Was Festivals so wertvoll macht - Jazz Baltica

MUSIK
JAZZ BALTICA
Was Festivals so wertvoll macht
Der Moment des Hörens in der Gemeinschaft: Man kann nur
hoffen, dass Musikfeste wie die Jazz Baltica in Salzau bei Kiel
nicht weggespart werden.
VON Ulrich
Stock | 06. Juli 2011 - 16:30 Uhr
Ein Festival, und das gilt für Jazzfestivals in besonderer Weise, kann zwei Wirkungen
entfalten. Die eine ist unmittelbar: der Moment des Hörens, die Gemeinschaft mit anderen
unter freiem Himmel – oder wie jetzt im schleswig-holsteinischen Salzau – unter dem Dach
einer riesigen, tönenden Scheune. Musik ist unmittelbare Kunst, wir genießen die Klänge
im Moment ihres Entstehens und Verfliegens, darin gleicht das Konzert dem Leben;
vielleicht sind wir von gelungenen Auftritten deshalb so berührt.
Man vergisst die Flüchtigkeit dieser Kunst leicht, wenn man sich über seinen iPod beugt
und die isolierenden Stöpsel ins Ohr setzt. Die allermeiste Musik, die wir uns gönnen, ist
Konserve. Konzert ist einfach noch mal etwas ganz anderes. Wohl dem, der sich zu einer
Feier des Augenblicks aus seinem Alltag lösen kann.
In Salzau erfasst eine Woge den Saal, als der deutsche, in New York lebende Sänger Theo
Bleckmann, rockig begleitet von Michael Wollny am Flügel, Das Model von Kraftwerk
anstimmt, eine schillernde Antihymne auf den Mainstream, die das Jazz-Umfeld komplett
überrascht:
Im Scheinwerferlicht ihr junges Lächeln strahlt
Sie sieht gut aus, und Schönheit wird bezahlt
Sie stellt sich zur Schau für das Konsumprodukt
Und wird von Millionen Augen angeguckt
Bleckmann jagt seine Worte durch kleine, schwarze, elektrische Kästchen, bis nur noch ein
Glitzerstrudel an die Ohren dringt. Die Zighundert im Saal stöhnen und jauchzen.
Das gibt's nicht auf Platte, das gibt's nur hier, und so prägen sich diese großartigen
Minuten den Festivalbesuchern ein. Das wäre die zweite Wirkung eines Festivals neben
der augenblicklichen: die anhaltende. Jetzt, Tage nach den drei Tagen in Salzau, sind die
kostbaren Momente in die persönliche Erinnerung gebettet, für immer mit diesem Ausflug
auf ein patschnasses holsteinisches Dorf verbunden. Musik verfliegt, ja, aber sie zieht eben
auch tiefere Spuren ins Selbst als manches, das schwer und wuchtig erscheint.
Die Jazz Baltica in ihrem 21. Jahr ist dem Andenken des schwedischen Jazzpianisten
Esbjörn Svensson gewidmet, der vor drei Jahren von einem Tauchgang nicht wiederkam .
Svensson hatte Jazz gespielt, als wäre er Pop. Mit seinem Trio war er der weltbekannteste
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Jazzmusiker Europas, der erste Europäer, der es je auf das Cover des US-Jazz-Magazins
Downbeat schaffte.
© Ulrich Stock
Roland und Angelika Fuhrmeister aus Hannover sehen seit Jahren jeden Tag nur eine Band bei der
Jazz Baltica; die anderen Bands hören sie von draußen durch die Wand: "Das ist sonst zu intensiv."
Svensson kam aus Stockholm über Salzau auf die großen deutschen und internationalen
Bühnen; er hat dem Festival stets die Treue gehalten, nun wird er schmerzlich vermisst. So
entstand die Idee, Wegbegleiter und Kollegen für ihn spielen zu lassen. Seine Stücke, ihm
gewidmete Stücke, von ihm geschätzte Stücke anderer. Sein Bild leuchtet über der Bühne,
als der Gitarrist Pat Metheny und der Posaunist Nils Landgren loslegen, begleitet von Dan
Berglund am Bass und Magnus Öström am Schlagzeug, der Rhythmusgruppe des Svensson
Trios.
Öström, Svenssons Freund seit Kindertagen, führt in brüchigem Englisch durch den Abend,
begleitet von einem polternden Gewitter. Immer wieder scheint es, als schwebe der Geist
des Pianisten über der Scheune, aber wie ließen sich seine grollenden Interventionen
deuten? Es explodiert ein Beleuchtungskörper, es schlägt in der Nähe der Blitz ein, das
Licht flackert, die Fernsehkameras des zur Dokumentation angereisten ZDF verabschieden
sich und zeigen nur noch Eischnee. Alle im Saal halten den Atem an, diesem Abend
mangelt es wahrlich nicht an Energie.
Später stehen die Konzertbesucher, die noch nach Dithmarschen oder Nordfriesland fahren
müssen, ratlos auf der vom Wolkenbruch überfluteten Wiese. Die Freiwillige Feuerwehr
hievt einen Wagen nach dem anderen auf die Straße und bedankt sich für zehn Euro
Spende.
Wer am Ort bleiben kann, erlebt noch eine Steigerung. Traditionell finden in Salzau bis in
den Morgen hinein spontane Sessions statt, zu denen sich die Musiker nach Lust und Laune
zusammentun. Es ist schon halb drei oder so, als plötzlich ein Junge am Schlagzeug in dem
verzierten Saal des Herrenhauses sitzt und ohne eine Miene zu verziehen, großen Jazzern
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den Takt vorgibt. Es ist Noa Svensson, 13 Jahre alt und Esbjörns Sohn. An der Gitarre steht
sein Bruder Ruben, 18.
Noa spielt mit heiligem Ernst. Nur die Wucht seiner Schläge lässt seine Gefühle erahnen.
Die Zuschauer sitzen gebannt auf dem Boden und drängen sich vor den Saaltüren; in Salzau
wird immer angestanden, von früh bis spät – die Nachfrage nach Jazz scheint noch größer
zu sein als das üppige Angebot. Die letzten Stücke erklingen im Morgengrauen, nun spielen
die Zuschauer selber. Man kann sie durchs geöffnete Fenster noch drüben auf dem Zeltplatz
hören, schlaflos zwischen feuchten Planen.
Was für ein Kraftraum, dieses Salzau, dieses Jazz Baltica. Und was für eine Sünde, dass
die Zeit dieses Festivals möglicherweise zu Ende geht, weil der Kieler FDP-Kulturminister
kein Ohr hat für das, was hier schwingt. Das Festival bekam dieses Jahr aus allgemeinen
Spargründen keinen Zuschuss mehr vom Land, keine 147.000 Euro. Ob es noch ein
nächstes Mal stattfinden wird, kann man nur hoffen, nicht wissen. Möge es über dem
Landeshaus in Kiel donnern und blitzen.
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ZEIT ONLINE
ADRESSE: http://www.zeit.de/kultur/musik/2011-07/jazz-baltica-bericht
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