Frau Ambs hätte man nachdenken sollen, was es heißt, wenn man

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Kolumne, 9.07.2012
© Sabine Schiffer
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Arafat und die neue Rolle Al Jazeeras
Obwohl Yassir Arafats Tod 2004 sofort Spekulationen über ein Fremdeinwirken
ausgelöst hatte, wird das erst jetzt zum Medienthema. Maßgeblich lanciert vom
qatarischen Fernsehsender Al Jazeera, der am 4. Juli 2012 die Ergebnisse einer
selbst in Auftrag gegebenen Untersuchung in der Schweiz mitsamt einem am selben
Tag geführten Interview mit Suha Arafat präsentierte. Die Witwe Arafats, die vom
Moderator der Sendung anscheinend kritisch in die Zange genommen wird, gab an,
dass sie erst am Morgen von Al Jazeera von Poloniumfunden an den letzten
Kleidungsstücken ihres Mannes erfahren habe. Am selben Tag rief sie dann – eben
via dieses Interviews – zu einer internationalen Untersuchung und der Exhumierung
ihres Mannes auf. Überraschend war da schon kaum noch, dass sie bereits zu dem
Zeitpunkt über eine entsprechende Fatwa von Scheich Qaradawi sprach – der
konservative Medienscheich, der ebenfalls in Qatar ansässig ist, wie Al Jazeera.
Bei seiner Gründung 1996 löste Al Jazeera eine kleine Revolution aus, eine
Medienrevolution. Die Macht der Staatssender in den arabischen Diktaturen schien
gebrochen. Relativ unabhängig konnte der vom Emir von Qatar alimentierte TVSender berichten. Als Verpflichtung mussten die Mitarbeiter nur jegliche (kritische)
Berichterstattung über Qatar selbst unterlassen. Das schien ein machbarer Deal und
der Sender erfreute sich zunehmender Beliebtheit in vielen arabischen Ländern und
bei Arabern weltweit – und mit der englischsprachigen TV-Station weit darüber
hinaus. Im Herbst 2011 gab es nach etlichen internen Auseinandersetzungen einen
wichtigen Wechsel in der Führungsspitze des Senders: Generaldirektor Wadah
Kanfar trat zurück und seine Stelle wurde von einem Mitglied der Emirsfamilie al-Tani
übernommen. Viele weitere Mitarbeiter verließen den Sender. Der Emir tritt in der
letzten Zeit auch als politischer Akteur im Großraum Arabien zunehmend in
Erscheinung.
Zum beobachtbaren Wandel bei Al Jazeera könnte das Aufbringen des Skandals um
Arafats Tod zum jetzigen Zeitpunkt gehören. Für derartige Phänomene hält die
Medienwissenschaft den Begriff „instrumentelle Aktualisierung“ bereit. Damit ist die
Erwähnung eines Faktums gemeint, das zu einem anderen Zeitpunkt stattfand. Etwa
der Hinweis auf die Giftgasangriffe gegen Kurden durch Saddam Hussein Ende 2002
war eine solche instrumentelle Aktualisierung, denn diese waren viele Jahre zuvor
passiert. Durch die Aktualisierung im Kontext einer massiven Dämonisierung
Saddam Husseins, des früheren Verbündeten gegen den Iran, übernahmen sie die
Funktion der Kriegs-Propaganda gegen den Irak. Ein weiteres Beispiel war das
Cover des Time-Magazine mit einer afghanischen Frau, Bibi Aisha genannt, der man
Nase und Ohren abgeschlagen hatte. Dieses Foto tauchte erst Jahre nach der Tat
und ihrer Aufnahme in ein Heim auf, gerade als durch Wikileaks bekannt geworden
war, dass die NATO in Afghanistan Kriegsverbrechen begehe und eine Debatte über
den Abzug der Truppen eingesetzt hatte. Die Diskussion über einen frühzeitigen
Abzug war damit sofort wieder beendet. Derlei gezielter Einsatz bestimmter
ausgewählter Fakten in bestimmten Situationen, wo sie einem bestimmten Zweck
dienen, ist keine Seltenheit – es fällt nur oft nicht so eklatant auf.
Da man sich momentan die Frage stellen muss, welchem Erkenntnisgewinn die jetzt
veröffentlichte Vermutung über die Ermordung Arafats dienen, sollte man den
Sachverhalt auf eine mögliche gezielte Kampagne hin überprüfen. Klar, wer Arafat
tötete, wollte keinen Frieden, wie Uri Avnery schreibt, denn dazu war Arafat bereit.
Aber welche Relevanz hat der Nachweis einer Vergiftung zum jetzigen Zeitpunkt?
Welche politischen Auswirkungen würden sich ergeben? Da sich hier nicht wirklich
Brisanz ankündigt, die genau zu diesem Zeitpunkt und überhaupt noch Geschichte
verändern könnte, gilt es kritisch nachzufragen, inwiefern es sich auch hier um eine
instrumentelle Aktualisierung handelt. Ein erstes Indiz könnten die Ermittlungen Al
Jazeeras selbst sein: Nämlich, wann diese genau in Auftrag gegeben und
abgeschlossen wurden? Könnte die nun erzeugte weltweite Aufregung eine gezielte
Aufmerksamkeitssteuerung sein, die von relevanteren Zusammenhängen ablenkt?
Angesichts dessen, was in der Region los ist, könnte man jedenfalls die RechercheEnergien sehr wohl auf drängendere Fragen um Interessen und Waffenlieferungen,
Wahlen und Aufstandsbekämpfungen, kontinuierliche Landnahme in Palästina im
Schatten der Irankriegspropaganda, die neue Rolle Qatars und dergleichen mehr
verlegen. Al Jazeera, als gut eingeführtes Medium mit einer hohen Glaubwürdigkeit
auch jenseits des Nahen Ostens, könnte einem politischen Akteur wie dem Emir von
Qatar jedenfalls ein sehr nützliches Instrument für Ablenkungsmanöver sein.