat wierkliche Läben!
Während billige Häuser ihren Preis behielten, kosteten Traumhäuser mit Pool, Sauna und drei
Garagen, nur noch halb so viel wie vor ein paar Jahren. Große, gesunde Höfe wurden
aufgegeben und an Erschließungsgesellschaften verhökert. Sogar ein ausgewachsenes Schloß
fand Hein, für nicht mal Hunderttausend!
Maria , rief er, kiek di dat an. Wat sechst du doa tau?
Maria kam, las und sagte: De Rrötten verlaten dat sinkende Schip!
So isst! sagte der alte Hein, Word nu ok Tied för us, wat to unnernäm.
Maria setzte Wasser auf, wärmte die blanke Teekanne vor, nahm je einen Löffel Tee für jede
Tasse und dann noch einen für die Kanne, goß wenig kochendes Wasser auf, und schloß den
Deckel der Kanne. Die dreieinhalb Minuten, welche der Tee ziehen mußte, hatte Maria im
Blut. Denk di , sagte sie, dröben hebt se nu Teebüdels. Pfui Deibel! sagte Hein.
Drüben , das war das Haus der jungen Leute. Dauernd sind die Abflüsse mit Teeblättern
verstopft , hatte der Sohn geklagt und die Schwiegertochter fand die Beutel ohnehin
praktischer. Maria legte große Kluntjes in die Tassen mit den Rosen, füllte die Kanne auf, goß
ein daß der Zucker knisterte, dann glitt die Sahne unter die goldbraune Oberfläche. Den Hof
aufzugeben kam nicht in Frage, darüber brauchten die beiden nicht zu reden. Sie brauchten
überhaupt nicht viel zu reden, denn die Lösung lag ja auf der Hand. Als Hein seinen Löffel in
die Tasse stellte, zum Zeichen, daß er nun keinen Tee mehr wollte, hatten sie beschlossen, ein
Boot zu kaufen, ein stabiles Boot, groß genug für die ganze Familie, eine Zeitlang darauf zu
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leben. Von jetzt an studierten sie die Kleinanzeigen gemeinsam. Weil Hein immer seine Brille
verlegte, wurde Maria vor ihm fündig. Sie hatte die Anzeige rot angestrichen:
Original Seenotrettungsboot
sehr viel Zubehör,kleine Mängel,
günstig zu verkaufen..Tel....
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Der alte Hein fragte ins Telefon: Wo grot sünd de lütje Fählers, - wat hört da noch noch to bi
dat Boot, - wo dür is günstig ?
Die Antworten setzen ihn in Bewegung.
Das Boot hatte eine stabile, stählerne Kajüte mit einer fest verschraubbaren Luke, einen
blankgeputzten, bulligen Dieselmotor und eine Menge Zubehör über dessen Nützlichkeit Hein
erst noch einiges lernen mußte. Schließlich war er Bauer und kein Seemann!
Mit Kühlwasser aus einem nahen Wassergraben und einer Traktorbatterie führte der
Verkäufer vor, wie leicht die Maschine ansprang und wie vertrauenerweckend sie bullerte.
Eigentlich, versicherte er wehmütig, fehle dem Boot nur ein bißchen Farbe. Er habe weit
damit reisen wollen, aber alles sei eben anders gekommen: Se weeten ja ,wo dat so geit...
wenn man jung ist, träumt man, und später richtet sich das Leben nicht danach... Wet ik
wol , sagte Hein. Er handelte den Preis nicht herunter, zahlte bar, hievte das Boot auf den
rostigen Sliptrailer, den er umsonst dazu bekommen hatte und zog es mit seinem grünen
Trecker nach Hause.
Auf dem Hof wurde das Schiff sorgsam entrostet und neuer Schutzanstrich gleich doppelt
aufgetragen. Danach pinselte er sein Boot geduldig an: Den Bootskörper strich er weiß und
die Reling blau, so wie den heimatlichen Himmel an schönen Tagen. Orange, wie die
untergehende Sonne, wurden das Kajütendach und die Plicht. Maria putzte das Messing der
Bullaugen spiegelblank.
Als er mit der Arbeit fertig und mit dem Ergebnis zufrieden war, grub er hinter der Scheune
ein zwei Meter tiefes Loch und schüttete es voll Beton. Auf diese Weise verankerte er eine
daumendicke eiserne Ringöse, an welcher er eine vierzig Meter lange Leine befestigte, die
dick genug gewesen wäre, einen Ozeanriesen zu halten. Das andere Ende der Leine band an
den Bug ihres Bootes, nachdem er es so sorgsam verkeilt hatte, daß es kerzengerade auf
seinem wuchtigen Kiel stand.
Unter dem nicht ganz aufrichtigen Protest seiner Frau in Wahrheit war sie ein bißchen stolz
- hatte er auf beiden Seiten Maria an den Bug gepinselt. Die Namenspatronin mußte das
Schiffchen in aller Form mit einer Flasche Sekt taufen. Der Sekt war ein Jubiläumsgeschenk
der Molkerei und schon ein paar Jahre alt, aber er spritzte noch sehr feierlich!
Zum Festtag hatte Hein das Boot mit Europafähnchen von der Bank über die Toppen geflaggt
und seine Nachbarn eingeladen. Bier gab s, Schnaps und Bratwurst.
Auch die ganz neuen Nachbarn kamen. Sehr Ungewöhnlicher Zuzug: Die riesige Limousine
mit der sie auf den Hof rollten, war mindestens so alt war wie Heins Trecker, funkelte aber,
als sei sie nagelneu. Allein für die Schuhe der Dame hätte Hein eine Kuh verkaufen müssen
und ihr Pelzmantel war offensichtlich unbezahlbar. Der Herr war in dunklem Blau erschienen,
trug einen breiten Hut und ertrug gnädig das Aufsehen, welches sein Wagen bei den übrigen
Gästen hervorrief. Diese Nachbarn waren nicht nur leutselig genug, vorsichtig in die
dargebotene Bratwurst zu beißen, sondern offenbar die einzigen, die das ganze Unternehmen
nicht komisch fanden.
Minister soll der Mann mal gewesen sein, flüsterte einer. Nein, das sei der Baulöwe aus dem
Süden, der, der damals schon den Damm gebaut hätte, und dem die ganzen Maschinen mit
dem M. gehören, den hätten sie doch sogar im Fernsehen gezeigt. Nein, der sah doch ganz
anders aus. So einer käm doch auch nicht zum spinnerten Hein zum Bratwurst essen...
Dabei hatte sich der Geheimnisvolle ordentlich vorgestellt: Markward - oder so ähnlich - es
hatte nur wieder keiner zugehört...
Als Hein und Maria den Abend später noch einmal alle Gäste durchgingen, erinnerte sich
Maria, daß er sehr blaß war und dunkle Ringe unter den Augen hatte.
Dieser Mann betrachtete die Maria mit kundiger Routine von allen Seiten, zeigte Hein einen
richtigen Seemannsknoten für die Vorleine und empfahl ihm, den Tank immer gefüllt zu
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halten: Dann kann sich kein Kondenswasser und kein Rost bilden. Und - schütten Sie ruhig
einen halben Liter Motoröl rein ist besser für die alten Düsen!
Hein war so beeindruckt von dem teuren Gast, daß er nicht nur neugierig wurde, sondern ihm
zu Ehren ins Hochdeutsche verfiel: Sind Sie nicht gerade erst hergezogen? Sie sehen nicht so
aus, als bliebe Ihnen nichts anderes übrig!
Sie kennen das ja! Wir alle würden vieles anders machen, wenn wir könnten wie wir
wollten , wich der Mann aus.
Hein überlegte kurz, dann antwortete er in seiner vertrauten Sprache. Ne! sagte er, Kenn ik
nich. Ik mok wat ik will!
Dazu gratuliere ich Ihnen! Das klang aufrichtig.
Als das Fest fröhlicher wurde und sich niemand mehr für ihn interessierte, kletterte Herr
Markwart, oder wie immer er hieß, ohne Rücksicht auf den teuren blauen Mantel ins enge
Innere des Schiffes.
Nachdem er die Luke von innen geschlossen hatte, löste er eine Planke am Boden und
verstaute ein offenbar für diesen Zweck vorbereitetes Paket. Bei dieser Gelegenheit fiel ihm
sein goldenes Feuerzeug, mit dem er sich geleuchtet hatte, zwischen die Spanten. Es war ein
Weihnachtsgeschenk seiner Frau. Auf der Seite war ein verschnörkeltes M. eingraviert. Wer
weiß, wem du mal Rätsel aufgibst , rief er seinem Feuerzeug hinterher.
Die Dichtung am Luk ist porös , berichtete er Hein nach der Inspektion. Ich habe
Beziehungen zu einer Werft. Ich sorge dafür, daß sich jemand darum kümmert. Außerdem
bestand er darauf, zum Dank für die freundliche Einladung, anderentags eine Erstausstattung
von geeigneten Dauerkonserven auf seine Kosten liefern zu lassen. Dann verabschiedete er
sich. Seine Frau stützte ihn, als sie zum Wagen gingen.
Tatsächlich fuhr schon zwei Tage später der Lastwagen eines Schiffsausrüsters vor und
lieferte 10 seefest verschweißte Kisten ab, ohne eine Rechnung vorzulegen. Außerdem
überreichte er eine nagelneue Seeangelausrüstung.
Noch in derselben Woche tauchte ein Spezialist auf, der sämtliche Dichtungen erneuerte. Er
blieb zwei Tage, machte weder vor dem Motor halt noch vor den Lenzpumpen und winkte ab,
als er fertig war und Maria besorgt nach dem Preis fragte, alles sei schon bezahlt.
Versteist dat? fragte Hein seine Maria.
Ne! sagte die.
Abends, als sie im Dunkeln nebeneinander lagen, sagte sie dann noch: Dat is en unheimlich
Täken!
Von da an schliefen Hein und seine Frau, wenn Sturm von See aufkam, auf der Maria .
Ihr Sohn und seine Frau lachten, wenn sie die Alten mit ihrem Seesack voller Habseligkeiten
vor dem Wind über den Hof hasten sahen. Der alte Hein sagte nichts mehr dazu - aber Maria
wiederholte jedes mal: Junge, din Voder weet wat he deit. Kummt doch lever mit an Boord!
Die beiden richteten sich häuslich ein, wie gewöhnlich tranken sie jeder zur Nacht drei
Täßchen starken Tee. Wie ein Eisberg ragte der Zuckerbrocken hervor und mit jedem Schluck
verlor das Getränk von seiner Bitterkeit. Immer wieder freuten sie sich auf auf den süßen Rest
mit der Sahne. Dann krochen sie in ihre Kojen und achteten nicht mehr darauf, wie der Wind
draußen heulte und pfiff.
Der kleine Heiner mochte damals vielleicht vier oder fünf Jahre alt sein. Er löcherte seine
Eltern so lange, bis sie erlaubten, daß er in stürmischen Nächten bei Opa und Oma auf der
Maria schlafen durfte.
Heiner beobachtete, wie der Alte das Schott von innen verschraubte und sich dann zufrieden
hinstreckte.
Opa, warum hast du die Maria angebunden?
Dat se nich wegschwemmen deit!
Aber hier ist doch gar kein Wasser.
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Na ja, wat nich is, kann ja noch worn, nich? lächelte der Opa, schlop du man, ik denk, ik
hev an allens dacht.
Aber wenn das Wasser kommt, was wird dann aus Papa und Mama?
Ward all nich komm.
Maria ertrug nicht, wie der Enkel schweren Tadel schwieg gegen die faule Ausrede des Alten.
Se wer nt int Fernsehn wiesen, un de Sireen wern hulen. Denn künnt din Olln ja noch flink
bi us instiegen , versuchte sie zu trösten.
Der Junge blickte vorwurfsvoll auf das rot gestrichene Handrad, mit dem der Großvater
gerade das Einstiegsluk dichtgeschraubt hatte.
Opa, Papa sagt, du spinnst.
Un Heiner, wat meenst, spinn ik? Der Alte hielt den Kopf schief und zog ein blödes
Gesicht.
Heiner lachte nicht: Du weißt doch, daß sie es nie schaffen würden!
Na, denn dütt dat eben nich passiern. Schlop jetz, Jungchen.
Der Alte stand auf, so gut das in der niedrigen Kajüte möglich war, und deckte seinen
einzigen Enkel zu. Schließlich ging er aber doch noch zum Luk und löste das Handrad einige
Umdrehungen: Is so beter?
Der kleine Heiner nickte dankbar.
Als es dann doch geschah, schliefen die Fernseher längst und die Sirenen sagten keinen Ton.
Stumm ertranken die Menschen und das Vieh, seine Eltern sah Heiner nie wieder. In der
Maria stand das Wasser einen halben Meter hoch, weil das Einstiegsluk nicht fest
geschlossen war, als die gewaltige Flutwelle versucht hatte, das Boot zu erdrücken.
Die Springflut im November des Jahres 2036 hatte sich nicht damit aufgehalten, allmählich
über den Damm zu klettern. Offenbar war das Bauwerk gleichzeitig auf breiter Front
zusammengebrochen. Auf der schäumenden Welle ritten Bäume, Autos, halbe Dächer,
entsetzte Kühe und zahllose Menschen gesehen hatte das niemand, denn die Neumondnacht
war stockfinster.
Heins Wohnhaus knickte sofort ein, als es von der Flut getroffen wurde. Einen Moment lang
sah es so aus, als würde der Giebel auch die Maria unter sich begraben. Aber das Tau war
lang genug. Die Welle riß das Boot hoch, und die Trümmer rasten unter ihm hindurch.
Hein hatte in all dem Toben, Krachen und Heulen das Handrad zu fassen gekriegt, obwohl es
ihm zuvor gegen den Schädel gesprungen war, daß man es mitten im Lärm knallen hörte.
Glücklicherweise war sein Kopf aus Eisen. Darum war er nicht einfach zerplatzt wie ein
Kürbis. Drehung für Drehung wurde der Wasserfall schwächer.
Das Seil war nicht gerissen und auch die Knoten hatten gehalten. Mit einer dicken Beule am
Kopf machte der alte Hein die Lenzpumpen klar.
Nach all den trockenen Jahren tanzte die Maria den Rest der Nacht ausgelassen auf der wild
gewordenen See.
Als es Morgen wurde, freute sich die aufgehende Sonne über einen neuen, blitzblanken
Spiegel.
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