Keine politische Entscheidung

Balkankrieg
OLEG POPOV/REUTERS
Vor 25 Jahren erklärten die Vertreter
von Bosniaken und Kroaten BosnienHerzegowina für unabhängig – auf
Geheiß des Westens und gegen den
einhelligen Willen der dort lebenden
Serben. Das blutige Gegeneinander
begann. Von Gerd Schumann
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Durchmarschieren
Abwehren
Sozialisierung
Kämpfen
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Montenegro soll Mitglied der NATO
werden. Die dortige Bevölkerung
wird dazu nicht befragt
DGB lehnt Autobahnprivatisierung ab.
Weiterer Ausverkauf öffentlicher
Infrastruktur befürchtet
»Volksrepubliken« des Donbass stelZum Internationalen Frauentag am
len großen Teil der Industrie unter
8. März soll es weltweit Streiks
Zwangsverwaltung
und Demonstrationen geben
Krieger an der Ostflanke
Von der Leyen und Gabriel auf Truppenbesuch im Baltikum. Bekenntnisse zu
Aufrüstung und Cyberkrieg. Von Reinhard Lauterbach
RAINER JENSEN/DPA
G
leich zwei Bundesminister
halten sich derzeit zu Truppenbesuchen im Baltikum
auf. Verteidigungsministerin Ursula
von der Leyen »informierte« sich am
Donnerstag in Estland über den Stand
der NATO-Luftverteidigung. Sie nutzte die Gelegenheit, um drastische Erhöhungen des deutschen Militäretats
anzukündigen. Die Bundesrepublik sei »in der Pflicht«,
ihre Militärausgaben
auf das offizielle
NATO-Ziel von zwei Prozent
des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, so die CDU-Politikerin. Das sei
eine langfristige Aufgabe, die nicht in
einem Jahr zu erledigen sei. Derzeit
liegt der Etat des Verteidigungsministeriums bei 1,4 Prozent des BIP.
Parallel dazu besuchte Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) den
Stützpunkt der Bundeswehr in der litauischen Ortschaft Rukla. Dort sind
seit einigen Wochen 450 deutsche Soldaten als Kern eines multinationalen
NATO-Bataillons stationiert. Ähnliche, jeweils 1.000 Militärs umfassende
Einheiten wurden nach Estland und
Lettland verlegt. Gabriel lobte den
Einsatz der Bundeswehr in Litauen
und erklärte, er werde so lange fortgesetzt, wie es »nötig« sei. Er habe
großes Verständnis für die baltischen
Besorgnisse angesichts der starken russischen Militärpräsenz nahe der Grenze zu den baltischen Staaten. Diese sei
»völlig unverständlich, weil von den
baltischen Staaten null Bedrohung ausgeht«, so Gabriel.
Zu den Aufrüstungsforderungen
seiner Kabinettskollegin äußerte er
sich ausweichend. Das Ziel von zwei
Prozent des BIP sei »unrealistisch«.
Ursula von der Leyen (Mitte) und ihr estnischer Amtskollege Margus Tsahkna
am Donnerstag mit deutschen NATO-Soldaten in Ämari
Gabriel sprach sich dafür aus, die
Aufwendungen der NATO für die Abwehr von »Hybridkriegführung« und
Cyberangriffen zu erhöhen. Hier gebe es ebenso echten Bedarf wie bei
der Schaffung von Medien, die gegen
»Falschnachrichten« vorgingen. Zu
diesem Zweck unterhält auch die EU
in der estnischen Hauptstadt Tallinn
eine Dienststelle, die sich der Widerlegung russischer »Desinformation«
widmet. Wird eine derartige Nachricht
der EU-Propagandisten ihrerseits als
»Fake News« widerlegt, heißt es in
Brüssel regelmäßig, die kritisierten
Meldungen seien auf »Fehler freier
Mitarbeiter« zurückzuführen. Das
lässt auf die Sorgfalt schließen, mit der
die EU die Fachaufsicht über die meist
aus Osteuropa stammenden und über
ihre Sprachkenntnisse hinaus offenbar
vor allem politisch qualifizierten »freien Mitarbeiter« ausübt.
Mit hoher Wahrscheinlich nicht gefaket – weil auch von baltischen Medien verbreitet – sind immer wiederkehrende Meldungen über Disziplinverstöße von NATO-Soldaten in ihren
baltischen Stationierungsländern. In
der Regel handelt es sich um Kneipenrandale in betrunkenem Zustand. Der
letzte derartige Vorfall stammt aus dem
Februar; er betraf tschechische Soldaten, die in der litauischen Stadt Klaipeda zu tief ins Glas geschaut hatten.
Eine angebliche Vergewaltigung durch
Bundeswehr-Soldaten in Litauen, die
russische Portale gemeldet hatten, ist
in Vilnius und Berlin als »Fake News«
zurückgewiesen worden. Fake oder
nicht: Die USA sorgen für solche Fälle
vor und bedingen sich in den Stationierungsverträgen mit ihren osteuropäischen »Verbündeten« eine strafrechtliche Immunität ihrer Militärs aus.
Nach seinem Besuch in Litauen will
Gabriel in die Ukraine weiterreisen
und dort für die Wiederbelebung des
Minsk-Prozesses zur Beendigung des
bewaffneten Konflikts in der Ukraine
werben.
Menschenrechtslage in
Ägypten katastrophal
Kairo. Anlässlich des Besuchs von
Bundeskanzlerin Angela Merkel in
Ägypten hat die Organisation Amnesty International (AI) ein düsteres
Bild der Lage am Nil gezeichnet.
Ȁgypten ist mit einer Menschenrechtskrise konfrontiert. Diese kann
nicht einmal mit den dunkelsten
Stunden des Mubarak-Regimes verglichen werden«, sagte AI-Experte
Mohammed Amed am Donnerstag
der dpa. Nur internationaler Druck
könne die Regierung beeinflussen.
»Merkel muss eine lange Liste von
Dingen ansprechen«, sagte Amed.
Aktivisten kritisieren das Regime
von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi
für seine brutale Unterdrückung von
Oppositionellen. »Folter ist weit verbreitet in den staatlichen Sicherheitsbehörden«, erklärte Amed. Festgehaltene würden bei Befragungen
unter anderem mit Stromschocks im
Genitalbereich, dem Herausreißen
von Nägeln und Schlägen gequält.
(dpa/jW)
Siehe Seite 8
EU-Parlament will Visa
für US-Bürger
Brüssel. Das EU-Parlament hat die
Wiedereinführung des Visumzwangs
für US-Bürger gefordert, weil Washington seinerseits seit Jahren nicht
allen EU-Staaten Visumfreiheit
gewährt. Die EU-Kommission sei
rechtlich verpflichtet, Schritte für
die vorübergehende Aussetzung der
Visumfreiheit zu ergreifen, wenn
ein Drittstaat diese seinerseits nicht
allen EU-Staaten gewähre, erklärte
das Parlament in einer Resolution
und setzte eine Frist von zwei Monaten. Demnach hätte die Kommission schon im April vergangenen
Jahres handeln müssen – zwei Jahre
nachdem die EU die USA über die
fehlende Visumfreiheit für einen Teil
ihrer Mitgliedsstaaten informiert
hatte. Die EU-Kommission erklärte,
sie nehme die Entscheidung des Parlaments »zur Kenntnis«. (AFP/jW)
»Keine politische Entscheidung«
Gaggenau untersagt Veranstaltung mit türkischem Justizminister
D
ie Stadt Gaggenau hat einen
Auftritt des türkischen Justizministers Bekir Bozdag in
ihrer Festhalle untersagt, der für Donnerstag abend geplant war. Das teilte
das Rathaus der baden-württembergischen Gemeinde am frühen Nachmittag mit. Es sei aber keine politische Entscheidung: »Wir gehen davon
aus, dass die Situation zu gefährlich
werden könnte«, sagte Bürgermeister
Michael Pfeiffer (parteilos) laut Nachrichtenagentur dpa am Donnerstag in
Gaggenau zur Begründung. Bozdag
wollte bei dem geplanten Wahlkampf-
auftritt um die Zustimmung türkischer
Staatsbürger in der BRD für ein Präsidialsystem beim bevorstehenden Referendum in der Türkei werben. Es sei
zu befürchten, dass mehr Menschen
kämen, als die Kulturhalle fassen könne, so Pfeiffer weiter. Der Beschluss
sei nicht mit höheren politischen Ebenen abgesprochen. Unklar blieb zunächst, ob die Veranstalter vor Gericht
ziehen würden, um den Beschluss
rückgängig zu machen.
Die Oppositionspolitikerin Sevim Dagdelen (Die Linke) hatte ein
Einreiseverbot für den türkischen Ju-
stizminister gefordert. Ein weiterer
Werbefeldzug für die AKP-Diktatur
müsse verhindert werden. »Während
der Oppositionsführer Selahattin Demirtas und der deutsche Journalist
Deniz Yücel in türkischen Gefängnissen eingekerkert werden, wäre es ein
Stück aus dem Tollhaus, Bozdag eine Bühne in Deutschland zu geben«,
hatte die Bundestagsabgeordnete am
Donnerstag erklärt.
Die Stadt Köln dementierte am
Donnerstag einen Auftritt des türkischen Wirtschaftsministers Nihat
Zeybekci am Sonntag im Bezirksrat-
haus Köln-Porz. »Es gibt keinen Mietvertrag für diese Veranstaltung am 5.
März, und es wird auch keinen geben«, sagte eine Sprecherin der dpa.
Im August sei ein Saal des Rathauses
von der Union Europäisch-Türkischer
Demokraten (UETD) für eine Theaterveranstaltung angefragt worden.
»Daraufhin haben wir monatelang
nichts mehr gehört. Also haben wir
das von unserer Agenda gestrichen.«
Erst bei einer erneuten Anfrage am
Mittwoch sei ein Informationsabend
mit »derart prominenter Besetzung«
erwähnt worden. (dpa/jW)
Heute in jW:
Zeitung der Roten
Hilfe zum Tag der
politischen
Gefangenen
wird herausgegeben von
2.022 Genossinnen und
Genossen (Stand 21.2.2017)
n www.jungewelt.de/lpg