PREIS DEUTSCHLAND 4,70 € 101158_ANZ_10115800005367 [P].indd 1 DIEZEIT 15.01.16 09:12 WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR Krieg in Syrien Titelfoto [M]: Kai Wiedenhöfer (Kobane, Syrien, März 2015) Verstehen Sie noch, worum es geht? Es ist der gefährlichste Konflikt des neuen Jahrhunderts: Aber wer kämpft eigentlich gegen wen? Gibt es noch Gute oder nur Böse? Hat Assad jetzt gewonnen? Und was bedeutet in diesem Land eigentlich Frieden? POLITIK WAHLEN IM IRAN DIE SCHANDE VON CLAUSNITZ Zwei Wetten Angstgegner Wird die Öffnung zur Welt zu Hause mehr Offenheit bringen? Auch darüber wird jetzt abgestimmt VON JÖRG LAU S ein Großvater hat vor 37 Jahren die Revolution gegen den Schah ange‑ führt und die Islamische Republik begründet. Doch Hassan Chomeini, der prominente 43-jährige Theologe, darf an diesem Freitag nicht für das wichtigste Gremium des Irans kandidieren – den »Expertenrat«, der über die Nachfolge des Revolutionsführers entscheidet. Der Grund: Herr Chomeini ist den Herrschenden zu liberal. Da hat man den ganzen Irrwitz des iranischen Systems in einer Nussschale: Das Land ist eine autoritäre Scheindemokratie, in der nur system‑ konforme Kandidaten zugelassen werden; die lebendige Zivilgesellschaft des Irans bringt trotz‑ dem mehr kreativen Dissens hervor als jedes an‑ dere Land der Region (abgesehen von seinem Erzfeind Israel). Dafür steht der Fall Chomeini. Dass der Islam an der Macht nicht die Lösung ist, haben die Iraner erfahren Der Iran wählt neben dem Expertenrat ein neues Parlament. Beide Ergebnisse können enorme weltpolitische Folgen haben. Die 88 Kleriker des Expertenrates bestimmen den Nachfolger des mächtigsten Mannes im Land – vielleicht schon bald. Es heißt, der 76-jährige Revolutionsführer Chamenei leide an Krebs. Weil der Kampf zwi‑ schen Schiiten und Sunniten mit Sicherheit noch lange die Region spalten wird, ist entscheidend, ob ihm ein weiterer Scharfmacher folgt. Man muss noch einen Schritt zurücktreten, um zu verstehen, warum eine (Schein-)Wahl im Iran heute von solcher Bedeutung für die Welt ist. Nicht etwa weil ein demokratischer Durch‑ bruch zu erwarten wäre: Das Wahlsystem ist fest in den Händen der konservativen Kräfte, die eine Öffnung des Landes verhindern wollen. Von mehr als 3000 reformerischen Kandida‑ ten zur Parlamentswahl wurden zunächst nur ganze 30 zugelassen – kaum ein Prozent! In wei‑ ten Teilen des Landes stehen überhaupt keine profilierten Reformer auf den Wahlzetteln. Und was heißt überhaupt »Reformer«? Weit‑ gehende Forderungen nach Rechten und Frei‑ heiten sind kaum zu hören. Der moderate Präsi‑ dent Ruhani hat eine rein defensive Agenda: keine Konfrontation mit dem Westen, keine weiteren Einschränkungen der Bürgerrechte, Nein zum »Extremismus«. Er steht selber nicht zur Wahl, doch er braucht ein kooperatives Par‑ lament für seine Reformpolitik. So appelliert er, in Abwesenheit echter Reformer jene Kandida‑ ten zu wählen, die keine Hardliner sind. Klingt bescheiden. Und doch sind Ruhanis kon servative Gegner extrem beunruhigt. Während der Präsident durch den Atomdeal des Irans interna‑ tionale Isolation durchbrach, fielen die Sicher‑ heitskräfte über die Zivilgesellschaft her. Über 800 Todesurteile wurden im letzten Jahr vollstreckt, und Hunderte Dissidenten landeten im Knast. Die Botschaft ist klar: Glaubt nur nicht, die Öff‑ nung zur Welt bringe mehr Offenheit zu Hause. Jetzt laufen zwei Wetten gegeneinander. Und darum geht es letztlich auch bei dieser Wahl: Das gemäßigte Lager – Ruhani und der Rest der Re‑ former – argumentiert, Wohlstand könne es nur durch die Reintegration des Irans in die Welt(wirt‑ schaft) geben, und dies wiederum bedinge eine vorsichtige, islamkompatible gesellschaftliche Modernisierung; die Konservativen fürchten, dass Reformen den Anfang vom Ende des theo‑ kratischen Systems bedeuten. Sie wollen die Isla‑ mische Republik als antiwestliches Modell an der Seite Russlands und Chinas etablieren – als eine Art islamisch-autoritären Tigerstaat. Darum ist es so entscheidend, wohin das Land sich nun wendet. Es stimmt: Kein Waffenstill‑ stand in Syrien, kein Frieden im Irak und kein Sieg über den IS ist ohne Teheran denkbar. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass der Iran tief in die Gräuel des Assad-Regimes verstrickt ist. Darüber muss geredet werden, selbst wenn es bei den Geschäften mit den solventen Mullahs stört. 118 Airbusse hat Ruhani soeben bei seiner ersten Einkaufstour in Europa geordert. Nichts dagegen einzuwenden: Es ist richtig, den Iran an den Westen zu binden. Allerdings ohne Unter‑ werfungsgesten wie in Rom, wo man vor Ruhanis Besuch präventiv Statuen verhüllte. Wer den Iran aus der Kälte holen will, muss zum Streit bereit sein: über Bürgerfreiheiten, Menschenrechte – und das Existenzrecht Israels. Der Iran ist heute das wichtigste Land im Mitt‑ leren Osten. Nicht zuletzt wegen dieser Erfahrung: Die Iraner sind schon durch die schlimmsten Phasen der Theokratie hindurch, während die arabische Welt kein Mittel findet, den religiösen Irrsinn zu zähmen. 37 Jahre lang haben die Ira‑ ner erfahren, dass der Islam an der Macht nicht die Lösung ist. Auch eine Art Avantgarde. www.zeit.de/audio Es scheint, als sei der Osten Deutschlands der Hort der Rechten. Doch deren Ziel ist der Westen VON MARTIN MACHOWECZ W o wohnt das Böse? Bei den Ossis, in Sachsen, wo sonst! Aber Vorsicht, wenn Sie in München, in Köln oder Stuttgart leben, seien Sie sich nicht zu sicher. Viel‑ leicht steht es bald auch vor Ihrer Haustür. Denn wenn man hört, wie gerade über die Sachsen und über die Ostdeutschen gesprochen wird, dann kommt einem schnell der Gedanke: Der böse Osten überfällt das Land. Spätestens jetzt, nach Clausnitz – nachdem dort ein wüten‑ der Mob einen Bus voller Flüchtlinge belagert hat –, ist der ostdeutsche, speziell der sächsische Pöbel der neue Angstgegner der Republik. Die Ostdeutschen in ihrer immer lauteren Wut wirken wie eine unwillkommene Form der Avantgarde. Eine Avantgarde des Schreck‑ lichen. Es ist, als breche das Böse vom Osten her über Deutschland herein. Und es stimmt: Für die Populisten ist der Osten nun schon seit ein bis zwei Jahren das ideale Testgebiet. Und der Westen das heimliche Ziel. Testgebiet, weil in einer Weltlage wie dieser, inmitten von Kriegen und Flüchtlingsströmen, eine fragile, in Teilen unsichere Gesellschaft wie die des Ostens für Populisten besonders empfänglich ist. Weil sie zu Randale neigt, zu Gewalt gegen Fremde, zu selbstzerstörerischem Hass. Der Westen ist das heimliche Ziel, weil einer, der über Deutschland triumphieren will, zwar im Osten anfangen kann – ihm der Osten, so be‑ deutungsarm, wie er ist, allein aber natürlich nicht reichen wird. Inzwischen haben Ostdeutsche in der AfD die Macht übernommen Es ist zum Beispiel ein offenes Geheimnis, dass jene, die die AfD schon lange zu einer rechts popu lis ti schen Partei umbauen, sich mit der Macht im Osten nicht zufriedengeben. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg war diese AfD schon der parlamentarische Arm der Anti-Asyl-Bewegung, als im Westen noch brave Wirtschaftsprofessoren eine »Alternative« zur Euro-Rettung zu etablieren versuchten. Inzwischen haben Ostdeutsche in dieser Par‑ tei die Macht übernommen; angeführt von einer Sächsin, die laut darüber nachdenkt, an der Grenze auf Flüchtlinge zu schießen – Frauke Petry. DIE ZEIT im Taschenformat. Jetzt für Ihr Smartphone! www.zeit.de/apps 25. FEBRUAR 2016 No 10 101159_ANZ_10115900005368 [P].indd 1 15.01.16 09:11 Revolution vor der Tafel Eine große Umfrage zeigt: Lehrer sind keine Einzelkämpfer mehr. Das wird unsere Schulen verändern Chancen, Seite 65 Die Deutschen lieben ihre Arbeit Und fast die Hälfte will eine Obergrenze für Spitzenverdiener. Teil zwei der großen ZEIT-Studie »Das Vermächtnis« Wirtschaft, Seite 19 PROMINENT IGNORIERT Und im Westen klettert die AfD in den Umfragen auf zwölf Prozent in Baden-Württem‑ berg und auf neun Prozent in Rheinland-Pfalz. Zwölf Prozent in Baden-Württemberg! Das, was im Osten seinen Anfang nahm, setzt sich im Westen offenbar fort. Bislang trösteten sich die Wohlmeinenden in Ost wie West, die übrigens auf beiden Seiten noch die breite Mehrheit stellen, mit dem Ge‑ danken: Wenigstens hält der Westen stand. Und, tut er es? Nun: Er wackelt jedenfalls. Man sieht es daran, dass in einer Situation, in der immer mehr Flüchtlinge kommen, westdeut‑ sche Politiker mitunter die Sprache von Pegida übernehmen. Als Pegida einst über »massenhaften Asylmissbrauch« herzog, da gab es fast einen Kon‑ sens, dies zu verurteilen. Aber längst sagt Horst Seehofer in Bayern, man müsse weg vom »mas‑ senhaften Asylmissbrauch« und bei kriminellen Asylbewerbern würde er »nicht lange fackeln«. Auch bei der Frage, wie hart und brutal die Gren‑ zen für Flüchtlinge abgeschottet werden sollen, zerfließen die Unterschiede zwischen der AfD und den anderen Parteien. Trotzdem zieht der Westen vielleicht nicht nach. Weil Clausnitz eine Zäsur ist. Der Westen erschrickt vor dem Osten. Und der Osten er‑ schrickt vor sich selbst. Plötzlich steht Sachsens CDU-Ministerpräsi‑ dent Stanislaw Tillich, ein Mann, der das braune Problem seines Landes über viele Jahre leugnete, vor der Presse, und man sieht seine Knie förm‑ lich schlottern; kreidebleich ist sein Gesicht. Ja, man sieht ihm Clausnitz an. Und wenn jetzt Bürger in Dresden und Leipzig und Clausnitz beschließen, dass es so nicht weitergehen kann, dass die Avantgarde des Bösen doch nicht sein kann, wofür die Sachsen, wofür die Ossis stehen wollen? Dann ist Clausnitz die große Chance. Vielleicht ist es sogar die letzte Chance. Denn der Export von Radikalität aus Ost nach West funktioniert nur, solange die Flüchtlingskrise sich zuspitzt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Westen zu alter Ruhe findet in dem Moment, in dem aus der Krise wieder Routine wird. Der Osten hat dann nur eine Wahl: sich weiter zu zerstören; seine Moral, sein Image, sei‑ ne Wirtschaft. Oder doch noch einmal den Westen die Avantgarde sein zu lassen, die Avant garde der Mäßigung. www.zeit.de/audio Esst Schokolade! Eine gemeinsame Studie von drei Instituten in Australien, den USA und Luxemburg begründet die Vermutung, dass der Verzehr von Schokolade die Gehirnleistung verbessert und den altersbedingten mentalen Abbau verlangsamt. Was lernen wir daraus? Es empfiehlt sich, unter den zahllosen Ernäh rungsratschlägen die angenehmen herauszupicken. Anders gesagt: Die Treibjagd auf die Schokola‑ denhasen kann losgehen. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Christoph Neumann für DIE ZEIT; Shutterstock; UpperCut/Getty Images Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DKR 47,00/FIN 7,30/NOR 61,00/E 5,90/ Kanaren 6,10/F 5,90/NL 5,10/ A 4,80/CHF 7.30/I 5,90/GR 6,50/ B 5,10/P 5,90/L 5,10/HUF 1990,00 o N 10 7 1. J A H RG A N G C 7451 C 10 4 190745 104708
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