1 SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Frau mit Eigenschaften Das Leben der Ethel Smyth (5) Mit Katharina Eickhoff Sendung: 10. März 2017 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Musikstunde mit Katharina Eickhoff Freitag, 10. März 2017 Frau mit Eigenschaften – Das Leben der Ethel Smyth (5) Indikativ Das Jahr 1908 ist eine entscheidende Zäsur im Leben der Ethel Smyth. Während sie wie immer furchtbar beschäftigt durch Europa tingelt, Freunde treffend, komponierend, ihre Musik anpreisend, Dirigenten und Orchester mit ihrem Dickkopf zum Wahnsinn treibend – während Ethel also ihr typisches Ethel-Leben verfolgt, erreichen sie immer öfter beunruhigende Briefe aus Rom: Harry, Harry Brewster, Mann und Mensch ihres Lebens, hat sich ja in dieser ausgesprochen glücklichen Liebe auf Distanz in seiner geistigen Heimat Italien eingerichtet, während Ethel in ihrem Cottage in Surrey wohnt. Getroffen haben sie sich mal hier, mal dort und mal ganz woanders, zu gemeinsamen Urlauben oder Arbeitsphasen, haben sich dazwischen lange Briefe über Gott und die Welt, Musik, Literatur und Pilosophie geschrieben...aber jetzt ist Harry krank. Leberkrebs. Er versucht, es vor Ethel geheimzuhalten, macht Scherze über sich selbst und die Ärzte, und rafft sich dann, schon extrem geschwächt, auf, um die lange vorbereitete konzertante Aufführung von „The Wreckers“ in London zu hören, der Oper, die er zusammen mit Ethel geschrieben hat und die sich gerade zum absoluten Erfolgsstück entwickelt. Als Ethel ihn in London am Bahnhof abholt, wird ihr schlagartig klar, dass sie ihn verlieren wird. Harry, ein wirklicher Philosoph, findet das nicht so schlimm, Sterben, sagt er, sei doch nur „a slight shifting of the caleidoscope“. Henry Brewster stirbt dann tatsächlich leise und irgendwie heldenhaft im Juni 1908, seine Hand in Ethels. Es ist Ethels wohl größte Lebenskatastrophe – Harry ist alles für sie gewesen, niemand kannte sie besser, keiner war nachsichtiger und gleichzeitig fordernder als er, die Höhen und Tiefen ihres Komponistinnenlebens hat er klaglos mitgelebt, ihr Verrücktheiten, ihre Unruhe ertragen und Ethel einfach als den liebenswerten Menschen gesehen, der sie hinter dem Wind, den sie machte, war. Mehr als dreißig Jahre später wird sie an Virginia Woolf schreiben, nachdem sie in alten Briefen Harrys gelesen hat: 3 „Brief auf Brief macht mir klar, dass keine Frau jemals so verstanden wurde, keine ist so umsorgt worden und hatte einen solchen Schatz an Hilfe und Weisheit und Freundlichkeit und Wärme zur Verfügung. Und mit dieser Erkenntnis kommt das Gefühl: Habe ich genug zurückgegeben?“ 12 – 66551 T. 6 bis 3’50 Ethel Smyth, Concerto for Violin, Horn and Orchestra, Elegy Sophie Langdon, Richard Watkins, BBC Philharmonic, Osaline de la Martinez Aus dem Jahr 1926 stammt eins von Ethel Smyths schönsten Stücken, das Konzert für Horn, Violine und Orchester, der Mittelsatz, Elegy, hat den Untertitel „in memoriam...“ – Ethel hat nie öffentlich gemacht, an wen sie sich da erinnert, aber so, wie diese Musik klingt, kann es eigentlich nur Henry Brewster gewesen sein... Gut, dass ihr Harry zumindest noch die Anfänge von Ethels Komponistenruhm in England miterlebt hat – sie kommt dort nämlich tatsächlich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg richtig in Mode. Vor allem ihre „Wreckers“-Ouvertüren sind ziemlich viel gespielte Stücke, und das liegt neben Ethels unermüdlicher Agitation auch an zwei Dirigenten, und zwar den zweien, die das englische Musikleben in der ersten Jahrhunderthälfte dominiert haben: Henry Wood und Thomas Beecham. Mit Henry Wood hat Ethel sich gleich ganz dick angefreundet, und die beiden waren dann enge Freunde bis zu ihrem Tod – Wood hat sie in seinen „Proms“-Konzerten in der Queen’s Hall dirigieren lassen und immer gern die Geschichte erzählt, wie er ihr feierlich seinen Taktstock überreichte, wie Ethel den misstrauisch beäugt und dann, weil er ihr zu lang war, einfach in zwei Teile gebrochen und mit der einen Hälfte losgelegt hat. Etwas komplizierter ist die Sache mit Thomas Beecham. Ethel hat ja mit ihrem Näschen für gute Musiker schon ziemlich früh erkannt, dass dieser junge, etwas verzogene Fabrikantensohn, der sich das Dirigieren selbst beigebracht hat, DER kommende Musik-Mann für England ist. Als sie den da noch unbekannten Beecham zum ersten mal dirigieren hört und sieht, vor einem von ihm zusammengestellten Telefonorchester, ist sie beeindruckt – so viel natürliches Dirigentengenie hat sie zuletzt bei Gustav Mahler in Wien gesehen. Sie sucht seine Freundschaft und bekommt sie auch, wobei das für beide nicht immer einfach ist. Beecham, der von sich sagt, er könne keine Frau im Orchester ertragen, denn wenn sie schön sei, würde ihn das ablenken, und wenn sie hässlich 4 sei, auch, - Beecham, der Macho-Maestro mit dem Gigolo-Schnurrbart also, war ihr immer viel zu Beecham-bezogen. Und seinen Ehrgeiz, als der Dirigent mit den wenigsten Proben pro Stück in die Geschichte einzugehen, hat sie natürlich auch kritisch gesehen. Und da sie nun mal Ethel war, hat sie ihm immer ordentlich die Meinung gegeigt, wenn ihr seine Nonchalance zu weit ging. Oder sie ist einfach in den Orchestergraben geklettert und hat den Musikern irgendwelche Spielanweisungen in die Noten geschrieben, oder gleich ganze Passagen mit einer neuen Version überklebt. Kein Wunder, dass Beecham sie meistens unglaublich anstrengend fand: „Sie war eine geborene Kämpferin“, seufzt er, „und ihre ständigen Einmischungen, ob im Theater oder im Konzertsaal, verhinderten eher das Ziel, als dass sie es beförderten...“. Trotzdem, so Thomas Beecham, Ethel war für ihn „ohne Frage die bemerkenswerteste Musikerin, die kennenzulernen ich die Ehre hatte.“ Nachdem sie sich ein paar Jahre lang gestritten haben, werden Ethel und er ziemlich gute Freunde, und Beecham bleibt ein Leben lang ein Fan ihrer sturmdurchwehten Musik zu „The Wreckers“. 19 – 050299 Disc 2, T. 1ab 4’23 einblenden 3’30 Ethel Smyth, The Wreckers, Prelude II, On the Cliffs of Cornwall BBC Philharmonic, Odaline de la Martinez Im Jahr 1910, dem Jahr 2 nach Harrys Tod, hat Ethel zwar ihre alte Kreativität noch nicht wieder gefunden, aber sie ist so langsam eine richtig prominente Figur im englischen Kulturleben. Und das, nicht ihre schöne Musik, ist auch der Grund, wieso sie eines Tages von ein paar Mitgliedern der WSPU angesprochen wird, der Women’s Social and Political Union, die für das Wahlrecht der Frauen und überhaupt die Aufwertung der Frau in der Gesellschaft kämpft. Emmeline Pankhurst hat die Organisation im Jahr 1903 gegründet und führt sie seitdem zusammen mit ihrer Tochter Christabel mit straffer Hand: Purpur, Weiß und Grün, die Farben der Suffragetten-Bewegung, haben mittlerweile eine steigende Menge englischer Frauen an ihre Revers geheftet, und viele Frauen haben sich damals auch gleich Emmeline Pankhursts Bild als Medaillon mit angesteckt: Die Frau war wirklich eine lebende Ikone – ein Popstar. Sie muss eine enorm charismatische Persönlichkeit gehabt haben, total fokussiert auf ihre Ziele, 5 kompromisslos in ihren Mitteln, eine flammende, mitreißende Rednerin, die mit der Kraft eines Baptistenpredigers jeden Saal innerhalb von Minuten auf Temperatur gebracht hat – eine echte Demagogin, eigentlich. Aber Mrs Pankhurst ist immerhin eine der an einer Hand abzuzählenden Frauen der Weltgeschichte, die eine große politische Bewegung angeführt haben. Die Pankhurst-Damen sind echte Netzwerk- und PR-Genies, ihre Aktionen sind fabelhaft orchestriert – und sie schaffen es bei alledem noch, immer glamourös auszusehen: Emmeline Pankhurst hat eine entschiedene Schwäche für todschicke Kleider und atemberaubende Hüte. Für uns heute in der angeblich gleichberechtigten Gegenwartsgesellschaft ist das ja, glauben wir zumindest, eine inzwischen schon ganz ferne Welt, diese Welt, in der Frauen grundsätzlich über den Mann definiert wurden: Verheiratete Frauen waren Besitz ihres Gatten, für Verwitwete oder Ledige gab es kaum Rechtssicherheit, eine Frau ohne Mann war schlichtweg ein rechtloses Nichts. Das war natürlich vor allem für die ein existenzielles Problem, die sowieso nichts hatten, die Millionen von Frauen, die sich seit ihren Kindertagen in den Fabriken krummarbeiten mussten, die dafür halb soviel Lohn kriegten wie die Männer und die dann noch, wenn sie Pech hatten, mal eben im Vorbeigehen vom Vorarbeiter vergewaltigt wurden. Aber die Suffragetten-Bewegung ging, und das hat sie so stark gemacht, quer durch alle sozialen Schichten, denn natürlich war die Rechtlosigkeit auch gerade für gebildete und privilegierte Frauen ein unhaltbarer Zustand. Und vor diesem Hintergrund wird ja auch noch deutlicher, was für ein ganz und gar außergewöhnliches Leben Ethel Smyth geführt hat für eine Frau ihrer Zeit – sie hat sich von Anfang an einfach nicht um die Regeln geschert und hat ein in jeder Hinsicht freies, selbstbestimmtes Leben geführt. Insofern kann man nachvollziehen, dass Ethel erst mal gar keine Lust hat, sich groß mit den Suffragetten zu beschäftigen – das, wofür da, inzwischen auch durchaus gewalttätig, gestritten wird, hat sie ja die ganze Zeit schon ziemlich selbstverständlich gelebt. Als also die Einladung von der Frauenunion kommt, wehrt sie sich erst mal mit Händen und Füßen und erklärt, sie müsse schon genug für sich selber kämpfen und habe für gute Taten keine Zeit. Aber irgendwie lässt sie sich dann doch überreden, zu dieser Kundgebung zu gehen, wo die Pankhurst eine ihrer legendären Reden halten wird. Ethel sieht Emmeline, hört ihr zu – und es ist ein klassischer Fall von „Oh my god, what a woman!“: Ethel ist auf den ersten Blick verliebt, daheim setzt sie sich sofort hin und schreibt einen 6 flammenden Fan-Brief, die Pankhursts reagieren begeistert, und auch wenn ihr gesamtes Umfeld, darunter Lady Ponsonby und Kaiserin Eugenie, sie im Chor davor warnt, sich mit diesen Hysterikerinnen einzulassen – Ethel hat ihre Entscheidung getroffen. Sie fragt noch kurz Harrys Geist um Erlaubnis, dann teilt sie Emmeline Pankhurst mit, dass sie für zwei Jahre ihre Musik hintanstellen und sich mit aller Kraft dem Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen widmen will! 736-2880 T. 2 auf Zeit Ethel Smyth, Quartett e-moll Allegro molto leggiero Mannheimer Streichquartett Dieses höchst eigenwillige Allegro gehört zu Ethel Smyths Streichquartett e-moll, seit 1902 hat sie daran komponiert, fertiggeworden ist es erst zehn Jahre später und wird dann mitten in ihrer wildesten Suffragetten-Phase mit viel Erfolg uraufgeführt. Ethel wird also zu Emmeline Pankhursts entschlossener Husarin, sie leiert einer reichen Freundin das Geld für ein großes Auto aus den Rippen, mit dem Emmeline, der Popstar, über Land tourt und Kundgebungen abhält oder Bücher verteilt; sie päppelt die große Führerin bei sich daheim im Cottage wieder auf, wenn Emmeline völlig geschwächt nach einem ihrer vielen Hungerstreiks aus dem Gefängnis entlassen wird – derweil draußen unterm Holderbusch, freudig begrüßt von Ethels Hund, die Polizei kampiert, die gehalten ist, Mrs Pankhurst sofort wieder ins Gefängnis zu stecken, sobald sie sich erholt hat. Von der Verhaftungsaktion an Ethels Gartenpforte, bei der Emmeline ohnmächtig in Ethels Arme sinkt, hat jemand geistesgegenwärtig ein Foto geschossen. Das wird dann in Umlauf gebracht und beschert den verzweifelt an ihren Privilegien festhaltenden Männern in Englands Regierung sehr schlechte Presse...Außerdem, nun hat man schon mal eine Komponistin mit an Bord, wird Ethel zur offiziellen Bardin der Bewegung: Sie komponiert einen Kampfgesang, der dann tatsächlich innerhalb kürzester Zeit die Hymne der Frauenrechtsbewegung wird. Auf jeder Kundgebung, bei jeder Demo singen die Frauen jetzt Ethel Smyths „March of the Women“ – am Ende sogar im Gefängnis. Es ist ja nämlich so, dass die Damen inzwischen, nach jahrelangem friedlichem Protest, die Geduld verloren haben und vermehrt zu drastischen Maßnahmen greifen, gemäß dem Wahlspruch, den 7 Emmeline Pankhurst ausgerufen hat: Deeds not words - Taten statt Worte. Später gibt es auch jede Menge Sprengstoff-Attentate, nicht auf Menschen, aber auf Briefkästen oder Politiker-Häuser, aber zu Anfang sind die Waffen der Wahl vor allem Steine. Steine, die in Fenster geworfen werden sollen. Dafür muss aber auch die Chefin erst mal üben, und so findet vor dem geplanten Kollektivangriff in London ein konspiratives Steinewerfenüben in Ethels Garten statt, bei dem die sportliche Ethel schier an ihrer Schülerin verzweifelt: „Ich nehme an, Mrs Pankhurst hat in ihrer Jugend keine Ballspiele gespielt, der erste Stein flog jedenfalls rückwärts aus ihrer Hand und verfehlte knapp meinen Hund.“ – Sie kommen dann aber noch zu Potte, und der großangelegte Angriff von steinewerfenden Frauen zwischen Piccadilly, Oxford Street und Haymarket wird ein ungeheurer Aufruhr: Berstende Scheiben, wütende Ladenbesitzer, Massen von Polizei, die immer wieder ganze Bataillone von Frauen abführen, und im ganzen Getümmel schafft es die Pankhurst noch, mit einem Taxi zu Downing Street Nr.10 zu fahren und auch dort ein paar Scheiben zu Bruch gehen zu lassen. Ethel nimmt sich das Haus eines Regierungssekretärs vor. Nach einem wohlplatzierten Wurf lässt sie sich dann von der Polizeiwache, die fast daneben steht, abführen, und wird kurz darauf zu einer einmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, abzusitzen im berüchtigten Frauengefängnis Holloway, das vor Suffragetten inzwischen aus allen Nähten platzt. Und zumindest für die Damen der oberen Schichten ist es dort sogar einigermaßen erträglich. Thomas Beecham jedenfalls, der Ethel im Gefängnis besucht, trifft da keine demoralisierten Büßerinnen an, im Gegenteil – als er ankommt, singen die Damen gerade aus vollem Hals Ethels Suffragettenhymne: „Ich kam in den Hof des Gefängnisses und traf auf die noble Runde der Märtyrerinnen, wie sie im Kreis marschierten und beherzt ihr Kriegslied sangen, derweil die Komponistin, beifällig aus einem oberen Fenster lächelnd, in beinahe bacchantischer Ekstase mit einer Zahnbürste den Takt schlug.“ 8 19 – 021421 T. 9 3’30 Ethel Smyth, The March of the Women Eiddwen Harrhy, The Plymouth Music Series, Philip Brunelle DAS Suffragetten-Kampflied, mit dem Ethel sich letztlich wohl keinen Gefallen getan hat – es ist ihr vermutlich bekanntestes Musikstück, und das ist natürlich angesichts ihres restlichen, viel bedeutenderen Werks ziemlich dumm gelaufen... Ethel hält doppelt Wort: Sie engagiert sich mit allen Kräften zwei Jahre lang für die Frauenunion, und dann wendet sie sich, wie angekündigt, wieder ihrer Musik zu – aber alles, was sie auf rastlosen Vorspielreisen quer durch Europa an Aufführungen anleiert, unter anderem eine Produktion von „The Wreckers“ mit Bruno Walter in München, löst sich dann 1914 mit Kriegsbeginn in Wohlgefallen auf. Und der Erste Weltkrieg erstickt auch Ethels Kreativität im Keim: Die meiste Zeit, von 1915 bis Kriegsende, verbringt sie in Frankreich, als Assistentin in der Radiologie eines Krankenhauses in Vichy. Dort werden ständig Massen von verletzten Soldaten aus dem Norden angeliefert, und denen die Geschosse aus den Körpern zu operieren war, schreibt Ethel später, „no music inspiring job“. Weil sie nun also keine Musik schreiben kann, und weil die verwundeten Soldaten irgendwie unterhalten werden müssen, fängt sie dort im Krankenhausdienst in Frankreich an, ihre Memoiren zu schreiben. Die englische Kindheit, Leipzig, Brahms, die Herzogenbergs – die ganze aufregende Geschichte ihres Wegs ins Komponistenleben bringt sie da zu Papier und liest es den Verwundeten vor...später hat sie mal jemand dabei aufgenommen, wie sie aus ihren Erinnerungen vorliest, und das klingt genau so, wie man sich Ethel als schon ältere, schwerhörige Dame immer vorgestellt hat... Ethel Smyth liest Die Memoiren, die Ethel da in Vichy schreibt, kommen zuerst bei den Soldaten gut an und dann, 1919 nach Veröffentlichung, beim Rest der Welt. Ethels erster Band Erinnerungen wird ein Riesenerfolg. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wird Ethel Smyth, die Schriftstellerin, erfolgreicher, als es die Komponistin je gewesen ist. 9 Alle sind hin und weg von ihrem trockenen Witz und ihrer klugen Art, zu erzählen und bekannte Persönlichkeiten zu portraitieren, sie hat ja auch wirklich Krethi und Plethi getroffen, und ihr literarischer Ruhm hat dann schon auch einen Anteil daran, dass sie 1929 zu ihrer allergrößten Befriedigung zur „Dame of the British Empire“ ernannt wird – jetzt hat sie mit Sir Thomas Beecham und Sir Henry Wood gleichgezogen, und das ist für eine Musikerin ihrer Generation tatsächlich eine ziemliche Sensation. In die 20-er Jahre fällt auch eine ihrer letzten musikalischen Großtaten, das Konzert für Horn, Violine und Orchester, in dem sie, die Wurzeln tief in Brahms’scher Spätromantik, noch mal einen ganz eigenen, teilweise erstaunlich modernen Ton für die Form eines großen Orchesterkonzerts findet. Ihr lieber Freund Henry Wood leitet dann die Uraufführung des Konzerts im Jahr 1927 in der Queen’s Hall, und zwar mit einer ziemlich edlen Besetzung: Das Horn spielt Thomas Beechams Lieblingshornist Aubrey Brain, Vater des später noch berühmteren Dennis Brain, der wiederum dann Karajans Lieblingshornist war. Aubrey Brain hat für Arthur Nikisch, Beecham und Sir Henry Wood geblasen und war ein großer Künstler, der immer nur auf den sanften französischen, niemals auf deutschen Hörnern gespielt hat. Ethels Konzert hat er damals zusammen mit einer sehr prominenten Geigerin uraufgeführt, der ungarischen Virtuosin Jelly d’Aranyi, der Großnichte Joseph Joachims. Jelly d’Aranyi hat Maurice Ravel zu seiner „Tsigane“ inspiriert und mit Bela Bartok Duo gespielt. Ethel darf also mit knapp siebzig Jahren endlich erleben, dass ihre Werke von den besten verfügbaren Musikern aufgeführt werden. Weil sie das nicht zuletzt ihrem Freund Sir Henry Wood verdankt, hat sie das Konzert ihm gewidmet, dem, wie sie schreibt, „besten Freund der englischen Musik.“ 12 – 66551 T. 7 ausbl. ab 3’29 Ethel Smyth, Concerto for Violin, Horn and Orchestra, Finale Sophie Langdon, Richard Watkins, BBC Philharmonic, Osaline de la Martinez Um 1930 liest Ethel dann Virginia Woolfs „A Room of One’s Own“ – einen später in der Frauenbewegung legendären Essay über die Voraussetzungen, die es für Frauen braucht, um etwas schaffen zu können. In Woolfs Fall natürlich Literatur, aber Ihre Gedanken sind auf alle kreativen Frauen übertragbar – die brauchen, so Woolf, neben einem gewissen Betrag zum Leben vor allem: ein eigenes Zimmer. 10 Etwas, das für Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein überhaupt nicht selbstverständlich war. Zu der Zeit ist Virginia Woolf schon eine rfolgsschriftstellerin, „Mrs Dalloway“ und „To the Lighthouse“ sind erschienen und auch „Orlando“, in dem sie die flamboyante, zwischen den Geschlechtern changierende Persönlichkeit ihrer Freundin Vita Sackville-West portraitiert hat, mit der sie ein paar Jahre lang eine Liebesbeziehung hatte, geduldet von den jeweiligen Ehemännern. Ethel also liest Virginia Woolfs klugen und witzigen Essay und beschließt, dass sie diese Frau unbedingt treffen muss. „You might quite like me“, schreibt sie ihr in ihrem Kennenlern-Brief, und Virginia Woolf antwortet, dass sie schon seit Jahren Ethel Smyth kennenlernen wollte, und endet mit „...and you might like me.“ Und so beginnt also Ethels letzte große Liebe ihres Lebens. Ethel Smyth ist inzwischen eine ältere Dame Anfang Siebzig, - Virginia Woolf ist Ende Vierzig, und eine richtige Beziehung mit Ethel kommt für sie überhaupt nicht in Frage, aber damit kann Ethel gut leben: „Für mich“, schreibt sie, „liegt Liebe sowieso in der Region der Imagination“. Die zwei flirten in Briefen was das Zeug hält, wehklagen, dass sie sich nicht früher kennengelernt haben, ab und zu treffen sie sich, sprechen über Musik, Literatur, die Liebe... – aber mit direktem Kontakt zu Ethel ist Virginia Woolf vorsichtig. Sie ist seelisch instabil, hat schon mehrere psychotische Phasen hinter sich und lebt in ständiger Angst vor der nächsten, und mit ihren schwachen Nerven hat sie oft Schwierigkeiten, die überbordende Präsenz ihrer neuen Freundin Ethel auszuhalten. „Mein Kopf dröhnt: Meine Ohren schmerzen: Ethel war hier“, schreibt sie an Vita Sackville-West. Überhaupt, wenn man Virginia Woolfs Ethel-Berichte an ihre Freunde so liest, tut einem Ethel wirklich leid, denn sie erscheint da als groteske Figur, über die Virginia sich eigentlich permanent und oft ziemlich bösartig lustig macht: „Eine alte Frau hat sich in mich verliebt“, schreibt sie, „es ist abscheulich und ekelhaft und gleichzeitig traurig-melancholisch. Es ist, als ob man von einer gigantischen Krabbe gefangen wurde.“ Oder sie nennt Ethel ein „von Wurzelkrebsen verkrustetes altes Seemonster“. Oder sie schreibt in ihr Tagebuch über Ethels Begeisterung: „Im allgemeinen bekomme ich zwei Briefe pro Tag. Ich wage zu behaupten, die alten Feuer des Sapphismus lodern zum letzten Mal...“. – Nein, man kann nicht sagen, dass Virginia Woolf in diesen Mitteilungen über ihre Freundin Ethel besonders liebenswert wirkt. Ethel hat sehr wohl gespürt, dass ihre geliebte Virginia sich oft über sie mokiert hat, und es hat sie verletzt. Aber es gibt ja eben auch noch die 11 andere Seite, das, was sie an Ethel selbst schreibt, wenn sie mal wieder von einem Treffen mit ihr kommt, da klingt die Sache nämlich schon sehr anders: „Gott! Wie ich Dich mochte! Wie ich mich an Deiner Existenz freute! Du bist, glaube ich, eine der gütigsten, ausbalanciertesten Frauen die ich kenne.“ Und auch anderen gegenüber ist Virginia Woolf nicht nur ironisch, wenn sie von Ethel erzählt – aus ihrer Feder stammen ein paar der schönsten Beschreibungen des Menschen Ethel Smyth: „Da ist etwas Feines und Kampferprobtes und Erfahrenes in ihr hinter all dem Schwadronieren und Krawall.“ „Ich kann sie gar nicht beschreiben, diese Weite und den Raum, die Lebensart und den Charakter, die sie ausstrahlt“...Ethel, das seien „no impediments, no inhibitions“, schreibt sie bewundernd: Keine Hemmungen oder Deformationen. Alles echt, offen und geradeheraus. Darüber, ob Ethel bedeutende Musik komponiert hat, wird sich Virginia Woolf nie so ganz klar. Als in London Ethels „Anakreontische Ode“ von 1907 aufgeführt wird, kann Virginia wegen akuter Schwächezustände nicht kommen, aber sie und ihr Mann Leonard kleben am Radio bei der Live-Übertragung und sind sich einig, dass Ethels Musik genau wie Ethel ist: „Robust und zugleich durch Mark und Bein gehend.“ 19 – 039276 T. 4 5’10 Ethel Smyth, Ode Anacréontique Melinda Paulsen, Ensemble Die Freundschaft zwischen Ethel und Virginia Woolf bleibt schwierig, aber intensiv, und sie hält, elf Jahre lang gehört Ethels Herz und Sorge ganz Virginia – aber auch das kann Virginia Woolf nicht vor den eigenen Dämonen retten: All die Hilfe und Liebe, mit der auch ihr Mann Leonard sie umsorgt und beschützt hat, kann nicht verhindern, dass Virginia Woolf sich im Frühjahr 1941 einen schweren Stein in die Manteltasche steckt und sich im Fluss nahe bei ihrem Haus das Leben nimmt. Ihr Tod versetzt auch Ethels immer so unerschöpflich scheinender Lebenskraft einen Schlag. Mit körperlichen Problemen aller Art hat sie schon lange zu kämpfen, das Schrecklichste ist aber die Taubheit, die ab 1930 immer schlimmer geworden ist – 1934 organisiert ihr Freund Thomas Beecham zu ihren Ehren nochmal eine große Aufführung ihrer Messe für Soli, Chor und Orchester, Ethel sitzt im Publikum, wird gefeiert - und leidet. 12 Wem die Ohren versagen, der hört ja nicht nichts, von Beethoven gibt es diese erschütternden Aussagen über seine Ohren, die Tag und Nacht sausen und brausen, alles wird zu Lärm...So ist es auch Ethel ergangen, und in den letzten Jahren hat sie gar keine Musik mehr anhören können. Was sie da noch hört, sagt sie, klingt in ihren Ohren wie „vergiftete Ratten hinter der Wandvertäfelung“. Konversation geht, siehe Beethoven, nur noch mit Papier und Bleistift. Ethel, the stormy petrel, der Sturmvogel, hat sich müdegestürmt. Als Sir Henry Wood sie besuchen will, schreibt sie ihm: „Erwarten Sie nicht, auch nur einen Hauch der alten Ethel anzutreffen, höchstens in der Freude, die Ihr Erscheinen ihr bereiten wird.“ Aber ihr Geist bleibt klar bis zuletzt: Der Zweite Weltkrieg schockiert sie tief, und wie sie da im Bett liegt, schmiedet sie Pläne für die Zeit danach und die „United States of Europe“. Sie stirbt am 8. Mai 1944, mit 86 Jahren. Ethel Smyth hat sich und den anderen nichts geschenkt, sie konnte entsetzlich anstrengend und enervierend ehrlich sein, und sehr hartnäckig, wenn es darum ging, ihre Musik in einer unbarmherzigen Männerwelt zu verteidigen. Trotzdem ist sie von vielen Menschen sehr geliebt worden, - für ihre Aufrichtigkeit und ihren Witz, für ihre Streitlust und ihre Güte und ihre nie endende Begeisterungsfähigkeit, die so ansteckend gewesen sein muss. Ethel war ein bewundernswert freier Geist. Aber natürlich hat sie ihr Leben lang mit den Beschränkungen gekämpft, die für Frauen ihrer Zeit gegolten haben – und er war ja nicht umsonst, dieser Kampf: Sie wäre sicher stolz, wenn sie sehen könnte, wie viele Komponistinnen inzwischen die Konzert- und Festivalprogramme für zeitgenössische Musik beliefern – auch wenn ihr diese Art von Musik in den seltensten Fällen gefallen würde. Sie selber hat ja nie auch nur mit einem Auge daran gedacht, bei der musikalischen Moderne mitzumischen, und das hat man ihrer Musik natürlich vorgeworfen – aber wieso soll jemand, der mit Johannes Brahms Kaffee getrunken und mit Tschaikowsky Orchestrierung diskutiert hat, nicht auch im Stil dieser Zeit komponieren dürfen? Zumal Ethel bei allem diesen eigenwilligen Ethel-Stil an den Tag gelegt hat, manchmal etwas eckig, manchmal ein bisschen unkonzentriert, aber oft wunderschön, voller Gefühl, einfach originell – Virginia Woolf hatte ja recht: Ethels Musik war wie Ethel. 13 Und dass das zu ihren Lebzeiten doch gar nicht so wenig Leute erkannt haben, hat sie am Ende dann doch beruhigt. „After all“, schreibt sie zum Schluss an ihren Freund Henry Wood, „I’ve had a good life.“ 12 – 66551 T. 6 ab 3’50 3’40 Ethel Smyth, Concerto for Violin, Horn and Orchestra, Elegy Sophie Langdon, Richard Watkins, BBC Philharmonic, Osaline de la Martinez
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