Was heißt starke bzw. schwache Sprache in der zweisprachigen Erziehung? Als Christines Familie nach Frankreich zog, war Christine sechs Jahre alt. Sie wurde von Geburt an zweisprachig, Griechisch und Französisch erzogen, da ihre Mutter Französin und der Vater Grieche ist. Sie besuchte in Athen drei Jahre lang den Kindergarten. Mit sechs Jahren sprach sie bereits sehr gut Griechisch. Die Kindergärtnerinnen behaupteten, dass sie für ihr Alter über einen differenzierten Wortschatz und eine sehr gut entwickelte Ausdrucksfähigkeit verfüge. Ihr Französisch war, nach Meinung ihrer Mutter, mittelmäßig. Sie konnte sich zwar mit der französischen Großmutter unterhalten, aber sowohl ihr Wortschatz als auch ihre Satzstruktur waren nicht altersgemäß entwickelt. Ein mit der Familie befreundeter Linguist sagte damals, dass Christines starke Sprache ohne Zweifel Griechisch sei. Inzwischen, fünf Jahre später, hat sich die Situation verändert. Christine besucht das französische Gymnasium und ist eine sehr gute Schülerin – insbesondere in den sprachlichen Fächern. Sowohl ihre mündlichen als auch ihre schriftlichen Leistungen in Französisch sind ausgezeichnet. Sie erhält einmal pro Woche je 4 Stunden Unterricht in der griechischen Sprache. Doch ihr Cousin, den Christine jedes Jahr im Sommer besucht und zu dem sie regelmäßigen E-Mail Kontakt hat, bezeichnet ihr Griechisch als „miserabel“. Ihr Vater, der sich bemüht, mit Christine jeden Tag Griechisch zu sprechen, sagte neulich ganz traurig, „Griechisch ist jetzt die schwache Sprache von Christine“. Die meisten zweisprachigen Personen beherrschen die beiden Sprachen nicht gleich gut. Am häufigsten trifft 34 man Zweisprachige, die über die eine ihrer Sprachen fast so gut verfügen wie gleichaltrige Monolinguale. Die besser entwickelte Sprache, die „starke“ oder auch „dominante“, ist meistens die Sprache der Umgebung, d. h. die Sprache, welche im unmittelbaren Umfeld gesprochen wird. Die Sprachfähigkeit in der anderen Sprache entwickelt sich meistens langsamer. Sie erreicht aber selten das Niveau der starken Sprache und damit stellt die „schwache Sprache“ der Zweisprachigen dar. Welche der beiden Sprachen einer zweisprachigen Person die starke oder die schwache Sprache wird, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Einer der wichtigsten Faktoren ist die Intensität der sprachlichen Reize, mit denen das zweisprachige Kind täglich konfrontiert wird. Aber auch die Zahl der angebotenen Gebrauchsmöglichkeiten dieser Sprache, welche die zweisprachige Person in ihrer Umgebung hat, ist von entscheidender Bedeutung. Das ist der Grund, warum die starke Sprache nicht immer die gleiche bleiben kann, wie wir im Beispiel von Christine gesehen haben. Auch soziokulturelle Faktoren können die Ausbildung der einen Sprache als starke und die der anderen als der schwache Sprache beeinflussen. Die Gefühle und Einstellungen, welche das unmittelbare Umfeld der Kinder für die von ihnen gesprochene Sprache aufbringt, können sich positiv oder negativ auf ihren Spracherwerb auswirken. Wenn z. B. der Vater die Sprache der Mutter nicht schätzt und zu deren Familie keinen Kontakt pflegen will, ist es nicht verwunderlich, dass sich das zweisprachige Kind davon beeinflussen lässt und kein Interesse mehr daran zeigt, diese Sprache zu lernen. Außerdem wird dem Kind die Gelegenheit genommen, diese Sprache häufig zu hören 35 oder zu sprechen. Das Prestige der Muttersprache ist gering. Wenn das Kind eine der beiden Sprachen besser beherrscht als die andere, wird es die dominante Sprache häufiger benutzen und dadurch natürlich in dieser Sprache größere Fortschritte machen. Die schwache Sprache droht zu verkümmern, und es kann ein Teufelskreis entstehen, der nur schwer durchbrochen werden kann. Manchmal entwickelt die zweisprachige Person für bestimmte Erlebnisbereiche oder Themen nur in der einen ihrer beiden Sprachen einen erweiterten und differenzierten Wortschatz. Deshalb bevorzugt sie, sich nur in dieser Sprache darüber zu äußern. Wenn sie aber über dieses Thema in der anderen Sprache sprechen muss, zeigt sie enorme Schwierigkeiten, die richtigen Wörter zu finden. Das Eintreten dieser Möglichkeit hängt meistens von den Erlebnissen und den damit verbundenen Gefühlen der zweisprachigen Person zu dieser Sprache ab. Evas Mutter ist Italienerin, der Vater Deutscher. Die Familie lebt in Augsburg. Eva wurde von Geburt an zweisprachig erzogen. Sie besucht zurzeit die 10. Klasse der Realschule. Ihre starke Sprache ist eindeutig Deutsch, Italienisch kann sie nicht schreiben. Außerdem hat sie Schwierigkeiten, auf Italienisch komplizierte Zusammenhänge auszudrücken. Handelt es sich jedoch um Gefühlsäußerungen wie Zärtlichkeit, Ärger oder Wut spricht sie automatisch Italienisch. Sie stellte einmal beim Babysitten fest, dass sie nicht in der Lage war, gegenüber dem zweijährigen Kind auf Deutsch ihre Gefühle richtig zu äußern. 36 Welche besonderen Sprachmerkmale tauchen bei Zweisprachigen auf? Wenn man zweisprachigen Personen aufmerksam zuhört, stellt man fest, dass ihre Sprache charakteristische Besonderheiten aufweist, die bei einsprachigen Personen selten auftreten. In diesem Abschnitt werden wir auf diese Besonderheiten kurz eingehen. Es ist wichtig, bei einer zweisprachigen Erziehung zu wissen, welche Merkmale in der Sprachentwicklung der Kinder ,normal’ bzw. akzeptabel und welche Besorgnis erregend sind. Am häufigsten treten in der Sprache von zweisprachigen Menschen Interferenzen, Sprachmischungen sowie das sogenannte Codeswitching auf. 37
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