Lenins Werk „Was tun?“ und Fragen des Klassenbewusstseins heute Vortrag von Willi Gerns bei der Masch Bremen, 1.12. 2010 Liebe Freunde der MASCH, Genossinnen und Genossen!, Seit der Erstveröffentlichung von Lenins Werk „Was tun?“ im März 1902 sind mehr als hundert Jahre vergangen. In dieser Zeit haben sich grundlegende Veränderungen in der Welt vollzogen. Das wirft die Frage auf: kann uns diese Schrift für die heutigen Bedingungen noch Wichtiges sagen? Ich möchte sie mit einem eindeutigen „Ja“ beantworten. Selbstverständlich enthält „Was tun?“ zeitbedingte und auf die damalige Situation in Russland zugeschnittene Aussagen, die heute nicht mehr relevant sind. Einige der „brennenden Fragen unserer Bewegung“ – so der Untertitel der Schrift – und die dazu formulierten Kernthesen Lenins sind meiner Überzeugung nach jedoch für Sozialisten und Kommunisten heute nicht weniger brennend als damals. Ich denke dabei an seine Aussagen über das Wesen des Bernsteinianertums, einer von Eduard Bernstein und seinen Anhängern in Deutschland ausgehenden ideologischen Strömung, die sich zu jener Zeit immer mehr in der internationalen Sozialdemokratie ausbreitete und im weiteren zu deren Spaltung in einen reformistischen Flügel, der seinen Frieden mit dem Kapitalismus machte, und einen revolutionären kommunistischen Flügel. Die in diesem Zusammenhang geäußerten Gedanken Lenins über das Verhältnis von Reform und Revolution, von ökonomischem und politischem Kampf, über die Bedeutung der revolutionären Theorie für die Arbeiterbewegung und andere scheinen mir mit Blick auf die gegenwärtigen programmatischen Diskussionen in den linken Parteien unseres Landes durchaus aktuell zu sein. Für besonders aktuell halte ich angesichts der tiefen Krisenerscheinungen des heutigen Kapitalismus aber die Aussagen zum Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse. Die Krise stellt wieder drängender als noch vor Jahren die Frage nach einer Alternative zum Kapitalismus und den zu ihrer Durchsetzung notwendigen Kräften. Der Marxismus sieht die entscheidende Kraft im Kampf um die Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus in der Arbeiterklasse. Da es über den Begriff Arbeiterklasse und ihre Rolle in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen viel Wirrwarr in den Köpfen gibt, möchte ich zunächst versuchen, dieses Durcheinander mit Hilfe der Aussagen der marxistischen Klassiker zu entwirren damit wir verstehen wovon die Rede ist. Marx und Engels haben die Arbeiterklasse als diejenige Klasse der kapitalistischen Gesellschaft definiert, die frei von Produktionsmitteln, gezwungen ist, ihre Arbeitskraft an die kapitalistischen Eigentümer der Produktionsmittel zu verkaufen und von diesen ausgebeutet wird. Lenin hat davon ausgehend, in seinem Aufsatz „Die große Initiative“ eine ausführlichere Definition formuliert. Er schreibt dort: „Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen sich die eine die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft. (Lenin 29, S.410) Zur Arbeiterklasse gehören danach diejenigen, die frei von Produktionsmitteln gezwungen sind ihre Arbeitskraft an die Besitzer der Produktionsmittel zu verkaufen und von diesen ausgebeutet werden; die in den Unternehmen nicht auf der Kommandobrücke stehen sondern kommandiert werden; die ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum durch ihrer eigenen Hände und Köpfe Arbeit erwerben und deren Anteil nur so groß ist, dass sie immer aufs Neue gezwungen sind ihre Arbeitskraft an die Eigentümer der Produktionsmittel zu verkaufen. Wenn man von dieser Definition ausgeht, gehört heute zur Arbeiterklasse nicht nur die Industriearbeiterschaft, sondern auch die große Mehrheit der Angestellten und damit in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern der weitaus größte Teil der Gesellschaft. Das war in der Geschichte des Kapitalismus nicht immer so. In der kapitalistischen Frühzeit waren die Angestellten eine von der eigentlichen Arbeiterklasse abgehobene gesellschaftliche Schicht. Sie hatten gegenüber den Industriearbeitern eine deutlich privilegierte Stellung. Der Anteil der Angestellten an den Lohn- und Gehaltsabhängigen hat in den letzten Jahrzenten den der Industriearbeiter immer mehr übertroffen. Das hat jedoch das besondere Gewicht der Industriearbeiterschaft für den Klassenkampf in keiner Weise geschmälert. Sie sind im Zentrum des kapitalistischen Produktions- und Profiterzeugungsprozesses tätig, zu einem beträchtlichen Teil in den großen Konzernunternehmen zusammengeballt, nach wie vor am besten gewerkschaftlich organisiert und verfügen über die größten Erfahrungen in gewerkschaftlichen Kämpfen. Zugleich erhalten aber auch bestimmte Angestelltengruppen für Streiks und andere Klassenkämpfe wachsende Bedeutung angesichts ihres Platzes an solchen neuralgischen Punkten des heutigen Kapitalismus wie dem Bankwesen, an zentralen Stellen der Komputervernetzung usw. Ihre Rolle in den heutigen Klassenauseinandersetzungen und erst Recht im Kampf um die Überwindung des Kapitalismus durch ein von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen freie Gesellschaft vermag die Arbeiterlasse aber nur dann zu erfüllen, wenn sie – wie Marx es nennt, aus einer „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ wird, mit anderen Worten, wenn sie sich ihrer Situation als ausgebeutete Klasse bewusst wird und erkennt, dass sie sich aus dieser Lage nur befreien kann , wenn sie gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, deren Interessen mit denen des Kapitals kollidieren, die politische Macht erobert und die wichtigsten Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum überführt werden. Das war zu jener Zeit als Lenin seine Schrift „Was tun?“ verfasste, nicht anders. Fragen der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse stellte er darum ins Zentrum von „Was tun?“. Dabei müssen die Aussagen Lenins zu dieser Problematik selbstverständlich heute auf eine Arbeiterklasse bezogen werden, die sich – vor allem in den entwickelten kapitalistischen Ländern – in Struktur, Arbeitsbedingungen, Lebensweise und Lebensstandard, technischer und Allgemeinbildung sowie in ihrem Bewusstsein wesentlich von der russischen Arbeiterklasse am Anfang des vorigen Jahrhunderts unterscheidet. Die grundlegenden Klassenmerkmale sind jedoch geblieben. Nach Lenin gibt es elementare und höhere, mehr Einsicht und Wissen erfordernde Klassenerkenntnisse. Wenn ein Arbeiter oder Angestellter nur einfach Wut auf die Konzernbosse hat, die den Betrieb schließen und ihn wie Abfall auf die Straße werfen, er sich aber unter der Devise „man kann ja doch nichts machen“ mutlos in sein Schicksal ergibt – eine Reaktion, die heute weit verbreitet ist und auf deren Ursachen ich im zweiten Teil meiner Ausführungen eingehen werde -, so ist das noch kein Klassenbewusstsein, das ja, wie schon das Wort ausdrückt, mit Wissen, mit Einsichten zusammenhängt. Was sich bei ihm regt, ist eher ein dumpfes Klassengefühl. Wenn dagegen um die Arbeitsplätze gekämpft wird und die Interessen von Belegschaft einerseits, Aktionären und Bossen andererseits aufeinander prallen, können sich aus den Erfahrungen des Kampfes - wie in anderen Klassenkämpfen auch - durchaus spontan Einsichten darüber herausbilden, dass Arbeit und Kapital gegensätzliche Interessen haben und dass Forderungen der Arbeiter und Angestellten nur im solidarischen und organisierten Handeln gegen die Kapitalisten durchgesetzt werden können. Lenin nennt solche elementaren Klassenerkenntnisse „trade-unionistisches“, nur gewerkschaftliches Bewusstsein und bezeichnet das spontane Element als Keimform der Bewusstheit. Allerdings lehren die Erfahrungen, dass solche Keimformen der Bewusstheit nach Beendigung des Kampfes unter dem Trommelfeuer der bürgerlichen Medien und anderer Kanäle der bürgerlichen Ideologie auch ebenso schnell wieder verschüttet werden, wenn sie nicht durch die bewusstseinsbildende Arbeit von sich an der sozialistischen Theorie orientierenden Gewerkschaftern, von Sozialisten und Kommunisten wach gehalten und vertieft werden. Zwischen den elementaren Klassenerkenntnissen und dem sozialistischen Bewusstsein, der höchsten Form des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse, das sich auf Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus gründet, liegen eine ganze Reihe immer höherer Stufen des Klassenbewusstseins. Aus eigener Kraft – so Lenin – vermag der Arbeiter nur ein tradeunionistisches, nur gewerkschaftliches Bewusstsein zu entwickeln. Und wenn wir uns den geringen und zurückgehenden Organisationsgrad der Gewerkschaften in unserem Land ansehen, wird deutlich, wie schwierig selbst das heute ist. Höhere Formen, politisches Klassenbewusstsein und insbesondere das sozialistische Bewusstsein, können sich – so Lenin – nicht spontan herausbilden. Spontan drängt sich die bürgerliche Ideologie den Arbeitern und Angestellten auf, „weil sie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt“. Bürgerliche Ideologie wirkt im Kapitalismus von der Wiege bis zum Grabe auf die Menschen ein, tagtäglich, mittels Kirche, Schule Hochschule, Armee und Betrieb, der bürgerlichen Medien. Schon Marx sah in seinem 1868 geschriebenen Brief an Kugelmann als Bedingung der politischen Konstituierung des Proletariats die „Einsicht in den Zusammenhang … der bestehenden Zustände“ als unverzichtbar an. Diese Einsicht entwickelt sich jedoch nicht von allein, nicht im Selbstlauf, also nicht spontan. Lenin betont, politisches Bewusstsein und vor allem die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus - müssen der Arbeiterklasse vermittelt, in die Klasse hingetragen werden. Was versteht er darunter? Hinsichtlich des politischen Bewusstseins stellt er fest, dass dieses nur aus einem Bereich außerhalb der unmittelbaren Erfahrungen in der ökonomischen Konfrontation mit den Unternehmern entstehen kann. Hier müssen die Beziehungen zwischen den verschiedenen Klassen und Gruppen in der Gesellschaft, die Beziehungen zwischen den Klassen und dem bürgerlichen Staat, die Rolle des Staates bei der Durchsetzung der Klasseninteressen der Bourgeoisie und der Sicherung ihrer Herrschaft eine maßgebliche Rolle spielen. Und zur Vermittlung des sozialistischen Bewusstseins heißt es bei Lenin, dass die „Lehre des Sozialismus… aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen (ist), die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden“ und folglich zunächst „den Arbeitern nur von außen“ gebracht werden konnte. „Das heißt selbstverständlich nicht – fährt er fort -, dass die Arbeiter nicht an dieser Ausarbeitung teilnehmen. Aber sie nehmen daran nicht als Arbeiter teil, sondern als Theoretiker des Sozialismus, als Proudhon und Weitling, mit anderen Worten, sie nehmen nur dann und soweit daran teil, wie es ihnen in höherem oder geringerem Maße gelingt, sich das Wissen ihres Zeitalters anzueignen und dieses Wissen zu bereichern.“ Und das Gesagte gilt natürlich nicht nur für die Ausarbeitung, sondern auch für die Weiterentwicklung der Theorie des Sozialismus. Mit der Entwicklung der marxistischen Arbeiterpartei als Bindeglied zwischen wissenschaftlichem Sozialismus und Arbeiterbewegung ist es nach Lenin dann vor allem die Aufgabe dieser Partei und ihrer Mitglieder sich den wissenschaftlichen Sozialismus anzueignen und seine Erkenntnisse als Teil der Klasse in der Klasse zu verbreiten. Und dies selbstverständlich nicht abstrakt, sondern in Anknüpfung an den Bewusstseinsstand und die eigenen Erfahrungen der Arbeiter und Angestellten. Ähnliche Gedanken findet man übrigens auch bei anderen marxistischen und linken Theoretikern. So schreibt z.B. Wolfgang Abendroth: „dauerhaftes politisches Klassenbewusstsein von Unterklassen kann niemals lediglich spontan entstehen. Proletarisches Klassenbewusstsein bedarf der Formulierung durch kritische intellektuelle Arbeit, der Organisierung durch ein Zentrum und der Vermittlung zu wachsenden Minoritäten der eigenen Klasse durch politische Aktionen, in denen diese Klasse lernt, aus den Erfahrungen eigener und politischer und sozialer Kämpfe sich ihrer Interessen bewusst zu werden und ihre geistige Unterwerfung unter die Ideologie der herrschenden Klasse zu überwinden.“ Soweit Abendroth. Und auch bei Herbert Marcuse heißt es: „Selbstbefreiung bedeutet Selbsterziehung, der aber Erziehung durch andere vorausgeht.“ Angesichts dieser deutlichen Aussagen zum „Hineintragen“ von Klassenbewusstsein ist es verwunderlich zu welchen Fehldeutungen es dazu unter Linken und neuerdings selbst in meiner Partei, der DKP, kommt. Dabei denke ich an Aussagen in einem kürzlich veröffentlichten Entwurf von, „Politischen Thesen des Sekretariat des Parteivorstands der DKP“. Sie haben viel Widerspruch in der Partei gefunden, darunter auch meinen. In dem Papier heißt es: „Die Erfahrungen zeigen, dass Klassenbewusstsein nicht durch eine Praxis entsteht, die mit dem vereinfachten Bild vom ‚Hineintragen des Klassenbewusstseins‘ umschrieben werden kann. Dahinter steht eine viel komplexere und kompliziertere Aufgabe marxistischer Theorie und der Partei. Diese besteht nicht in erster Linie in einer platten ‚ideologischen Aufklärung‘, deren Inhalte von vornherein feststehend sind und die man also annehmen kann oder nicht, sondern in der Kommunikation und Systematisierung von unterschiedlichen Erfahrungen und Wissen. Es muss vom bestehenden tatsächlichen Bewusstseinsstand der Menschen … ausgegangen werden.“ Soweit diese Thesen. Da stellt sich nicht nur mir die Frage: Was soll diese Polemik gegen Pappkameraden. Und wer ist damit gemeint? Geht es um die Aussagen Lenins, so hat man sie offenbar nicht verstanden. Und was die DKP betrifft, so sind wir immer davon ausgegangen, dass Klassenbewusstsein und sozialistisches Gedankengut in der Arbeiterklasse nur in Anknüpfung und Verarbeitung der eigenen Erfahrungen der Arbeiter und Angestellten vermittelt werden können, und das selbstverständlich nicht „platt“. Und auf welcher Grundlage soll denn die „Kommunikation und Systematisierung von unterschiedlichen Erfahrungen und Wissen“ erfolgen, wenn nicht mit Hilfe der dialektisch-historischen Methode und auf dem Boden der Grundaussagen des Marxismus? Da es sich dabei um eine Wissenschaft handelt, gehören dazu – wie bei anderen Wissenschaften auch – auch Inhalte, die „feststehend sind“, die das Wesen dieser Wissenschaft ausmachen und ohne deren „Annahme“ man sich eben nicht die Erkenntnisse dieser Wissenschaft aneignen kann. Die Grundaussagen des Marxismus müssen von den Kommunisten und anderen Marxisten studiert und möglichst vielen Arbeitern und Angestellten in Zusammenhang mit deren eigenen Erfahrungen überzeugend vermittelt werden. Wobei es auch nicht einfach um die Kommunikation und Systematisierung des von der bürgerlichen Ideologie geprägten Massenbewusstseins gehen kann, sondern durchaus um „ideologische Aufklärung“ gehen muss, um die Vermittlung sozialistischen Gedankenguts in Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie. Als Argument gegen das „Hineintragen von Klassenbewusstsein“ wird von Befürwortern der Thesen angeführt, dass die heutige Arbeiterklasse in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern im Unterschied zur russischen Arbeiterklasse Anfang des 19. Jahrhunderts, die zu großen Teilen noch aus Analphabeten bestand, technisch und teils auch wissenschaftlich hoch gebildet sei. Das ist natürlich richtig, aber eben kein Argument gegen die Tatsache, dass sozialistisches Bewusstsein nicht spontan entsteht, sondern sich durch Studium angeeignet und verbreitet werden muss. Für das Studium bringen die heutigen Arbeiter und Angestellten sicher bessere Bildungsvoraussetzungen mit. Hohes Allgemeinwissen und hohe Kenntnisse in Technik und Naturwissenschaften sagen allerdings noch nichts über gesellschaftliche Zusammenhänge. Und so sind z.B. Techniker und Ingenieure in ihrem gesellschaftlichen Bewusstsein nicht weniger durch die bürgerlichen Medien geprägt wie einfache Arbeiter. Wie wäre sonst zu erklären, dass bei ihnen selbst der gewerkschaftliche Organisationsgrad und elementares nur-gewerkschaftliches Bewusstsein in der Regel wesentlich niedriger sind als bei einfachen Industriearbeitern? Das, was Lenin über die bürgerliche Ideologie und ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse feststellt, gilt heute noch weit mehr als zu seiner Zeit. Die bürgerliche Ideologie durchdringt heute die feinsten Poren aller Lebensbereiche ein und dies keineswegs nur spontan. Der Apparat zu ihrer Verbreitung ist geradezu perfekt organisiert. Die bürgerlichen Massenmedien haben eine Macht, von der Lenin nicht einmal träumen konnte. Die bürgerlichen Zeitungen, Rundfunk Fernsehen sitzen heute in den Wohnungen der Arbeiter und Angestellten bereits mit am Frühstückstisch und das Ausschalten der Glotze ist häufig die letzte Handlung vor dem Schlafengehen. Bei diesem massiven Trommelfeuer ist es nicht verwunderlich, wenn heute trotz weit höherer Allgemeinbildung der Arbeiter und Angestellten im Vergleich zu Lenins Zeiten das Klassenbewusstsein in den entwickelten kapitalistischen Ländern und besonders in unserem Land nicht höher, sondern eher weniger entwickelt ist. Dafür sehe ich neben dem bereits Gesagten eine Reihe weiterer Faktoren: 1. Mit den wissenschaftlich-technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben sich gravierende Veränderungen in der Arbeitswelt vollzogen. Dazu gehört die weitere Aufsplitterung der Arbeiterklasse, die die Konkurrenz in der Klasse befördert und ein Bewusstwerden gemeinsamer Klasseninteressen und solidarisches Handeln erschwert. - Die Zahl der Industriearbeiter, die traditionell den Kern der Arbeiterklasse bilden, die am besten gewerkschaftlich organisiert sind und die größten Kampferfahrungen in Lohn- und anderen Auseinandersetzungen haben, ist dramatisch zurückgegangen, der Dienstleistungsbereich enorm gewachsen. Damit haben sich – wie bereits gesagt - die Gewichte im Verhältnis Arbeiter – Angestellte und untere Beamtengruppen bei den Lohnabhängigen auf Kosten der Arbeiter stark verschoben. Mit diesen Entwicklungen verbunden ist auch ein Absinken des gewerkschaftlichen Organisationsgrads. - Die weitere Differenzierung der Arbeiterklasse wird auch durch die neoliberale Politik der Herrschenden bewusst vorangetrieben. Die Belegschaften werden durch Leiharbeit und Niedriglöhne in Stamm- und Randbelegschaften gespalten. Beschäftigte und Arbeitslose, Arbeiter unterschiedlicher nationaler Herkunft, Männer und Frauen werden gegeneinander ausgespielt. 2. Negativ auf die Entwicklung des Klassenbewusstseins hat sich die Auflösung der Arbeitermilieus nach dem zweiten Weltkrieg ausgewirkt. Arbeiterwohngebiete, Arbeitersport-, Arbeiterbildungs- und Arbeiterkulturvereine, die Arbeiterbewusstsein, Zusammengehörigkeit, Solidarität beförderten, sind fast völlig verschwunden. 3. Der aus dem Faschismus nahtlos in die Bundesrepublik überführte Antikommunismus und Antisowjetismus hatte und hat nach wie vor verhängnisvolle Auswirkungen auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse. Und hier gibt es wesentliche Unterschiede zur Situation in anderen europäischen Ländern. Dazu gehören die Entwicklungsbedingungen der kommunistischen Parteien nach dem Sieg über den deutschen Faschismus im 2. Weltkrieg. In Nachbarländern wie Italien und Frankreich entwickelten sich die KPs zu sehr starken Parteien mit großem Einfluss auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse ihrer Länder. Im Westen Deutschlands konnten die Kommunisten dagegen diesen Einfluss nicht erreichen. Sehr bald wurde die KPD sogar erneut verboten und in die Illegalität getrieben. In Italien und Frankreich waren die Kommunisten die stärkste Kraft im Widerstandskampf gegen die deutschen faschistischen Besatzer. Das hat ihnen hohes Ansehen gebracht. In Deutschland haben die Kommunisten ebenfalls den stärksten Widerstand gegen den Faschismus geleistet und die größten Opfer gebracht. Aber im Unterschied zu Italien und Frankreich, wo sich dieser Kampf gegen die fremden Besatzer und deren Quislinge richtete , musste er in Deutschland gegen die eigene Regierungsclique geführt werden, die von der großen Mehrheit des Volkes unterstützt wurde. Und die Faschisten konnten den antifaschistischen Widerstandskämpfern im Bewusstsein der Deutschen, auch der meisten deutschen Arbeiter, das Label von Vaterlandsverrätern aufdrücken. Den Hauptbeitrag zur Befreiung Europas vom Faschismus hat die Sowjetunion geleistet, das Land in dem die Kommunisten an der Macht waren. In Italien und Frankreich hat das der Sowjetunion hohes Ansehen gebracht, und dies besonders bei den Arbeitern. Diese Stimmung war derart, dass dem auch die Herrschenden Rechnung tragen mussten. So wurden nach dem Krieg Straßen und Plätze nach sowjetischen Führern benannt. In gibt es Paris z.B. gibt es immer noch einen nach dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad benannten Platz. Dieses Ansehen der Sowjetunion hat sich weitgehend auch auf die Kommunisten im eigenen Land übertragen. Ganz anders in Deutschland. Hier wurde und wird der Sieg der Anti-Hitler-Koalition über NaziDeutschland von den meisten Menschen nicht als Befreiung, sondern als Niederlage gesehen und die Kommunisten und andere Gegner des Nazi-Regimes als diejenigen, die auf der Seite derjenigen standen, die „uns besiegt haben“. 4. Ein weiterer wichtiger Faktor gegen die Entwicklung des Klassenbewusstseins war und ist die von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften verfolgte Politik der Sozialpartnerschaft. Diese fiel in der Zeit des sog. Wirtschaftswunders und der relativ lang andauernden Konjunktur in der alten BRD auf einen günstigen Boden. Auf dem Hintergrund der einsetzenden wissenschaftlich-technischen Revolution und der damit einhergehenden raschen Steigerung der Arbeitsproduktivität ist es innerhalb weniger Jahrzehnte in der damaligen Altbundesrepublik zu einer bedeutenden Erhöhung des materiellen Lebensstandards der Arbeiterklasse gekommen. Nach den erbärmlichen Lebensverhältnissen der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre hat dies natürlich Spuren im Bewusstsein der Arbeiter und Angestellten hinterlassen. Diese Entwicklungen wurden wesentlich beeinflusst durch die auf deutschem Boden besonders zugespitzte Systemauseinandersetzung. Sie zwang die Bourgeoisie zu weitgehenden sozialen Zugeständnissen, sodass am Verhandlungstisch bei uns von den Gewerkschaften häufig weit mehr erreicht wurde als in anderen kapitalistischen Ländern im Ergebnis harter Klassenkämpfe. Im Zusammenhang mit diesen Klassenkämpfen hat sich dort zumindest elementares Klassenbewusstsein entwickelt, dass vor allem in zugespitzten Situationen wie der jetzigen mit der rigorosen Sparpolitik der kapitalistischen Regierungen zu Lasten der Arbeiter und Angestellten immer wieder hervorbricht. Bei uns haben dagegen die Erfolge am Verhandlungstisch sozialpartnerschaftliche Illusionen begünstigt, die bis heute wirksam sind und dementsprechend ihre Wirkungen trotz der brutalen Abwälzung der Krisenlasten auf die Arbeiter und Angestellten, die Arbeitslosen, die Rentner haben. 5. Äußerst negativ hat sich dann die Niederlage der sozialistischen Länder in Europa ausgewirkt, und dies wiederum angesichts der besonderen deutschen Bedingungen mit der Einverleibung der DDR in die Bundesrepublik hier in besonderem Masse. Der Bourgeoisie, ihren Politikern und Medien ist es weitgehend gelungen, den Sozialismus zu diskreditieren, seine trotz unbestreitbarer Fehlentwicklungen gewaltigen historischen Leistungen zu leugnen oder zu entstellen. Das trägt erheblich dazu bei, dass es in der gegenwärtigen tiefen kapitalistischen Krise zwar viel Unmut über die Zustände des Kapitalismus und die Politik der Herrschenden gibt, aber keine reale Alternative erkannt wird. Das Nichterkennen einer Alternative zum Kapitalismus sieht der Soziologe Werner Seppmann in seinem Buch „Krise ohne Widerstand“ neben der verbreiteten Angst um den Arbeitsplatz und den damit verbundenen Zukunftsängsten zu Recht als eine wesentliche Ursache für den geringen Widerstand der deutschen Arbeiterklasse in der aktuellen Krise. Zuzustimmen ist ihm auch, wenn er daraus den Schluss zieht, dass darum eine vorrangige Aufgabe der linken Kräfte darin bestehen müsse, Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Und dies in Vermittlung mit aktuellen Aufgaben. Was die DKP betrifft, so haben wir in unserem 2006 beschlossenen neuen Parteiprogramm unsere Vorstellungen für eine neue sozialistische Zukunftsperspektive und notwendige Übergangsforderungen erarbeitet. Diese Forderungen müssen natürlich immer wieder durch neue Erfahrungen überprüft und jene herausgefunden werden, die am ehesten Arbeiter und Angestellte, Volksmassen dazu bewegen können für ihre Interessen aktiv zu werden. 6. Der niedrige Entwicklungsstand des Klassenbewusstseins im Gefolge der genannten und anderer Faktoren findet seinen Ausdruck auch in der gegenwärtigen Schwäche der marxistischen Arbeiterparteien allgemein und der Kommunisten in Deutschland im Besonderen. Diese Schwäche ist dann ihrerseits ein wesentliches Hemmnis für die Entwicklung des Klassenbewusstseins in der Arbeiterklasse, zumindest in seinen höheren Formen, wofür nach meiner Überzeugung das Wirken einflussreicher marxistischer Arbeiterparteien unerlässlich ist und bleibt.
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