IMV Institut für Medienverantwortung gUG (haftungsbeschränkt) Goethestraße 6 91054 Erlangen Fon +49 9131 933 277-8 Fax +49 9131 933 277-9 Kolumne, 9.07.2012 © Sabine Schiffer www.medienverantwortung.de [email protected] Arafat und die neue Rolle Al Jazeeras Obwohl Yassir Arafats Tod 2004 sofort Spekulationen über ein Fremdeinwirken ausgelöst hatte, wird das erst jetzt zum Medienthema. Maßgeblich lanciert vom qatarischen Fernsehsender Al Jazeera, der am 4. Juli 2012 die Ergebnisse einer selbst in Auftrag gegebenen Untersuchung in der Schweiz mitsamt einem am selben Tag geführten Interview mit Suha Arafat präsentierte. Die Witwe Arafats, die vom Moderator der Sendung anscheinend kritisch in die Zange genommen wird, gab an, dass sie erst am Morgen von Al Jazeera von Poloniumfunden an den letzten Kleidungsstücken ihres Mannes erfahren habe. Am selben Tag rief sie dann – eben via dieses Interviews – zu einer internationalen Untersuchung und der Exhumierung ihres Mannes auf. Überraschend war da schon kaum noch, dass sie bereits zu dem Zeitpunkt über eine entsprechende Fatwa von Scheich Qaradawi sprach – der konservative Medienscheich, der ebenfalls in Qatar ansässig ist, wie Al Jazeera. Bei seiner Gründung 1996 löste Al Jazeera eine kleine Revolution aus, eine Medienrevolution. Die Macht der Staatssender in den arabischen Diktaturen schien gebrochen. Relativ unabhängig konnte der vom Emir von Qatar alimentierte TVSender berichten. Als Verpflichtung mussten die Mitarbeiter nur jegliche (kritische) Berichterstattung über Qatar selbst unterlassen. Das schien ein machbarer Deal und der Sender erfreute sich zunehmender Beliebtheit in vielen arabischen Ländern und bei Arabern weltweit – und mit der englischsprachigen TV-Station weit darüber hinaus. Im Herbst 2011 gab es nach etlichen internen Auseinandersetzungen einen wichtigen Wechsel in der Führungsspitze des Senders: Generaldirektor Wadah Kanfar trat zurück und seine Stelle wurde von einem Mitglied der Emirsfamilie al-Tani übernommen. Viele weitere Mitarbeiter verließen den Sender. Der Emir tritt in der letzten Zeit auch als politischer Akteur im Großraum Arabien zunehmend in Erscheinung. Zum beobachtbaren Wandel bei Al Jazeera könnte das Aufbringen des Skandals um Arafats Tod zum jetzigen Zeitpunkt gehören. Für derartige Phänomene hält die Medienwissenschaft den Begriff „instrumentelle Aktualisierung“ bereit. Damit ist die Erwähnung eines Faktums gemeint, das zu einem anderen Zeitpunkt stattfand. Etwa der Hinweis auf die Giftgasangriffe gegen Kurden durch Saddam Hussein Ende 2002 war eine solche instrumentelle Aktualisierung, denn diese waren viele Jahre zuvor passiert. Durch die Aktualisierung im Kontext einer massiven Dämonisierung Saddam Husseins, des früheren Verbündeten gegen den Iran, übernahmen sie die Funktion der Kriegs-Propaganda gegen den Irak. Ein weiteres Beispiel war das Cover des Time-Magazine mit einer afghanischen Frau, Bibi Aisha genannt, der man Nase und Ohren abgeschlagen hatte. Dieses Foto tauchte erst Jahre nach der Tat und ihrer Aufnahme in ein Heim auf, gerade als durch Wikileaks bekannt geworden war, dass die NATO in Afghanistan Kriegsverbrechen begehe und eine Debatte über den Abzug der Truppen eingesetzt hatte. Die Diskussion über einen frühzeitigen Abzug war damit sofort wieder beendet. Derlei gezielter Einsatz bestimmter ausgewählter Fakten in bestimmten Situationen, wo sie einem bestimmten Zweck dienen, ist keine Seltenheit – es fällt nur oft nicht so eklatant auf. Da man sich momentan die Frage stellen muss, welchem Erkenntnisgewinn die jetzt veröffentlichte Vermutung über die Ermordung Arafats dienen, sollte man den Sachverhalt auf eine mögliche gezielte Kampagne hin überprüfen. Klar, wer Arafat tötete, wollte keinen Frieden, wie Uri Avnery schreibt, denn dazu war Arafat bereit. Aber welche Relevanz hat der Nachweis einer Vergiftung zum jetzigen Zeitpunkt? Welche politischen Auswirkungen würden sich ergeben? Da sich hier nicht wirklich Brisanz ankündigt, die genau zu diesem Zeitpunkt und überhaupt noch Geschichte verändern könnte, gilt es kritisch nachzufragen, inwiefern es sich auch hier um eine instrumentelle Aktualisierung handelt. Ein erstes Indiz könnten die Ermittlungen Al Jazeeras selbst sein: Nämlich, wann diese genau in Auftrag gegeben und abgeschlossen wurden? Könnte die nun erzeugte weltweite Aufregung eine gezielte Aufmerksamkeitssteuerung sein, die von relevanteren Zusammenhängen ablenkt? Angesichts dessen, was in der Region los ist, könnte man jedenfalls die RechercheEnergien sehr wohl auf drängendere Fragen um Interessen und Waffenlieferungen, Wahlen und Aufstandsbekämpfungen, kontinuierliche Landnahme in Palästina im Schatten der Irankriegspropaganda, die neue Rolle Qatars und dergleichen mehr verlegen. Al Jazeera, als gut eingeführtes Medium mit einer hohen Glaubwürdigkeit auch jenseits des Nahen Ostens, könnte einem politischen Akteur wie dem Emir von Qatar jedenfalls ein sehr nützliches Instrument für Ablenkungsmanöver sein.
© Copyright 2025 ExpyDoc