Lebenszeichen vom 05.03.2017

Ganz Ohr im Lärm des Alltags
Frank Schüre
05.03.17
Lebenszeichen
Zitator:
Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war Zuhören. Das ist doch nichts Besonderes,
wird nun vielleicht mancher sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich
zuhören können nur ganz wenige Menschen.
Sprecherin:
Genau eine Handvoll Menschen fallen mir ein, wenn ich mich frage: wann hat mir jemals jemand
wirklich zugehört? Ein Mann ist dabei, mein Freund Andreas, der früh an Krebs gestorben ist. Andy
war äußerlich ein leicht nervöser und chaotischer Typ, aber in ihm war diese tiefe Ruhe. Er konnte
mich wirklich anschauen, forschend und offen und vorsichtig. Das öffnete mich mehr für mich selbst
als für ihn.
Zitator:
Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht
etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß
nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den
anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal
Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
Sprecherin:
Ich habe Andy Dinge von mir erzählt, die ich selbst dabei zum ersten Mal hörte. Er hat mir so
zugehört, dass tief und sorgfältig verpackte Anliegen in mir aufgingen und sich zeigen wollten. Wenn
es so etwas gibt, dann hat Andy mich ‚erhört‘. Heute würde ich sagen, der Grund seiner Ruhe war
Verletzlichkeit. Andy war nicht nur verletzlich, er spürte das auch - und konnte darin ruhen.
Zitator:
Momo konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wußten,
was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche
und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden.
Sprecherin:
Michael Ende, Momo
Sprecher:
Warum ist das so schwer? Warum ist Zuhören einer der großen und unerfüllten Wünsche von so
vielen Menschen? Warum sind es immer die anderen, die zuhören sollen und es nicht können?
Warum bemerkt man kaum: diese Wünsche richten sich zuerst an den Wünschenden selbst? Hanna
Mandl ist Coach und Dialogexpertin:
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2017
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
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Ganz Ohr im Lärm des Alltags
Frank Schüre
Lebenszeichen
05.03.17
O-Ton Mandl:
Das Zuhören ist ganz wichtig, und diese Neugier, fast das Gegenüber zum Orakel zu
machen. Oder mindestens so zuzuhören, als ob man überzeugt ist, diese Person ist ganz
weise, die da jetzt spricht.
Zitator:
Wenn ich jemanden wirklich hören kann, komme ich in Kontakt mit ihm; es bereichert mein Leben.
Durch Zuhören habe ich all das gelernt, was ich über den einzelnen, über die Persönlichkeit, über
zwischenmenschliche Beziehungen weiß.
Sprecher:
Für den amerikanischen Psychotherapeuten Carl Rogers stand das im Zentrum seines Lebens:
wirklich zuhören, anderen und sich selbst. Carl Rogers lebte von 1902 bis 1987 und entwickelte mit
der Klientenzentrierten Gesprächstherapie eine der wichtigen Therapieformen unserer Zeit. Ein tiefes
Zuhören ist die Grundlage.
Sprecherin:
Wie geht es dir – möchte ich das wirklich hören? Wie geht es mir – möchte ich das wirklich hören?
Möchte ich, dass mir jemand so zuhört, dass ich es spüre und es sage: so geht es mir? Ja, das
möchte ich. Ich möchte auch so zuhören können. Auch mir selbst. Aber wie geht das?
Zitator:
Kann ich die Klänge der inneren Welt meines Gegenübers hören und deren Gestalt erahnen? Kann
ich mit seinen Worten so tief mitschwingen, dass ich nicht nur die Bedeutungen spüre, deren er sich
bewusst ist, sondern auch jene, vor denen er Angst hat und die er dennoch mitteilen möchte?
Sprecherin:
Ich kann das nicht. Ich beschäftige mich lieber mit dem lautstarken Betrieb, der mich umgibt und
unentwegt tolle Tipps, Infos und Geschichten anbietet. Dem höre und schaue ich gerne zu.
Sprecher:
Das tut man aus gutem Grund. Solange das Geschehen weit genug weg scheint, kann man es
ungestört beobachten. Aber je mehr man sich darauf einlässt – also indem man Kontakt und
Beziehung wagt – wird die distanzierte Haltung schwieriger. Dieser einlassende Sinn ist das Hören:
Zitator:
Hören hat Konsequenzen. Wenn ich einen Menschen und die Bedeutungen, die in diesem
Augenblick für ihn wichtig sind, wirklich höre - nicht bloß seine Worte, sondern ihn - und wenn ich ihm
zu erkennen gebe, dass ich seine privaten, ganz persönlichen Bedeutungen aufgenommen habe,
dann geschehen viele Dinge.
Sprecher
Was geschieht, wenn man wirklich zuhört? Man wendet sich zu, man tritt hinein ins Geschehen, man
nimmt sich Zeit, man geht in einen echten Kontakt. Man will nicht mehr bloß weg aus anstrengenden
Aufgaben und Pflichten. Man kommt an und bleibt, man versucht zu sein: ganz Ohr.
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Ganz Ohr im Lärm des Alltags
Frank Schüre
Lebenszeichen
05.03.17
Das geht anders als die normale Unterhaltung, es fühlt sich ganz anders an. Im tiefen Zuhören
erfährt und spürt man, was geschieht, in sich selbst und im Anderen. Der normalerweise
vorbeirauschende Betrieb hält darin inne und bleibt beim Zuhörenden. Das ist beunruhigend und
aufregend und lebendig. Das ist ein echtes Wagnis.
Zitator:
Wenn Sie einen anderen Menschen wirklich verstehen; wenn Sie bereit sind, in seine private Welt
einzutreten und wahrzunehmen, was das Leben für ihn bedeutet, ohne dabei zu versuchen,
Werturteile zu fällen; dann laufen Sie Gefahr, selbst verändert zu werden. Es könnte sein, dass Sie
die Dinge plötzlich auch so sehen; Sie könnten entdecken, dass Sie in Ihren Einstellungen oder in
Ihrer Persönlichkeit beeinflusst werden. Dieses Risiko, verändert zu werden, gehört zu den
schrecklichsten Vorstellungen, die die meisten von uns sich denken können.
Sprecherin:
Okay, ich riskiere es. Ich lenke mich nicht ab mit Neuigkeiten, ich verwickele mich nicht in hitzige
Debatten, ich rede nicht nur um der beruhigenden Geräuschkulisse zuliebe. Nein. Ich beginne mit
der Unruhe in mir und zwischen uns und spüre tiefer: spüre durch abwehrende Oberflächen und
Positionen, nach darunter wartenden Anliegen und Emotionen, bis in Sehnsucht und Angst. Ich
spüre in der unaufhörlichen Betriebsamkeit nach dem Verletzlichen in uns. Ich riskiere es und bin:
ganz Ohr!
Sprecher:
Das geht nicht einfach. Aber es berührt. Es führt hinein in das Abenteuer gemeinsamen Erlebens. Es
‚erhört’, was den Menschen tief bewegt und erfüllt. Carl Rogers kann das genießen:
Zitator:
Wenn ich sage, dass ich es genieße, jemanden zu hören, dann meine ich natürlich ein tiefes Hören.
Ich meine damit das Aufnehmen seiner Worte, seiner Gedanken, seiner Gefühlsnuancen und deren
persönlicher Bedeutung, ja sogar der Bedeutung, die unterhalb der bewussten Intention des
Sprechers liegt. Manchmal höre ich auch in einer Äußerung, die oberflächlich nicht sehr wichtig
erscheint, einen erschütternden menschlichen Ruf, der unerkannt in der Tiefe vergraben liegt.
Sprecher:
Ganz Ohr sein – wer das riskiert, geht davon aus: da gibt es etwas zu entdecken in sich selbst und
im anderen, das spannend und bewegend und wertvoll ist. Das umfassend und unabsehbar ist, das
tiefer reicht als man selbst es weiß, und als man allein es entdecken kann: Potenziale, die sich in
tiefen Kontakten und Beziehungen mit anderen entfalten möchten.
O-Ton Mandl:
Das habe ich geübt in endlosen Stunden mit meiner Geige. Da ist das Zuhören - man hört
sich ununterbrochen selber zu. Bemerkt ununterbrochen, was noch nicht so ist, wie man es
haben möchte und dann gibt's so Feedbackschleifen - dadurch, dass ich erreiche, einen
Klang so zu erzeugen oder eine Melodie oder ein Stück wie ich sie mir vorstelle, arbeite ich
auf einer subtilen Ebene auch zugleich an meiner Vorstellung, die sich auch verbessert.
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Ganz Ohr im Lärm des Alltags
Frank Schüre
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05.03.17
Dann entsteht eine Spirale, wo ich weiterarbeite an dem, was ich tu, und zugleich arbeite ich
in meiner Vorstellung, wie es noch klarer schöner angenehmer im Klang ist. Das ist eine
Arbeit mit sich selber, die wahrscheinlich hinführt zu was Meditativem.
Sprecher:
Hanna Mandl ist ein Ohrenmensch. Sie hat Musik studiert, sie spielt und lehrt Violine. Und sie ist
Expertin fürs Zuhören – zuerst und gründlich sich selbst, dann im Dialog.
Sprecherin:
Ich treffe sie in einem Buddhistischen Studienzentrum. Zweimal vierzig Minuten lang meditieren wir
in einer Gruppe. Ein Kreis Schweigender, zur Wand gekehrt, sehr früh am Morgen. Ich höre die
Vögel wach werden und loszwitschern. Ich höre Atemgeräusche, Husten. Und ich höre meinen
Körper und seine Abläufe. Aber am meisten und dringlichsten höre ich mich selbst: denken, fragen,
beschweren, zweifeln, anmerken, debattieren. Ist das normal?, frage ich Hanna Mandl. Soll ich, kann
ich diesem inneren Chaos zuhören? Gibt es eine Kompetenz, ein Können darin, sich selbst
zuzuhören? Beginnt Sprechen und Zuhören im Menschen? Hilft es dabei, wenn ich Aufmerksamkeit
übe? Während ich so frage und frage und Hanna antwortet, merke ich plötzlich: ich möchte ihr
zuhören. Wie macht sie das? Sie macht es langsam:
O-Ton Mandl:
Das ist mein innerer Rhythmus, den ich in einen Raum ausbreiten kann. Der ist sehr langsam.
Ich hatte als Musikerin immer wieder Schwierigkeiten, weil ich eigentlich langsamer war als
das ganze Orchester. Diese Langsamkeit habe ich in meinem Körper, in meinem inneren
Empfinden. Ja, meine Kinder haben gesagt: du bist wie ein Schildkröte. Das ist etwas, was
mir entspricht. Wenn ich diesen inneren Rhythmus ausbreiten kann und andere da hinein
einladen kann, dann ist das vielleicht auch eine Gabe. Ich kann das nicht machen, das ist
nicht gewollt, das ist einfach so - und es funktioniert.
Zitator:
Ich empfinde es als sehr befriedigend, wenn ich echt sein kann, wenn ich all dem, was in mir vorgeht,
nahe bin. Ich mag es, wenn ich mir selbst zuhören kann. Wirklich zu wissen, was ich im Augenblick
erlebe, ist keineswegs leicht, aber ich fühle mich etwas ermutigt, weil ich glaube, im Laufe der Jahre
darin Fortschritte gemacht zu haben. Ich bin jedoch überzeugt, dass es eine lebenslange Aufgabe
ist, und dass es keinem von uns je völlig gelingt, mit allem, was sich in unserem Erleben abspielt, in
enger Berührung zu sein.
Sprecherin:
Mein innerer Rhythmus ist nicht langsam. Mich nervt und schmerzt der Krach in mir in der Stille der
Meditation. Aber ich riskiere es auch hier, mit mir: vorurteilsfrei hören und verstehen, wer ich bin –
ohne Filter, ohne Blende, keine Chance mich abzulenken oder irgendwie abzuhauen. Das volle, das
eigene Programm – für eine gefühlte Unendlichkeit. Klar, es sind 'nur' vierzig Minuten – aber in Stille
und miteinander und keiner rührt sich.
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Ganz Ohr im Lärm des Alltags
Frank Schüre
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05.03.17
Sprecher:
Hanna Mandls ‚innerer Rhythmus‘, Carl Rogers ‚tief befriedigende Nähe zu sich selbst‘ – für normale
Menschen und Ohren klingt das nicht nur weit weg, es ist schlicht unmöglich. 2014 setzte man an der
University of Virginia vierhundert Probanden für fünfzehn Minuten allein in einen leeren Raum. Sie
sollten über ein Thema ihrer Wahl nachdenken und ansonsten still sitzen bleiben. Knapp die Hälfte
fand das fast unerträglich, neun von zehn gingen unter im eigenen Gedankenkarussell. Als man den
Versuch daheim bei den Testpersonen wiederholte, erlebten sie das noch unerträglicher als im Labor
– weil die vertraute Ablenkung dort greifbar nah war. Ein Drittel gestand, das nicht ausgehalten zu
haben. Sie griffen zum Smartphone. Einfach nur da sein, allein mit sich – das wirkt stärker und geht
tiefer als jede äußere Action.
O-Ton Holzhey:
Die sogenannte seelische Gesundheit basiert doch darauf, die ständigen Verweise darauf,
was es eigentlich heißt, ein Mensch zu sein - dazu gehört das Abgründige des Freiseins, aber
auch Tod, Sterblichkeit - das alles im Alltag ausblenden, ignorieren zu können.
Sprecherin:
Die Psychoanalytikerin Alice Holzhey-Kunz treffe ich auf einem Symposium über den Wert des
Zuhörens. Sie berichtet aus ihrer Praxis von Menschen, die das Abgründige des Lebens nicht
einfach ausblenden können. Sie können nicht mit halbem Ohr über schwierige Dinge hinweghören.
Sie haben keine Wahl, sie sind ganz Ohr. Alice Holzhey-Kunz bezeichnet sie als hellhörig.
Sprecher:
Hellhörige Menschen müssen ihr Überempfinden verkraften und damit umgehen lernen. Sie
brauchen daher nicht nur öfter eine therapeutische Unterstützung, sie brauchen auch ‚hellhörige’
Therapeuten:
O-Ton Holzhey:
Hellhörigkeit ist für mich zu einem zentralen Begriff geworden, um seelisches Leiden zu
verstehen. Wenn ich nur mit dem gesunden Menschenverstand zuhöre, oder wenn ich nur
zuhöre mit dem Hintergrund eines theoretischen Wissens über kindliche Entwicklung und
Traumatisierung, Historisches und was der Kindheitsgeschichte zugehört, dann höre ich zu
wenig. Ich muss, um den Patienten wirklich hören zu können, mit einem zusätzlichen Ohr
zuhören. Darum habe ich gesagt: ich muss mir beim Zuhören eine Verletzbarkeit zugestehen.
Eine gewisse Bereitschaft, mich emotional tangieren zu lassen, muss da sein. Wenn ich die
abwehre, kann ich nicht auf diese Weise zuhören.
Zitator:
Es tut mir gut, gehört zu werden. Ich habe in meinem Leben wiederholt das Gefühl gehabt, vor
unlösbaren Problemen zu bersten oder mich qualvoll im Kreise zu drehen, und es hat eine Zeit
gegeben, da ich von Gefühlen der Wertlosigkeit und Verzweiflung überwältigt wurde. Ich glaube, ich
hatte zu diesen Zeiten mehr Glück als die meisten anderen, das Glück, Menschen zu finden, die
fähig waren, mich zu hören und mich dadurch aus dem Chaos meiner Gefühle zu retten, Menschen,
die imstande waren, meine Botschaften ein bisschen tiefer zu erfassen, als ich es selbst konnte.
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O-Ton Holzhey:
Wenn ich höre darauf, wofür jemand hellhörig ist, dann höre ich auch darauf, was für mich
wahr ist. Weil ich ja dem Schicksal, ein Mensch zu sein, auch unterworfen bin. Darum höre
ich mit Sympathie zu. Das ist eine Sympathie nicht im üblichen Sinne - ich spüre diese
Verbundenheit mit ihm.
Sprecherin:
Es gibt nicht viele Momos und Carl Rogers auf der Welt, aber eine Menge Ohren. Ich bin nicht allein.
Ich höre und werde gehört, immer wieder. Dabei bin ich in Beziehung: mit jemand, in einer Situation.
Wenn ich Glück habe, treffe ich einen Carl Rogers. Wenn ein Wunder geschieht, Momo. Bis dahin
kann ich mich bemühen, kann die Momo in mir oder den Carl Rogers in Dir probieren. Das ist nicht
leicht, aber tief bewegend. Dafür brauche ich allerdings einen Richtungswechsel. Ich folge meiner
Unruhe nicht hinaus in den unterhaltenden und ablenkenden Betrieb. Ich horche in sie hinein, in mir
und zwischen uns.
Sprecher:
Die Haltung des Gründers der Psychoanalyse dazu erläuterte Alice Holzhey-Kunz auf dem
Symposium über den Wert des Zuhörens:
O-Ton Holzhey:
Freud fasst dieses radikale Zuhören unter den Begriff des Zuhörens in gleichschwebender
Aufmerksamkeit. Was ist damit gemeint? Freud meint damit: allem was man hört die gleiche
Aufmerksamkeit schenken – statt sich gewisse Dinge besonders merken zu wollen. Das ist
nun in der Tat ein völlig unübliches Zuhören. Wir sind uns gewohnt, beim Zuhören immer
schon auszuwählen zwischen Dingen, die uns wichtig vorkommen und anderen, die wir für
unwichtig halten. Freud erklärt rundweg, das sei schädlich, weil wir dann nicht wirklich offen
seien. Und er fordert stattdessen, sich immer wieder neu - wie er sagt - überraschen zu
lassen. Das heißt für das, was man selber nicht erwartet hätte, offen zu halten.
Zitator:
Diese Menschen haben mich gehört, ohne mich zu beurteilen, mich zu diagnostizieren, mich
abzuschätzen, mich zu bewerten. Sie haben einfach zugehört und geklärt und auf allen Ebenen, auf
denen ich mit ihnen in Beziehung trat, auf mich reagiert. Ich kann bezeugen, dass es verdammt gut
tut, wenn man in seelischer Not ist und jemand mich wirklich hört, ohne über mich zu richten, ohne
zu versuchen, die Verantwortung für mich zu übernehmen und ohne mich nach seinen Vorstellungen
zu formen!
O-Ton Holzhey:
Die sogenannte Regel, in gleichschwebender Aufmerksamkeit zuzuhören, ist eigentlich eine
'Anti-Regel', die ganze Technik der Psychoanalyse ist eigentlich eine 'Anti-Technik'. Es ist ein
Loslassen jeden Haltes beim Zuhören. Jeder Versuch sich irgendwie zu schützen - es ist ein
sich vorbehaltlos in die Position des Zuhörenden bringen. So verstehe ich diese
'gleichschwebende Aufmerksamkeit'. Nicht doch beim Hören die Position des Wissenden
behalten wollen. Sondern die wirklich aufgeben und in diesem Sinn bescheiden werden.
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Zitator:
Wenn man mir zugehört und mich verstanden hat, dann ist es mir möglich, meine Welt auf neue
Weise zu sehen und weiterzumachen. Es ist erstaunlich, wie Dinge, die unlösbar erscheinen, lösbar
werden, wenn jemand zuhört; wie sich Verwirrungen, die unentwirrbar scheinen, in relativ glatt
fließende Ströme verwandeln, wenn man gehört wird. Ich bin zutiefst dankbar für die Zeiten, da mir
dieses einfühlsame, konzentrierte Zuhören zuteilwurde.
O-Ton Maio:
Das echte Zuhören kann man als eine Aufhebung der Gleichgültigkeit, eine Aufhebung der
Indifferenz
ansehen.
Echtes
Zuhören
stiftet
nicht
weniger
als
eine
Verständigungsgemeinschaft. Unsere deutsche Sprache hat einen Ausdruck geprägt, der
genau diesen Zusammenhang zwischen Hören und Anteilnehmen, Hören und Wohlwollen,
Hören und Mit-dem-anderen-sein zum Ausdruck bringt. Das ist der schöne Ausdruck: "ein
geneigtes Ohr zu haben". Jemandem ein geneigtes Ohr zu leihen, ist somit eine besondere
Wertschätzung des Sprechenden, und es ist zugleich eine besondere Auszeichnung des
Zuhörenden selbst.
Sprecher:
Giovanni Maio leitet das Institut für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg. Dem Philosophen
und Mediziner geht es um eine Kultur der Aufmerksamkeit. Dafür veranstaltet Giovanni Maio
regelmäßig Symposien, zum Beispiel über den Wert des Zuhörens in einer vom Sehen dominierten
Medizin.
O-Ton Maio:
Das Sehen ermöglicht eine Distanzierung zu dem Gesehenen. Es ermöglicht einen
prüfenden, rasternden Blick. Und wir erkennen eine Gestalt, die wir beziffern können. Hörend
sind wir persönlich beteiligt. Lorenz Oken hat es wunderbar ausgedrückt: „Das Auge führt den
Menschen in die Welt – das Ohr führt die Welt in den Menschen ein.“ Hören ist somit nicht
weniger als ein Geöffnetsein für das, was kommen wird. Hören heißt, eine
Überraschungsbereitschaft mitbringen und vor allem, eine solche zulassen wollen. Doch das
ist nicht kompatibel mit der Vorstellung einer Medizin als industrieller Produktionsbetrieb. Wer
in einem Betrieb wirklich zuhört und sich wirklich einlässt, der wird am Ende den ganzen
Betrieb aufhalten.
Sprecher:
Hört man einmal wirklich zu und lässt sich ein aufeinander, merkt man: da fehlen keine Vitamine,
oder Bewegung, oder die gute Mütze Schlaf – jedenfalls nicht nur und nicht vor allem. Beim
wirklichen Zuhören hält man den Betrieb nicht nur auf, man vergisst ihn – fast. Giovanni Maio spricht
über eine technisch ausgerichtete Medizin, in der diese Heilkraft menschlicher Beziehung untergeht.
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Frank Schüre
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05.03.17
O-Ton Maio:
Die Medizin folgt von ihrem Denken einem Visualprimat – sie glaubt, dass das Eigentliche nur
zu sehen, nicht aber zu hören ist. Das ist auch logisch, denn in einer Medizin, in der alles
nach Evidenz bewertet wird, wo keine Resonanz, sondern nur Transparenz gefordert wird – in
einer solchen schätzt man nur das Sichtbare. Denn das Gesehene lässt sich einfrieren und in
ein dauerhaftes Bild überführen. Es lässt sich als ein Beleg dokumentieren.
Sprecher:
Medizin funktioniert, Einsicht und Eingriff werden bestimmt von Bildern und Laborwerten, man
behandelt Not-Fälle und beseitigt Symptome, so Giovanni Maio in Freiburg. Eine komplexe
Symptomatik lässt sich aber nicht einfach ‚sichten‘, einordnen, und beseitigen. Seelische Symptome
präsentieren einen verborgenen Sinn, den man 'erhören' kann – das war Sigmund Freuds
grundlegende Erkenntnis. Giovanni Maio möchte die funktionstüchtige Medizin daher nicht abwerten,
aber sie ergänzen: um den 'Sinn des Zuhörens'.
O-Ton Maio:
Dieses Zuhören wird jeden Tag geleistet, aber kaum jemand erkennt es an, was da geleistet
wird. Zuhören ist die Vorbedingung für die Qualität in der Medizin. Aber keiner sorgt dafür,
dass auch Raum dafür geschaffen wird und Zeit eingeräumt wird, damit man es sich vielleicht
doch leisten kann zuzuhören. Zuhören ist das, was jeder Patient sich von seinem Arzt und
Psychotherapeuten, von allen Heilberufen erhofft. Weil er nur dadurch das Gefühl bekommt,
dass da jemand ihn als Menschen wahrnimmt. Und doch spricht niemand darüber, was für
eine enorme Leistung es ist, jemandem wirklich zuzuhören.
Sprecherin:
Ich merke es spätestens, wenn ich den Meditationsraum verlasse – wie köstlich das auch ist:
gemeinsam allein sein, miteinander still werden und horchen – auf was da aufsteigt in mir, auf das
Nichts dazwischen und darunter und darüber. Wie kostbar: dass so etwas möglich ist und auch
geschieht.
Zitator:
Für mich ist schöpferisches, aktives, sensibles, genaues, einfühlsames, nicht bewertendes Zuhören
in einer Beziehung ungeheuer wichtig. Es ist mir wichtig, es zu geben; es ist mir, besonders zu
bestimmten Zeiten meines Lebens, äußerst wichtig gewesen, es zu erhalten. Ich habe das Gefühl,
innerlich gewachsen zu sein, wenn ich es gegeben habe; ich bin ganz sicher, gewachsen zu sein,
erlöst und befreit, wenn man mir auf diese Art zugehört hat.
Zitator:
Wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos, und er selbst nur irgendeiner
unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt, und er ebenso schnell ersetzt werden
kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde
ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn,
genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine
besondere Weise für die Welt wichtig war.
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Sprecherin:
Habe ich meinem Freund Andy so zuhören können – so wie er mir? Das frage ich mich erst heute,
lange nach unserer letzten Begegnung. Damals war ich so überrascht, so gebannt von seinem
Zuhören. Ich habe es nicht verstanden. Ich habe es nicht einmal versucht. Heute kenne ich es, und
bemühe mich darum, und erlebe es – manchmal: eine Qualität des Hörens, ein Ganz-Ohr-Sein, das
mich und Dich und den konkreten Moment öffnen, ja, offenbaren kann.
Zitator:
Momo hörte allen zu, den Hunden und den Katzen, den Grillen und Kröten, ja, sogar dem Regen und
dem Wind in den Bäumen. Und alles sprach zu ihr auf seine Weise. An manchen Abenden, wenn
alle ihre Freunde nach Hause gegangen waren, saß sie noch lange allein in dem großen steinernen
Rund des alten Theaters, über dem sich der sternenfunkelnde Himmel wölbte, und lauschte einfach
auf die große Stille. Dann kam es ihr so vor, als säße sie mitten in einer großen Ohrmuschel, die in
die Sternenwelt hinaushorchte.
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