Was leisten Parlament und Abgeordnete? - Philipps-Universität

Universit¨at Marburg – Seminar im Sommersemester 2003
Einleitung
Was leisten Parlament und
Abgeordnete?
Volker Mittendorf
30. Juni 2003
Inhaltsverzeichnis
1 Ziel und Fragestellung
1
2 M¨
ogliche Maße von Leistung und Wirkung von Parlamenten
4
3 Die
3.1
3.2
3.3
5
5
5
5
Beitr¨
age im Einzelnen
Die nationalstaatliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bundesl¨ander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kommunalebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 Ausblick
6
1 Ziel und Fragestellung
Die Frage, was Parlamente und Abgeordnete eigentlich leisten, klingt popul¨ar und m¨ogli¨
cherweise ein wenig populistisch. Ublicherweise
schwingt die Unzufriedenheit der B¨
urgerinnen und B¨
urger gegen¨
uber ihren Abgeordneten mit, wenn die Frage ge¨außert wird.
Nimmt man die Frage jedoch beim Wort, so bezieht sich diese Frage auf die Kernerwartungen, die das Volk in einer Demokratie legitimerweise gegen¨
uber ihren Repr¨asentanten
haben darf und haben soll: Inwiefern werden die Erwartungen an Inhalte und Ergebnisse
von Politik durch Abgeordnete aufgenommen, behandelt und in Entscheidungen umgesetzt. Das gleichnamige politikwissenschaftliche Seminar vom Sommersemester 2003 an
der Philipps-Universit¨at Marburg hat diese Frage aufgenommen und versucht, hierauf
1
¨
einige Antworten zu erarbeiten. Dabei standen einige Uberlegungen
im Vordergrund,
wie die Frage aufgefasst werden kann.
1. Die Fragen empirischer Repr¨asentationsforschung werden unter anderem durch die
Wahlmotivforschung behandelt ( Wer w¨ahlt wen, warum und mit welchen Wirkun”
gen“), durch die Wahlsystemforschungen ( Auf welche Weise werden die Einzelmoti”
ve der W¨ahlerinnen und W¨ahler zu Sitzen und Entscheidungsmacht aggregiert“) sowie
durch die Politikvermittlungsforschung ( Wer sagt was zu wem, mit welchem Interesse
”
und mit welchen Wirkungen“). Den Gang einzelner politischer Prozesse untersucht die
Politikfeldforschung bzw. die Implementationsforschung als deren Teildisziplin. Formelle
und informelle Verfahren im Parlament und deren Anforderungen werden durch die Parlamentslehre behandelt, die die Grundlage f¨
ur diesen Seminarbericht bildet. Die Frage
lautet, spezifischer formuliert: Wie kann durch Beobachtung der Parlamentsarbeit auf
die performative Leistung von Parlamenten geschlossen werden, welche Indikatoren gibt
es hierf¨
ur und wie kann die Performance von Parlamenten (m¨oglichst unabh¨angig von
der jeweiligen Gebietsk¨orperschaft) vergleichbar gemacht werden.
2. Um die Frage nach der Parlamentsleistung“ zu beantworten, muss zun¨achst sche”
matisch gekl¨art werden, was Parlamente leisten sollen. Ankn¨
upfungspunkt ist dabei die
Definition politischer Leistung durch Niklas Luhmann: Politische Leistungen [des politi”
schen Systems] liegen u
¨berall dort vor, wo in anderen Funktionssystemen der Gesellschaft
bindende Entscheidungen ben¨otigt werden.“ Dieser Gedanke soll hier auf den Bereich
des Parlaments als Ort demokratisch legitimierter Entscheidungen u
¨bertragen werden.
Allgemein sollen Parlamente auf der Input-Seite daf¨
ur sorgen, dass gesellschaftliche Probleme wahrgenommen und angemessen behandelt werden (vgl. Easton 1962). Auf der
Output-Seite sollen akzeptable Ergebnisse stehen, d.h. Ergebnisse, deren Durchsetzung
notfalls auch mit Zwang erfolgt, die aber im Großen und Ganzen von der u
¨bergroßen
Mehrheit akzeptiert werden. Vor dem Hintergrund funktionierender Demokratien mag
dies als selbstverst¨andlich erscheinen, bedenkt man aber den labilen Prozess, der zur
Herausbildung moderner Parlamente gef¨
uhrt hat, so erscheint das Selbstverst¨andliche
sogar unwahrscheinlich. So zeigt der historische R¨
uckblick etwa, dass Parlamente oftmals wichtige Rechte, die tats¨achlich performative Wirkungen zeitigen konnten (z.B.
das Haushaltsrecht) in Deutschland lange Zeit nicht besaßen. Die Nichtakzeptanz von
Ergebnissen unter bestimmten Akteuren f¨
uhrte zudem immer wieder zur (mitunter gewaltsamen) Aufl¨osung von Parlamenten etwa durch Putsch – eine Gefahr, die in den
l¨angerfristig stabilisierten Demokratien Mitteleuropas geringer erscheint als in jungen,
sich entwickelnden. Ein drittes Problem ergibt sich etwa dort, wo Ergebnisse von nationalen Parlamenten irrelevant zu werden drohen. Diese Gefahr scheint vor allem dort
gegeben zu sein, wo einer Ebene Kompetenzen zugunsten einer anderen Ebene entzogen
werden (etwa wenn den Kommunen eigene Finanzquellen wie die Gewerbekapitalsteuer
entzogen werden, wenn den L¨anderparlamenten im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben
origin¨are Aufgaben genommen und auf die exekutiven Ministerkonferenzen u
¨bertragen
werden oder auf europ¨aischer Ebene durch intergouvernementale Aushandlungen vorbe¨
stimmt werden). Ahnlich
wird unter dem Obertitel Globalisierung“ diskutiert, ob die
”
nationalstaatliche Souver¨anit¨at durch ein System zunehmend globalisierter Wirtschaften
unterminiert wird.
2
3. Auch unabh¨angig solcher Extremf¨alle stehen Parlamente in der Moderne vor Herausforderungen: Auf der einen Seite steigt der Anforderungsdruck etwa dahingehend,
dass immer mehr Akteure und immer mehr Politikfelder entstehen und einer politischen
Steuerung bed¨
urfen. Nicht zuletzt als Konsequenz aus dieser Entwicklung steigt auch
die Regulierungsdichte, d.h. die gegenseitige Beeinflussung verschiedener Politikbereiche
(vgl. Ismayr). Auf der anderen Seite werden Ergebnisse von Politik immer intransparenter und verlieren somit unter Umst¨anden ihre Akzeptanz, n¨amlich dann, wenn nicht
mehr entscheidbar ist, ob das, was herauskommt auch den Erfordernissen an die Repr¨asentations-Arbeit von Parlamenten entspricht.
4. Parlamente reagieren auf diese Anforderungen auf verschiedene Weise, z.B. mit einer
Verlagerung von Detailentscheidungen auf die Verwaltungen (m¨oglicherweise mit dem
Verlust von Gestaltungsm¨oglichkeiten), durch eine zunehmende Anzahl von Artikelgesetzen, die als Ausdruck einer gr¨oßeren Regulierungsdichte aufgefasst werden k¨onnen.
Dar¨
uber hinaus reagieren Parlamente auf die gestiegenen Erwartungen an die sachlichkognitiven L¨osungskompetenzen mit einer Verwissenschaftlichung des Parlamentsapparates (vgl. z.B. Ismayr???), Wissenschaftlichen Kommissionen (Hartz-Kommission,
R¨
urup-Kommission). Zur St¨arkung der sozial-moralischen Kompetenzen wird auf ¨ahnliche Weise etwa mit Ethik-Kommissionen reagiert, die stellvertretend f¨
ur die W¨ahlerinnen und W¨ahler dar¨
uber befinden, was richtig ist. Aber auch zunehmend initiierte
Beteiligungsverfahren wie etwa Mediation (z.B. zum Frankfurter Flughafen), sowie Forderungen nach direkter Demokratie dienen der Beibehaltung oder der Wiedergewinnung
von (sozial-moralischer) Akzeptanzwirkung der allgemeinen Parlamentsarbeit.
(Enquete-Kommissionen in Hessen oder im Bund.... besch¨aftigen sich mit dem Problem)
5. Aber auch die neuen informationellen M¨oglichkeiten k¨onnen f¨
ur Transparenz und
damit f¨
ur den Erhalt der widerstrebenden Anspr¨
uche sorgen, die an repr¨asentative Parlamentsarbeit gestellt werden. So kann die Aufbereitung von Daten, die bei der parlamentarischen Arbeit generiert werden, sowohl der Selbstbeobachtung (durch die Parlamentarier) als auch der bewertenden Beurteilung durch die Bev¨olkerung dienen. Wie
neue Probleme vom Parlament bearbeitet werden, wie der Stand der Bearbeitung ist,
welcher Abgeordnete, welche Partei was macht, inwiefern das mit ihren - vor der Wahl
ge¨außerten - Handlungsabsichten u
¨bereinstimmt, kann bei entsprechender Darstellung
auch nach individuellen Pr¨aferenzen verbessert werden.
6. Daraus ergeben sich folgende Ziele des Seminars: a) Wie groß ist die Transparenz f¨
ur
B¨
urger und Wissenschaftler, die sich dar¨
uber informieren wollen, inwiefern ihre Motive
repr¨asentiert werden und wie kann diese Transparenz verbessert werden (Informationsnachfrage)? b) Wie hoch ist der Grad der Ver¨anderung, die durch parlamentarische
Arbeit bewirkt wird, und welche Maße einer solchen Parlamentsperformance“ kann es
”
geben? c) Welche (Teil-)Ergebnisse kann man finden?
7. All dies gilt nat¨
urlich vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen: So ist der Zugang zu den Daten parlamentarischer Arbeit begrenzt, Datenbanken stehen oftmals erst
am Anfang und sind vor allem nicht standardisiert. Die Anzahl m¨oglicher Indikatoren
ist groß und verlangt eine Begrenzung. Last not least stehen die Texte unter der Einschr¨ankung dessen, was 20 Studierende in einem Semester leisten k¨onnen.
3
2 Mo
¨gliche Maße von Leistung und Wirkung von
Parlamenten
Der Begriff Repr¨asentation ist zun¨achst durch eine Vielzahl unterschiedlicher normativer
Erwartungen gepr¨agt. Diese werden von Hannah F. Pitkin in vier Kategorien gefasst [548
f.]schuettemeyer1995 :
1) Formalistische Ans¨atze, die nach f¨ormlichten Autorisierungen von Repr¨asentanten
fragen und nicht nach Vorgang bzw. Inhalt der Repr¨asentation.
¨
2) Deskriptive Ans¨atze, die auf die Ahnlichkeiten
von Repr¨asentanten und Repr¨asentierten bezug nehmen.
3.) Repr¨asentation im Sinne von Standing for“ bezeichnet die irrational oder affektiv
”
begr¨
undete Beziehung von Repr¨asentierten und Repr¨asentanten (dies etwa in Anschluss
an E. Burke).
Und 4.) Repr¨asentation im Sinne von Acting for“: bezeichnet diejenigen Repr¨asentati”
onskonzepte, die die Repr¨asentationshandeln auf die Kongruenz von Normvorstellungen
und Entscheidungshandlungen zur¨
uckf¨
uhren.
Versucht man in einem Vergleich, Maße zu finden, so bieten sich zun¨achst deskriptive
Konzepte an, wenngleich diese f¨
ur eine gehaltvolle Interpretation einer Repr¨asentationsleistung nur bedingt brauchbar sind.
Solche Maße sind etwa die Anzahl von Abgeordneten pro Einwohner. Auf der einen
Seite sagt die Zahl aus, wie groß die (theoretische) Wahrscheinlichkeit f¨
ur W¨ahler ist,
tats¨achlich mit einem Abgeordneten zu interagieren. Auf der anderen Seite macht eine
zu große Anzahl von Abgeordneten es unwahrscheinlich, die anderen Abgeordneten zu
kennen und durch pers¨onlichen Kontakt die Entscheidungsfindung zu verbessern.
Eine weitere, mit vertretbarem Aufwand zu ermittelnde Zahl ist die der Initiativen
pro Wahlkreisabgeordnetem (Wahlkreisrepr¨asentation). Dabei muss jedoch die jeweilige Gesch¨aftsordnung ber¨
ucksichtigt werden, etwa inwieweit f¨
ur jeden Abgeordneten
eine Maximalzahl von Anfragen vorgegeben ist. Um vertiefte Erkenntnisse zu gewinnen,
m¨
ussten etwa durch Interviews von Abgeordneten das jeweilig individuelle Repr¨asentationsverst¨andnis sowie die eigenen Initiativen und Interventionen f¨
ur die jeweiligen
Wahlkreisinteressen u
uft werden (was im Rahmen eines einzelnen, zweist¨
undigen
¨berpr¨
Seminars nicht erfolgen kann).
Des weiteren kann die Parlamentsleistung nach der Wahrnehmung der unterschiedlichen Funktionen von Initiativt¨atigkeit und Kontrolle untersucht werden: Hier w¨aren vor
allem das Anfrageverhalten nach Parteien bzw. nach Oppositions- und Regierungsmitwirkung f¨
ur die Kontrolle und die Anzahl bzw. Herkunft von Gesetzesinitiativen (nach
Parteien bzw. getrennt nach Herkunft aus Regierungen oder Parlament) sowie deren
Verbleib von interesse.
Die hier vorgestellten Maße werden in den einzelnen Beitr¨agen dieses Seminarberichtes in unterschiedlichem Umfang als Basis f¨
ur einen Vergleich herangezogen. Ein reiner
Vergleich dieser Erhebungsdaten erschien aber wenig aussagekr¨aftig. Daher wurden je
nach untersuchter Ebene jeweils spezifische Hypothesen entwickelt, die mit einem Methodenmix auf Grundlage verf¨
ugbarer Parlamentsdatenbanken bzw. zug¨anglicher Archive
4
getestet werden.
3 Die Beitr¨
age im Einzelnen
3.1 Die nationalstaatliche Ebene
Die nationalstaatliche Ebene wird von zwei Beitr¨agen untersucht:
1. Bundesrepublik Deutschland: Der Beitrag von Anja D¨orr, Benjamin Ewert und Helena Heinzeroth besch¨aftigt sich vor dem Hintergrund des 1998 stattgefundenen Regierungswechsels, u.a. die Fragestellung, ob und inwieweit Politische Regierungsprogramme
von Parteien/Koalitionen in der t¨aglichen Parlamentsarbeit gestaltend oder bloß reaktiv
in die Tat umgesetzt werden.
¨
¨
2. Osterreich:
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in Osterreich
1999 nicht nur
ein Regierungswechsel stattgefunden hat, sondern dass dadurch zum einen eine ??j¨ahrige
Periode konkordanzdemokratischer“ zu Ende ging und zugleich durch die Aufnahme
”
¨ ein quasi europ¨aischer Tabubruch stattfand, erscheint es
der rechtspopulistischen FPO
sinnvoll, die parlamentarischen Interaktionsmuster einer vergleichenden Untersuchung
zu unterziehen. Dies geschieht im Beitrag von Nils Freitag, Sven Humann und Daniel
Tabis.
3.2 Bundesl¨
ander
In Anbetracht der Tatsache, dass die Datenbank des Hessischen Landtags eine sehr differenzierte Untersuchung gestattet, w¨ahlt der Beitrag von Jan Christoph Gail, Agnes
Kaplanek, Henning M¨
utzlitz, Klaus Pokorny, Thorsten Schulte und Frank Tatzel Hessen
¨
als Schwerpunkt. Ahnlich
wie bei der Untersuchung des Bundestags wird hier die Umsetzung von Parteiprogrammen in Regierungs- und Parlamentshandeln n¨aher untersucht.
3.3 Kommunalebene
Die Kommunalebene gilt oft als Schule der Demokratie. Daher sollte die Bilanzierung
von Regierungsperioden f¨
ur St¨adte nicht nur besonders fruchtbar, sondern auch f¨
ur die
W¨ahlerinnen und W¨ahler besonders aufschlussreich sein. Leider zeigt der Test anderes.
Trotz der rechtlichen Archivierungsverpflichtungen verf¨
ugen lediglich 117 der 426 hessischen Gemeinden u
¨ber ein Archiv (vgl. FR vom 25.6.2003). Der Beitrag von Gisela Fette,
Simon G¨ollner, Lennart Hein und Christian P¨opken versucht vor dem Hintergrund eher
schwieriger Recherchem¨oglichkeiten, welche Ver¨anderungen Kommunalpolitik in Marburg im Verlauf der 60er und 70er Jahre vollzogen hat. Insbesondere der Einflussverlust
der in der Nachkriegszeit besonders starken FDP, die u
¨ber lange Jahre auff¨allige St¨arke
der DKP und der Machtwechsel im Amt des Oberb¨
urgermeisters von Georg Gaßmann
zu Hanno Drechsler sollen auf Ebene der parlamentarischen Bilanzierung nachvollzogen
werden.
5
4 Ausblick
Die M¨oglichkeiten, die sich durch frei zug¨angliche Datenbanken ergeben, sind noch nicht
ausgesch¨opft und ergeben sich vor allem im Vergleich. Insbesondere die Schwierigkeiten,
vertiefte Informationen zu erhalten, geben zu denken und k¨onnen als Anregung dienen,
hier einen gr¨oßeren Augenmerk auf die Bilanzierung der gesamten Parlamentsarbeit zu
legen. Damit wachsen auch die M¨oglichkeiten, die Arbeit von Parlamenten – jenseits
von besonders konflikttr¨achtigen und damit ¨offentlichkeitswirksamen Einzelthemen –
transparent und zu einer weiteren Grundlage rationaler Wahlentscheidungen zu machen
und letztlich auf die gestiegenen und ver¨anderten Anforderungen an parlamentarisches
Regieren zu reagieren.
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