Was ist Glas - TU Ilmenau

Technische Universität Ilmenau
Institut für Werkstofftechnik
Fachgebiet: Anorganisch-nichtmetallische Wertstoffe
Oktober 2012
Versuch 5.1: hydrolytische Beständigkeit von Gläsern
„Glas“ bezeichnet eine Vielzahl von Werkstoffen, die im glasigen Zustand vorliegen. Im
nachfolgenden werden ausschließlich silikatische Gläser betrachtet.
Glas ist ein vielfältiger Werkstoff. Dessen Anwendungsbereich erstreckt sich vom täglichen
Gebrauchsglas, über Spezialgläser (Sicherheitsglas, Glas für Beleuchtungen, etc.) bis hin zur
Verwendung als Dämmmaterial und Mikroreaktoren sowie in Sensoren, Sonnenkollektoren
und Solarzellen. Die Zusammensetzung des Glases wird bezüglich der gewünschten
Eigenschaften und der Umgebungsbedingungen des Einsatzortes entsprechend variiert. Ein
wichtiger Aspekt ist die Lebensdauer und Korrosionsbeständigkeit des Glasmaterials. In
Abhängigkeit vom angreifenden Medium existiert eine Vielzahl von Methoden zur
Bestimmung der Korrosionsbeständigkeit. Die Beständigkeit des Glases gegenüber Wasser
wird über das Grieß-Titrationsverfahren (DIN 719) bestimmt.
Der Unterschied zwischen Kristall und Glas
Im physikochemischen Sinne versteht man unter Glas einen Feststoff mit der Struktur einer
eingefrorenen, unterkühlten Flüssigkeit.
Anhand des Vergleichs zwischen Quarz (kristallines SiO2) und Kieselglas (nicht kristallines
SiO2) soll kurz der strukturelle Unterschied zwischen Kristall und Glas erläutert werden.
Im Kristall bilden Kationen und Anionen ein regelmäßiges Gitter. Es existiert sowohl eine
Nah- als auch eine Fernordnung. Unter der Nahordnung versteht man, dass innerhalb einer
Struktureinheit die gleichen Bindungslängen, als auch -winkel existieren (SiO2-Tetraeder).
Wenn durch Aneinanderreihung von Elementarzellen ein kontinuierlicher, regelmäßiger
idealer Kristall erhalten werden kann, wird dies als Fernordnung bezeichnet.
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Im Falle des Kieselglases besteht lediglich eine Nahordnung, wegen kleiner Abweichungen
von idealen Bindungsverhältnissen jedoch keine Fernordnung (Abb. 1).
Quarz
Kieselglas
Abb. 1: Darstellung der strukturellen Unterschiede von Quarz und Kieselglas
Man unterscheidet zwischen Netzwerkbildner und Netzwerkwandler. Netzwerkbildner
können alle Bedingungen nach Zachariasen erfüllen [2]. Hierbei handelt es sich um
Verbindungen der Form R2O3, RO2 und R2O5. Dazu zählen zum Beispiel B2O3, SiO2 und P2O5.
Diese können eigenständig Glasnetzwerke bilden.
Netzwerkwandler modifizieren das Netzwerk, können aber eigenständig kein Netzwerk
bilden. Zu ihnen zählen Alkali- und Erdalkalioxide. Durch deren Zugabe werden ≡Si-O-Si≡
Bindungen gespalten (Gl. 1).
≡Si-O-Si≡ + Na2O → ≡Si-O- Na+ + Na+ + -O-Si≡
So entstehen aus Brückensauerstoffatomen Trennsauerstoffatome („NBO“).
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(Gl. 1)
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Das nachfolgende Bild (Abb. 2) zeigt die strukturelle Veränderung durch den Einfluss von
Netzwerkwandlern.
Abb. 2: Einfluss von Netzwerkwandler und Netzwerkbildner auf die Glasstruktur (- : Bindung mit vorwiegend
kovalenten Charakter;
- : Bindung mit vorwiegend ionischen Charakter, roter Punkt: NBO)
Die hohe chemische und physikalische Beständigkeit zählt mit zu den wichtigsten
Eigenschaften der Gläser und ermöglicht einen großen Anwendungsbereich. Trotzdem sind
Silicatgläser nicht vollständig inert, alle SiO2-Modifikationen weisen eine geringe Löslichkeit
in Wasser auf.
Unter Korrosion versteht man die von der Oberfläche ausgehende Veränderung der
Eigenschaften im negativen Sinne durch chemische oder elektrochemische Reaktion mit
ihrer Umgebung [7]. Diese Glaskorrosion ist von der jeweiligen Zusammensetzung, der
Vorgeschichte und der Oberfläche des Glases sowie von dem angreifenden Lösungsmittel,
seiner Temperatur und Einwirkzeit abhängig.
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Ein Überblick zu den Reaktionen zwischen Wasser und Glas
Die Reaktion des Glases mit Wasser ist komplex. Man kann die Prozesse in auflösende und
auslaugende Reaktionen unterteilen. Entsprechend des chemischen Gleichgewichts (Gl. 2)
von Wasser liegen in der Lösung Protonen, Hydroxidanionen sowie Wassermoleküle vor. Mit
diesen reagieren die Glasbestandteile.
H3O
2 H2O
+
+
HO
(Gl. 2)
-
Glas besteht aus einem Si-O-Netzwerk, dessen Hohlräume mit Netzwerkwandlerionen gefüllt
sind (Abb. 2). Im Falle eines Kalk-Natron-Glases befinden sich in den Hohlräumen Ca2+ und
Na+-Ionen. Diese können, unter Berücksichtigung der Elektronneutralität, zwischen den
Hohlräumen wandern und in die umgebende Lösung diffundieren. An der Grenzfläche
zwischen Glas und Lösungsmittel-Grenzfläche wird ein Ionenaustausch zwischen den
Kationen der Netzwerkwandler und den Protonen der Lösung beobachtet (Gl. 3).
OR
RO
RO
OR
Si
-
+
O Na
+
H3O
+
RO
RO
Si
OH
+
+
Na
+
H2O
(Gl. 3)
R : unendlich fortschreitendes Si-O-Netzwerk
Mit fortschreitender Zeit verarmt das Glas an Alkalien, während Protonen und Wasser in die
Hohlräume eingelagert werden. Man spricht daher auch von einer Auslaugung des Glases.
Es kommt zur Bildung von Silanolgruppen unter Ausprägung einer Gelschicht (Abb. 3). Unter
Gel versteht man eine feste Phase, die von einer flüssigen Phase durchdrungen ist.
OR
RO
RO
Si
+
OR
OR
Katalysator:
OH
RO Si
H2O
OH
RO
4
+
ROH
(Gl. 4)
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In kleinen geschlossenen Systemen mit einem geringen Verhältnis von Wasservolumen zu
Glasoberfläche reichert sich mit fortschreitender Zeit OH- in der Lösung an, der pH-Wert
steigt. Der „alkalische Angriff“ verursacht eine Auflösung des Silicatgerüstes unter Bildung
Glasoberfläche
wässrige Lösung
von Kieselsäure (Gl. 4, Abb. 3).
2 H2O
2 H2O
4 H2O
+
+
2 Na
2 HO
-
+
O
RO
-
2H3O
+
Na
Si
O
+
-
+
2 HO
HO
-
-
+ H3O
RO
+
Na
OR
Si
OR RO
O
O
OR RO
Si
OR Si OR
RO
O Si O
RO
Si
O
+
+
+
+
+
+ 2Na
+ HO
-
HO
-
+
H3O
+
+ 2 Na+ HO
+ H2O
OH
HO Si OH
RO
ROH
-
HO
OH
HO
OH
+
OR
+
OR HO
H3O
H3O
Si
Si
Si
OR RO
OR RO
O
O
O
+
+
H3O
H O
HO
H3O
O
-
3
R
R
H3O
+
RO
+
R
+
2 Na
HO
2 H2O
OH
HO Si OH
HO
ROH
RO
OR
Si
H3O
O
HO
H3O
-
+
+
R
OR
Auflösung ~ t
Auslaugung ~ t1/2
Abb. 3: Mechanistische Darstellung des Wasserangriffes an der Glasoberfläche
Nach Hench [3] werden Gläser anhand ihrer Oberfläche nach dem Angriff durch Wasser
eingeteilt. Zu Typ 1 zählen inerte Gläser, wie zum Beispiel Kieselglas. Nach dem Säureangriff
besitzen die Gläser des Typ 1 eine unveränderte Oberfläche. Bildet sich während der sauren
Extraktion durch selektives Auslaugen eine Si-reiche Gelschicht, die als Passiverungsschicht
dient, werden diese Gläser zum Typ 2 gezählt. Wird neben einer Si-reichen Gelschicht eine
weitere gebildet, z. B. eine Al-reiche Schicht, gehören diese Gläser zum Typ 3. Beide
Schichten wirken als Passivierungsschicht.
Parallel dazu kann eine geringe Auflösung stattfinden. Die Gelschichtbildung ist jedoch
schneller und läuft als Front vor der Auflösung her. Bei Typ 5 Gläsern ist es umgekehrt: die
Auflösungsrate ist schneller als die Schichtbildung. Typ 4 bildet eine ausgelaugte, jedoch
nicht passivierende Schicht.
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Abb. 4: Einteilung der Gläser nach Hench [3], [8]
Die Korrosionsbeständigkeit von Gläsern kann durch die Beimengungen von Fremdsalzen,
Metallspuren und organischen Verbindungen sowie atmosphärische Verunreinigungen
beeinflusst werden.
Die Bildung von schwerlöslichen Verbindungen (Abb. 4) führt zur Ausprägung einer
Schutzschicht die dem auflösenden und auslaugenden Angriff entgegen wirkt (z.B.: Ca-SiHydrat-Phasen [CSH], CaOH2, Gips).
CO 2
SO2
CO 2
SO2
HO
-
HO
H2O
-
+
+
2+
H Ca
Wasser
Ca
+
H
Gelschicht
Na
2+
HO
-
2+
Ca
H2O
+
Na
HO
CaSO4
Na 2SO3
H
+
Na
Ca
H
+
Na
Abb. 5: Ausprägung der Gelschicht und Bildung von schwerlöslichen Verbindungen
6
Na 2HCO 3
+
+
2+
Ca
-
+
Na HO-
Ca(OH) 2
+
2+
Ca
+
Glas
Na
2+
+
H
CO 2
SO2
Luft
H
2+
Ca
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Des Weiteren gilt, je größer die Bindungsstärke der Kationen und der Netzwerkwandler ist,
desto geringer ist die Löslichkeit des Glases. So besitzt Ba eine größere Bindungsstärke als Zn
und zeigt damit eine erhöhte Wasserbeständigkeit:
Zn < Mg < Ca < Pb < Sr < Ba.
Das Silicatnetzwerk kann weiterhin durch den Einbau von Fremdatomen wie z. B. Al, Pb, Zr,
Sn etc. stabilisiert werden.
Durch salzhaltige Lösungen wird dagegen eine Steigerung der Auflösegeschwindigkeit
beobachtet. LiCl, NaCl und KCl kompensieren die negative Ladung der gelösten Si-Anionen in
der wässrigen Lösung und erhöhen somit deren effektive Löslichkeit.
Organische Verbindungen wie Citrate, Oxalate, Gluonat, oder EDTA bilden stabile Komplexe
mit Kationen und erhöhen die Diffusionsgeschwindigkeit der Kationen. Die Auslaugung des
Glases wird gesteigert. Die nachfolgende Abbildung zeigt den Einfluss der Elemente auf die
Korrosionsbeständigkeit von Gläsern.
Abb. 6: Einfluss der Elemente auf die Beständigkeit von Gläsern (blau: kein Einfluss nachweisbar, rot: hemmt
Netzwerkauflösung, gelb: zunächst Netzwerkauflösung durch Bildung von Salzen wird nachfolgend die
Netzwerkauflösung verringert, grün: fördert Netzwerkauflösung)[6].
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Die hydrolytische Klasse
Um die Korrosionsbeständigkeit und damit die Lebensdauer des Glases zu bestimmen,
existieren eine Vielzahl an Untersuchungsmethoden und DIN-Normen. Während bei der
Bestimmung der Säure- und Laugenbeständigkeit anhand des Masseverlusts eines
Glaskörpers Aussagen über den Oberflächenzustand des Glases getroffen werden können,
ermöglicht die Bestimmung der hydrolytischen Klasse die Charakterisierung von
Volumeneigenschaften des Netzwerks. Dadurch werden Einflüsse durch die Vorbehandlung,
wie zum Beispiel Ablagerungen oder Zersetzungen an der Oberfläche, nicht berücksichtigt.
Innerhalb dieses Praktikumsversuchs soll die Wasserbeständigkeit des Glases über das GrießTitrationsverfahren (DIN: 719) bestimmt werden. Anhand der Menge an ausgelaugten
Alkalien soll die hydrolytische Klasse des Glases bestimmt werden (Tab. 1).
Tab. 1: Einstufung des Glases in die Wasserbeständigkeitsklassen nach dem Salzsäureverbrauch und
abgegebener Menge an Alkali [4].
Bitte informieren Sie sich eigenständig im Vorfeld über die Durchführung des Versuches
und mögliche Gefahrstellen.
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Aufgabenstellung:
Bestimmen sie die hydrolytische Klasse eines ausgewählten Glases nach der DIN 719 anhand
des Säureverbrauchs
Gruppe A: ohne Vorreinigung
Gruppe B: mit Vorreinigung
Berechnen Sie das Äquivalent an Alkali und vergleichen Sie die Ergebnisse der Gruppe A und
B miteinander. Nennen Sie mögliche Ursachen für die Unterschiede.
Versuchsvorbereitung:
1. Informieren Sie sich über mögliche Gefahrenstoffe (z.B. HCl) und deren Umgang
2. Eigenständige Erarbeitung der Durchführung nach DIN 719
3. Wie kann eine 0,1 M HCl Stammlösung hergestellt werden (1 L Maßkolben, dest.
H2O, 10 M HCl)?
4. Vorbereitung der Messwerttabellen
Kontrollfragen:
1. Welche strukturellen Unterschiede existieren zwischen Glas und Kristall? Nennen Sie
mögliche Ursachen.
2. Erläutern Sie den Angriff des Glases durch Wasser, Säure und Lauge.
3. Warum muss der Glasgrieß eine definierte Korngröße aufweisen?
4. Welche Probleme und Störfaktoren treten bei der Bestimmung der hydrolytischen
Klasse auf?
5. Erläutern Sie die Entfärbung von Methylenblau.
6. Nennen Sie Glasbeispiele für die einzelnen hydrolytischen Klassen. Wo müssen
Gläser der hydrolytischen Klasse 1 verwendet werden?
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Weiterführende Literatur zum Thema
[1]
H. Scholze, Journal of Non-Crystalline Solids, 102, (1988) 1-10
[2]
H. Scholze, Glas (Natur, Struktur, Eigenschaften), 3 Auflg., Springerverlag, Berlin,
(1988) 305 ff.
[3]
L. Hench, D. Clark, Journal of Non-Crystalline Solids, 28, (1978) 83- 105
[4]
DIN ISO 719, Wasserbeständigkeit von Glasgrieß bei 98 °C
[5]
H. Roggendorf, F. Syrowatka, J. Trempler, Phys. Chem. Glasses: Eur. J. Glass Sci.
Technol. B, 51 (6), (2010) 318-322
[6]
A. Hochmuth, Kationische Einflüsse auf Silicatauflösung und –Kondensation, Institutskolloquium, TU Ilmenau (2011)
[7]
M. Merkel, K.-H. Thomas, Taschenbuch der Werkstoffe, Fachbuchverlag Leipzig,
6. Auflg., Leipzig (2003)
[8]
E. Rädlein, Vorlesung, Schichten auf und aus Glas, TU Ilmenau (2012)
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