CME Eine Kooperation mit Fortbildung Zur differenzierten Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen Neuropathische Schmerzen treten regelmäßig bei diskogener Wurzelkompression und Herpes zoster, Engpass-Syndromen und Polyneuropathien auf. Zu den häufigen zenralen Ursachen gehören Hirninfarkte und Querschnittläsionen. Während akute Schmerzen Warnsignale sind, verlieren die neuropathischen Beschwerden, vor allem hartnäckige Dysästhesien und Neuralgien, ihre Schutzfunktion und nehmen eigenständig einen chronischen Verlauf.1 Der neuropathische Schmerz wird als Folge einer Schädigung oder Erkrankung des sensomotorischen Systems definiert: Afferente Strukturen im peripheren oder zentralen Nervensystem sind unmittelbar betroffen. Diese Läsionen induzieren neuroplastische Veränderungen.2 So entsteht zum Beispiel ein Phantomschmerz, wenn der zum Kortex aufsteigende neuronale Fluss durch eine Amputation oder Querschnittläsion unterbrochen wird und benachbarte Hirnareale verlorene Funktionen übernehmen. Die Anamnese neuropathischer Beschwerden ergibt verschiedenartige Mißempfindungen, häufig brennende Dauerschmerzen und rezidivierende Neuralgien, die spontan auftreten oder durch äußere Stimuli evoziert werden, wie z. B. die klassische Trigeminus-Neuralgie. Die Kranken bezeichnen auch leichte taktile und thermische Stimuli als schmerzhaft (Allodynie). Schon ein gering schmerzhafter Reiz auf der Haut löst einen stärkeren Schmerz aus (Hyperalgesie). Bei der Sensibilitätsprüfung sind neuropathische Schmerzen von anderen Schmerzsyndromen (Arthralgien, Koliken) exakt abzugrenzen.3,4 Die multimodale Therapie unterscheidet sich daher auch grundsätzlich von der Behandlung nozizeptiver Schmerzen, bei denen das Nervensystem nicht geschädigt ist. Mittel der Wahl sind die analgetisch wirksamen Antidepressiva (TCA) und Antiepileptika.2 108 — der niedergelassene arzt 10/2016 Dr. med. Karl F. Masuhr, Neurologe Sie können auch online teilnehmen unter www.der-niedergelasse-arzt.de/nc/cme Bei Online-Teilnahme werden Ihre Punkte direkt an die Ärztekammer gemeldet. CME Prävalenz jeweils typische Exantheme zu beobachten. Im Gegensatz zu den vesikulären Effloreszenzen des Herpes zoster breitet sich jedoch ein Erythema migrans bei Borreliose nicht segmental aus (siehe Abbildung 2). 33 Prozent der Bevölkerung berichten über Schmerzen von mindestens dreimonatiger Dauer. Die Prävalenz ist bei Frauen höher und steigt mit dem Alter an.3 In Deutschland leiden ≤ fünf Millionen Menschen an neuropathischen Schmerzen. An erster Stelle stehen Rückenschmerzen. 53 Prozent der Patienten mit chronischen Erkrankungen der Wirbelsäule klagen über neuropathische Schmerzen.3,4 L4 L5 Ursachen Radikulopathien Die von Diskushernien verursachten Dys ästhesien sind an Dermatome gebunden, strahlen in die Extremitäten aus und treten gemeinsam mit nozizeptiven Wirbelsäulenschmerzen auf („mixed pain“), siehe Tabelle 1 und Abbildung 1. Diese Wurzelkompressionssyndrome manifestieren sich zwischen dem 20. und 65. mit einem Maximum zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr. Das männliche Geschlecht überwiegt. Meist sind die lumbosakralen Wurzeln L4-S1 betroffen. Die jährliche Inzidenz der Lumbo-Ischialgien bei Diskushernien beträgt 150/100.000 Einwohner, die der zervikalen Bandscheibenvorfälle ist zehnmal geringer, thorakale Hernien sind sehr selten (1 % der spinalen Wurzelkompressionen).4 Radikuläre neuropathische Schmerzen kennzeichnen auch den Herpes zoster. Prädilektionsstelle ist Th 5 bis Th 10 (vgl. Tabelle 2). Die neurokutane Infektionskrankheit tritt aufgrund eines Immundefi- Abb. 1: Radikulär neuropathische Schmerzprojektion. Bei der meist diskogenen lumbalen Wurzelkompression strahlt ein starker Rückenschmerz mit Dysästhesien segmental in den Versorgungsbereich dieser Wurzel aus; hier sind die Dermatome L4 und L5 dargestellt [4]. zits bei endogener Reaktivierung des neurotropen Varicella-Zoster-Virus sporadisch auf. Vergleichbar mit dem Altersgipfel der Diskushernien in der Hälfte der fünften und sechsten Dekade beträgt die Inzidenz des Herpes zoster 600/100.000 Einwohner – vorwiegend Frauen – im Alter von > 50 Jahren. Bei 50 Prozent der über 60-jährigen Patienten münden unangenehme Missempfindungen in eine postzosterische Neuralgie, die sich über die Dermatomgrenzen hinweg ausbreitet. Differenzialdiagnostisch ist an eine Polyradikulitis bei Borreliose zu denken. Bei beiden Infektionskrankheiten sind häufig zusätzlich Hirnnervensymptome (Fazialisparese, Trigeminusläsion) und 1 nozizeptiver Schmerz 2 neuropathischer Schmerz 1 und 2 mixed pain „Lumbago“ „Ischialgie“ „Lumbo-Ischialgie“ spondylotisch-spondylarthrotischer Schmerz segmental ausstrahlender radikulärer Schmerz vertebragene Beschwerden und radikulärer Schmerz Illustration: Vectomart – shutterstock Tab. 1 “Mixed pain” bei Lumbago-Ischias-Syndrom Mono- und Polyneuropathien Patienten mit Mono- oder Polyneuropathie klagen über sensible Reizerscheinungen. Die Abbildung 3 zeigt typische Verteilungsmuster der Sensibilitätsstörungen mit strumpf- und handschuhförmigen Dysästhesien.4 Kompressionen peripherer Nerven bei Engpass-Syndromen (vgl. Tabelle 4) verursachen Mononeuropathien mit Dys ästhesien und trophischen Störungen. Häufige Polyneuropathie-Ursachen sind Diabetes mellitus und Alkoholismus, neurotoxische Medikamente, weltweit auch Umweltgifte, Malnutrition mit Vitaminmangel und Infektionskrankheiten (Lepra, AIDS). Trigeminus-Neuralgie Die idiopathische Trigeminus-Neuralgie ist durch neurale Kurzschlüsse taktiler und schmerzleitender Fasern („Ephapsen“) und einen pathologischen Gefäß-Nerven-Kontakt im Kleinhirnbrückenwinkel bedingt. Komplexes regionales Schmerz syndrom (CRPS) Eine Sonderform neuropathischer Schmerzen stellt das komplexe regionale Schmerzsyndrom dar, das mit ausgeprägten vegetativ-trophischen Störungen und psychosomatischen Symptomen einhergeht. Das CRPS ist ein posttraumatisches Schmerzsyndrom einer Extremität ohne definierbare neuronale Schädigung (CRPS I) bzw. mit partieller Nervenläsion (CRPS II). Die Symptome beschränken sich nicht auf periphere Nerven oder deren Wurzeln. Eine Distorsion oder Fraktur und selbst Bagatellverletzungen reichen aus, um ein neuropathisches und psychosomatisches Beschwerdebild hervorzurufen, das anfangs durch umschriebene, später diffuse, in der Tiefe empfundene Schmerzen mit Region von Herpes zoster befallenes Dermatom Häufigkeit (%) Zugehörige Paresen (Häufigkeit insgesamt 5 %) anteilige Häufigkeit (%) kranial V,1 (Zoster ophthalmicus) V,3 (Zoster oticus) >10 10 Fazialisparese >45 zervikal C3 (Zoster colli) 10 Fazialisparese, Zwerchfellparese 25 thorakal Th5 – Th10 Prädilektion („Gürtelrose“) >50 Paresen der Interkostalmuskeln < 5 lumbosakral L1 – S5 Lumboischialgie (auch genitaler Zoster S2) <20 Blasenlähmung (Retentio urinae) Tab. 2 Topographische Verteilung von Schmerzen, Effloreszenzen und Paresen bei Herpes zoster 109 — der niedergelassene arzt 10/2016 25 CME Hyperalgesie und Allodynie charakterisiert ist. Auffällig sind ödematöse Schwellungen, Schweißsekretions- und Thermoregulationsstörungen, aber auch Störungen der Körperwahrnehmung und Emotionalität bei erhöhter Depressivität. ZNS-Läsionen Zentrale neuropathische Schmerzen kommen bei Multipler Sklerose, Syringo myelie und Tumoren, häufiger aber nach zerebraler Blutung oder Ischämie und Querschnittläsion vor. Thalamusschmerz Bei einem Thalamus-Infarkt kann sich ein halbseitiges Schmerzsyndrom mit Allodynie entwickeln: Der zentrale neuropathische Schmerz wird durch Berührung, Kälte, Hitze, optische oder akustische Reize induziert, überdauert den Stimulus und geht über den Reizort hinaus. Querschnittsyndrom Bei traumatischer Querschnittlähmung treten zentrale Schmerzen unterhalb des sensiblen Niveaus auf („below-level neuropathic pain“). Auf Segmenthöhe findet sich meist eine Hyperalgesie („at level neuropathic pain“). Die Schmerzen sind nicht nur auf die Schädigung dieses Mye- lonsegments, sondern auch auf eine periphere Läsion (Hinterwurzel, Spinalnerv) zurückzuführen. Phantomschmerz Eine schmerzhafte Phantomempfindung entsteht, wenn der zum Kortex aszendierende, neuronale Fluss durch eine Querschnittläsion oder Amputation unterbrochen wird und schmerzhemmende Fasern durchtrennt werden. Im Hinterhorn des Rückenmarks kommt es zu einer Übererregbarkeit für Schmerzreize, weil dort die prä- bzw. perioperativen Schmerzimpulse förmlich ausufern. Die afferenten Fasern schütten nun vermehrt den Neurotransmitter Glutamat und die Transmittersubstanz „P“ aus, die für die Schmerzübertragung verantwortlich sind. Damit steigt eine Flut von Signalen auch in den normalerweise nicht schmerzleitenden Bahnen auf, um in kortikalen und limbischen Arealen als Fülle schmerzhafter Missempfindungen wahrgenommen zu werden. Dieser „Deafferenzierungsschmerz“ wird zentral repräsentiert, im „Schmerzgedächtnis“ gespeichert und im Verlauf einer funktionellen Reorganisation („cortical remapping“), sobald benachbarte Areale neuronale Signale, Funktion und Repräsentation übernehmen, der abgetrennten Schmerzfragebogen Mindestens vier positive Antworten sprechen für die Diagnose neuropathischer Schmerz. Frage 1: Ja Nein Weist der Schmerz eine oder mehrere der folgenden Eigenschaften auf? Abb. 2: Erythema migrans bei Borreliose. Körperregion zugeordnet bzw. dem Phantomglied, einem Ort außerhalb der Körpergrenzen, zugewiesen.4 Diagnostik Wesentliche diagnostische Kriterien zur Graduierung neuropathischer Schmerzen gehen aus folgenden Fragen hervor:2 Wird der Schmerz in einem neuroanatomisch plausiblen Areal lokalisiert? Ist die Anamnese mit einer relevanten Läsion somatosensorischer Strukturen vereinbar? Gibt es mindestens einen pathologischen Befund innerhalb des Areals der Schmerzausbreitung? Ist die Läsion mithilfe eines diagnostischen Verfahrens nachweisbar? Schmerzanamnese 1. brennender Schmerz 3. elektrisierender Schmerz Frage 2: Geht der Schmerz mit einem oder mehreren der folgenden Symptome einher? 4. Kribbeln 5. Stechen 6. Taubheitsgefühl 7. Juckreiz Frage 3: Ergibt die Sensibilitätsprüfung des schmerzhaften Areals eine oder mehrere der folgenden Symptome? 8. herabgesetzte Berührungsempfindung (Hypästhesie) 9. herabgesetzte Schmerzempfindung (Hypalgesie) Frage 4: Wird in dieser Region der Schmerz durch eine leichte Berührung ausgelöst oder verstärkt? 10. Auslösung oder Verstärkung des Schmerzes durch Berührung mit einem Pinsel Tab. 3 DN4 (Douleur Neuropathique) – Questionnaire (Bouhassira D et al. 2004) 110 — der niedergelassene arzt 10/2016 Die Anamnese berücksichtigt Art und Ort der Schmerzen (prickelnd, stechend, dumpf, bohrend, brennend, einschießend oder ausstrahlend, umschrieben, segmental, multilokulär, distal symmetrisch, halbseitig?). Ferner deren Intensität, Frequenz und Dauer sowie auslösende, situative und lindernde Faktoren. Numerische und visuelle Analogskalen (für Kinder auch Smiley-Icons) ergänzen die Schmerzanamnese.2 Siehe auch Tabelle 3 mit einem validierten Schmerzfragebogen. Subjektive Krankheitsbilder Sinnvoll ist die Anfertigung einer subjektiven Schmerzskizze der betroffenen Hautareale,3 insbesondere bei radikulären Syndromen (Diskushernie, Herpes zoster, Neuroborreliose). Die Schmerzen werden als ebenso heftig wie hartnäckig beschrieben. Anamnestisch sind typische Auslöser diskogener Schmerzen (Husten und Pressen) zu er- FOTO: AnastasiaKopa – shutterstock 2. schmerzhaftes Kältegefühl CME Abb. 3: Verteilungsmuster sensibler Symptome bei schmerzhaften Polyneuropathien [4] PSRASR- PSRASR- a) PSR+ ASR+ a) distal symmetrischer Typ mit handschuh- und strumpfförmigen Sensibilitätsstörungen, Areflexie an den unteren Extremitäten; häufig im Verlauf diabetischer und exogen toxischer Polyneuropathien (verursacht durch Alkoholismus, Gerwerbegifte und Medikamente). PSRASR- b) Multiplextyp. Die Sensibilitäts störungen sind an mehreren – nicht benachbarten – Nerven ausgeprägt. Der Multiplextyp wird hauptsächlich bei diabetischen und vaskulär bedingten Neuropathien beobachtet. b) gia praraesthetica als Folge einer Reizung und Kompression des N. cutaneus femoris lateralis am Ligamentum inguinale, häufig aufgrund zu enger Gürtel und Hosen („Jeans-Krankheit“). Zum Tarsaltunnel-Syndrom und weiteren Engpass-Syndromen s. Tabelle 4. Zu den stärksten neuropathischen Schmerzen gehören die spontan auftretenden oder evozierten Neuralgien: Patienten mit klassischer Trigeminus-Neuralgie klagen über unerträgliche, stechende und reißende, blitzartig in eine Gesichtshälfte einschießende Schmerzen. Die schon durch einen leichten Berührungs- oder Kältereiz auslösbaren Attacken treten in Serien bis 100mal am Tag über einen Zeitraum von Wochen und Monaten auf. Sensibilitätsprüfung Schmerz-Syndrom Nervenkompression Dekompression Engpass-Syndrom – Karpaltunnel-Syndrom – Kubitaltunnel-Syndrom – Tarsaltunnel-Syndrom Mononeuropathie – N. medianus – N. ulnaris – N. tibialis, N. peronäus Spaltung der Ligamente – Neurolyse – Neurolyse – Neurolyse Radikuläres Syndrom Nervenwurzelkompression Diskektomie Trigeminus-Neuralgie Kompression durch Kleinhirngefäß Mikrovaskuläre Dekompression Tab. 4: Ursachen neuropathischer Schmerzen bei Kompressionssyndromen und operative Therapie. Illustration: Vectomart – shutterstock fahren, die zudem die Schmerzprojektion in ein Dermatom verstärken. Oftmals kann der Patient z. B. den bis zur Großzehe ausstrahlenden L5-Wurzelschmerz so genau beschreiben, dass sich daraus die topische Diagnose der spinalen Kompression ergibt. Patienten mit Mono- oder Polyneuropathie berichten anfangs gelegentlich über Pruritus,3 im weiteren Verlauf meist über ein unangenehmes Kribbeln und Brennen, besonders der Hände und Fußsohlen („burning feet“), aber auch über ein zunehmendes Taubheitsgefühl an Händen und Füßen (vgl. Abbildung 3). Im typischen Fall einer Mononeuropathie der Hand (Karpaltunnel-Syndrom) klagt der Patient über elektrisierende Schmerzen bei jeder Volarflexion der Hand (Phalen-Zeichen); er versucht ein nächtliches Kribbeln „auszuschütteln“, doch die Dysästhesien bei Kompression des N. medianus breiten sich allmählich auf den gesamten Arm aus („Brachialgia paraesthetica nocturna“). Wenn ein Patient über Dysästhesien an der Handkante und den ulnaren 1 ½ Fingern klagt, liegt meist eine chronische Ulnarisneuropathie am Ellbogen vor, so beim Kubitaltunnel-Syndrom, Sulcus ulnaris-Syndrom oder bei einer Spätlähmung des N. ulnaris.2 Differential diagnostisch ist bei Einschränkung der HWS-Beweglichkeit an ein C8-Syndrom zu denken. Schmerzen, Missempfindungen und eine hypästhetische Zone am seitlichen Oberschenkel charakterisieren die Meral- Therapieform Indikation a) Physiotherapie und Ergotherapie „graded exposure“, Desensibilisieren der Allodynie, Spiegeltherapie, Belastung und Stellungskorrektur b) Psychotherapeutische Versorgung, Förderung der Selbstwahrnehmung, auch Verhaltenstherapie, Imagina- angstlösende Vermittlung eines Krankheits tions- und Entspannungsverfahren modells, Entspannung, Krisenintervention Tab. 5 Empfehlungen zur a) physikalischen und b) psychotherapeutischen Behandlung [2] 111 — der niedergelassene arzt 10/2016 Bei der neurologischen Untersuchung prüft man mit der Spitze eines Holzstäbchens die Schmerzempfindung und mit dessen stumpfem Ende die Berührungsempfindung. Im Vergleich zu den Empfindungsqualitäten in gesunden Arealen werden „negative“ Symptome (Hypalgesie, Hypästhesie) und „positive“ Symptome (Hyperalgesie, Allodynie) gemessen. Ein geringer Schmerzreiz kann starke Schmerzen hervorrufen (Hyperalgesie). Wenn ein normalerweise nicht schmerzhafter Stimulus – wie ein leichter Druckreiz – Schmerzen evoziert, liegt eine mechanische Allodynie vor. Löst ein Kältereiz heftige, insbesondere neuralgische Schmerzen aus, handelt es sich um eine Kälte-Allodynie. Nimmt der Patient in einer bestimmten Region keine Schmerzund Temperaturreize wahr, während die Berührungsempfindung intakt ist, liegt eine dissoziierte Sensibilitätsstörung vor. Mit einer schwingenden Stimmgabel, die auf Handknochen, Dornfortsätze, Patellae und Malleolen gesetzt wird, lässt sich die Vibrationsempfindung bestimmen. Von „sensiblem Funktionswandel“ spricht man, wenn eine wiederholt auf die Haut geschriebene Figur mit zunehmender Stimulationsdauer nicht mehr differenziert werden kann, z.B. ein zunächst richtig erkanntes Dreieck in der Wahrnehmung des Patienten allmählich zu einer kreisförmigen Struktur verschwimmt.4 Technische Untersuchungsverfahren Quantitativer, sensorischer Schmerztest (QST) Mittels einer Batterie mechanischer und thermischer Stimuli werden im betroffenen Schmerzareal einzelne Reizantworten CME Neuropathisches Syndrom Arzneistoff Tagesdosis Mono- und Polyneuropathie TCA: Amitriptylin, Clomipramin u. a. 50 – 75 mg (0-0-1) Pregabalin 150 – 250 mg (1-0-1) Gabapentin 1200 – 2400 mg (1-1-1) Postzosterische Neuralgie TCA, Pregabalin, Gabapentin (s. o.) Tramadol-Monotherapie 600 mg (1-0-1) Lidocain (Add on-Therapie) Pflaster (5 %) (1-1-1) Trigeminus-Neuralgie Capsaicin (einmalig 30 – 60 Minuten) Pflaster (8 %) Carbamazepin retard 600 – 1200 mg (1-0-1) Tab. 6: Pharmakologische Therapie neuropathischer Schmerzen [2] sehr genau gemessen. Dies geschieht nach subjektiven Angaben des Untersuchten, von dessen Mitarbeit das Ergebnis abhängt:2 Die Berührungsempfindung wird mit einem dünnen Nylonfilament (v. Frey), eine Überempfindlichkeit (Allodynie) mit einem Pinsel oder mit feinen Nadelstichen (Pinprick) getestet. Eine Thermoelektrode erzeugt Kälte- bzw. Wärmereize im Schmerzareal. Evozierte Potenziale, Neurografie und Sonografie Mittels Laser-evozierter Potenziale (LEP) lassen sich in Analogie zur Ableitung somatosensibel evozierter Potenziale (SSEP) die Läsionen der schmerzleitenden Afferenzen präzise nachweisen.2 Bei Mono- und Polyneuropathien ist frühzeitig die sensible Nervenleitgeschwindigkeit reduziert. Neben neurografischen Untersuchungen, die allerdings nur einen Teil der afferenten Axone aus dem Spektrum der A-Fasern erfassen, sind auch sonografische Untersuchungen einzelner Nerven angezeigt.3,4 Hautbiopsie Die Hautbiopsie eignet sich zur genaueren Untersuchung neurografisch ungeklärter Polyneuropathien, hauptsächlich zur Beurteilung markloser C-Fasern bei der „Small Fiber-Neuropathie“.4 Bildgebende Verfahren Die Magnetresonanztomographie (MRT) wird ebenso wie weitere Laboruntersuchungen zur Abklärung der Grundkrankheiten eingesetzt. Topische Therapie Lidocain-Pflaster werden besonders für eine Kombinationstherapie der postzosterischen Neuralgie empfohlen. Die Applikation eines Capsaicin-Pflasters ist nur einmal für maximal 60 Minuten erlaubt. Interventionelle Verfahren Grenzstrangblockaden und Eingriffe am Rückenmark („spinal cord stimulation“ oder intrathekale Baclofen-Pumpentherapie) bleiben spezialisierten Zentren vorbehalten.2 Zu den operativen Verfahren siehe Tabelle 4. Darüber hinaus wird bei verschiedenen neuropathischen Schmerzen eine Reihe flankierender Maßnahmen wie Akupunktur und Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS) angewandt. Multimodale Schmerztherapie Um einem Circulus vitiosus anhaltender Schmerzverstärkung und zunehmender Funktionsstörung vorzubeugen, ist eine multimodale Behandlung neuropathischer Schmerzen angezeigt. Zur pharmakologischen Therapie siehe Tabelle 6. Physiotherapie und Ergotherapie Beide Verfahren (siehe Tabelle 5) sind sehr hilfreich, besonders auch bei der lokalen bzw. kontralateralen Aktivierung im Spiegel-Training: Bewegt ein Patient mit Phantomschmerz die gesunde Extremität vor dem Spiegel, so nimmt er dies als Bewegung der amputierten Gliedmaße wahr. Analgetisch wirkende Antidepressiva Tri- und tetrazyklische Antidepressiva (TCA) sind wesentlich wirksamer als Analgetika (Paracetamol, Metamizol). Die analgetische Wirkung der TCA übertrifft auch die der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Oft schon innerhalb weniger Tage und damit schon vor einem thymoleptischen Effekt der TCA, die „low and slow“ dosiert werden, klingen Dysästhesien ab. Von einer Kombination der Antidepressiva mit einem Opioid (Tramadol), dessen Anwendung wegen der Toleranzentwicklung ohnehin limitiert ist, wird abgeraten.2 Schmerzpsychotherapie Wenn der neuropathische Schmerz „tiefer sitzt“, ist eine Psychotherapie angezeigt.3 Der subjektive biografische Kalender enthält Lebensdaten und Jahrestage, an denen Schmerzen einsetzen, wiederkehren und abklingen.3,4 Zur Entlastung des Schmerzgedächtnisses eignet sich daher ein Tagebuch, in das der Patient nicht nur die Intensität und situative Verstärkung der Beschwerden, seiner Empfindungen und Missempfindungen, sondern auch die schmerzlindernde Wirkung der Therapie einträgt. Analgetisch wirkende Antiepileptika Pregabalin und Gabapentin sind in der Therapie der peripheren und zentralen neuropathischen Schmerzen effektiv und weisen keine Interaktionsrisiken auf. Carbamazepin retard ist das Mittel der Wahl zur Behandlung der Trigeminus-Neuralgie. Auch bei „mixed pain“, wie im Fall einer lumbalen Diskushernie (Tabelle 1) ist die radikulär-neuropathische Schmerzkomponente vorrangig mit einem analgetisch wirksamen Antiepileptikum bzw. Antidepressivum zu behandeln. Akute nozizeptive LWS-Schmerzen sind nicht durch Analgetika, sondern durch zentral wirksame Muskelrelaxantien günstig zu beeinflussen. 112 — der niedergelassene arzt 10/2016 Literatur 1. B ingel U et al. Akuter und chronischer Schmerz. In: Therapie und Verlauf neurologischer Krankheiten (Hg. Brandt T, Diener HC, Gerloff C) Kohlhammer, Stuttgart 6. Aufl. 2012:97-109. 2. D iener HC, Weimar C (Hg.): Leitlinien f. Diagnostik u.Therapie in der Neurologie. Thieme, Stuttgart 2012: 615-795. 3. M asuhr KF: Der neuropathische Schmerz. Niedergel. Arzt. 2014; 10:57-60. 4. M asuhr KF, Masuhr F, Neumann M: Duale Reihe Neurologie. 7. Auflage. Thieme, Stuttgart 2013: 432-482. Arztadresse / Stempel Lernerfolg Interne Codierung FrauHerr Titel/akademischer Grad Barcode-Etikett (oder EFN-Nummer) Vor- und Nachname Straße cmi Institut für certifizierte medizinische Information und Fortbildung e. V. Alte Ziegelei 2 – 4 51491 Overath PLZ/Ort Praxis-Telefon-Fax E-Mail-Adresse Ich versichere, alle Fragen ohne fremde Hilfe beantwortet zu haben. Bitte ausgefüllt faxen an: 02204/9731-111 oder per Post zurücksenden. Datum/UnterschriftStempel bei Postversand bitte an der blauen Linie falzen Fragen zur strukturierten Fortbildung „Differenzierte Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen“ Es ist immer nur eine Antwort richtig. Schicken oder faxen Sie bitte nur den ausgefüllten Fragenbogen an die oben genannte Adresse. Bei 7, 8, 9 oder 10 richtigen Antworten schicken wir Ihnen das Fortbildungszertifikat „Differenzierte Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen“ mit 1cme-Punkt, welches Sie bitte an Ihre Kammer senden. 1. Herpes zoster und Neuroborreliose rufen regelmäßig neuropathische Schmerzen hervor. Welche weiteren Gemeinsamkeiten weisen diese Infektionskrankheiten auf? □□a) Auftreten radikulärer Schmerzen sowohl bei Herpes zoster als auch bei Neuroborreliose in ≤ 50 Prozent der Fälle. □□b) Radikuläre Syndrome mit Sensibilitätsstörungen und Paresen bei beiden Erkrankungen. □□c) Segmental verteilte Hautveränderungen: vesikuläre Effloreszenzen (bei Zoster), Erythema migrans (bei Borreliose). □□d) Beteiligung der Hirnnerven nur in seltenen Ausnahmefällen. □□e) Keine der Aussagen a – d trifft zu. 2. Welche Aussage zu neuropathischen Symptomen und Syndromen trifft zu? □□a) Die Prävalenz der zervikalen Radikulopathie ist höher als die Prävalenz lumbosakraler Radikulopathien. □□b) Die „Brachialgia paraesthetica nocturna“ beruht auf einer zervikalen Radikulopathie. □□c) Ein typischer zentraler Schmerz ist die klassische Trigeminus-Neuralgie. □□d) Dysästhesie und Hyperalgesie sind immer Ausdruck einer lokalen Läsion peripherer Nerven. □□e) Ein Phantomschmerz wird als Deafferenzierungsschmerz bezeichnet. 3. Welche Aussage zur Varicella-Zoster-Infektion trifft nicht zu? □□a) Bei zervikalem Herpes Zoster (Zoster colli) kann sich eine Fazialisparese entwickeln. □□b) Thorakale Segmente sind bei Diskushernien häufiger betroffen als bei Herpes Zoster. □□c) Ursache einer Lumbo-Ischialgie und Retentio urinae kann eine Zoster-Infektion sein. □□d) „Gürtelrose“ und „Windpocken“ werden durch ein und dasselbe Virus verursacht. □□e) Im Gegensatz zur Prävalenz der Varizellen-Infektion nimmt die Prävalenz der Zoster-Infektionen mit dem Alter zu. 4. Welche dieser Krankheiten/Syndrome ist nicht mit neuropathischen Schmerzen verbunden: □□a) Multiple Sklerose □□d) Kubitaltunnel-Syndrom □□b) Thalamus-Syndrom bei zerebraler Ischämie □□e) Syringomyelie □□c) Brachialgie bei Angina pectoris ✃ 5. Welche Beschreibung der Allodynie trifft definitiv zu? □□a) Allodynie ist eine leichte Form der Thermhypästhesie bei Mono- und Polyneuropathien. □□b) Allodynie kommt vorwiegend bei Arthropathien mit nozizeptiven Schmerzen vor. □□c) Man spricht von Allodynie, wenn z. B. ein Kältereiz oder eine Berührung der Haut Schmerzen auslöst. □□ d) Die Herabsetzung der Vibrationsempfindung schließt eine Allodynie aus. □□ e) a – d sind unzutreffend Lernerfolgskontrolle gültig bis Oktober 2017. Zur Zertifizierung eingereicht bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe ✃ Lernerfolg zum Thema „Differenzierte Diagnostik und Therapie neuropathischer Schmerzen“ im Oktober 2016 6. Welches Verfahren eignet sich nicht zur Diagnostik neuropathischer Syndrome? □□ a) Ableitung Laser-evozierter Potenziale (LEP) □□ b) Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule □□ c) Elektromyographie (EMG) □□ d) Sonografie □□ e) Magnetresonanztomographie (MRT) 7. Welche Aussage zur Diagnostik neuropathischer Schmerzen ist falsch? □□ a) Mittels QST lässt sich die Schmerzintensität genau messen, selbst wenn der Patient nicht kooperiert. □□ b) Das Führen eines Tagebuchs kann das „Schmerzgedächtnis“ entlasten. □□ c) Bei Karpaltunnel-Syndrom ist die sensible Nervenleitgeschwindigkeit des N. medianus reduziert. □□ d) Dysästhesien an Händen und Füßen charakterisieren die distal symmetrische Polyneuropathie. □□ e) Eine Hautbiopsie trägt zur Beurteilung einer Schädigung markloser C-Fasern bei. 8. Welcher Empfehlung zur pharmakologischen Schmerztherapie ist nicht zuzustimmen? □□a) Paracetamol und Metamizol sind Mittel der Wahl in der Therapie neuropathischer Schmerzen. □□b) Zur Behandlung der Trigeminusneuralgie ist Carbamazepin retard indiziert. □□c) Neuropathische Schmerzen können opiodsensibel sein. □□d) Nebenwirkungen und Toleranzentwicklung limitieren die Anwendung von Tramadol. □□e) Die Anwendung von Lidocain-Pflastern ist bei postzosterischer Neuralgie effektiv. 9. Welcher Aussage zur multimodalen Schmerztherapie ist beizupflichten? □□ a) Die Pharmakotherapie neuropathischer und nozizeptiver Schmerzen ist nahezu identisch. □□ b) Interventionelle Verfahren sind der konservativen Schmerztherapie fast immer überlegen. □□ c) Eine topische Therapie ist bei chronisch neuropathischen Schmerzen nutzlos. □□ d) Psychotherapie ist integrativer Bestandteil der Behandlung neuropathischer Schmerzen. □□ e) Transkutane Elektrische Nervenstimulation (TENS) ist meist wirksamer als TCA. 10.Welche Operationsindikationen bei neuropathischen Schmerzen sind korrekt angegeben? □□a) Eine Diskektomie ist bei nachgewiesener Bandscheibenprotrusion die Methode der Wahl. □□b) Bei Trigeminus-Neuralgie ist die operative Dekompression jeder anderen Therapieform überlegen. □□c) Bei Karpaltunnel-Syndrom ist eine Neurolyse des Nervus medianus nur selten indiziert. □□d) Bei Kubitaltunnel-Syndrom ist der komprimierte N. ulnaris nicht operativ zugänglich. □□e) a – d sind falsch. Strukturierte interaktive Fortbildung (Neutralitätserklärung des Autors liegt vor.) Bitte kreuzen Sie folgende Zahlen zur Bewertung an: 1=sehr gut, 2=gut, 3=befriedigend, 4=ausreichend, 5=mangelhaft, 6=ungenügend 1. Meine Erwartungen hinsichtlich der Lernziele und Inhalte des Fortbildungsbeitrags haben sich erfüllt. □ 1 □ 2 □ 3 □ 4 □ 5 □ 6 2. Die Bearbeitung des Fortbildungsbeitrags hat sich für mich gelohnt, weil ich etwas dazugelernt habe. □ 1 □ 2 □ 3 □ 4 □ 5 □ 6 3. Der Fortbildungsbeitrag hat Relevanz für meine praktische ärztliche Tätigkeit. □ 1 □ 2 □ 3 □ 4 □ 5 □ 6 4. Bitte beurteilen Sie die didaktische Aufbereitung und die Güte der präsentierten Inhalte des Fortbildungsbeitrags. □ 1 □ 2 □ 3 □ 4 □ 5 □ 6 5. Durch die Lernerfolgskontrolle wurde das erworbene Wissen in angemessener Weise abgefragt. □ 1 □ 2 □ 3 □ 4 □ 5 □ 6 6. Bitte beurteilen Sie, ob produkt- oder firmenbezogene Werbung den Inhalt des Fortbildungsbeitrags beeinflusst hat. □ Beeinflussung feststellbar □ Keine Beeinflussung feststellbar 7. Wie sind Sie auf diesen Fortbildungsbeitrag aufmerksam geworden? 8. Wie viel Zeit in Minuten haben Sie für die Bearbeitung des Fortbildungsbeitrags benötigt? □ bis 10 □ 11–20 □ 21–30 □ 31–40 □ 41–50 □ 51–60 □ über 61 9. Weitere Bemerkungen: cmi e.V. verpflichtet sich, die Bestimmungen des Bundesdatenschutz-Gesetzes einzuhalten.
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