Was also ist die Zeit? Philosophische Meditationen über ein ewiges

Was also ist die Zeit?
Philosophische Meditationen über ein ewiges Thema
Peter Vollbrecht, Esslingen
I.
Es gibt Fragen, die sich nie verlieren im langen Lauf der Menschheitsgeschichte.
Fragen, die sich in den tiefsten Schichten des menschlichen Selbstverständnisses
sedimentieren, die von dort aufschwimmen und irgendwann einmal jedes Leben
erreichen. Wer bin ich? Was ist der Mensch? Oder auch die Frage: Was ist die
Zeit?
Vor über 1600 Jahren hatte sie Aurelius Augustinus gestellt. ”Was also ist die
Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden
es erklären, weiß ich es nicht.” Vielleicht, ja wahrscheinlich ergeht es uns
ebenso, wenn wir in die Lage geraten, einem Kind die Zeit zu erklären. “Was
also ist die Zeit?” Die Antwort darauf finden wir nicht, wenn wir auf das
Zifferblatt unserer Armbanduhr schauen und den Sekundenzeiger verfolgen.
Auch nicht in den Kalendern, nicht beim Beobachten eines dahinbrausenden
Schnellzuges, nicht in den am Himmel schnell dahinziehenden Wolken. Eher
schon beim Anblick jener Photos, die einen und denselben Menschen als
Kleinkind, Jugendlichen, jungen Erwachsenen, reifen Menschen und als Greis
zeigen. Denn diese Photos - gern verwendet von der Versicherungsbranche diese Photos gehen uns persönlich an, sie zeigen uns unsere Zeitlichkeit, unsere
Endlichkeit. Aber die Zeit - das ist doch auch viel mehr: es ist die Zeit des
Universums, die Zeit der Biosphäre, die Zeit, in der sich die Ereignisse der Welt
abspielen, es ist die religiös erlebte Zeit als Heilszeit und Erlösungszeit, es sind
die Momente von Zeitlosigkeit, beim Spiel etwa oder im Drogenrausch und in
der Extase. Alles ist zeitlich, und so hat die Zeit wohl ebenso viele Facetten wie
es Phänomene gibt. Als kleines Kind kam ich ins Grübeln, als ich hörte, es gebe
Fliegen, die nur einen Tag lang leben. “Wie”, dachte ich, “der Vormittag ein
halbes Leben?” Und ich versuchte mich in das Zeitempfinden der Eintagsfliege
hineinzudenken, und natürlich bedauerte ich sie, daß sie den Sonnenuntergang
immer nur im Greisenalter genießen kann. Und wieder kam ich ins Staunen, als
mir kleinem Jungen jemand sagte - vielleicht war’s der Religionslehrer - für
Gott dauere ein Menschenleben so lang wie ein Wimpernschlag. Das ging
gänzlich über mein Fassungsvermögen. Und wenn ich ehrlich sein soll: das tut
es heute noch. Nein, wenn wir über die Zeit nachsinnen, dann sind wir alle
irgendwie Kinder. Und das ist gut so, denn die wahren Philosophen, das sind sie,
die kleinen Kinderseelen, die noch theorielos die Welt anstaunen und im
Staunen eine neugierige Gespanntheit an den Tag legen, die wir Erwachsene
schon verloren haben.
“Was also ist die Zeit?” Vielleicht können wir mit dieser Frage uns diese
kindliche Gespanntheit für kurze Zeit zurückholen. Das wird uns natürlich nicht
richtig gelingen können, dafür spukt uns einfach zu vieles im Kopfe herum.
Aber versuchen wir es, und versenken wir uns dazu zunächst in die
Gedankenzüge des alten Augustinus.
II.
Was also ist die ”Zeit”? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich
es; will ich aber einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. Aber
zuversichtlich behaupte ich zu wissen, daß es vergangene Zeit nicht
gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts
herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre.
(Augustinus, Confessiones, XI. Buch, 14)
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Und mit dieser Zuversicht macht sich Augustinus ans Werk, das Wesen der Zeit
zu ergründen. Das Wesen der Zeit, - es muß in geheimnisvoller Weise in der
Gegenwart, der Präsenz des Seins liegen. Ich will Sie nicht ins Labyrinth der
Augustinischen
Überlegungen
führen,
ein
Labyrinth,
aus
dem
der
nordafrikanische Bischof immer wieder auftaucht, bittend, Gott möge ihm die
Einsicht in das Faszinosum der Zeit nicht verwehren. Es ist ein großartiger Text,
und er verdiente, im Ganzen gelesen zu werden. Augustinus schlägt sich darin
wirklich mit vertrackten Problemen herum: wie können wir von der
Vergangenheit und der Zukunft sagen, daß sie existiere? Denn offenkundig sind
sie nicht, die Vergangenheit nicht mehr, die Zukunft noch nicht. Doch wie steht
es um die Gegenwart? Ist sie nicht auch immer schon vergangen oder steht kurz
bevor? Ist sie nicht ein ausdehnungsloser Punkt? Was also ist die Zeit? Was
messen wir eigentlich, wenn wir Zeit messen? Augustinus lehnte die
naheliegende, auch in seiner Zeit naheliegende Antwort der Astronomen ab,
‘Zeit’ sei nichts anderes als die Bewegung der Himmelskörper.
Was ich erkennen möchte, ist Sein und Seinsmacht der Zeit, die es
möglich macht, die Bewegung von Körpern zu messen und dann zu
sagen, diese Bewegung währe beispielsweise doppelt so lang wie jene.
(Augustinus, Confessiones, XI, 23)
Anders gesagt: was ist Dauer, oder schärfer formuliert: was gibt der
kontinuierlich verfließenden Zeit Dauer? Und erneut stößt Augustinus auf das
Phänomen der Gegenwart: Gegenwart oder Dauer muß in irgendeiner Weise
eine Qualität der Zeit sein, und offenkundig eine Qualität, die quer steht zur
Auffassung, ja, die sich geradezu an der konkurrierenden Auffassung reibt, Zeit
wäre ein bloßer Fluß von punktuellen, atomisierten Augenblicken, die aus der
Zukunft
in
die
Vergangenheit
eilen
und
an
unserem
Bewußtsein
vorüberströmen. Wir finden ein paar schöne Texte zu diesem Augustinischen
Gedanken in der Sammlung, und wir können uns im Gespräch das
eigentümliche Gegenwarts-Gewicht näher anschauen, das Augustinus in die
Zeitreihe versenkt. Augustinus möchte festen Stand gewinnen im Fluß der Zeit,
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er möchte einen archimedischen Punkt finden, von dem aus der Mensch auf den
Fluß der Zeit schauen kann. Nach allem, was wir über Augustinus und seine Zeit
wissen, sind wir natürlich nicht überrascht, wenn er diesen archimedischen
Punkt, von dem aus die Zeit Dauer gewinnt, wenn er diesen archimedischen
Punkt in einer höchsten Instanz, einer zeitentrückten Dimension sucht. ”Mir
brennt danach, dies ungemein verwickelte Rätsel zu entwirren”, bekennt
Augustinus, ”Halt nicht verschlossen, Herr, mein Gott, guter Vater, bei Christus
beschwöre ich Dich, halte diese Dinge, so alltäglich und so abgründig nicht
verschlossen meinem Verlangen, daß es in sie eindringt und sie licht werden...”
(XI, 22) Und Augustinus Antwort auf das Rätsel Zeit: ”In dir, mein Geist, messe
ich die Zeiten.” (XI, 27) Der Geist, so Augustinus, erwartet, nimmt wahr und
erinnert sich. Der Geist gibt der Zeit Dauer. Der Geist gibt der Zeit Wirklichkeit.
Bedenken wir: Augustinus’ Satz vom zeitmessenden Geist ist fünfzehnhundert
Jahre alt. Doch was rede ich? Augustinus redet nicht vom zeitmessenden Geist,
sondern vom Geist als dem Medium, in dem Zeit gemessen wird. Ich habe
gerade Augustinus antiken Gedanken in den Geist des 20. Jahrhunderts
übersetzt, ich bin gleichsam in der ‘Geschichte des Zeitbewußtseins’ einige
Epochen weiter geeilt. Dieser Fehler, so scheint mir, geschah nicht von
ungefähr. Denn Augustinus Zeit-Theorie hat in der Tat einen sehr modernen
Kern. ”In dir, mein Geist, messe ich die Zeit” - klingt da nicht eine moderne
Vermessenheit an, Herr über die Zeit zu sein? Gewiß, das, was Augustinus unter
Geist versteht, ist etwas völlig anderes als das neuzeitliche Subjekt, das stolz
und selbstbewußt seine eigene Freiheit genießt. Gewiß, Augustinus bindet seine
Rede vom Geist an die Ehrfurcht vor einem größeren Geist zurück als es der
Mensch je sein könnte. Gewiß, Augustinus meint einen Geist, der sich gewiß ist,
daß er sein Leben dem Atem Gottes verdankt. Aber dennoch: Augustinus öffnet
der Zeit ein Tor zum menschlichen Bewußtsein, und das ist denn auch das
eigentlich Neue, das damals mit Augustinus in die ‘Geschichte des
Zeitbewußtseins’ trat. Der Mensch erfährt, daß er es ist, der ein Zeitkontinuum
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herstellt, der Zeit Dauer verleiht und der Zeit dadurch auf die menschliche
Lebenswelt bezieht. Im Menschen spielen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft ineinander, und er ist es, der hier die jeweiligen Akzente setzt.
III.
Doch ist das nicht allzu kühn gesagt? Verhält es sich nicht anders? Ist die Zeit
nicht wie eine große Bühne, ausgerollt mit dem Urknall selbst? Eine Bühne, auf
der wir alle unsere Auf- und Abtritte haben, ein unerbittliches Geschehen, daß
uns immer wieder die größte Zumutung vor Augen führt, die wir Menschen
auszuhalten haben, nämlich: unsere Sterblichkeit? Erstreckt sich vor unseren
Augen nicht eine Zeitlichkeit, auf die wir keinen Einfluß haben, die Weltzeit?
Muß es nicht moderne Erkenntnis sein, daß Lebenszeit und Weltzeit sich nicht
ineinander überführen lassen, daß zwischen ihnen ein Riß klafft? Gibt es nicht
einen unüberwindlichen Graben zwischen der objektiven, physikalischen Zeit
und der subjektiv erlebten Lebenszeit? Wie also kann man behaupten, es sei der
Mensch selbst, der die Fäden von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in den
Händen hält? Ist das nicht eine Vermessenheit? Ist das nicht die Hybris des
modernen Menschen, der meint, Herr über die Zeit zu sein?
Es ist also an der Zeit, dieses Bündel wichtiger Fragen zu stellen. Wir nehmen,
um die Fragen noch weiter einzuschärfen, dazu noch einmal unseren Ausgang
bei Augustinus. Er wollte die Zeit ja von einem zeitentrückten Geist überwölbt
sehen. Vorderhand ging es ihm um das Problem, Zeit zu messen. Hintergründig
aber ging es ihm darum, über die Zeit zu triumphieren, eine Ewigkeit gegen die
Zeitlichkeit ins Spiel zu bringen, die Ewigkeit des Geistigen. Der Geist gebiert
die Zeit und nicht umgekehrt. Das ist die christliche Auffassung. Augustinus
meinte, als Gott die Welt geschaffen habe, da habe er die Zeit mitgeschaffen,
und zwar genug davon. Wir sehen: die schneidende Schärfe, die vom Gedanken
der Zeitlichkeit aller Dinge ausgeht, wird in der christlichen Auffassung
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abmildert. Ja, die Weltzeit wird in der christlichen Auffassung moralisch
aufgeladen: am Ende aller Zeiten erwartet uns das Endgericht, hier wird
gewogen und gemessen, was die Menschen aus ihrer Zeit gemacht haben. Diese
Vorstellung - ich kann es nur andeuten - beläßt zwar Gott seine Herrschaft über
die Zeit, sie gibt dem Menschen aber ineins damit seine Verantwortung über ein
sinnerfülltes Leben in der Zeit. Von der Weltzeit führt ein Pfad hinüber zur
Lebenszeit. Wir können nachher noch gemeinsam über diese kulturgeschichtlich
frühe Zeitauffassung debattieren, wir können ihren verschlungenen Wegen noch
nachforschen, ich möchte aber mit einer weiteren Frage eine Abkürzung wagen:
gewinnt mit der Geburt des Monotheismus auch das Bestreben des Menschen
ungeahnten Auftrieb, seine Zeitlichkeit zu überwinden? Wenn es so wäre, dann
würde die kulturelle Sprengkraft des Monotheismus, zuerst des jüdischen, dann
darauf folgend des zoroastrischen, des christlichen und schließlich des
islamischen, dann würde die kulturelle Sprengkraft des Monotheismus sich vor
allem in einer neuen Auffassung von Zeit sich erweisen. Ist der Monotheismus
also der gewagte Versuch, Lebenszeit und Weltzeit miteinander zu verlöten?
Von hier aus können wir weiter durch die Geschichte des Zeitbewußtseins, des
westlichen Zeitbewußtseins streifen. Wir könnten nun beobachten, wie die
Lötstelle immer wieder neu bearbeitet wird. Und dabei würden wir auf
Phänomen stoßen, das auf den ersten Blick sehr merkwürdig ist. Es ist bekannt,
daß die Urchristen der Auffassung waren, das Himmelreich stehe unmittelbar
bevor. Das war die Spur, die der jüdische Messianismus in das frühe
Christentum hineingezeichnet hatte. Doch nichts dergleichen geschah, eher
ereignete sich das Gegenteil: Gott zog sich mehr und mehr aus der Welt zurück.
Oder vielleicht sollte ich richtiger sagen: die Entwicklungsgeschichte des
menschlichen Bewußtseins ließ nur noch einen fernen Gott zu. Aber ich will
mich nicht auf dem theologischen Acker verlieren, wo ich mich ohnehin nicht
gut auskenne, mir ist folgender Gedanke wichtig: je weiter Gott in die Ferne
rückte, desto stärker wuchs des Menschen Gefühl für seine Lebenszeit. Gewiß,
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sie war immer auch eine Verantwortlichkeit vor Gott gewesen, aber für das
Zeitbewußtsein ergab sich doch aus der Ferne Gottes eine aufschlußreiche
Konsequenz: der Mensch wirft sich voller Elan in die Zeit und übernimmt aus
ihr das Gesetz seines Handelns, mitunter recht streng, wie dies eine puritanische
Stelle aus dem 17. Jahrhundert deutlich zeigt:
Die Zeit ist ein allzu wertvolles Gut, um mißachtet zu werden. Sie ist
eine goldene Kette, an der die ganze Ewigkeit hängt; der Verlust von
Zeit ist unverzeihlich, denn er ist durch nichts wiedergutzumachen...
Wo bleibt der Verstand jener Menschen und aus welchem Metall
sind ihre verhärteten Herzen, daß sie müßig gehen und die Zeit
vertändeln, diese kurze Zeit, diese einzige Zeit, die ihnen für die
ewige Rettung ihrer Seelen gegeben ist?
Ich denke, wir sind alle etwas belustigt über den oberlehrerhaften Ton, aber
könnte es nicht sein, daß die Strenge dieser Stimme weiterschwingt seit den
puritanischen Tagen? Wir meinen heute gewiß nicht mehr, daß, wer Zeit
vertändelt, die ganze Kette der Zeit in Unordnung bringt. Und wir meinen auch
nicht, wir müßten unsere Seelen durch ein geschicktes Zeitmanagement retten.
Aber - und das wäre die zweite Frage aus dem Bündel: haben wir vielleicht nur
die Horizonte vertauscht? Haben wir mit einem Schwamm den religiösen
Horizont weggewischt, einen anderen darübergelegt, so daß das Bewußtsein
eigener Zeit-Verantwortlichkeit ungebremst von religiösen Einsprüchen sich
entfalten konnte? Schließlich beschleunigen sich die Zeiten mit der industriellen
Revolution des 18. Jahrhunderts und den technologischen Schüben seit dem
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts enorm. Wie können wir mehr Leistungen in
kürzerer Zeit erbringen? Das scheint doch die Kardinalfrage unserer Epoche zu
sein. Und in teuren Zeitmanagement-Seminaren, so versprechen es die
Broschüren, lernen wir, unseren Terminkalender effizienter zu gestalten, nicht
mehr der Zeit hinterherzuhecheln, sondern souverän über der Fülle der Termine
zu thronen, ein Zeitgott im Nadelstreifenanzug zu werden. Wenn uns die Zeit
ausgeht, dann helfen Strategien intelligenter Zeitverwaltung weiter, so
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suggerieren uns die Trainer. Die Technologie macht vor der Zeit selbst keinen
Halt mehr. Auch sie ist zu modeln. Sind wir wirklich so weit entfernt von der
pietistischen Zeitethik des 17. und 18. Jahrhunderts?
Wir sind weit vorausgeprescht ins Zeitbewußtsein des 20. und 21. Jahrhunderts.
Das Beispiel der Zeitmanager gibt mir ein neues Stichwort für einen neuen
Anlauf zur alten Frage “Was also ist die Zeit?” Die Zeitmanager, sagte ich,
träumen von der Möglichkeit, die Zeit besser zu beherrschen. Herrschaft über
die Zeit bedeutet aber auch Herrschaft über den Raum. Heinrich Heine schrieb
1843 beim Anblick einer mit 30 bis 40 Stundenkilometern dahinrasenden
Eisenbahn: “Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer
Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen, sogar die Elementarbegriffe
von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der
Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig.” Nun, was den Raum
betrifft, so hatte Heine wohl recht. Wir haben trennende Räume überwunden.
Wir müssen uns nicht mehr über kurvige Paßstraßen quälen, um ins Land der
Zitronen zu gelangen, wir rauschen heute gemütlich mit 100 Stundenkilometern
in langen Tunnelröhren unter den Gletschern hinweg. Die Berge sind nur noch
eine unterhaltsame Kulisse auf unserem Weg in den Süden. Mit unseren
Technologien haben wir den Erdenraum zusammengestaucht und unseren
Lebensraum enorm vergrößert. Und wie steht es mit der Zeit? Ist auch sie
überwunden?
Ja und Nein. Das kommt auf die Perspektive an. Die Transportzeiten sind enorm
verkürzt worden. Ja, man sagen, daß die moderne Telekommunikation den
Zeitfaktor
ausgeschaltet
hat.
Informationen
können
im
Nu
eines
Wimpernschlages rund um den Globus verschickt werden. Die Geschäftszeiten
sind auf 24 Stunden ausgedehnt worden, zumindest im Internethandel. Die
Weltbörsen sind immer offen, wenn Tokio schließt, öffnet New York. Die
Einteilung der Welt in Zeitzonen ist hinfällig geworden. Im Computer taktet
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nicht mehr die Greenwich-Zeit oder die Eastern Standard Time, sondern eine
einheitliche Weltzeit. Damit ist eine Entwicklung zur standardisierten Zeit zum
vorläufigen Abschluß gekommen. 1860 gab es in den USA noch etwa 300
verschiedene Lokalzeiten. Annähernd jede Stadt hatte ihre eigene Zeit. Das war
sehr unpraktisch für die Fahrpläne der Eisenbahn, die damals gebaut wurde, und
so entschied man sich 1882, Amerika in vier Zeitzonen aufzuteilen. In
Deutschland existierten 1893 zehn verschiedene Zeitrechnungen, allein am
Bodensee kannte man die Karlsruher Zeit in Konstanz, die Stuttgarter Zeit in
Friedrichshafen, die Münchener Zeit in Lindau, die Prager Zeit in Bregenz und
die Berner Zeit in Rorschach und Romanshorn. Ein Jahr später wurde die
Zeitenvielfalt dann radikal abgelöst durch die Aufteilung der Welt in 24
Zeitzonen. Und am 23. Oktober 1998 trat der Chef des Schweizer SwatchImperiums, Nikolas Hayek, vor die Kameras und verkündete den Beginn einer
neuen Zeitordnung: die Biel Meridian Time, die den Tag weltweit in 1000 Beats
einteile, jeder Beat 1 Minute und 26,4 Sekunden, und der Welttag beginne
Schlag Mitternacht in Biel in der Schweiz. Nun sind wir also alle
zeitzentralisiert, und vor allem: diese Zeit hat nichts mehr, aber auch gar nichts
mehr mit dem natürlichen Lauf der Dinge zu tun, mit Sonnenstand, mit
Jahreszeiten, mit Dämmerungen und mit der Schwärze der Nacht. Nein, all das
haben wir überwunden, wir haben uns von den Fesseln der Natur befreit, endlich
auch zeitlich.
Aber wir haben uns unter ein neues Diktat gebeugt. Zeit ist Geld, das ist der
Motor der kulturellen Zeit. Lebenszeit und Weltzeit - Weltzeit nun nicht im
Sinne des Swatch-Imperiums verstanden, sondern als die Zeit in der Natur Lebenszeit und Weltzeit haben sich endgültig voneinander abgekoppelt.
Ist das tatsächlich so? Das ist die eine Frage. Und die andere: Haben wir dadurch
Freiheiten gewonnen? Oder haben wir die Naturherrschaft der Zeit nur
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vertauscht mit der Herrschaft des Kapitals und der Börsenkurse? Und die dritte:
Gibt es Auswege aus dem Dilemma?
Das sollten wir nun auch diskutieren. Lassen Sie mich dazu noch ein paar
Anregungen in die Runde werfen. “Alles Tun der Menschen hat seine Zeit”,
meinte der Prediger Salomo. Und er wollte damit sagen: alles braucht seine Zeit,
seine individuelle Zeit. Die individuelle Zeit ist aber im Verlaufe der westlichen
Kulturgeschichte unter die Räder gekommen. Alles wird standardisiert und
normiert. Die Kinder werden darauf trainiert, Aufgaben in einem bestimmten
Zeitquantum zu erfüllen. Die Schnelligkeit gilt als Trumpf, Langsamkeit als
Mangel. Die Menschen sollen sich in den Zeitschlag des Systems einpassen.
Und dieses System verlangt von uns, unsere Arbeitszeiten in die Nacht
auszudehnen. Dabei kommt es immer wieder zu Kollisionen und Katastrophen.
Es ist bekannt, daß die großen Industriekatastrophen allesamt zwischen 1 Uhr
und vier Uhr nachts sich ereignet haben: das Tankerunglück der Exon Valdez
vor Alaska, Tschernobyl, Harrisburg und andere mehr. Immer waren es
übermüdete Menschen, die Fehler begangen hatten. Die Systemzeiten des
Wirtschaftskreislaufs kollidierten mit dem Biorhythmus des Menschen, oder
besser gesagt: Katastrophen ereignen sich, wenn Biorhythmus und ökonomische
Systemzeit nicht synchronisiert sind. Es hapert also genau an mangelnder
Synchronisation von biologischer und ökonomischer Zeit. Es wäre nun lohnend,
die daraus resultierenden Schäden wieder in ökonomischen Maßstäben zu
messen, um zu ermitteln, welche volkswirtschaftlichen Schäden aus der
mangelnden Synchronisation sich ergeben. Eine solche Liste hätte überdies viele
Posten, denn man müßte die gescheiterten Beziehungen mit einrechnen, die an
Zeit-Kämpfen
der
Partner
zugrundegegangen
sind,
die
vielen
Zivilisationskrankheiten und dergleichen mehr. Das würde dann vielleicht die
Grundlage abgeben für eine neue Zeitpolitik. Das wäre schon ein Ansatz für die
dritte der erhobenen Fragen, der Frage, wie Auswege aus dem Dilemma
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gefunden werden könnten, dem Dilemma, das sich aus dem Streben des
Menschen nach Zeitherrschaft ergeben.
“Was also ist die Zeit?” Das war die Grundfrage, mit der wir uns aufgemacht
hatten in die weiten Landschaften des Zeitlichen. Wir haben einige Fäden
verfolgt, die sich nun, vor unserem Gespräch, zu einem Knoten verflochten
haben: die Zeit ist in der Moderne vergesellschaftet worden, und damit ist das
Zeitproblem zu einem Machtproblem geworden. Es ergibt sich ein
merkwürdiger Befund: einerseits müssen wir immer weniger Zeit aufwenden,
um unsere elementaren Lebensbedürfnisse zu befriedigen: für Lebensmittel, für
den Haushalt, für den Transport. Trotzdem hat sich die Zeit ungeheuer
verknappt. Keiner hat mehr Zeit. Und die, die Zeit haben, stehen im
gesellschaftlichen Abseits. Der Arbeitslose, der im Trainigsanzug am späteren
Vormittag seinen Hund Gassi führen geht, dieser Zeit-Millionär, auch er fühlt
sich nicht wohl, weil er über ein Gut verfügt, das ihn ins gesellschaftliche
Abseits stellt: Zeit. “Was also ist die Zeit?” Diskutieren wir das jetzt zunächst
unter dem Blickwinkel unseres Umgangs mit ihr.
IV.
Es war einmal ein kleiner Junge. Er wohnte in der Stadt und war
nicht älter als drei Jahre und sehr verspielt. Sein Vater sagte an einem
schönen Sonntag im Frühling zu ihm: “Komm mit, wir gehen in den
Park.” Und sie gingen in den Park. Dort waren die Frühlingsblumen
aus der Erde gekommen; ringsherum blühte es, gelb, weiß und blau.
Dem kleinen Jungen gefiel dies sehr. Er ging zu den Blumen, roch
daran und entdeckte, da es in der vorhergehenden Nacht geregnet
hatte, viele kleine Schnecken unter den Pflanzen. Die sammelte er
und lief dabei kreuz und quer, hin und zurück, über die blühenden
Anlagen. Der Vater stand dabei, schaute zu und freute sich über
diesen schönen Tag. Nach einiger Zeit jedoch wurde er unruhig und
ging einige Schritte weiter. Das Kind aber blieb bei seiner
Entdeckung. Der Vater sprach es an: “Komm, wir gehen weiter.”
Keine Antwort, keine Reaktion: “Komm halt, wir gehen etwas
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weiter”, rief er, schon ungeduldiger, zum zweitenmal. Da schaute der
kleine Junge auf und fragte: “Wohin denn weiter?”
Vielleicht ist diese Geschichte, die ich einem Buch des Zeitforschers Karl-Heinz
Geissler entnommen haben, etwas konstruiert. Wir berufen uns ja gern auf die
kindliche Welt, meinen, dort etwas Heiles zu erblicken, und wir halten uns dann
unsere eigenen Defekte vor. Aber vielleicht hätte es so sein können. Nehmen wir
die Geschichte als einen Spiegel, in den wir umtriebige Erwachsene blicken. Wir
Erwachsene wollen immer weiter, wir meinen vielleicht, etwas zu verpassen.
Wir leben nicht oder nur sehr wenig im Augenblick.
Ich denke, das hat etwas mit unserem westlichen Zeitbewußtsein zu tun. Und ich
muß nun erneut hinabsteigen in die kulturgeschichtlich tieferen Schichten des
Zeitbewußtseins, und da treffe ich auf die altjüdische Erfahrung von Zeit. Sie
brachte etwas kulturgeschichtlich völlig Neues ein: die Auffassung, die Zeit sei
ein Pfeil, der von der Weltschöpfung seinen Kurs nimmt auf ein Weltende. Jeder
Moment in der Zeitreihe ist damit einmalig, wird so nicht wiederkommen.
Vielleicht erklärt das unseren westlichen Umgang mit Zeit: unsere Nervosität,
unsere ständige Angst, etwas zu verpassen. Dazu kommt es allerdings erst da,
wenn der religiöse Rahmen weggesprengt wird, und der Pfeil der Zeit fliegt,
ohne von einem bogenbewaffneten Gott abgeschossen zu sein. Dieses nichttranszendete Zeitbewußtsein bildet sich über viele Jahrhunderte heraus, und mir
erscheint es nicht verwunderlich, daß die Vorstellung einer Evolution von
westlichen Gehirnen herausgebildet worden ist. Die Evolution ist die
Vorstellung einer Weltzeit, die ihrer theologischen Weste entkleidet ist. Übrig
bleibt ein Zeitpfeil, dessen Richtung wir nur zum Teil kennen, dessen Ziel aber
gar nicht, ja ungewiß muß bleiben, ob der Zeitpfeil überhaupt ein Ziel hat.
Nehmen wir einmal an, er hat ein Ziel. Dann werden wir alle Anstrengungen
unternehmen, dieses Ziel herauszufinden. Ein nicht unbeträchtlicher Aufwand
unserer Energien richten sich dann darauf, herauszufinden, wohin die Evolution
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steuert. Wir blicken dabei ein gehöriges Stück über den Rand unseres Daseins
hinaus, wir schauen auf eine Zukunft, die wir als Menschheit nicht mehr erleben
werden. Wir schauen in diesem auf etwas Transzendentes, - nicht ein ReligiösTranszendentes, aber auf ein Anthropologisch-Transzendetes: wir schauen auf
unsere potentiellen Nachfolger. Wir schauen auf etwas, was wir dann nicht mehr
sind, was wir aber mit ermöglicht haben. Entscheidend ist mir an diesem
Gedankenexperiment, daß wir uns selbst nicht so wichtig nehmen, daß wir die
Bedeutung unseres Daseins relativieren.
Das alles wird ganz anders, wenn wir annehmen, die Evolution habe kein Ziel.
Dann wird jede Etappe der Evolution gleich wichtig. Es gibt keine evolutionäre
Stufenleiter mehr. Wir können zwar immer noch meinen, die Evolution habe auf
dem Weg von der Mikrobe zum Menschen einen Fortschritt erzielt. Aber wenn
dem Fortschritt kein Wohin einbeschrieben ist, dann kratzt das an der Würde des
Fortschritts. Ohne ein Wohin aber – und das ist mir wichtig – ohne ein Wohin
konzentrieren sich die Energien der Menschen allein auf das Hier und Jetzt. Ich
möchte nun behaupten, daß diese Situation unser heutiges Lebensgefühl im
Großen und Ganzen trifft. Weil wir jede Transzendenz abgeschafft haben, leben
wir in einer radikalen Jetztzeit. Das sollte uns befähigen, den Augenblick voll
auszukosten. Gleichwohl: es gelingt uns nicht. Wir hetzen und hasten, als gelte
es etwas einzufangen, das an uns vorüberzugehen droht. Ein merkwürdiger
Befund. Es schaut so aus, als hätte die Transzendenz eine zeitberuhigende
Wirkung auf den Menschen ausgeübt. Das Gewicht der Welt wurde durch den
Glauben an eine Transzendenz vermindert. Es gab noch anderes zu tun als zu
hetzen, zu genießen, zu konsumieren. Es gab das Gebet, es gab die Liturgie, die
Andacht. Ohne Transzendenz aber sind wir allein in dieser Welt, und welchen
Sinn sollte unser Dasein haben, als möglichst viel von der Fülle der Welt
einzufangen? Und dabei umsteht uns der beständige Verdacht, wir könnten
etwas verpassen. Wir zappen uns durchs Leben wie der Fernsehkonsument.
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Aber weshalb gelingt es uns nicht, im Augenblick zu leben? Die Preisgabe von
Transzendenz mag eine Erklärung sein, aber sie überzeugt mich nur zur Hälfte.
Es fehlt uns an Gelassenheit, - aber ist das nicht ein Gemeinplatz? Nicht ganz wenn man sein Ohr an das Wort hält. Gelassenheit - da spricht sich das
Eingelassensein, Eingefügtsein aus. Und plötzlich geht mir ein Licht auf. Das
Zeitbewußtsein des alten, nichtislamischen Asien, des hinduistischen Asien vor
allem, dieses Zeitbewußtsein hat dem Menschen einen Ort im zeitlichen
Geschehen des Universums angewiesen. Die Zeit kreist dort in Zyklen von
Weltaltern, die aufeinander folgen, um dann wieder von neuem zu beginnen.
Alles wird sich wiederholen, das ist die gelassene Botschaft der alten Schriften.
Der Mensch ist eingelassen in ein zeitliches Geschehen, in dem jeder Zeitpunkt
einmal wiederkehren wird, wie er auch schon unendlich viele Male
wiedergekehrt ist. Jeder Zeitpunkt ist dieser Vorstellung zufolge ein Zentrum
des gesamten zeitlichen Geschehens, denn von ihm aus erstreckt sich nicht nur
Vergangenheit und Zukunft, nein, da er unendlichfach schon dagewesen ist, ist
jeder Zeitpunkt auch die Ewigkeit selbst.
Kehren wir von hier aus zum westlichen Evolutionsgedanken zurück, und zwar
zum Gedanken einer Evolution ohne Ziel. Jedes Menschenleben bildet da einen
kleinen Kreis, von der Geburt bis zum Tod. Unsere Biomasse schlägt sich dann
am Ende der Biosphäre wieder zu, schlägt sich einem Geschehen zu, das, da
ohne Ziel, letztlich ohne Sinn ist. Wir aber leben auf einer Insel im weiten Ozean
der Sinnlosigkeit, und mit unserem Bewußtsein versuchen wir, unserem Leben
einen Sinn zu geben. Wo ihn aber hernehmen, wenn der Sinn an den Rändern
unseres Lebens versiegt? Vielleicht stürzen wir deshalb vorwärts, in die
Zeitlichkeit unseres Daseins, immer besorgt, wir könnten etwas verpassen auf
unserm Sturmlauf durch das Leben, weil die Ressource Sinn so knapp ist in
einer Welt, die als bedeutungsvolles Staubkorn durch ein bedeutungsloses
Universum gleitet.
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Kein Zweifel: damit machen wir es uns schwer. Und wir schmälern mit unserer
Konsumwut die zeitlichen Ressourcen der zukünftigen Generationen. Wir
hinterlassen ihnen einen Problemmüll, den sie in noch kürzerer Zeit bewältigen
müssen als wir unsere heutigen Probleme. Wir diktieren den noch Ungeborenen
einen Zeitkrieg auf. Wir benötigen also nicht nur eine Zeitpolitik für die
lebenden Generationen, sondern auch für die noch Ungeborenen.
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