Wie viel Rot steckt noch in Grün?

Eine Stimme der US-amerikanischen Linken
Jung, links, bunt, radikal: Der Herausgeber der Zeitschrift »Jacobin«, Bhaskar Sunkara, im
Gespräch über politischen Druck gegen Trumps rechtspopulistischen Kurs. Seiten 18 und 19
Grafiken: Elemente aus den Titelseiten von »Jacobin«
Sonnabend/Sonntag, 11./12. März 2017
STANDPUNKT
Offen für
Beliebigkeit
72. Jahrgang/Nr. 60
Bundesausgabe 2,30 €
www.neues-deutschland.de
Wie viel Rot steckt noch in Grün?
Effektiver Dialog
Russland-Türkei
Die Ökopartei sucht nach einem linken Sound, Schulz traf Kipping und Riexinger
Putin lobt Zusammenarbeit mit
Erdogan im syrischen Konflikt
Aert van Riel über die
Wahlvorhaben der Grünen
Immer mehr Grüne dürften sich
fragen, ob die Urwahl eine gute
Idee war. Seitdem sich die Mehrheit der Parteibasis für ein eher
konservatives Spitzenduo entschieden hat, geht es nämlich in
den Umfragen bergab. Mit Cem
Özdemir und Katrin GöringEckardt dürften sich lediglich die
bürgerlichen Unterstützer der
Grünen identifizieren, linksalternative Wählerschichten werden
von ihnen hingegen abgeschreckt.
So lässt sich auch der Umstand
erklären, dass nicht wenige bisherige Sympathisanten der Grünen inzwischen die SPD und deren künftigen Kanzlerkandidaten
Martin Schulz für die bessere Alternative halten.
Der nun von Göring-Eckardt
und Özdemir präsentierte Entwurf für ein Wahlprogramm
zeigt, dass sie auch kleine Zugeständnisse an den linken Flügel
der Grünen machen müssen. Dabei herausgekommen sind Kompromisse, die wenig konkret formuliert worden sind. Beispiele
hierfür sind die Vermögensteuer
und die Ankündigung, gegen
Kinderarmut vorgehen zu wollen.
Eine Definition für den Begriff
»Superreiche«, welche die Steuer
zahlen sollen, bleibt ebenso aus
wie die genaue Höhe der notwendigen Regelsätze für Kinder.
Dass bei zentralen Themen wie
diesen kein klarer Kurs erkennbar
ist, liegt nicht nur an der Zerstrittenheit der Grünen. Sie wollen
zudem grundsätzlich in alle
Richtungen offen bleiben und nur
eine Koalition mit der AfD ausschließen. Diese Beliebigkeit
kann letztlich zum Scheitern der
Partei führen.
UNTEN LINKS
Wenn Sie, verehrte Leserinnen
und Leser, mal jemanden ordentlich brüskieren wollen, dann basteln Sie einfach einen Galgen und
hängen das Namensschild des
Betreffenden dran. Keine Angst,
solange Sie das in Dresden tun,
wird Ihnen nichts passieren. Denn
die dortige Staatsanwaltschaft
hat für sowas ein inniges Verständnis. Jemanden an den Galgen zu wünschen ist nämlich
Meinungsfreiheit; eine solche
Aktion ist interpretationsfähig
und damit mehrdeutig. Das entschieden die Dresdner Strafverfolger jetzt jedenfalls im Rahmen
»der gebotenen objektiven Betrachtung« im Fall eines PegidaFans. Der Mann hatte im Herbst
2015 zwei Galgen herumgetragen, die für Angela Merkel und
Sigmar Gabriel bestimmt waren.
Na gut, nicht schön, aber eine
Störung des öffentlichen Friedens? Nein, sagen die Dresdner
Juristen in ihrer weithin bekannten zurückhaltenden, toleranten
Art, denn vielleicht war ja alles
nur ein großer Spaß. Ein Mordsspaß sogar. wh
ISSN 0323-3375
Moskau. Der russische Präsident Wladimir
Putin hat die Zusammenarbeit mit der Türkei im Syrienkrieg als effektiv gelobt. Einen
so vertrauensvollen Dialog Russlands mit der
Türkei zu Syrien habe niemand zuvor erwartet, sagte er bei einem Treffen mit dem
türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Freitag in Moskau.
Russland und die Türkei hatten Ende Dezember eine Waffenruhe in dem Bürgerkriegsland vermittelt, in dessen Konflikt viele Staaten militärisch eingreifen. Zudem fanden auf ihre Initiative hin in Kasachstan Gespräche zwischen Regierungs- und Oppositionsvertretern statt.
Putin und Erdogan betonten russischen
Agenturen zufolge, dass sich die noch vor wenigen Monaten zerrütteten Beziehungen ihrer Länder schnell wieder verbessert hätten.
Der Abschuss eines russischen Kampfjets
durch türkisches Militär 2015 hatte zum Zerwürfnis geführt. Seit Sommer 2016 stehen die
Zeichen aber wieder auf Entspannung und
Zusammenarbeit. dpa/nd
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EU sucht Wege aus
der Zwietracht
Polnische »Trotzreaktion« wegen
Wahl Tusks belastet Gipfeltreffen
Außen grün, innen rot – aber auch wässrig und nie ohne schwarze Kerne
Berlin. Wie schnell die Politik doch die Karten
neu mischen kann: Als die Grünen Mitte Januar zur Urwahl ihres Spitzenduos für die
Bundestagswahl schritten, entsprach das Ergebnis noch der damaligen Stimmung: Die
SPD schien auf bestem Wege unter die Schranke von 20 Prozent, weit jenseits jeder Machtoption. Und die Grünen marschierten scheinbar in eine Koalition mit der Union. Dafür waren Cem Özdemir und Karin Göring-Eckardt
genau die richtigen Gesichter.
Doch wenige Tage später rief SPD-Chef Sigmar Gabriel Martin Schulz zum designierten
Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden
Foto: fotolia/Mariusz Blach
aus. Plötzlich erweckt die SPD nach Jahren der
mutlosen Gefangenschaft als Juniorpartnerin
der Union den Eindruck, als wolle sie nicht nur
die Wahl wirklich gewinnen, sondern könne
das womöglich auch.
Zumindest eine Option hierfür ist nach Lage der Dinge Rot-Rot-Grün. Folgerichtig ergibt sich auf einmal ein ganz neuer Umgangston zwischen SPD und Linkspartei: Mitte der Woche soll ein Zusammentreffen zwischen Schulz und den LINKE-Chefs Katja Kipping und Bernd Riexinger in – verglichen mit
der Atmosphäre zwischen Gabriel und der
LINKEN – einer überaus konstruktiven Grund-
stimmung verlaufen sein. Und Grünen-Chef
Özdemir müht sich plötzlich, die »soziale Gerechtigkeit« in einem Wahlprogramm hervorzuheben, das eher als Manifest grüner Bürgerlichkeit gedacht war.
Bis zur Bundestagswahl ist es noch lang –
und als Stimmungstests stehen noch drei
Landtagswahlen an. Doch zeigt sich gerade auf
Landesebene, dass ein Mitte-links-Bündnis
rechnerisch schwieriger wird, seit die AfD als
Zählfaktor hinzukommt. Wir diskutieren, wie
es im Bund um »R2G« steht und was im Saarland, in Schleswig-Holstein und in NordrheinWestfalen möglich ist. vs
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Herr Schäuble, bitte einmal nachrechnen!
Dobrindts Maut ist nicht tot zu kriegen – Bundestag und Länderkammer mussten sich damit befassen
Bringt die geplante Pkw-Maut
überhaupt Geld ein? Daran gibt
es massive Zweifel. Und die
Bundesländer fordern Ausnahmen für Grenzregionen.
Von Markus Drescher
Gäbe es einen Preis für die nervigsten Minister mit den sinnlosesten Gesetzen, Alexander Dobrindt könnte sich mit seiner PkwMaut mehr als berechtigte Hoffnungen machen. Weder die EU, diverse Studien zu den (nicht) zu erwartenden Einnahmen noch Proteste aus Nachbarländern und den
deutschen Grenzregionen konnten
den CSU-Verkehrsminister von
seinen Plänen abbringen.
Und so mussten sich am Freitag Bundesrat und Bundestag erneut mit dem Thema befassen –
mit der überarbeiteten Version,
von der Dobrindt hofft, sie möge
EU-kompatibel sein. Doch daran
gibt es nach wie vor Zweifel. Genauso wie an der Rentabilität des
Ganzen. In der Bundestagsdebatte
forderte
SPD-Verkehrspolitiker
Andreas Schwarz, dass sich der
knallharte Kassenwart Wolfgang
Schäuble (CDU) der Zahlen annehme: »Ich halte es für zwingend
geboten, dass das Bundesfinanzministerium die vorliegenden
Zahlen überprüft und haargenau
nachrechnet.« Tatsächlich divergieren die Angaben darüber, was
am Ende im Staatssäckel hängen
bleibt von der Maut, sehr stark.
Dobrindt rechnet mit 500 Millionen Euro pro Jahr, laut einer Studie des ADAC würde der Staat im
Jahr 2023 hingegen bis zu 251
Millionen Euro draufzahlen. Und
auch zur Frage der Übereinstimmung zum europäischen Recht
kommt die Studie zum Schluss: Die
Maut stellt wahrscheinlich eine
»mittelbare Diskriminierung« ausländischer Autofahrer dar.
Kein Wunder, dass auch vor allem Deutschlands Nachbarländer
wenig begeistert sind von den
Mautplänen.
Österreichs Ver-
kehrsminister Jörg Leichtfried
erklärte gegenüber den Zeitungen der Madsack Mediengruppe:
»Wir werden mit allen rechtlich
sinnvollen Mitteln dagegen vorgehen, ich schließe auch eine
Klage nicht aus.«
»Ich halte es für
zwingend geboten,
dass das Bundesfinanzministerium die
vorliegenden Zahlen
überprüft und haargenau nachrechnet.«
Andreas Schwarz, SPD
Deutlich fällt auch die Oppositionskritik an dem Vorhaben aus.
»Die Maut muss weg und zwar sofort«, sagte der LINKE-Verkehrsexperte Herbert Behrens gegenüber der dpa. »Durch den Mautdeal mit der EU-Kommission hat
sich die bajuwarische Schnapsidee
namens Pkw-Maut zur ernsten Gefahr für europäische Grundwerte
entwickelt.« Grünen-Fraktionsvize
Oliver Krischer kritisierte: »Die
Pkw-Maut ist und bleibt Murks.«
Sie schade Grenzregionen und sei
ein Bürokratie- und Datenmonster.
Widerstand gegen Dobrindt
kommt auch aus dem Bundesrat.
Dieser forderte, die Mautpflicht auf
bestimmten Autobahn-Abschnitten
auszusetzen, »wenn dies zur Vermeidung nachteiliger Auswirkungen auf grenznahe Unternehmen
gerechtfertigt ist«. Der Bundesrat
kritisierte, die Maut baue Schranken zwischen Deutschland und seinen Nachbarn auf und gefährde
bisherige Erfolge der europäischen
Integration. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD)
warnte, es sei nur eine Frage der
Zeit, bis etwa auch die Niederlande eine Maut einführten. Dobrindt
hatte zusätzliche Ausnahmeregeln
für Grenzregionen mehrfach abgelehnt. Mit Agenturen
Brüssel. Nach dem Eklat um Polens Boykotthaltung auf dem EU-Gipfel suchen die
Mitgliedsstaaten nach Wegen aus der Zwietracht. Die Staats- und Regierungschefs berieten am Freitag in Brüssel über die Zukunft
der Staatengemeinschaft ohne Großbritannien auf. Im Mittelpunkt stand die Vorbereitung einer gemeinsamen Erklärung für den
bevorstehenden EU-Jubiläumsgipfel in Rom.
Auch Polens Ministerpräsidentin Beata
Szydlo nahm an den Gesprächen teil. Ihr Land
hatte am Donnerstag aus Protest gegen die
Wiederwahl des polnischen Ratspräsidenten
Donald Tusk Entscheidungen des Gipfels blockiert und so das von vielen gewünschte Signal der Einigkeit verhindert.
Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel
sprach von einer »Trotzreaktion«. Polen habe sich »nicht wie ein Erwachsener« benommen, sagte er. Dies dürfe »nicht der Dauerzustand der EU« sein. Österreichs Kanzler
Christian Kern zeigte sich überzeugt, dass die
Blockade Polens eine »Episode« sein werde.
AFP/nd
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Maghreb-Staaten
bleiben nicht sicher
Bundesrat lässt Gesetz
der Großen Koalition scheitern
Berlin. Die nordafrikanischen Staaten Tunesien, Marokko und Algerien kommen nicht
auf die Liste sicherer Herkunftsstaaten. Der
Bundesrat ließ am Freitag bei seiner Plenumssitzung in Berlin ein Gesetz der Koalition durchfallen, das eine entsprechende Einstufung vorgesehen hatte. Die Bundesregierung wollte damit erreichen, dass Asylanträge von Menschen aus den Maghreb-Staaten schneller bearbeitet und abgelehnt werden können. Das Vorhaben scheiterte aber an
der Mehrheit der von Grünen mitregierten
Bundesländer. Sie haben Vorbehalte gegen
die Regelung. Die Bundesregierung hat nun
die Möglichkeit, den Vermittlungsausschuss
anzurufen.
Der Bundestag hatte die Regelung zu den
sicheren Herkunftsstaaten im Mai 2016 verabschiedet. Eine Abstimmung im Bundesrat
war wegen der Blockade der Grünen immer
wieder vertagt worden. Für die Sitzung des
Bundesrats am Freitag hatte Bayern das Thema auf die Tagesordnung setzen lassen, um
eine Entscheidung herbeizuführen. epd/nd