Wie sag ich

04.12.2010
Wie sag ich’s einem Jugendlichen?
Beim Forum 2010 im Nürtinger Lehrerseminar ging es um verschiedene
Jugendmilieus und wie man sie am besten ansprechen kann
„Die Kunst, einen Kaktus zu umarmen“ heißt ein bekannter Ratgeber
für Teenager-Eltern. Lehrer haben gleich einen Kakteen-Wald vor
sich. Um der Frage auf den Grund zu gehen, wie heutige
Jugendliche ticken und wie man zu ihnen durchdringt, lud das Nürtinger
Lehrerseminar Dr. Marc Calmbach, den Autor einer Studie über Jugendmilieus,
ein.
VON BARBARA GOSSON
NÜRTINGEN. Calmbach, der Studienleiter der Abteilung Sozialforschung beim
Institut Sinus Sociovision ist, war der Referent des Forums 2010 zum Thema
„Wie ticken Jugendliche“. Er ist Autor einer Studie, in der 14- bis 19-Jährige in
verschiedene Milieus unterteilt werden. Dass eine solche Einteilung sinnvoller
sein kann als die reine Betrachtung von nackten Daten, belegte Calmbach mit
dem Beispiel von zwei Herren, die beide 1948 in Großbritannien geboren
wurden, wohlhabend und verheiratet sind und erwachsene Kinder haben,
deren Lebensstil aber unterschiedlicher nicht sein könnte: Prinz Charles und
Ozzy Osbourne.
Calmbachs renommiertes Institut macht seit 30 Jahren eine Vielzahl dieser MilieuStudien. Nun hat es sich der Lebenswelten Jugendlicher angenommen. Um diese zu
ermitteln, führten Jugendliche Tagebücher, in denen sie ihre Vorbilder, ihr Verhältnis
zu Religion und Politik, ihre Musik, die Einrichtung ihres Zimmers und das, was für
sie den Sinn des Lebens ausmacht, festhalten sollten. Soziale Lage, Lebensstil und
Werte werden dann in Bezug zueinander gesetzt.
Zunächst räumte der Soziologe mit einem Vorurteil auf: „Es gibt eine Pluralität der
Werte, aber keinen Werteverlust.“ Die Jugendlichen seien aufstiegsorientiert, ihre
Zukunftsangst äußere sich nicht in Auflehnung, sondern in Leistungs- und
Familienorientierung.
Es seien nicht mehr die Eltern, gegen die Jugendliche sich abgrenzen wollen,
sondern andere Gleichaltrige. Die „jungen Alten“, die dieselbe Musik hören und
dieselbe Kleidung tragen, werden zur Konkurrenz, die die kulturellen Freiräume der
Jugendlichen einengen. Die Zeit der großen Jugendkulturen sei vorbei, die
Jugendszene splittet sich auf in Mikrokulturen. Eine verlässliche Zuordnung von
Zeichen zu ideologischen Inhalten sei gar nicht mehr möglich, ein gutes Beispiel
dafür sei das Palästinensertuch, das früher nur von Linken getragen wurde, heute
auch von Rechten oder als modisches Accessoire ohne Hintergrund.
Die Jugendlichen sozialisieren sich selbst, gegenüber dem Freundeskreis verlieren
Schule, Familie oder Kirche an Einfluss. „Die Identität wird zu einer Bastelarbeit.
Damit ist ein Druck zur individuellen Lebensführung verbunden“, verdeutlicht
Calmbach.
Durch seine Befragungen hat Calmbach sieben Milieus ausgemacht, die einander
überlappen. Die Grafik sieht aus wie ein Mengenlehre-Diagramm. Calmbach stellte
die einzelnen Milieus anhand einer Bildcollage und mit einem Zusammenschnitt der
dort gerne gehörten Musik vor.
Nur vier Prozent der Jugendlichen werden dem traditionellen Milieu zugeordnet.
Diese Jugendlichen finden die Welt der Erwachsenen ganz in Ordnung und passen
sich ihr an. Exzentrisches ist ihnen fremd. Während sie von anderen als langweilig
empfunden werden, wünschen sie sich, dass jeder so akzeptiert wird, wie er ist.
Zu den bürgerlichen Jugendlichen zählen 14 Prozent. „Das sind die Stinknormalen,
die daran interessiert sind, ihre Zukunft zu sichern“, erläutert Calmbach. Ihre Musik
sind die Charts.
Oft in sozial prekären Verhältnissen leben konsummaterialistische Jugendliche, die
11 Prozent ausmachen. Sie erleben die Schule oft als Ort des Scheiterns, deshalb
bemühen sie sich, an der Gesellschaft über Konsum und Statussymbole teilzuhaben.
Ihre Vorbilder seien solche, die es auch ohne Bildung mit Musik oder Sport zu
Wohlstand gebracht haben. Da Bildung vom Herkunftsmilieu entfremde, werde sie oft
mit Misstrauen betrachtet.
Die größte Anzahl der Jugendlichen, nämlich 26 Prozent, werden den Hedonisten
zugerechnet. Sie richten ihre Zimmer unkonventionell ein, gehören einer der vielen
Mikroszenen an und planen ihr Leben nicht am Reißbrett. „Ihre Widerspenstigkeit
zeigt sich im Schrillen.“
Fast nur Gymnasiasten gehören zu den postmateriellen Jugendlichen, die sechs
Prozent ausmachen. Sie haben ein starkes politisches Bewusstsein und streben oft
die Meinungsführerschaft an. Spiritualität und soziale Gerechtigkeit haben einen
hohen Stellenwert für sie.
Die pragmatisch orientierte junge Nachwuchselite, die 25 Prozent der Jugendlichen
umfasst und Performer genannt wird, hat hohe Qualitäts- und Markenansprüche.
Kulturell seien sie Allesfresser und fühlen sich auf dem Oktoberfest genauso zu
Hause wie im Club oder in der Oper. Dynamisch, flexibel und hart haben sie die
Werte der Globalisierung verinnerlicht.
Gar keine festen Lebensmodelle haben die Experimentalisten, zu denen 14 Prozent
zählen. Sie eint die Suche nach Aura und Authentizität, ihre Zimmereinrichtung
strahlt Flüchtigkeit aus, ein totaler Neuanfang, egal auf welchem Gebiet ist für sie
sehr attraktiv, was sich auch auf ihr Beziehungsverhalten auswirkt.
Wie begeistert man Jugendliche für politische Themen?
Calmbach ging näher auf die Konsummaterialisten ein, da viele von ihnen unter den
Schülern der angehenden Grund- und Hauptschullehrer sind. Er versuchte, ihnen
Wege aufzuzeigen, wie man mit diesen Jugendlichen ins Gespräch kommen kann.
Zum Beispiel über Politik. Zwar haben diese Jugendlichen ein negatives Politikbild
und verhalten sich passiv, geht es jedoch um Themen wie soziale Ungerechtigkeit
oder konkrete Angelegenheiten im nahen Umfeld, zeigen sie sich engagiert und
interessiert. Politik lasse sich deshalb nur ohne offenkundigen Bezug zur
institutionalisierten Politik thematisieren. Für die Kirche gelte Ähnliches: der
Amtskirche fehlt der Erlebnischarakter, die Jugendlichen wollen eingeladen sein und
sich wohlfühlen.
Aufmerksamkeit für sie von Pädagogenseite gebe es erst, wenn etwas schief läuft.
„Wir werden wie beschädigte Dinge behandelt“, sagte ein Junge in einem von
Calmbachs Interviews. Das empfinden viele dieser Jugendlichen als distanzlos,
herrscht unter ihnen doch das Ideal der Härte.
Eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Pädagogen und Schülern scheitere
manchmal daran, dass beide völlig unterschiedlichen Milieus angehören: „Wie wird
man ein attraktiver Gesprächspartner, auch bei Problemen? Wie vermeidet man es,
vorbewusst durch sein Verhalten Signale der sozialen Abgrenzung zu senden?“ –
das seien Fragen, die sich die jungen Pädagogen stellen sollten.
„Wir wollen Gräben in der Gesellschaft nicht nur identifizieren, sondern auch helfen,
sie zuzuschütten“, schloss Calmbach. Ein Auftrag, den viele Pädagogen auch für
sich an den Schulen sehen.
Dr. Marc Calmbach hat erforscht, wie Jugendliche ticken. bg